Folker und das Influencer - Rich Schwab - E-Book

Folker und das Influencer E-Book

Rich Schwab

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Beschreibung

Über 300.000 Follower auf YouTube? Ein Grund zur Freude – sollte man meinen. Dass sich einer von ihnen als unheimlicher Stalker entpuppt, schmälert die Freude der schönen Henriette, genannt Henry, allerdings gewaltig. Zu allem Überfl uss weiß die 20-Jährige nicht so recht, ob sie lieber die oder der Henry sein will. Folker, mal wieder unsterblich verliebt, hofft auf Ersteres. Erst recht, wenn es ihm, Taifun und Jupp gelingt, den Stalker zur Strecke zu bringen. Was gar nicht so leicht ist, wo doch Regina nach einem Überfall schwer verletzt im Krankenhaus liegt und die drei sich im Herbst 2024 gleichzeitig auf die Suche nach den Übeltätern machen müssen …

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Seitenzahl: 443

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Rich Schwab

Folker und das Influencer

Rich Schwab

Folker und das Influencer

Der dritte Folker Schmittem-Roman

Für Elisabeth Dünkelmann und Anna Maria Quast, die aus mir einen brauchbaren Hausmann gemacht haben. Glaube ich.

© Dittrich Verlag in der Velbrück GmbH Verlage, 2025

Meckenheimer Str. 47 · 53919 Weilerswist-Metternich

[email protected]

www.dittrich-verlag.de

Printed in Germany

ISBN 978-3-910732-90-2

Satz: Gaja Busch, Berlin

Coverlayout: Katharina Jüssen, Weilerswist, unter Verwendung einer Fotografie aus dem @ adobe stock

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Prolog

Montag, 30. September 2024

Dienstag, 1. Oktober

Mittwoch, 2. Oktober

Donnerstag, 3. Oktober

Freitag, 4. Oktober

Samstag, 05. Oktober

Sonntag, 6. Oktober

Montag, 7. Oktober

Dienstag, 8. Oktober

Mittwoch, 9. Oktober

Donnerstag, 10. Oktober

Freitag, 11. Oktober

Samstag, 12. Oktober

Sonntag, 13. Oktober

Montag, 14. Oktober

Donnerstag, 17. Oktober

Sonntag, 20. Oktober

Epilog

Danke

Songlist

Der Autor

Berühmt zu sein ist ein irres Gefühl

Schroeder, 1975

Fame puts you there where things are hollow

David Bowie, 1975

Disclaimer

Dies ist ein Roman. Also ein Produkt meiner Fantasie. Es bleibt nicht aus, dass die von der Realität gefüttert wird. Manchmal kann ich nicht einmal selbst beides unterscheiden.

Am besten wird wohl sein, Ihr versucht es gar nicht erst.

dramatis personae

Das Stammpersonal:

Folker Schmittem, 45. Verkrachte, manchmal depressive, trinkfeste Musikerexistenz. Ein liebenswürdiger Chaot mit einem unglaublichen Schlag bei Frauen, eine Gabe, die ihm auch schon mal zum Verhängnis wird. Raucht Selbstgedrehte ohne Filter. War als Straßenmusiker sogar schon in Australien. Held aus Versehen.

Joseph ›Jupp‹ Luis Ogoudageah, 37. Folkers bester Freund, Roadie und Zechkumpan mit Wurzeln in Mosambik. Weiß sich als Kampfsportler ganz gut zu wehren.

Regina Peters, 24. Attraktive, liebenswerte kleine Quasselstrippe. Überwiegend mit Jupp liiert. Der ihr gelegentliche Ausflüge zu Sansi nicht übelnimmt.

Taifun Gül, 35. Türkischer Wirt der Zukunft, Größe: 1,95 m, Gewicht: 98 kg. Kampfsportler und -trinker. Gewöhnlich zur Stelle, wenn's brenzlig wird.

Susanne Sieglinde ›Sansi‹ Bartel, 42. Lesbische Wirtin der Sansibar, Mutter der Kompanie. Harte, kunstvoll tätowierte Schale, goldenes Herz. Everybody's lover.

Adele ›Adi‹ Damara, 25. Tresenkraft in der Sansibar. Studiert Deutsch und Geschichte. Senegalesische Eltern. Schwarz, ziemlich groß (1,91) und sehr schlank. Spitzname daher ›das lange Laster‹.

Svenja Schiermann, 32. Ex-Kellnerin in der Sansibar, hatte mal was mit Folker, ist aber seit fünf Jahren Taifuns Freundin und Kellnerin in der Zukunft.

Neue Rollen spielen:

Henriette ›Henry‹ Boeckler, 21. Erfolgreiche YouTube-Influencerin mit Haushaltstipps für Singles und junge Paare (über 300.000 Follower). Hat sich noch nicht entschieden, ob sie Weiblein oder Männlein sein möchte. Oder beides. Und zu welchem Geschlecht sie sich hingezogen fühlt. Oder zu beiden …?

Christoph Hermanns, 49. Hat die falsche Frau geheiratet, was ihm nicht gut getan hat. Wo er doch seine Tochter so sehr liebt.

Astrid Hoffmann, 59. Malerin und hilfsbereite Nachbarin. Abenteuerlustige und sinnenfreudige, autarke Single-Frau.

Lotto-Günther, um die 60. Obdachloser Stammgast in Folkers Hauseingang. Und immer mal wieder für eine Überraschung gut.

›Theo‹, 19, Leon, 20, und ›Bubi‹, 17. Wohlstandskinder. Haben neben Abhängen, Kiffen, Saufen und Sex leider auch unschöne Hobbys.

Anna Theobaldy, 46. Theos überforderte Stiefmutter.

Diverse Polizeibeamt:innen, Kneipengäste, Nachbarn und Helfershelfer.

Prolog

»Das ist eine schöne Pflanze – wie heißt sie?«

»C'est une jolie plante – quel est son nom? … Repetez!«

»C'est une jolie plante …«, wiederholte sie. Ich glaub, ich werde tatsächlich besser, dachte sie stolz. Dabei hatte sie anfangs befürchtet, dass Französisch absolut nicht ihr Ding sei. Aber in den letzten drei Monaten hatte sie spürbare Fortschritte gemacht. Sie lächelte vor sich hin. Ihr Liebster würde staunen, wenn sie beide im Dezember in Mosambik landeten und sie sich mit den Einheimischen unterhalten konnte, ohne Hände und Füße zu Hilfe zu nehmen. Oder eine Übersetzungs-App. Mann, wie sie sich auf die Reise in das Land seiner Vorfahren freute! Beschwingt ging sie etwas schneller.

Von irgendwoher schmuggelte sich Musik an ihren Earbuds vorbei. Brings, erkannte sie, das Lied von der bunten Brücke. Brings, die Kölschrocker, und dieser Rapper.

Sie sah auf. Ein Stück weiter, im Halbdunkel zwischen zwei Straßenlaternen, saßen drei Jungs auf dem Mäuerchen zum Römerpark, einen Ghettoblaster neben sich. Sonst war weit und breit niemand zu sehen.

Eine Marihuana-Wolke wehte von dem Grüppchen zu ihr herüber. Kurz erwog sie, die Straßenseite zu wechseln – Mitternacht war lange vorbei, meist keine gute Zeit, um sich auf der Straße anquatschen zu lassen, schon gar nicht in der Kölner Südstadt. Aber die drei da vorn machten einen harmlosen Eindruck, kifften halt ein bisschen, hörten Musik und kicherten fröhlich. Trotzdem schloss sie für alle Fälle die Hand um die Pfefferspray-Dose in ihrer rechten Jackentasche.

»Braucht sie viel Wasser?«

»Elle a besoin de beaucoup de …«

»Na, auch 'n Schluck?« Einer der Jungs lachte sie an und schwenkte eine Cognacflasche. Die Frisur des schmalen Typen neben ihm leuchtete regelrecht im Halbdunkel – er hatte stroh-, fast weißblonde, raspelkurz geschorene Haare.

Sie schüttelte nur stumm den Kopf, lächelte ihn jedoch freundlich und bedauernd an. Er trank einen Schluck aus der Flasche und zeigte ihr mit der freien Hand den Stinkefinger. Grinste aber, als er die Flasche absetzte.

Harmlos, dachte sie erleichtert und marschierte an ihnen vorbei.

»Dämliche Marienburg-Bitch«, hörte sie im Vorbeigehen. Unterdrückte den Reflex, darauf zu reagieren. Geh einfach weiter, lass dich auf nichts ein. Bringt doch eh nix. Tut's eigentlich nie.

Zwei, drei Schritte. Sie zählte mit. Fünf. Zwölf. Fünfzehn.

Sie wollte schon aufatmen, als sie das Geräusch hinter sich registrierte.

