Folie à Deux - Katharina Stertz - E-Book

Folie à Deux E-Book

Katharina Stertz

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Beschreibung

Kann man seiner Wahrnehmung noch trauen? Wie weit würde ein Fan für sein Idol gehen? Luc Morel, ein gefeierter Musiker, der von allen Seiten bewundert wird und Fan Chloé, eine wohlhabende Künstlerin, kommen sich nach seinem Konzert näher. Hinter den Kulissen führen sie zuerst eine geheime Liebesbeziehung wie in Chloés buntesten Collagen. Doch je näher sie sich ihm fühlt, desto mehr verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Illusion. Was, wenn Luc ihr Schicksal ist? Was, wenn er sie genauso braucht, wie sie ihn?

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Seitenzahl: 184

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Triggerwarnung:

Dieser Roman enthält sensible Inhalte, darunter psychische Erkrankungen (Psychosen), Gewalt, Suizid, Mord, Essstörungen (verzerrtes Selbstbild), Psychiatrie und weitere Themen, die bei manchen Leser*innen Unbehagen hervorrufen könnten. Bitte lies mit Vorsicht und wenn du denkst, dass bestimmte Themen problematisch für dich sein könnten, erwäge vor dem Lesen Unterstützung in Anspruch zu nehmen.

Wenn du dich in schwierigen Zeiten befindest, mit psychischen Problemen zu kämpfen hast oder das Gefühl hast, dass du Unterstützung brauchst, dann zögere bitte nicht, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Du bist nicht allein. Es gibt Menschen, die dich verstehen und unterstützen möchten.

Sprich mit jemandem, dem du vertraust, oder wende dich an professionelle Anlaufstellen, die dir Wege aus der Dunkelheit zeigen können. Du bist es wert, Hilfe zu bekommen.

»Ja, L. trat in mein Leben und löste darin langsam, sicher und heimtückisch eine tiefgreifende Erschütterung aus. L. trat in mein Leben wie mitten in der Vorstellung auf eine Bühne, als hätte der Regisseur dafür gesorgt, dass sich ringsum alles zurücknimmt, um ihr Platz zu lassen, als wäre L.s Auftritt arrangiert worden, um seine Bedeutung zu unterstreichen, damit in genau diesem Augenblick der Zuschauer und die anderen Personen auf der Bühne (in diesem Fall ich) nur auf sie sehen, damit ringsum alles andere erstarrt und ihre Stimme bis zum Ende des Saals trägt, kurzum, damit sie Eindruck macht.«

Delphine de Vigan - Nach einer wahren Geschichte

Prolog

Da sah ich ihn wieder. Er ging an mir vorbei. Er war fast vorbeigestreift, vorbeigeschwebt, vorbeigeblitzt. Sein Kostüm glitzerte unter dem Licht. Er hatte sich mit der Menge gemischt und stach aus der Masse heraus. Ich hatte ihn mir immer größer vorgestellt. Abrupt blieb er neben mir stehen und ich war die Person, die ihm am nächsten war in diesem Moment, in diesem Raum, für ein paar Sekunden. Es trat ein surrealer Moment ein, eine kurze Gedächtnislücke, ein Kurzschluss, ein Blackout, als sich unsere Blicke kurz trafen. Für einen Moment war alles verschwunden.

Ich war wieder da, als ich mein Handy entsperrte, um ein Video davon zu machen, wie er sang, wie er vor mir stand. Ich weiß noch, dass ich ihn am liebsten berührt hätte, um sicherzustellen, dass er, die Person, das Idol, von dem ich besessen, das ich vor dem Fernseher bewundert und in den Medien jahrelang verfolgt hatte, real und keine Halluzination, keine Einbildung war. Ich beobachtete ihn durch mein Handy und dachte: »Bitte schau her! Bitte schau ganz kurz her! Ich bin hier!«

Das Licht ging an. Die Show war vorbei. Die Menschen um mich herum sahen mich, lächelten, grinsten mich sogar an. Ich vermutete, dass sie mich erkannt hatten wegen vorhin. Meine Umgebung kam mir fremdartig vor, entpersonalisiert. Als gehörte ich nicht wirklich dazu.