Sneaker auf Asphalt. Jemand rannte hinter ihr her.

Ein Adrenalinstoß schoss durch ihren Körper, sie wollte das Spray aus der Tasche ziehen, blieb mit der Hand am Saum hängen, wollte sich umdrehen …

Zu spät. Ein Tritt mit Anlauf traf ihr Rückgrat, gleich oberhalb des Steißbeins, sie stürzte nach vorn, eine Hand noch halb in der Jackentasche, und landete fast ungebremst mit dem Gesicht auf der Straße. Geschockt und halb bewusstlos spürte sie, wie sie am Jackenkragen hochgerissen wurde.

»Bist dir wohl zu schade, mit mir aus einer Pulle zu trinken, was?«, zischte jemand ihr ins Ohr. Und langte grob zwischen ihre Beine. Jemand mit einer scharfen Cognac-Fahne.

Nicht mit mir, Arschloch! Sie rammte ihm den Ellenbogen in den Magen. Er keuchte auf, und in rascher Folge schlug er ihr die Faust in den Bauch, stieß seine Stirn auf ihre Wange und trat ihr in die Kniekehle. Hart prallte sie mit den Knien auf den Asphalt, konnte endlich die Hand mit dem Pfefferspray befreien … Aber das Döschen nicht festhalten – klackernd rollte es über den Boden.

»Ach, nee …!«, sagte der Typ, und sie konnte das hämische, triumphierende Grinsen hören. Wieder zerrte er sie hoch. »Komm, Schatz, wir geh'n mal 'n bisschen auf die Wiese.«

»Lass den Quatsch!«, sagte eine zweite Stimme. Die ganz anders klang.

Was? Du bist gar kein …? Sie wollte den Kopf drehen und hochblicken, aber da traf sie der Spann eines Turnschuhs mitten ins Gesicht.

Danach konnte sie nur noch hilflos auf dem Boden liegen und es geschehen lassen, dass Blut aus ihrer Nase strömte, vier Hände ihre Taschen durchwühlten und ihr die Earbuds aus den Ohren fummelten. Bis weitere Tritte, ein letzter an ihre Schläfe, gnädig einen schwarzen Teppich über sie senkten.

Da steht 'ne bunte Brücke mitten in der Stadt, hörte sie Peter Brings noch von weit, weit weg, dort findet jede Farbe sicher einen Platz. Wir halten sie, und sie hält uns ganz fest zusammen …

Dann nichts mehr.

Montag, 30. September2024

»Mann, wie kann man nur so stur sein!«

Folker zuckte zurück – Bertram hatte in seinem Eifer eine mehr als feuchte Aussprache. Hinter der Theke grinste Adi, genannt das lange Laster, mitfühlend und legte rasch einen Bierdeckel auf sein halb volles Kölschglas. Ansonsten hatte sie nicht mehr allzu viel zu tun – es war bald ein Uhr, und die meisten der wenigen Montagabendgäste hatten sich längst verkrümelt, gehörten wohl zur arbeitenden Bevölkerung und mussten in ein paar Stunden schon wieder die größere Wirtschaft ankurbeln.

Folker kniff ein Auge zu – es konnte doch gar nicht sein, dass Adi plötzlich vier Augen und zwei Münder hatte, oder? Sollte er etwa schon betrunken sein? Nach gerade mal zwölf oder fünfzehn Bierchen?

Falls ja, dann von Bertrams endlosem Gelaber, dachte er, ignorierte die fünf Kabänes auf seinem Deckel und versuchte sich auf Adis Playlist zu konzentrieren; Bryan Ferry sang Boys and Girls. Gutes Stichwort. Folker sah sich kurz um. Schlechte Aussichten. Links am Ende des Tresens hockte Margot auf ihrem Stammplatz und sah aus, als schliefe sie schon halb, vielleicht träumte sie aber auch davon, was sie ab dem nächsten Sommer als Rentnerin alles unternehmen würde. Rechts am anderen Ende spielte ein Heteropärchen Frischverliebt-Sein, und an Tisch drei kläffte sich die fünfköpfige lesbische Doppelkopfrunde wegen eines umstrittenen Stichs an. Sehr leidenschaftlich, was bei der siebten Flasche Grauburgunder aber auch kein Wunder war. Und das war's. Folker seufzte. Mal wieder ein einsamer Heimweg, eine weitere Nacht allein …

»Vielleicht hast du mir nicht richtig zugehört.« Natürlich ließ Bertram nicht locker. Er hatte schließlich eine Mission. »Ich hab deine CD rauf und runter gehört, -zig Mal, sage ich dir, und ich kann jeden Song im Schlaf begleiten. Jeden verdammten Song, hörst du? Und zwar vom Feinsten! Und ich war bei mindestens sechs oder sieben Gigs von dir – du brauchst einen Mitmusiker, Folker! Und was könnte besser all deine Mitmusiker auf dem Album ersetzen als ein Akkordeon? Und wer könnte das besser spielen als ich?«

»Pete Haaser?«, brummte Folker.

»Pah!«, spie Bertram aus und wandte sich an Adi. »Machst du uns noch zwei?« Sie starrte ihn ausdruckslos an. »Bitte«, schob er nach. Sie deutete ein Geht-doch-Nicken an und griff zum Zapfhahn und zwei leeren Gläsern.

»Jetzt hör du mir mal zu«, sagte Folker, nachdem er sein Glas geleert hatte, und legte Bertram eine Hand auf den Unterarm. »Erstens: Du bist bestimmt ein ganz wunderbarer Mensch und Mitmusiker. Vielleicht bist du ja sogar der beste Akkordeonspieler, den ich in der Stadt finden könnte. Aber zweitens: Ich brauche kein Akkordeon. Ich will keins. Denn drittens: Mein Akkordeonspieler ist letztes Jahr gestorben, er wurde ermordet, wenn du's genau wissen willst, und jedes Mal, wenn ich jemanden dieses Instrument spielen höre, werde ich daran erinnert. Und es zerreißt mir das Herz. Jedes verdammte Mal. Und ich kann es viertens nicht brauchen, dass ich auf der Bühne bei jedem Song anfange zu heulen, kapierst du das nicht?«

Bertram schüttelte mit verkniffenem Mund den Kopf.

»Wir könnten's doch wenigstens mal probieren. Nur einmal proben …«

»Nein!«

»Pass auf. Ich hab so 'nen Kassettenrekorder. Ich lass deine CD laufen, und dann spiel ich dazu und nehm das auf. Dann hörst du dir die Kassette mal an, und dann reden wir noch mal …« Bertram verstummte, weil Folker ihm einen nassen Bierdeckel auf den Mund drückte.

»Wow!«, rief Folker. »Van The Man! Pass du mal auf, Bertram – was da gerade läuft, das ist Summertime in England. Das Stück dauert fünfzehn Minuten und siebenunddreißig Sekunden, und wenn du da jetzt auch nur einmal dazwischenquatschst, hau ich dir 'nen Aschenbecher auf 'n Kopp. Klar?« Bei jedem der letzten Worte verstärkte er den Druck auf den Unterarm.

Bertram machte große Augen und nickte eingeschüchtert.

Nach vier Minuten trottete er aufs Klo. Was ihn vollends disqualifizierte.

Zwei Minuten später ging die Kneipentür auf. Drei lachende Mädels, eine hübscher als die andere. Und alle drei um die zwanzig. Folker fühlte sich ziemlich alt.

***

Dann erkannte er die mit den kastanienbraunen Haaren.

Sie war ihm vor einigen Wochen schon mal aufgefallen, auch hier in der Sansibar, aber das war an einem Freitagabend gewesen, der Laden rappelvoll, und sie war mit einer ganzen Clique unterwegs gewesen.

»Vergiss es, Folker«, hatte Sansi, die Wirtin der Sansibar, geknurrt, als sie seine Blicke bemerkte.

»Wieso?«, hatte er entrüstet gefragt.

»Erstens ist die viel zu jung für dich, zweitens mag sie kein Bier – und auch keine Biertrinker –, und drittens ist sie ein Promi. Was soll die mit einem wie dir?«

»Ich bin auch 'n Promi«, hatte er beleidigt erklärt, sich aber widerwillig wieder zur Theke umgedreht.

»Na, klar doch«, lenkte Sansi ein und tätschelte seine Hand. »Schließlich hattest du dieses Jahr schon mehr als elf Auftritte und fast zweihundert CDs verkauft.«

»Woher weißt du das alles überhaupt?«

Sie sah ihn erstaunt an. »Na, weil ich mir deine Abrechnungen auch schon mal angucke – ich will doch wissen, was aus meinen Investitionen geworden ist. Im Gegensatz zu dir, anscheinend.«

»Nee, ich meine, über sie.«

»Ach so. Na ja, sie war schon ein, zwei Mal hier, und Regina kennt sie natürlich. Also, nicht persönlich, aber von ihrem You-Tube-Kanal. Und in der Eifel hat man ja abends viel Zeit, sich Videos anzugucken.«

Seit Anfang des Jahres verbrachte Sansi die Wochentage bis Freitagmorgen in dem alten Bauernhof, den sie mit Folkers verstorbenem Freund Jimmi zusammen gekauft hatte und jetzt gemeinsam mit der betagten Nachbarin Schäfisch bewohnte.

»Und was gibt's da zu sehen?«, fragte Folker.

»Henry. Heißt eigentlich Henriette, verabschiedet sich am Ende ihrer Clips aber mal mit ›eure‹, mal mit ›euer Henry‹. Sie gibt, und das erstaunlich erfolgreich, Haushaltstipps. Für Singles und junge Pärchen.«

»Haushaltstipps …« Er schüttelte den Kopf, konnte aber nicht umhin, sich dabei zu fühlen wie sein eigener Großvater. »So was wie ›Steckt eure süße kleine Katze nicht in die Mikrowelle‹? Oder ›Vorsicht, euer Kühlschrank taut ab, wenn ihr ihn die ganze Nacht auflasst‹?«

Sansi grinste. »Du würdest staunen. Letztens hab sogar ich noch was von ihr gelernt. Wusstest du, dass du einen verstopften Abfluss mit Essigessenz und Natron wieder freikriegst?«

»Klar«, behauptete Folker. »Natron rein, Essig drauf – schäumt wie Sau, und der Schaum zersetzt den Schmodder im Siphon. Geht aber auch mit Cola.«

»Cola?« Sansi schüttelte sich. »Oder wusstest du, dass deine Zähne wieder heller werden, wenn du sie regelmäßig mit der Innenseite von Bananenschalen abreibst? Wäre für dich Kettenraucher wohl auch nicht der schlechteste Tipp.«

Er winkte ab. »Mein Zahnarzt sagt, wenn ich nicht bald aufhöre zu rauchen, hab ich in absehbarer Zeit sowieso keine Zähne mehr. Aber egal – mit so was wird man also Promi?«

»Zumindest hat sie über dreihunderttausend Follower und Abonnenten. Und verdient bestimmt schon ganz schön Asche mit Werbeeinnahmen.« Sansi stockte. »Wäre ja vielleicht gar keine so blöde Idee, dich mit ihr zu verkuppeln – meines Wissens liegen da noch an die zweitausend CDs, schön eingeschweißt, im Büro deines sogenannten Managers …«

»Manni ist nicht mehr mein Manager«, knurrte Folker. »Ich hab ihm gekündigt.«

»Und die CDs mitgenommen?«

»Nee, muss ich bei Gelegenheit noch abholen.«

»Folker …!«

»Jaaa, mach ich.«

»Wann?«

»Nächste Woche.«

Sansi hatte die Augen verdreht, ihm noch kurz mit einem erhobenen Zeigefinger gedroht und sich wieder anderen Gästen zugewandt.

»Henry also«, brummte er jetzt vor sich hin und riskierte noch einmal einen Blick auf sie. Wahrhaftig eine Schönheit – die rötlich schimmernden Haare fielen ihr in sanften Wellen auf die Schultern, ihre grasgrünen Augen leuchteten, die vollen Lippen flüsterten Küss mich! Knabber an uns!, und die enge schwarze Jeans über den roten Cowboystiefeln und die passende rote weite Bluse unter der dunkelgrünen Wildlederjacke versprachen höchstes Vergnügen beim Auspacken.

»Och, nee, lasst uns an die Theke gehen«, sagte sie zu ihren Begleiterinnen, einer hübsch molligen Blonden und einer attraktiven Dunkelhaarigen. Lustig, fand Folker, dass die Blonde türkisch aussah und die Dunkle etwas Herb-Nordisches hatte. »Hi, Adi! Kriegen wir noch was?«

Das lange Laster starrte sie stumm an und tat genervt.

»So drei Wodka-Lemon, für den Heimweg? Oder vier, wenn du auch einen möchtest?«

Folker versuchte, Adi unauffällig zu hypnotisieren. Sag ja! Mach ihnen die Drinks, lass sie noch ein bisschen hierbleiben! Hinter ihren schwarzen Augen konnte er sie rechnen sehen: Sie hatte an diesem Abend nicht gerade viel Umsatz gemacht. An dem sie mit elf Prozent beteiligt war – Sansi sorgte gut für ihre Schäfchen.

Adi nickte kurz gnädig, stellte vier hohe Longdrinkgläser parat und füllte sie mit Eiswürfeln.

»Supi, danke!«, zwitscherte Henry, wandte sich an Folker und wies auf den Barhocker neben ihm. »Ist der noch frei?«

Für zwei Sekunden versank er in den grünen Augen.

»Frei, sauber und gemütlich«, brachte er dann heraus. »Wie ich.«

Mit einem kurzen Stirnrunzeln bedankte sie sich, setzte sich und drehte ihm den Rücken zu, um sich weiter mit ihren Freundinnen zu unterhalten. Folker schnupperte hinter ihr her – sie roch ganz leicht nach Gras. Aber nicht nach dem zum Rauchen, sondern nach frisch gemähtem.

Die Mädels jubelten, als Adi ihnen die Drinks servierte.

»Du bist ein Schatz!« Henry schenkte ihr ein strahlendes Lächeln. Wäre die immer stoische Adi nicht schwärzer als Will Smith, wäre Folker gewillt zu wetten, dass sie errötete. Zumindest rang auch sie sich die Andeutung eines Lächelns ab, stieß mit den Mädels an, schrieb viermal vierzehn Euro auf Henrys Deckel und ging hinüber zu dem Pärchen, das schon seit einer halben Stunde vor fast leeren Gläsern hockte.

»… jedenfalls, um das eben noch zu Ende zu bringen«, plapperte die Dunkelhaarige los, »er macht und tut, und ich fange langsam an, die Lust zu verlieren – er küsst, als würde er ein Marmeladenglas ausschlecken, und fummelt an mir rum, als sei ich irgend so 'ne Gummi-Sexpuppe und seine Challenge wäre, innerhalb von dreißig Sekunden drin zu sein. Ich schubs ihn von mir weg und sage: ›Hey, hör mal – nimmst du eigentlich die Pille?‹«

Die beiden anderen Mädels gackerten begeistert.

»Da hat er aber blöd geguckt, was?«, sagte die Blonde.

»Blöd geguckt ist gar kein Ausdruck. Der hat überhaupt nicht kapiert, was ich meinte. ›Eh …, nö …, wieso?‹, stammelt er. ›Tja‹, sag ich, ›ich glaube nicht, dass du der passende Papa für meine Kinder bist. Mir scheint, du gehst jetzt besser.‹ Da wurde der doch glatt pampig. Fängt wieder an, mich zu begrapschen. ›Hey‹, sag ich, ›noch nie was von Nein heißt nein gehört?‹ ›Red keinen Stuss‹, sagt er, ›du willst es doch auch, sonst wär ich doch gar nicht hier.‹«

»Was für 'n Arsch«, warf Henry ein.

»Aber hallo. ›Und hier warst du jetzt auch lange genug‹, sag ich, ›nu' mach 'nen Abgang.‹ Aber meint ihr, der lässt locker? Im Gegenteil – packt mich und drückt mich wieder aufs Bett. Na ja, da hab ich halt gepfiffen.«

Die Mädels kicherten.

»Georgie springt in der Küche natürlich direkt auf die Türklinke, Tür geht auf, und er kommt ins Zimmer gepest, springt neben mich aufs Bett und knurrt den Typen böse an.«

»Autsch!«, freute sich die Blonde. »Mit 'nem Pitbull hat er sicher nicht gerechnet.«

»Schon gar nicht mit so 'nem Monster wie Georgie«, sagte Henry.

Folker zuckte zusammen. Jedoch nicht wegen der Pitbull-Pointe, sondern weil Bertram ihm auf den Rücken klatschte.

»Ja, netter Song«, verkündete er, als Folker herumfuhr. Summertime in England war gerade zu Ende. »Für meinen Geschmack 'n bisschen zu viel Jatz. Ich bin ja eher so der Rocker. Wie du.«

»Tja«, sagte Folker. »So kann man sich irren. Mach's gut, Bertram.«

Hinter ihm krähten die Mädels, dreistimmig, und klatschten sich vor Lachen auf die Schenkel. Bertram grinste und tippte Henry auf die Schulter.

»Wieso hast du keinen Aschenbecher auf 'm Kopp?«, fragte er sie, als sie sich rumdrehte. Verständnislos guckte sie ihn an und suchte offenbar nach einer schlagfertigen Antwort.