Eine leichte Brise wehte und die Laternen glommen im Dunkeln. Ich trug mein Lieblingskleid, das dunkelblaue mit den Sternen drauf. Ich roch die Freesiennote meines Parfums, dessen Marke denselben Namen wie die Protagonistin meiner Romanidee trug. Ich hatte es heute morgen aufgetragen, um ihr irgendwie näher zu sein, um heute sie zu werden, um mich in sie zu verwandeln. Und während ich auf die Tram wartete, spielte ich dasselbe Video immer wieder und wieder ab, bis ich es nicht mehr ertragen konnte. Ich war nachts alleine in einer fremden Stadt, in einem fremden Land. Ich hatte keine Angst, sondern fühlte mich fast unbesiegbar. Ich war glücklich. Noch nie habe ich mich so lebendig gefühlt. Und danach würde ein neues Kapitel beginnen, dachte ich. Der Kreis würde sich schließen.

Am nächsten Tag wachte ich wieder ganz normal auf, als ob nichts passiert wäre, als wäre das alles nur ein seltsamer Traum gewesen, der sich verflüchtigt hat. Doch der Tag war real. Das Video existiert. Sogar er hat es gesehen. Und doch zweifle ich an meiner Wahrnehmung, an meinen Gefühlen, an den Geschehnissen, ob sie wirklich so eingetreten sind oder ob mein Gehirn mir die ganze Zeit einen Streich gespielt hat.

Und wenn ich sage, dass die nachfolgende Geschichte reine Fiktion ist, dann ist das gelogen.

Das Licht geht aus und ich stelle mir vor wie ich in einer Geschichte stecke. Ich bin die Hauptfigur und das Schicksal ist der Autor. Oder es geht um ihn, um Luc, den missverstandenen Künstler, der da oben auf der Bühne steht. Es ist unsere Geschichte, die jetzt beginnt und dann ihren Lauf nimmt.

Die ersten Noten werden gespielt. Alle heben kollektiv ihre Handys hoch, sodass ich kleine Duplikate seines Gesichtes auf den hundert Bildschirmen vor mir sehen kann. Nebel umhüllt ihn. Ich sehe, wie Tänzerinnen sich langsam und anmutig zu den Tönen bewegen. Die Menge lauscht seiner Stimme. Ich stehe genau in der Mitte des Raumes, eingequetscht zwischen Fremden.

Hunderte von Augenpaaren verfolgen fokussiert seine Bewegungen. Und niemand traut sich mitzusingen, sich zu bewegen, der Trance zu entkommen. Er ist ein Gott und wir beten ihn gemeinsam an. Wir lassen uns von seiner Stimme leiten, als hätte er die Menge hypnotisiert, einen mächtigen Liebeszauber beschwört. Bemüht balanciere ich auf meinen Zehenspitzen. Meine Schuhe drücken. Ich versuche zwischen den hundert Köpfen und Silhouetten vor mir, etwas zu erkennen, eine Geste, einen Blick. Da ist er. Tatsächlich. In echt sieht er viel besser aus, als auf den Bildern im Internet, im Fernsehen oder sogar auf den retuschierten Plakaten, die auf den Litfaßsäulen und Wänden in der ganzen Stadt beklebt sind. Hier auf dieser Bühne, unter diesem Licht, das seine schönsten Gesichtszüge betont, das die dunkelroten Pailletten auf seinem Kostüm so magisch glitzern lässt, sieht er aus wie ein echter Künstler, der sich der Menge anvertraut, seine Geschichte erzählt, der uns seine Seele öffnet. Auch wenn ich hier hinten stehe, glaube ich zu spüren, dass er nur für mich singt, als würde er meine Präsenz spüren können. Als wäre es vorbestimmt worden, dass ich hier auftauchen würde.

Die Bewunderung lässt nach. Langsam gewöhne ich mich an seine Präsenz und betrachte die ganzen anderen Zuschauerinnen. Die meisten sind noch nicht einmal mit der Schule fertig, haben sogar ihre Eltern mitzerren müssen. Er sieht sie alle an, diese von ihm geblendeten, geisteskranken Fans, die ihre kostbare Zeit und Energie an ein Idol verschwenden. Und ich höre sie kreischen, sehe wie sie fast in Ohnmacht fallen. Aber mich scheint er nicht zu sehen, als wäre ich unsichtbar. Oder als würde er durch mich hindurch sehen, als würde ich nicht existieren. Und er wird niemals von all dem wissen, was er mir bedeutet, was er mich fühlen lässt, wie er mein Leben auf den Kopf gestellt hat.

Ich stehe draußen vor der Halle und zünde mir eine Zigarette an, lasse mir die Show durch den Kopf gehen, wie einen Film in Dauerschleife.

Ich kann nicht fassen, dass ich tatsächlich Luc gesehen habe. Luc Morel. Den Luc, den ich so lange bewundert habe, der mich zu der Person gemacht hat, die ich heute bin. Der Luc, der meiner Kunst Farbe verleiht, der meinen Texten Worte gibt. Luc, meine Inspiration, meine Muse, mein Lebenssinn. Je länger ich an ihn, an seinen Namen denke, desto bizarrer kommt mir das alles vor.

Ich schaue dankbar in den schwarzen Himmel. Die Mondsichel leuchtet mich so mystisch an und erinnert mich an ihn, wie ich ihn aus der Ferne bewundere und wie er mich immer wieder verfolgt, wenn ich einen Schritt mache und dennoch unerreichbar bleibt.

Vielleicht hat er mich auch gesehen. Vielleicht denkt er an mich. Ich werde es nie wissen. So stehe ich alleine unter dem Nachthimmel, romantisiere meine Melancholie. Es beruhigt mich. Ich fühle mich im Reinen mit mir selbst, als könnte mich jetzt nichts und niemand aus der Ruhe bringen, diesen friedvollen Zustand in mir zerstören, bis mich schrille, Stimmen aus der Träumerei reißen.

Ich blicke zum Parkplatz vor mir und beobachte eine Gruppe von Mädchen im Teenageralter. Ungefähr zehn, fünfzehn Personen. Unter diesem gelben Laternenlicht sehen sie sich alle so ähnlich, mit ihrem fast identischen Kleidungsstil, die Strickjacken, die gleichen Schnitte der Hosen, die gefärbten Haare, die Art und Weise wie sie sich schminken, um älter und reifer zu wirken. Ich frage mich wie alt sie wohl wirklich sind, ob sie eigentlich noch so spät draußen sein dürfen.

»Oh mein Gott, da ist Luc!«, höre ich eine von ihnen rufen. Sie trägt eine Zahnspange. Wie besessen laufen sie einem schwarzen Auto hinterher, machen Fotos und Videos mit Blitzlicht, schreien abwechselnd undeutliche Dinge. Niemand beachtet mich. Ich stehe ganz hinten und beobachte das Szenario, wie durch ein Schaufenster, als wäre ich außerhalb dieser Szene. Eine Zuschauerin.

Eines der Mädchen hält ein Plakat, aber ich kann nicht entziffern, was da drauf steht. Auf der Rückbank lässt jemand die verdunkelte Scheibe hochfahren. Das Auto setzt sich in Bewegung und lässt die kreischende Menge zurück.

»Glaubt ihr, er hat uns gesehen?«, fragt eine. Ein Mädchen bricht zusammen und fängt hysterisch an zu weinen. Ein paar andere kommen auf sie zu und versuchen, sie zu trösten. Ich sehe, wie sich die kleinen, armseligen Schülerinnen umarmen. Peinlich berührt verziehe ich mein Gesicht und drücke die Kippe aus.