»Sie hatte Angst, du könntest drin sitzen«, sprang Folker ein. Hatten die Mädels wieder was zu lachen. Bertram wurde rot, warf ihm einen bösen Blick zu und schlich sich. Henry schenkte ihrem Retter ein flüchtiges Lausbubengrinsen.

»Ach, komm, Henry«, sagte die Dunkelhaarige, »dafür hat er sich ein Bier verdient. Adi!«, rief sie, »kriegen wir noch 'ne Runde?«

Die Playlist sprang weiter. Lucky Day, sang Chris Rea.

»Schöne Playlist«, sagte Folker zu Adi. Sie hob nur eine Augenbraue, etwa zwei Millimeter: Was dachtest du denn …?

***

»Prost und danke!«, sagte Folker, als Adi die neue Runde serviert hatte, und hob sein Kölsch. Aber die Mädels bestanden auf die lästigen Formalitäten – er musste (na ja: durfte) mit jeder von ihnen anstoßen. Mit Henry, mit Silke (die Dunkelhaarige aus Bremen, also richtig geraten) und mit der blonden Aylin (also auch richtig geraten – Folker klopfte sich innerlich beifällig auf die Schulter). Sie fanden es putzig, dass er Volker hieß, aber auf Folker bestand. Und enttäuschten ihn ein bisschen, als sie gestanden, noch nie von ihm gehört zu haben.

»Gibst du mir mal eine von meinen CDs?«, bat er Adi. Sie holte ein Exemplar aus dem Karton unter dem Schnapsregal und legte es auf den Tresen.

»Wow!«, tat Aylin begeistert.

»Cooles Coverfoto«, meinte Silke. Fand Folker auch. Ein sepiafarbenes Bild, er saß auf dem Mäuerchen an der rechtsrheinischen Rheinufer-Promenade vor dem Hyatt und spielte Gitarre, und hinter ihm verschwammen Hohenzollernbrücke, Dom und Hauptbahnhof in Unschärfe und etwas, das wie ein Sonnenuntergang aussah.

»Stimmt«, fand auch Henry und wunderte sich über die Tracklist, als sie das Cover umdrehte. »›Ob blond, ob braun‹, ›Ein Freund, ein guter Freund‹, ›Ich brauche keine Millionen‹ … Komisch – kommt mir alles irgendwie bekannt vor; hast du die geschrieben?«

»Nee«, er grinste und erklärte den dreien seinen genialen Plan, Gassenhauer der zwanziger und dreißiger Jahre in ein moderneres, bluesiges Gewand zu kleiden.

»Interessant«, fand Aylin und sah sich eher gelangweilt in der Sansibar um.

»Was sind denn Gassenhauer?«, fragte Silke. Henry klärte sie auf, bevor Folker dazu kam.

»Und, läuft das?«, erkundigte sie sich.

»Na ja …, geht so«, gestand er wahrheitsgemäß.

»Dann stehen die doch sicher nicht zum Verschenken hier rum, oder?« Sie wandte sich an Adi. »Schreibst du das bitte mit auf unseren Deckel?« Wow, dachte Folker. Das nahm ihn noch mehr für sie ein. Auch wenn es nur ein Zehner war – die Einstellung gefiel ihm, und die Geste zählte.

Sie reichte Silke das Album.

»Die kriegst du ja dann wohl. Silke ist die Einzige, die noch ein CD-Laufwerk hat«, erklärte sie ihm. »Sie macht mir dann davon eine MP3-Playlist.« Wieder mal fühlte er sich alt.

»Danke«, sagte er. »Mögt ihr Kabänes?«

»Na, klar!«, rief Silke. Die anderen beiden schüttelten den Kopf, wollten aber auch nichts anderes. Also kippte er eine Portion Kräuter mit Silke, die sich anschließend die Lippen leckte und ihn verschwörerisch angrinste.

Na, toll – sitze ich hier wie Paris, hab noch nicht mal 'nen goldenen Apfel, soll mich zwischen drei Schönheiten entscheiden, und die falsche flirtet mit mir …

Und dann rief Adi auch noch »Letzte Runde, Kinners!«, tippte an ihrer Playlist herum, drehte die Lautstärke etwas höher und ließ Frank Sinatra You and The Night and The Music singen, wie immer am Ende ihrer Schicht, gefolgt von Chet Bakers Instrumental-Version, die endgültig jede fröhliche Lasst-uns-doch-nocheinen-heben-Stimmung im Keim erstickte.

Sogar die Doppelkopfrunde machte sich, wenn auch grummelnd, zum Aufbruch bereit. Das Pärchen an der Theke tauschte verliebte Blicke, nickte in stillem Einverständnis, und er holte ihre Jacken von den Garderobenhaken in der Ecke. Margot hob müde den Kopf und sah erwartungsvoll Adi an, die ihr wie immer zum Schluss ein Schnapsglas voll Maggi servieren würde – Margot schwor darauf, dass sie morgens deshalb nie einen Kater hatte.

»Ja, wird eh Zeit«, sagte Aylin. »Du hast's ja gut, Henry – heute schon vier Clips auf Halde gedreht. Ich muss morgen mindestens zwei davon zusammenschnippeln.«

»Och, du Arme …« Henry gähnte. »Aber ich merke langsam auch, dass es ein harter Tag war.« Sie zog ein iPhone aus der Jackentasche, Titanblau. »Kann ich hiermit bezahlen?«, fragte sie Adi. Die bedauernd den Kopf schüttelte und Bargeld verlangte. Es stellte sich heraus, dass keins der drei Mädels so etwas Altmodisches bei sich hatte. »Oje …«, murmelte Henry.

Der Weiße Ritter schwang sich auf seinen Schimmel.

»Schreib's bei mir auf, Adi«, sagte Folker. Ohne mit der Wimper zu zucken, notierte sie hundertzwanzig Euro und vierzig Cent auf seinem Deckel. Folker schluckte. Wollte sich aber natürlich nicht lumpen lassen, schon gar nicht vor diesem Publikum. »Plus Tip«, korrigierte er. Adi nickte anerkennend, strich die Summe durch und machte aus der Zwei deine Drei.

»Boah, das ist aber nett!«, fand Henry. »Kriegst du natürlich wieder. Bist du öfter hier?« Adi schnaubte leise.

»Wann immer es dir passt«, sagte Folker, ganz Gentleman. In ihren Mundwinkeln zuckte es.

»Ich könnte morgen Abend mal kurz rüberkommen.«

»Okay. Ich werd hier sein.«

»Fein, dann bis dann. Ich hasse Schulden, weißt du.« Henry und Aylin wandten sich zur Tür. »Silke …?«

Silke stand da und schaute Folker an, als sei sie recht angetan von seiner Heldentat. Schließlich warf sie erst einen raschen Blick zu Adi, dann zu Henry hin, schenkte ihm ein verlegen-resigniertes Vielleicht-ein-andermal-Lächeln und drehte sich ebenfalls zur Tür herum.

»Ja, ich komme mit«, sagte sie betont leichthin. Die Tür klappte langsam hinter ihnen zu. Chet Bakers Trompete weinte.

»Zwei von dreien, an einem Abend«, sagte Adi und stellte ihm ein Bier für den Heimweg vor die Nase. »Nicht schlecht.« Sie kam mit den Tisch-drei-Deckeln und ihrer Kellnerbörse um die Theke herum, um die Doko-Runde abzukassieren. »Aber du lässt nach, oder?«, murmelte sie, als sie an ihm vorbeikam.

»Du willst ja bloß, dass ich jetzt sage: ›Dann lass uns doch drei von vieren draus machen‹, um mich dann auszulachen.«

Sie hielt inne, kam einen Schritt zurück und drückte ihm aus ihrer Eins-einundneunzig Höhe ein Küsschen auf die Stirn.

»Du bist echt süß manchmal«, sagte sie.

Am Lesbentisch hinter ihr erklangen Kichern, Johlen, ironisches Jauchzen und Buh-Rufe.

Dann wurde heftig polternd die Tür aufgestoßen.

***

Es ist gar nicht leicht zu beurteilen, ob ein Mensch mit schokoladenbrauner Haut blass geworden ist, aber Jupp sah regelrecht grau aus.

Er schien froh zu sein, Folker anzutreffen, sah sich aber unruhig um.

»Die Zukunft hat schon zu«, sagte er ohne jede Begrüßung. »'ne Ahnung, wo Taifun sich rumtreibt?«

»Nee«, antwortete Folker. »Was ist passiert?«

»Wartet mal«, beschied Adi die Doko-Runde und kam zurück an die Theke. »Was ist denn mit dir los? Was ist passiert?«

Jupp schnappte sich Folkers Bier und leerte es auf einen Zug.

»Regina wurde überfallen.«

»Was?!?« Adi schnappte nach Luft, und Folker war auf einen Schlag wieder halbwegs nüchtern.

»Übel verprügelt und ausgeraubt. Sie liegt im Klösterchen. Tu mir 'nen Gefallen und gib mir 'nen Schnaps, Adi.«

»Hol dir selbst einen, ich werd mal eben die Mädels hier los.«

Jupp ging hinter die Theke und schenkte sich einen dreifachen Kabänes ein. Kippte die Hälfte, zapfte zwei Biere und kehrte mit den drei Gläsern auf den Hocker neben Folker zurück.

»Ey, wieso darf der Typ sich denn …?«, wollte eins der Mädels protestieren.

»Der ist vom Gesundheitsamt«, würgte Adi sie ab, schob sie hinter den anderen aus der Tür und schloss hinter ihnen ab. Goss sich hinter dem Tresen ein Glas Wasser ein und stützte sich vor den beiden Jungs auf den Tresen.

»Erzähl, Jupp.«

Der musste sich erst den Rest der Kräuter gönnen.

»Eine Prellung überm Steißbein, von einem Tritt. Rippenprellungen von mehreren Fußtritten, eine Rippe gebrochen. Das halbe Gesicht zerschrammt, die Nase zerdetscht – jemand hat ihr ins Gesicht getreten. Der Doktor meint, es sei ein Wunder, dass ihr Nasenbein nicht gebrochen ist.«

»Ach du Scheiße«, knurrte Folker.

»Ich sag's dir. Ihre schöne rote Marc O'Polo-Daunenjacke weg. Ihr Portemonnaie mit Ausweis, Scheckkarte und vielleicht siebzig Euro Bargeld – scheiß drauf –, ihr Schlüsselbund und ihr Handy. Die Karte hab ich zum Glück gleich sperren lassen können – offenbar war noch niemand damit am Automaten gewesen. Am meisten trauert Reggie dem Handy nach, war zwar nur«, er malte Gänsefüßchen in die Luft, »ein iPhone zwölf ist, das sie bei O2 abstottert, aber allein dessen Kamerafunktionen sind ja schon ein paar hundert Ocken wert. Und sie hat sich ja so begeistert in ihr neues Hobby fotografieren gestürzt. Am blödesten ist, dass die Typen jetzt ihre Adresse kennen und 'nen Schlüssel haben. Ich hab von innen abgeschlossen, den Schlüssel stecken lassen und bin über'n Balkon raus – aber auf dem Weg kommt man natürlich auch rein, wenn man's drauf anlegt.«

»Und wie geht's ihr jetzt?«, fragte Adi.

»Ach, sie ist erstaunlich gut drauf. Aber womöglich kommt der Schock auch mit Verzögerung. Und erkältet ist sie – sie hat fast zwei Stunden am Römerpark auf der Straße gelegen. Irgendein Penner hat sie gefunden und die Bullen angerufen.«

»Hat sie denn jemanden erkennen können?«, fragte Folker.

»Drei ziemlich junge Typen mit 'nem Ghettoblaster, meint sie. Saßen kiffend und Cognac saufend auf dem Mäuerchen am Park. Einer davon mit sehr auffälligen, superkurzen weißen Haaren. Mehr weiß sie auch nicht; die haben sie von hinten angegriffen, und dann ging alles furchtbar schnell.«

»Die Arme«, seufzte Adi. »Braucht sie jetzt irgendwas?«

»Nee, sie kann wahrscheinlich auch übermorgen schon nach Hause.« Jupp sah sich in der leeren Kneipe um. »Ich wollte jetzt eigentlich Taifun aufstöbern und mich mit ihm schon mal 'n bisschen umgucken … Ihr habt wohl auch keine Ahnung, wo er steckt, oder?«

Beide schüttelten bedauernd den Kopf. Er sah Folker an.

»Könntest uns 'nen Gefallen tun und in ihrer Bude pennen. Wenn ich an deren Stelle wäre, würde ich da spätestens am frühen Morgen mal hin. Ich suche weiter nach dem Türken.«

Folker überlegte eine Weile.

»Lass uns das andersrum machen. Du gehst in Reggies Bude, und ich suche ihn. Nachher findest du noch irgendwas raus und tust was, das dir hinterher leidtun könnte.«

»Gute Idee«, sagte Adi. »Du bist doch eh noch immer nicht ganz fit.« Wie zur Bestätigung griff Jupp sich unwillkürlich an die rechte Brustseite. Wo im letzten Jahr eine Kugel nur knapp seine Lunge verfehlt hatte.

»Ich will die Arschlöcher in die Finger kriegen«, knurrte er.

»Klar«, sagte Folker. »Sollst du. Aber erst mal müssen wir sie ja finden. Geh dich ausruhen und abkühlen.«

»Ich will nicht abkühlen!«, protestierte Jupp.

»Doch, willst du«, sagte Adi so bestimmt, als duldete sie keinen Widerspruch.

Dienstag, 1. Oktober

Es war gar nicht so schwer.

In der Ömeria, dem dritten als Dönerladen getarnten türkischen Zockerschuppen, in dem Folker unter misstrauischen Blicken nachsah, hockte Taifun mit drei weiteren Landsmännern im Hinterzimmer und spielte Okey, eine türkische Rommé-Variante mit Spielsteinen statt Karten.

Sie hatten zwei der eher kleinen Tische zusammengestellt, der eine diente als Spieltisch, auf dem anderen standen Aschenbecher, Gläser, Rakiflaschen und Schalen mit Pistazien. Der Boden um die Tische herum war mit Pistazienschalen übersät. Neben Taifuns rechter Pranke lag ein Stapel Zehn-Euro-Scheine, aber der Stapel seines Gegenübers war um einiges höher.

»Keine Zeit!«, knurrte Taifun, als er Folker erblickte, mit rotgeränderten Augen.

»Doch, hast du«, erwiderte Folker bestimmt. »Svenja hat gerade Drillinge gekriegt, und du sollst ins Krankenhaus kommen, weil sie nicht weiß, wie der dritte heißen soll.« Taifun runzelte nur schnaubend die Stirn, aber die drei Mitspieler starrten abwechselnd ihn und Folker entgeistert an.

Dann begann Aksay zu strahlen. »Ist das wahr, kafadar? Hey, Mann, ich gratuliere! Mehr Raki!«, rief er zur Gaststube hinüber. »Taifun ist Papa!«

Taifun warf genervt einen Spielstein auf den Tisch.

»Quatsch! Ihr lasst euch aber auch von jeder Kartoffel verarschen. Kein Wunder, dass ihr auf keinen grünen Zweig kommt. Außer dir natürlich, Gürhan«, brummte er mit einem Blick auf den Geldstapel seines Gegenübers. »Folker, nimm dir ein Glas und setz dich in die Ecke, ich muss das Spiel noch zu Ende machen.«

Folker nahm sich zwei Gläser, schenkte Raki ein, stellte eins seinem Freund vor die Nase und kippte sich das andere in den Rachen.

»Reggie liegt im Krankenhaus«, sagte er. »Sie wurde überfallen.«

Taifun erstarrte. »Von wem?«

»Das sollen wir zwei ja rausfinden.«

Taifun stieß eine Reihe türkischer Flüche aus, dann erklärte er seinen Kumpels rasch die Ausnahmesituation und das Spiel für beendet.

»Revanche«, knurrte Gürhan. Langsam packte er seine Scheine ein. »Nächsten Montag.« Es klang bedrohlich. Folkers Nackenhärchen richteten sich auf. Gürhan war Taifun zufolge ›der gefährlichste schwule türkische Friseur der ganzen Stadt‹.

»Klar«, sagte Taifun, steckte seinerseits sein Geld ein und ließ einige Zehner auf den Tisch flattern.

»Wenn brauchst du Hilfe …«, sagte Aksay.

»Dann sag ich Bescheid«, brummte Taifun, kippte seinen Raki und klopfte drei Mal auf den Tisch. »Danke, kafadar. Geh'n wir, Folker.«

Auf dem Weg zur Tür kaufte er noch zwei Döner to go, und Folker nutzte die Gelegenheit, Jupp eine SMS zu schicken, dass er nun mit Taifun unterwegs sei.

***

Draußen kündigte sich schon die Morgendämmerung an. Halb fünf. Eine einsame Frau mit Kopftuch schob müde einen Kinderwagen vor sich her, aus dem sie an jedem Hauseingang eine Handvoll Werbeprospekte ablud. Am Obst- und Gemüseladen auf der Ecke der Severinstraße gingen klappernd die Rollläden hoch. Bernie trat auf die Straße, gähnte und reckte sich. Dann verzog er angewidert das Gesicht.

»Mann, Folker, dat stink' ja bis hierhin!«

»Deine Bananen auch«, entgegnete Folker und biss ungerührt in seinen Döner.