Mitternacht. Vier Nullen stehen auf meinem Display, die mir etwas ankündigen wollen: Ein Neuanfang, ein neues Kapitel. Ich laufe durch die Straßen, gehe an Neonschildern, an rauchenden Menschen vor Lokalen vorbei. Ich stelle mir vor, wie er neben mir laufen würde, wie ich seine warme Hand halten würde, während wir spazieren und miteinander sprechen. Ich weiß nicht, worüber wir reden würden. Vielleicht würde ihm eine Anekdote einfallen. Ich würde gespannt zuhören. Bestimmt würde er einen Witz machen und versuchen, mich zum Lachen zu bringen. Ich weiß nicht, wie er das anstellen würde, aber ich kann es mir mühelos vorstellen, als wäre es echt gewesen, wie eine Erinnerung, die ich zu verdrängen versucht habe. Ich senke meinen Blick zum orangen beleuchteten Bürgersteig und höre meinen eigenen Gedanken zu, die mir Dinge zuflüstern: Dass Luc mich doch gar nicht kennen würde, dass ich ein Phantom verfolgen würde. Ich beschleunige, als würde ich vor meinen Gedanken fliehen, vor der Negativität weglaufen.

Abrupt spüre ich kurz etwas meinen Arm streifen. Es war keine gewöhnliche Berührung. Es hat sich so angefühlt, als hätte mich ein kurzer Stromschlag getroffen. Ich sehe weiße Blitze vor meinem geistigen Auge, als würde ich gleich ohnmächtig werden. Der Boden ist weich wie Watte.

»Seelenverwandte finden immer den Weg zueinander. Das Universum bringt sie immer Stirn an Stirn zusammen«, ist ein Spruch, an den ich gerade denken muss. Er ist in diesem Moment einfach so in meinem Kopf aufgeblitzt. Ich habe ihn irgendwo gehört, aber mir ist entfallen, wo und wann. Ich drehe mich um und starre die Person an, die mich ebenfalls ungläubig mustert.

»Entschuldigung, kennen wir uns?«

»Nein, ich glaube nicht«

Pause. Ich analysiere ihn von oben bis unten. Er sieht aus wie Luc. Ich glaube, dass ich rot geworden bin. Auf gar keinen Fall darf ich mir anmerken lassen, dass ich ihn erkannt habe. Er lächelt mich an.

Es passiert alles so schnell. Eins folgt dem anderen. Da sitzen wir uns gegenüber auf dunklen Barhockern. An der Wand steht ein Regal mit Flaschen aus Glas, die unter dem sanften Licht glitzern. Kellnerinnen mit Tabletts laufen hektisch durch den Raum, was nicht zur ruhigen Klaviermusik im Hintergrund passt.

»Wie heißt du?«, fragt mich mein Gegenüber.

»Chloé, und du?«

»Ich heiße Luc«

»Freut mich«

Zwei Gläser Weißwein werden uns gebracht. Wir stoßen an, schauen uns in die Augen, trinken ein paar Schlücke. Die Menschen um uns herum sprechen zwar durcheinander und klirren mit Geschirr, aber ich verstehe jedes seiner Worte glasklar. Es fällt mir gerade nicht schwer, die Geräuschkulisse auszublenden. Dauernd frage ich mich, ob ich gerade träume, ob ich bald aufwachen würde. Irgendwie passt hier nichts zusammen.

Er bemerkt mein Grübchen auf meiner rechten Wange und findet es »süß«. Ich lächle, schäme mich ein bisschen und weiß nicht wieso. Mein Herz fängt an schneller zu schlagen. Es kommt mir so seltsam vor, ein normales Gespräch mit ihm, mit meinem Idol zu führen, was bisher nur in meinen Träumen vorgekommen ist.

Ich fange an, Fragen zu stellen, über ihn, über seine Person, dessen Antworten ich schon auswendig kenne. Ich strenge mich an, mich nicht zu verraten, versuche stattdessen überrascht und verblüfft zu wirken, wenn ich erfahre, dass ich dieselben Ansichten habe wie er. Unsere Konversationen werden dauernd mit Sätzen wie »Das denke ich genauso« oder »Es ist unglaublich, aber mir ist das gleiche passiert« und »Ah, wirklich?« oder einem »Es fühlt sich so an, als würde ich mit jemandem reden, der mich wirklich versteht« unterbrochen.