»Immer noch besser als dein Rasierwasser, Bernie«, brummte Taifun kauend.

Bernie grinste. »Dat is nit mein Rasierwasser, du Jeck, dat is mein Frühstücksschabau.«

Auf dem weiteren Weg zum Römerpark hörte Taifun sich Folkers Bericht über Regina an. Zumindest das, was Jupp erzählt hatte.

»Shit!«, knurrte Taifun, pfefferte den Rest seines Döners in einen Abfallkorb und klopfte all seine Taschen an Jeans, Hemd und der langen Jeansjacke ab. »Und noch mal Shit – ich hab meine Kippen liegen lassen. Dreh mir mal eine, Mann.«

Lohnt Arbeiten überhaupt noch?, plärrte die Titelseite der Bild am Kiosk und schürte die eh schon grassierende Neiddebatte, weil das Bürgergeld angeblich schneller stieg als der Mindestlohn. Taifun grunzte.

»Haben die nicht neulich noch gegen die Erhöhung des Mindestlohns gestänkert?«

»Als würde es 'ne Rolle spielen, was die neulich geschrieben haben«, knurrte Folker. »Hauptsache, die Leser regen sich auf.«

Aus einer Dönerbude am Chlodwigplatz drang leise türkischer Jammerpop durch die offene Tür. Taifun blieb stehen.

»Hast du noch Kaffee, Kolat?«, rief er in den Laden.

»Nur Mokka«, der junge Kolat kicherte, »und nur für Landsleute, Blondie.«

»Na, dann mach meinem deutschen Freund mal zwei, sonst erzähl ich deiner Mutter, dass du schon wieder kiffst.«

Das Kichern nahm hysterische Ausmaße an. »Oh, nein, bitte nicht, baba Taifun – wie soll ich denn sonst den Tag überstehen?«

Sie kippten den heißen Mokka im Stehen, er war so stark, dass er Folkers Pulsschlag fast verdoppelte. Taifun klatschte einen Zehner auf den Tresen, und Kolat begleitete sie mit unterwürfigem Dienern zur Tür.

»Oh, vielen Dank, Sayin Bey! Sie sind so großzügig, da brauche ich heute ja gar nicht mehr weiterzuarbeiten! Vielen, vielen Dank! Tesekkür ederim!«

»Ja, ja, jetzt halt mal die Klappe, Witzbold! Kennst du einen jungen Typen mit kurzen weißen Haaren?«

»Meinst du den Albino drüben an der Bottmühle?«

»Nein, der ist doch schon an die vierzig und doppelt so dick wie du. Sonst noch einen?« Kolat schürzte die Lippen und schüttelte den Kopf. »Wenn dir so was über den Weg läuft, lass es mich wissen, okay?«

»Okay. Soll ich ihn so lange festhalten?«

»Der ist nicht gerade harmlos, Junge.«

Kolat schnaubte, richtete sich auf und pumpte seinen schmächtigen Brustkorb auf. »Bin ich auch nicht.«

»Gib mir einfach Bescheid, okay?«

Sie überquerten den Chlodwigplatz und gingen die Bonner Straße stadtauswärts.

»Ich wüsste ja gern, wo Kolat jetzt, wo's legal ist, seine Graspflanzen zieht« sagte Taifun. »Und wie viele davon.«

»Soviel ich weiß, dürfen es laut Gesetz doch nur drei pro Person sein.«

Taifun grinste. »Das Gesetz? Das Leute gemacht haben, die offenbar wieder mal keine Ahnung von der Materie haben?«

»Hä?«

»Wenn du nicht gerade Krüppel züchtest«, erklärte der Fachmann, »bleiben dir bei der Ernte von drei Pflanzen neunzig Gramm Gras. Klingt erst mal nicht schlecht, oder? Das blöde ist nur, dass du nach dem gleichen Gesetz bloß fünfzig Gramm besitzen darfst – wirst du mit mehr erwischt, machst du dich strafbar. Welche Hirnis denken sich denn so was aus, ha?«

Darauf hatte Folker auch keine Antwort. Sie bogen in die Kurfürstenstraße ein. An deren Ende ließen sie die Kunsthochschule links liegen und erreichten auf der rechten Seite den Römerpark.

»Wo?«, fragte Taifun.

»Auf der anderen Seite, gegenüber der Fachhochschule. So ungefähr zumindest.«

»Was wollte sie denn hier?«

»Sie kam von einer Geburtstagsparty im Alteburger Hof. Wollte bloß heim.«

»Shit.«

»Jau.«

Gegenüber dem Eingang der Schule setzten sie sich auf eins der Mäuerchen, die die Zugänge zum Park markierten. Folker drehte zwei Zigaretten, und sie rauchten eine Weile schweigend. In den Bäumen und Sträuchern hinter ihnen begannen die Vögel zu randalieren.

Nach dem letzten Zug schnippte Taifun seine Kippe auf die Straße und begann suchend an den beiden Mäuerchen entlangzugehen.

»Die Bullen waren doch schon da«, sagte Folker.

»Du guckst zu viel Tatort, Mann. Glaubst du, wegen so was lassen sie die Spurensicherung kommen?« Taifun ging auf die Innenseite der Abgrenzungen, nahm sich erst die eine, dann die andere Seite vor.

»Na also«, brummte er schließlich, kam zurück und hielt das Mundstück eines Joints erst Folker unter die Nase, dann ins Licht der Laterne. Ein zusammengerollter halber KVB-Fahrschein. »Der liegt bestimmt nicht länger als seit gestern hier.« Er ging zurück zum Fundort. »Etwa hier haben sie also gesessen.«

»Na, dann haben wir sie ja bald am Kragen«, sagte Folker resigniert.

»Worauf du einen lassen kannst.« Wieder sah Taifun sich um. »'n Versuch ist's wert«, murmelte er, ging ein Stück weiter zu einem blauen Mercedes Sprinter mit eingebauten Plastikklappfenstern und bunten Gardinen und hämmerte mit der Faust an die Beifahrertür. So lange, bis drinnen ein wütendes »Hey!« erscholl und eine Taschenlampe aufflammte. Im Durchgang zur Fahrerkabine erschien ein Typ mit wirren Rastalocken in einem langen grauen Grateful Dead-T-Shirt.

»Was soll die Scheiße?«, schrie er durch das geschlossene Fenster. »Verpisst euch, ihr Arschlöcher! Sonst …« Er hob eine kleine schwarze Pistole und richtete sie auf Taifuns Kopf. Der Türke trat einen halben Schritt zurück.

»Mach mal die Scheibe runter, Mann«, sagte er ruhig. »Sonst kriegst du das ganze Tränengas da drinnen selber ab.«

Der Rastamann guckte verwundert erst ihn an, dann auf die Waffe. »Woher weißt du …?«

»Wusst' ich nicht«, sagte Taifun. »Aber jetzt. Und nu' mach das Fenster auf, sonst mach ich's.«

»Wat is'n da los, Charlie?«, jammerte eine dünne Frauenstimme im Inneren des Wagens.

»Ich muss euch nur was fragen«, rief Taifun und breitete die Arme aus, die leeren Handflächen nach vorn, um zu zeigen, dass er unbewaffnet war. Als würde das irgendjemanden beruhigen, angesichts seiner Mike Tyson-Figur. Zumal er noch einen Kopf größer war als Tyson.

Charlie kurbelte das Fenster drei Fingerbreit herunter.

»Was?«

»Ich muss wissen, was ihr da drüben zwischen, sagen wir zehn und zwei heut' Nacht gesehen und gehört habt.«

»Nix«, sagte der Rastamann und kurbelte die Scheibe wieder hoch.

»Hör zu, Charlie. Da wurde diese Nacht eine Freundin von uns überfallen und verprügelt. Eine gute Freundin. Deshalb hab ich gerade große Lust, auch jemanden zu verprügeln. Ich würde ja eigentlich lieber die Arschgeigen verhauen, die das getan haben, aber …«

»Was …?!« Das entsetzte runde Gesicht einer langmähnigen Walküre tauchte hinter Charlie auf. »Hier? Überfallen?«

»Hier«, sagte Taifun geduldig. »Überfallen, schwer verletzt und ausgeraubt.«

»Ach du Scheiße!«, piepste die Walküre. »Jetzt mach doch mal det Fenster uff, Charlie! Det is' ja furchtbar!«

Gehorsam drehte Charlie die Scheibe wieder runter. Fast bis zur Hälfte. Sie war nicht so geduldig, griff nach der Kurbel, öffnete das Fenster vollends und lehnte sich mit beiden Armen auf den Fensterrahmen. Es schien ihr nichts auszumachen, dass ihr Nachtgewand lediglich aus ihren meterlangen blonden Haaren bestand.