Ich blicke kurz sehnsüchtig zu den Paaren auf der Tanzfläche, die sich zur Musik bewegen.

»Komm, wir gehen tanzen«, schlägt er plötzlich vor, als hätte er meine Gedanken gelesen. Ich schaue verblüfft.

»Ich kann überhaupt nicht tanzen. Ich würde uns nur blamieren«

Trotzdem steht er auf und reicht mir seine Hand.

Wir tanzen einen Walzer, drehen uns im Kreis, sodass die Umgebung langsam verschwimmt. Niemand beachtet uns, als wären wir ganz alleine. Nur er und ich. Sein Gesicht sieht aus der Nähe noch schöner aus, in diesem warmen Licht. Wie gern würde ich seine Wangen berühren, um zu wissen, wie sich seine Haut anfühlt.

Der Alkohol fängt an, sich mit den Glückshormonen in meinem Blut zu vermischen. Dann fangen wir an, Witze zu machen, zusammen zu lachen, was so einfach und ganz natürlich geschieht, als würden wir uns schon eine Ewigkeit kennen.

Nicht einmal das Schweigen ist uns peinlich. Luc kommt mir vor wie ein Freund, den ich lange nicht mehr gesehen habe, als hätten wir uns auseinandergelebt und müssten uns noch einmal kennenlernen.

Nach einigen Stunden Konversation mit ihm, habe ich das Gefühl, dass er mich für nichts verurteilen würde, dass er mich genauso gut verstehen könnte, wie er sich selbst, dass er eine Person ist, vor der ich mich nicht mehr verstellen oder verstecken muss. Nach und nach fühle ich mich sicherer, leichter, sodass jegliche Spuren von Unsicherheit verschwinden. Ich beginne zu vergessen, dass er mich gestern noch gar nicht kannte.

Die Gäste verlassen nach und nach das Lokal, sodass es ruhiger und leerer wird, so wie die beiden Gläser auf dem Tisch. Man hört nur noch leise Klaviertöne im Hintergrund.

»Ich kann mir vorstellen, dass du es nicht wirklich leicht hast mit so vielen Fans, die dauernd etwas von dir wollen«, merke ich an.

»Ich habe mir diesen Beruf ausgesucht, also hätte ich es früher oder später erwarten müssen. Aber wer wäre ich eigentlich ohne sie?«

Er schaut zu Boden.

»Darf ich ehrlich zu dir sein?«

Ich nicke gespannt.

»Ich wollte eigentlich nie bewundert, sondern einfach nur verstanden werden. Ich wollte, dass jemand mich sieht und sich denkt ‚wow da ist jemand, der dasselbe durchmacht wie ich‘. Ich wollte einfach nur zeigen, was in meinem Kopf vorgeht, wollte meine Ideen teilen, etwas erschaffen und hätte nie gedacht, dass es bei so vielen Menschen so positiv ankommt«.

Es klingt so, als hätte ich diese Wörter irgendwo aufgeschrieben, als hätte ich vor ein paar Wochen das gleiche gedacht.

»Genau deshalb mache ich auch Kunst. Ich male, ich mache Collagen, schreibe Texte und klebe sie auf Leinwände. Ich mache das eigentlich nur für mich. Kunst hat keine Trends. Meine Werke sind zeitlos. Sie haben kein Verfallsdatum«

Ich zeige ihm Fotos aus meiner letzten Ausstellung. Ich swipe durch meine abstrakten Gemälde, schwarz-weiße Collagen mit Textschnipseln aus Zeitungen, Notizen, die ich über ihn verfasst habe, von meiner Obsession zu ihm. Glücklicherweise konnte man meine Schrift auf dem Bild nicht so gut lesen.

»Das hier habe ich für vierzigtausend verkauft«

Sein Gesichtsausdruck ändert sich. Er hebt kurz die Augenbrauen, als er die Summe hört.

»Wow, vierzigtausend, wirklich?«

Ich bejahe. Er fängt an, mir Komplimente zu geben. Luc Morel, mein Idol, gibt mir tatsächlich Komplimente. Daraufhin packe ich mein Handy wieder ein.

»Du machst alles richtig. Am liebsten würde ich etwas kreieren, ohne dass mir jemand diktiert, was ich zu tun habe. Ohne vom Publikum unter Druck gesetzt zu werden, das immer auf etwas Neues wartet. Ich habe keine Lust anderen gefallen oder mich dauernd neu erfinden zu müssen. Ich würde so gerne eine eigene, kleine Welt erschaffen, in der ich so sein kann, wie ich bin. Am liebsten wäre ich so wie du. Niemand würde mich kennen, niemand würde etwas von mir wollen und gleichzeitig hätte ich alles, was ich will«

Ich kann mein Lachen nicht verkneifen.

»Haha, ja, genau. So wie ich«

Ich bin kurz davor, ihm alles zu beichten, was in meinem Kopf so brodelt, wie besessen ich doch sei, dass ich ihn schon jahrelang vergötterte. Ich erzählte ihm fast, wie sehr ich an mir zweifelte, dass ich eigentlich schon immer so sein wollte wie er und sein Niveau niemals erreichen könnte…

Ich schaffe es aber noch, mich zurückzuhalten. Stattdessen halte ich mir die Hand vor den Mund, um zu signalisieren, dass mir mein Lachen einfach so herausgerutscht ist und ich es nicht so gemeint habe.

»Weißt du, ich wollte bekannt sein. Ich wollte, dass mir die Welt zu Füßen liegt. Heute habe ich alles, was ich will, aber langsam bekomme ich Angst, dass ich eines Tages vergessen werde, warum ich damit angefangen habe. Dass ich mich dann nur noch auf den Gewinn konzentriere. Und ich denke, dass das Schicksal mich heute zu dir geführt hat, damit ich wieder erkenne, warum ich das tue, was ich tue«

Irgendwie passt es nicht zusammen. Er hält inne und sagt plötzlich: »Ich habe von dir geträumt, Chloé«

Ich beobachte den Sonnenuntergang, der den Himmel in warme, lebhafte Farben taucht. Die Wellen des Meeres rauschen und geben der Luft einen Hauch von Salz. Der Wind weht durch meine Haare, pustet Sand auf das Strandtuch, auf dem ich sitze. Es wird langsam kälter. Ich drücke Luc näher zu mir, damit uns etwas wärmer wird.

Alle interessieren sich, wo er jetzt ist, doch niemand weiß es. Nur ich. Und niemand weiß von mir. Niemand weiß von uns.

Letzte Woche waren wir spontan aufgebrochen, um vom Alltag zu fliehen, um einfach nur alleine zu sein, weit weg von den Menschen, die wir kennen, von den Menschen, die ihn erkennen könnten. Er kam auf mich zu mit zwei Flugtickets, die er impulsiv gekauft hatte. Er meinte, dass er nachdenken müsste, über ein neues Album, einen Roman oder sowas.

Er hatte so schnell gesprochen wie ein Wasserfall, sodass ich nicht alles begreifen konnte. Ich wollte ihn nicht unterbrechen. Er versuchte nämlich sein Bestes, mich zu überzeugen, mich zu überreden. Ich erinnere mich, dass er Dinge erwähnte wie:

»Versprich mir, dass du mitkommst! Ich möchte keine Sekunde ohne dich verbringen!« und »Lass uns einfach Spaß haben, als würde uns niemand kennen«.