»War'n det etwa die drei Jungs? Aber die waren doch so nett! Der Kleene hat uns noch 'n bisschen Dope abjekooft …«

»Maggie …!«, zischte Charlie.

»Ach, beruhig dir doch ma', Männe«, sie nickte zu Folker hinüber. »Det is' doch der Musiker, die kiffen doch ooch alle. Oda, du bist doch der Musika, oda?« Folker nickte bloß. »Wusst ick's doch. Hab dir jlei' erkannt, wa.« Und schon fing sie an zu singen: »Ick brooche keene Millionen …«

»Ihr habt die drei also gesehen?«, versuchte Taifun sie wieder zum Thema zurückzubringen.

»Na ja, da war't ja noch stockduster. Jeseh'n ha'ck ja eijentlich nur den Kleenen, Süßen.« Charlie verdrehte die Augen zum Mercedes-Himmel.

»Wie sah der denn aus?«, fragte Taifun.

»Na, kleen. Und süß. George Michael in Jungk ehmd. Aber so 'ne alberne Nazi-Frisur, wie die Fußballa sie jetze alle ha'm, wa. Der war höchstens sechz'n, siebz'n, wa. Jrade mal aus'm Stimmbruch raus, wa. Schwatte Jeans, schwattes T-Shirt, schwatter Hoodie. Hat für'n Zwanni Dope jekooft und is' brav wieder abjedackelt, wa. Ick hab noch jesagt, se soll'n die Mucke nich so laut machen. ›Klaro‹, hat er jesagt. Und die war'n ooch jarnich soo laut, oder, Charlie?« Sie kicherte. »Als er weg war, hat Charlie jesagt, ›Na, im Dunkeln möchte ich dem ooch nich bejechnen, wa'‹ Dabei war't doch stockduster …«

»Er hatte komische Augen«, präzisierte Charlie.

»Hübsche, eijentlich, so braun-jrün, irjendwie jefleckt.«

»Aber 'nen bösen Blick.«

»Ach wat. Eenfach nur so'n trotzijen – 'n Pubertier ehmd.«

»War das ein Deutscher?«, fragte Taifun nach. »Oder hatte er irgendeinen Kanaken-Akzent?«

»Nee, keen Akzent. Klang eher so 'n bissken Kölnisch, wa.«

»Und die anderen?«, erkundigte sich Taifun.

»Die sind ja da drüben geblieben«, mischte Charlie sich ein. »Die waren kaum zu erkennen.«

»Bis uff den een'n«, übernahm Maggie wieder. »Der hat ja quasi jeleuchtet im Dunkeln – janz weiße Haare, janz kurz. Sah von weitem aus wie dit Model aus'n Sechzigern, wie hieß die noch …? So 'n Hungerhaken …«

»Twiggy«, sagte Folker.

»Ja! Jenau! Twiggy! Aber mehr kann ick euch ooch nich erzähl'n, wa.«

»Wir haben uns dann Ohropax in die Ohren gesteckt«, ergänzte Charlie, »da war die Musik dann so leise, dass wir ziemlich schnell eingepennt sind.«

»Viel zu schnell«, sagte Maggie und kicherte anzüglich.

»Wir sind dann noch mal kurz wach geworden, als hier Blaulicht geflackert hat. Aber da haben wir uns natürlich mucksmäuschenstill verhalten. Wir legen keinen großen Wert darauf, uns mit Bullen zu unterhalten.

»Verständlich«, sagte Taifun. »Bleibt ihr noch länger hier?«

»Nee, moin jeht's weita Richtung Süden«, erklärte Maggie. »Wir woll'n runta nach Portujal, wa. Weg von dem scheiß Winter.«

»Na, dann wünschen wir euch mal gute Reise«, sagte Taifun.

»Und frohe Weihnachten«, ergänzte Folker. »Danke, ihr habt uns schon mal 'n Stück weitergeholfen.«

»Imma jerne, wa. Tschüssikowski!«

***

Sie setzten sich wieder auf das Mäuerchen, diesmal mit Blick auf den Park, in dem sich die ersten blassen Sonnenstrahlen durch das Herbstlaub der Bäume tasteten, und Folker drehte neue Zigaretten.

»Das ist ja wohl 'n Euphemismus«, sagte er.

»Hä?«

»›'n Stück weitergeholfen‹. Dass einer von denen kurze weiße Haare hat, wussten wir schon, und dass sie jung sind, auch.«

»Aber nicht, wie jung. Und was für Augen. Und von der Nazi-Frisur wussten wir auch nichts.«

»Die haben die Kids doch jetzt alle.«

»Nicht alle. Und jetzt hör mal auf zu unken, Mann, wir fangen doch gerade erst an.«

»Ja, schon gut. Ich bin einfach scheiß müde.«

Taifun kramte sein Handy aus der Tasche und sah auf die Uhr.

»Gleich halb sechs.« Er deutete auf die Häuserreihe an der gegenüberliegenden Seite des Parks. »Vierzehn Häuser mit schätzungsweise jeweils acht Mietparteien. Von denen uns wohl die vom Erdgeschoss bis zur zweiten Etage reichen – die weiter oben werden sicher nix gehört oder gar gesehen haben. Also über'n Daumen achtzig Mal klingeln und Fragen stellen.« Folker stöhnte. »Hat aber vor halb sieben sicher keinen Zweck. Also leg dich da vorn auf die Wiese und penn ein Stündchen. Ich telefoniere derweil ein bisschen rum.«

»Musst du denn nicht auch mal pennen?«

Taifun winkte ab. »Hatte gestern frei und bin erst abends um sieben aufgestanden. Und heute Abend schmeißt Svenja den Laden. Zumindest bis zehn, elf. Sollte wohl reichen, um noch ein Stück weiterzukommen.«

»Okay«, Folker seufzte, ging ein paar Schritte in den Park hinein und legte sich etwas abseits des Weges unter einen Ahornbaum. Der Boden war zwar kalt und feucht, aber nicht allzu hart, und vor allem gab es im Umkreis von zwei Metern keine Hundehaufen. Nach etwa drei Minuten hatten die Vögel Folker in den Schlaf gezwitschert.

»Ich denk, ich soll ein Stündchen schlafen?«

»Tja, jetzt sind's anderthalb geworden«, brummte Taifun und trat Folker noch einmal zärtlich in den Hintern. »In der Zeit hab ich so einiges rausgefunden. Weiß gar nicht, warum ich dich überhaupt mitgenommen habe …«

»Was?« Empört setzte Folker sich auf. »Du wärst doch ohne mich gar nicht hier! Und hättest gar keinen Schimmer, was du rausfinden sollst. Und …«, er stand auf und klopfte sich Laub und Gras von den Klamotten, »hättest nicht mal was zu rauchen.«

»Ach ja?« Taifun zog an einer filterlosen Zigarette und wies mit einer eleganten Handbewegung auf die Frau, die ein paar Schritte weiter stand. »Das ist Astrid. Sie ist Gold wert. Nicht nur, weil sie Kippen hat.«

Astrid griemelte. Sie sah aus, als sei sie einer Siebzigerjahre-Frauen-WG entlaufen – vielleicht um die sechzig, schätzte Folker ihr Alter. Lachsrote, blass gewaschene Latzhose voller Farbspritzer, Bundeswehr-Parka, halbhohe gelbe Gummistiefel. Kurze graue Haare, verlebtes, faltenreiches Gesicht, vergnügt blitzende blau-graue Augen, eine Zigarette in der einen Hand, eine dicke Hundeleine in der anderen. Sie reichte Taifun gerade mal bis zur Brust. Was hieß, sie war etwa einen Kopf größer als die schwarzweiß gefleckte Deutsche Dogge neben ihr.

»Astrid ist so nett und lädt uns zu einem Tässchen Tee ein«, sagte Taifun. »Also, komm mal in die Gänge.«

»Hallo«, grüßte Folker sie. »Und wie heißt das Pony?«

»Hoss.« Darüber konnten sie alle drei herzlich lachen. Hoss setzte sich hin und kratzte sich mit dem Hinterbein am Ohr, als fragte er sich, was es denn da zu lachen gäbe. Sein Frauchen wies auf einen grauen Altbau, der auf den Park schaute. »Ich wohne da drüben.«

Sie folgten ihr und dem Hund, der sie unterwegs allerdings mehrmals anzuhalten zwang, weil er, wie Astrid erklärte, »seine Pee-Mails noch nicht alle gelesen« hatte. Und einige Male das Bein hob, um ein paar davon gleich zu beantworten.

Derweil erklärte sie Folker, was Taifun schon wusste: dass die Bewohner dieses Häuserblocks an der Trajanstraße recht gut vernetzt und schon seit Jahren per WhatsApp-Gruppe verbunden waren. Sie zog ein Smartphone aus der Parka-Tasche und wischte auf dem Display herum.

»Ein paar haben schon geantwortet – bis jetzt aber alles negativ: Niemand hat irgendwas mitgekriegt letzte Nacht. Die meisten stehen aber erst später auf, da wird schon noch was kommen.«

»Wow …!«, entfuhr es Folker in ihrer Wohnung im Hochparterre des Hauses. Laut Astrid fünf Zimmer auf hundertdreißig Quadratmetern über die ganze Etage, um das marmorgekachelte Treppenhaus herum. Auf der Rückseite ein Riesenbalkon mit Treppe und Blick auf einen kleinen Innenhof und einen verwilderten Garten, der von einem gewaltigen Walnussbaum in der Mitte beherrscht und beschattet wurde.

»Guck nicht so neidisch!«, sagte sie, als sie in der Küche standen, und boxte Folker burschikos in die Seite. Zwei Drittel der Wand zwischen der Küche zum Garten hin und einem Atelier zur Straße hin waren herausgebrochen, und von überall in dem riesigen Raum hatte man durch große Fenster einen Blick auf Grün – hier der Garten, da der Römerpark. Beeindruckend.

»Ich habe einfach Glück gehabt – meine Eltern und ein paar Freunde haben Mitte der Siebziger das Haus sehr günstig kaufen können. Und ich hab halt die Wohnung geerbt.«

»Sag bloß, du wohnst hier ganz allein?«

Sie lachte. »Nein, mit Hoss, natürlich. Und Katinka.« Sie deute auf eins der Fenster zum Garten. Draußen auf der Fensterbank saß eine enorm große Katze mit buschigem rot gestreiftem Fell und starrte aus smaragdgrünen Augen neugierig hinein. »Die jetzt schon ungeduldig auf ihr Frühstück warten. Setzt euch schon mal, euer Tee kommt dann auch gleich.«

Folker und Taifun nahmen an einem narbigen alten Esstisch mit acht Stühlen Platz, Astrid füllte einen Wasserkocher und schaltete ihn ein, öffnete die Tür eines Einbauschranks und füllte einen kleinen Napf mit Katzenfutter aus der Dose und einen fünfmal so großen mit Getreideflocken aus einem Zehn-Kilo-Sack. Die sie mit einer nach Huhn duftenden Brühe aus einem Topf auf dem Herd und drei rohen Eiern verrührte. Dann öffnete sie die Balkontür, ließ die Katze herein und stellte die Futternäpfe auf den blassgrünen PVC-Boden. Katinka näherte sich, die fremden Besucher misstrauisch im Auge, langsam, und Hoss wollte sich gleich auf das Fressen stürzen.

Aber »Hey!«, rief Astrid, und er legte sich widerstrebend aber brav vor seinen Napf. »Guten Appetit!«, sagte sie, als die Katze neben ihm zu schmatzen anfing, und der Hund sprang auf und machte sich über sein Futter her. Die Jungs grinsten bewundernd und applaudierten lautlos.

»Wäre Frühstückskräutertee okay?«, fragte sie und füllte, als sie nickten, ein Teesieb mit der Kräutermischung, hängte es in eine große blaue Teekanne und goss kochendes Wasser darauf. »Wenn einer von euch den Timer auf sieben Minuten stellen könnte …« Als Folker sein Handy aus der Tasche zog, warf sie noch einmal einen Blick auf ihr eigenes. »Immer noch nichts, was euch weiterhelfen könnte«, sagte sie bedauernd, ging zu dem kleineren der beiden Schreibtische im Atelier und warf den iMac darauf an. Zwei Minuten später surrte ein Drucker unter dem Tischchen, und sie kam zurück in die Küche und legte ein Blatt mit einer Namensliste auf den Tisch.

»Das sind die sechzehn Parteien, die nicht in unserer Whats-App-Gruppe sind. Da müsstet ihr dann mal klingeln. Vielleicht am besten gegen Abend. Ich behalte die WhatsApp-Meldungen im Auge. Gebt mir doch mal eure Handynummern, damit ich euch auf dem Laufenden halten kann.«

»Finde ich großartig, wie bereitwillig du uns hilfst«, sagte Taifun, während er seine Nummer auf einen Zettel schrieb. »Wenn du dich mal einen Abend gemütlich betrinken möchtest, komm in die Zukunft, du bist eingeladen.«

Sie lachte. »Oh, danke! Aber ich gehe schon lange nicht mehr in Kneipen – man darf ja nirgends mehr rauchen. Und was soll dann am Betrinken gemütlich sein?«

»Na, da bist du ja in der Zukunft genau richtig – bei mir wird geraucht.«

»Oh, wow! Na, dann werde ich sicher gern mal auf das Angebot zurückkommen.« Ihre Miene verhärtete sich. »Und natürlich helfe ich euch, die Schweine zu finden – ich weiß, wie es ist, überfallen zu werden.«

»Deswegen der Hund«, vermutete Folker. Sie nickte bloß und sah aus, als drängten sich ihr Erinnerungen auf, die sie lieber weiter in der Vergangenheit verbuddelt wissen würde. Als würde der Hund ihre Stimmung spüren, kam er zu ihr und legte seinen gewaltigen Schädel auf ihre Schulter. Sie tätschelte ihn dankbar, griff in eine der Taschen ihrer Latzhose und gab ihm einen kleinen Kauknochen. Zufrieden legte er sich auf den Fußboden und ließ es knacken. Dafür sprang Katinka auf ihren Schoß – ich bin satt, und es ist Zeit für Schmuseeinheiten.

Während sie mit einer Hand die Katze kraulte, zündete Astrid sich mit der anderen eine Zigarette an.

Folkers Smartphone-Timer spielte das Intro von Get Ready – der Tee war fertig.

»Ach, Gottchen …!«, seufzte sie mit wehmütigem Lächeln. »Dazu hab ich als Teenie nächtelang getanzt …«

»Bestimmt im Lovers Club«, sagte Folker. Stirnrunzelnd sah sie ihn an.

»Den kennst du …? Du bist doch höchstens …«

»Fünfundvierzig. Aber ich hab einige ältere Kumpels, die mir viel von ihren wilden Zeiten in den Sechzigern und Siebzigern erzählt haben. Und mir all die Songs vorgespielt haben, den Soundtrack dieser Zeit.« Er stand auf und kümmerte sich um den Tee. Astrid deutete auf einen Hängeschrank über der Arbeitsplatte, wo er Tassen und Honig fand, und eine Schublade, die Besteck enthielt.

»In der Zukunft läuft so was auch«, sagte Taifun.

»Hey, das ist ja noch ein Argument! Ja, ich glaube, ich komme tatsächlich demnächst mal rum. Tramps like us – baby, we were born to run«, sang sie leise.

Katinka schnurrte.

***

Scheiße! Nix wie weg!, dachte Bubi und zuckte zurück.

Er hatte gerade mal eine Minute lang versucht, den richtigen Schlüssel an dem Bund zu finden und die Tür aufzuschließen, als die auch schon aufgerissen wurde und ein Schwarzer in Jeans und T-Shirt ihn am Schlawittchen packte.

Wieso ist hier ein Bimbo? Geistesgegenwärtig stieß Bubi dem Typen den scharfkantigen Schlüssel in den nackten Unterarm, riss sich los, als der Griff sich lockerte, und stürmte die Treppe hinab.

Aber der Typ kam ziemlich schnell hinter ihm her. Ich schaff 's bis zur Haustür, aber nicht raus! Im Hausflur unter den Briefkästen lag ein Amazon-Päckchen. Bubi schnappte es sich, es war zwar nicht groß, aber recht schwer, er wirbelte herum und schleuderte es seinem Verfolger entgegen. Volltreffer! Der Schwarze schrie auf vor Schmerz, hielt sich die rechte Brust, wo ihn das Päckchen getroffen hatte, und krümmte sich einen Moment lang. Zeit genug, die Haustür aufzureißen und auf die Straße zu entwischen. Bubi rannte los, um die Ecke, über die Straße, um die nächste Ecke in die Kurfürstenstraße. Am Hintereingang der REWE-Filiale blickte er sich kurz um – nichts zu sehen von dem Typen. Bemüht unauffällig und ruhig ging er durch den Supermarkt, durch den Vordereingang hinaus auf die Bonner und lief dann wieder schnell die Stufen zur U-Bahn hinunter. Gerade als er am Bahnsteig ankam, fuhr eine Bahn ein. Er stieg ein und blickte sich um – niemand Verdächtiges zu sehen. Fahr! Fahr los! Die Türen schlossen sich – er war in Sicherheit.

Und fluchte in sich hinein. Er hatte es vermasselt. Wieder mal. Sogar doppelt vermasselt – im Hausflur hatte er, als er das Päckchen aufgehoben hatte, den Schlüsselbund verloren.

Das würde Ärger geben.