Es ist, als wäre ich in einer kitschigen Liebesgeschichte, in der alles viel zu schön, viel zu perfekt abläuft. Wie in einem Film, einer Romanze, nur ohne Hindernisse, ohne Intrigen. Morgens gehen wir Hand in Hand durch die malerischen Gassen einer südländischen Altstadt spazieren. Die Morgensonne lässt seine blonden Haare golden wirken. Wir zeigen uns und niemand erkennt uns. Wir sind unverwundbar. Hier fühlen wir uns frei, wie ein normales Paar von vielen, das sich in der Öffentlichkeit lieben kann, deren Namen niemand kennt. Dann sitzen wir auf der Terrasse eines Cafés, beobachten die Menschen, die zur Arbeit eilen, die ihre Gespräche auf fremden Sprachen führen. Kaffee wird gebracht. Der Duft steigt mir in die Nase. Es riecht nach Glück. Und ich habe das Glück, Luc zu kennen, Luc lieben zu können und zu wissen, dass er mich zurückliebt. Ich kann mir nicht vorstellen jemanden genauso stark lieben zu können wie ihn.

Dann gehen wir ans Meer. Er führt mich an abgelegene Orte, an denen sich fast niemand aufhält, an denen das Wasser so klar und unberührt scheint. Wir gehen in Museen, besuchen zeitgenössische Galerien, in denen ich ihm die Werke erkläre, sind bis spät in die Nacht unterwegs und führen Gespräche unter dem Mondlicht.

»Wir sind ein Team«, sagt er mir.

»Wir gehören zusammen« und »Mit dir ist mein Leben perfekt«.

»Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie ich ohne dich gelebt habe«

»Ich werde dich nie verlassen«

»Ich werde immer gut zu dir sein«

»Ich tue alles für dich«

Ist es nicht seltsam? Man wünscht sich etwas vom ganzen Herzen und dann, ganz plötzlich, wenn man kurz blinzelt, wenn man es am wenigsten erwartet, geht es in Erfüllung. Alles, wonach man sich jahrelang gesehnt hat, ist plötzlich einfach da.

Und am Ende ist es noch schöner, als man es sich jemals erträumen konnte. Ich bin wunschlos glücklich. Es gibt nichts mehr wonach ich streben wollen würde. Ich habe mein Ziel erreicht.

Nicht alles ist für immer. Nicht alles hält ewig. An einem regnerischen Tag fliegen wir wieder nach Hause, ziehen dunkle Koffer mit uns und müssen uns wieder unter dunklen Kleidungsschichten verhüllen, uns verstecken. Ich weigere mich neben ihm zu laufen, sonst könnte ich und unsere Beziehung auffliegen. Die liebeskranken Teenager würden mich wie hungrige Wölfe zerfleischen. Schon ein flüchtiger Blick könnte mich sofort verraten.

Ich höre unsere eigenen hektischen Schritte, die nach Hause eilen, die sich vor der Außenwelt isolieren wollen. Die Geräusche vermischen sich mit einem leisen, undeutlichen Flüstern unter meinen Schuhen.

»Chloé«

»Du hast ihn nicht verdient«

»Das weißt du ganz genau«

Viel Zeit ist vergangen. Nach und nach verblassen die magischen Momente. Unsere Liebe ist fast nur noch eine Erinnerung.

Ich verbringe die Tage alleine in der Villa. In einem riesigen, modernen, quaderförmigen Gebäude mit hohen Fenstern, einem quadratischen Pool im Garten, in dem das Wasser unter den Sonnenstrahlen glitzert, einem majestätischen Springbrunnen vor der breiten Haustür. Ein großes Tor, das fast immer geschlossen bleibt. Ein massiven Zaun isoliert uns vor der Außenwelt.

Der Funke ist fast erloschen. Luc kommt manchmal später nach Hause. Dann hat er keine Zeit. Er ist da und er ist verschwunden.

Ich werde nachdenklich. Ich denke über Dinge nach, über die er nicht spricht. Ich erfinde etwas. Ich erfinde eine zweite Chloé, eine bessere, schönere Chloé, die eigentlich ganz anders aussieht als ich. Ich erfinde eine andere Frau, die bei ihm ist.