Förster, mein Förster - Frank Goosen - E-Book
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Förster, mein Förster E-Book

Frank Goosen

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Beschreibung

»Wenn man Licht sieht, kann man auch klingeln.« Ein Mann kurz vor seinem fünfzigsten Geburtstag. Zwei Freunde, die sich seit vierzig Jahren kennen und streiten. Eine greise Saxofonspielerin mit Post aus der Vergangenheit, ein Hamster namens Edward Cullen und ein Trip ans Meer. Frank Goosens neuer Roman ist ein tragikomisches Lesevergnügen für alle, die einfach mal weg wollen: nach Iowa, ins Outback oder zumindest an die Ostsee. Förster ist ein Schriftsteller, dem nichts mehr einfällt. Von seinem neuen Buch existiert schon seit Langem nur der erste Satz. Seine Freundin treibt sich derweil auf den Äußeren Hebriden herum. Sein Nachbar Dreffke trägt auch mit siebzig noch knappe Badehosen, aber was er hustet, sieht nicht gut aus. Fränge und Brocki, die Förster seit der Schulzeit kennt, geht es auch nicht besser. Der eine ist drauf und dran, seine Ehe an die Wand zu fahren, der andere scheitert an den Herausforderungen des modernen Lebens. Und dann ist da noch Finn, der wohlstandsverwahrloste Teenager. Sie alle müssen mal raus hier. Da trifft es sich gut, dass Försters verwirrte Nachbarin Frau Strobel, die betagte Saxofonistin, einen Brief aus der Vergangenheit erhält. In Fränges altem Bulli fahren sie alle sechs an die Ostsee, um dem Reunion-Konzert der Tanzkapelle Schmidt beizuwohnen. Vor allem aber, um sich – die eigene Vergangenheit im Gepäck – der Zukunft wie einer steifen Meeresbrise entgegenzustellen. Zwischen absurder Komik und feiner Melancholie erweist sich Frank Goosen in diesem Roman erneut als brillanter Beobachter des Zwischenmenschlichen.

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Seitenzahl: 329

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Frank Goosen

Förster, mein Förster

Roman

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Frank Goosen

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

WidmungErster Teil Im All musst du ehrlich sein, so weit weg von der Erde1 Noch früh, aber schon hell2 FKK3 Die Äußeren Hebriden4 Enthirnte Aktivmongos5 Keine Quallen an der Côte d’Azur6 Somnambul7 Echtes Leben8 John Lennon hat seine Ruhe9 Der letzte Idiot10 Bionade Litschi oder: Man kann auch alles übertreiben11 Das Einzige, was früher wirklich besser war12 Die Jugend von heute13 Der Unrat unter der Stadt14 Words don’t come easy15 Schaumschläger16 Der ich bin oder: Die Geilfrage17 Irgendwer hat immer eine Option laufen18 Wenn man Licht sieht, kann man auch klingelnZweiter Teil Der Salvador Dalí des unfreiwillig komischen Jiu-Jitsu19 Hilfsverben20 Im Hintergrund der Märchenwald21 Was ist los, Förster?22 Berlin ist immer schwer23 Bereit sein ist alles24 Der aufreizende Hochmut schöner Frauen25 Chillen und Recycling26 Natur bei der Arbeit: Walter Matthau27 Bauer oder Trigger28 Open Stage29 Christian und Gareth Bale30 Angst vor dem Tod, aber nicht vor dem Sterben31 Stracciatella und Pistazie32 Beauty Tabs33 Bulli34 Nett ist vierunddreißigDritter Teil Susi Rock35 Da musst du mir aber bitte den Unterschied erklären36 Voucher37 Young at heart38 Denkmal und Königin39 Hatercookies40 In letzter Zeit nimmt es überhand41 Liguster42 Ruhe im Schiff43 Trockenfutter44 Romeo und Julia45 Nirgendwo mehr sicher46 Die Ostsee47 Sex on the Beach48 Ein seltsames Spiel49 Sunday Morning Coming Down50 Wie im Film51 Alles für die Kunst52 Keine Ahnung53 Jatzen54 Die grundlose Schwermut des modernen MenschenDank
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Für Maria

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Erster TeilIm All musst du ehrlich sein, so weit weg von der Erde

1Noch früh, aber schon hell

Es war noch früh, aber schon hell, als Förster, den alle bereits in der Schule nur beim Nachnamen gerufen hatten, auf dem Weg nach Hause auf einer Eisenbahnbrücke stehen blieb, um sein Bier auszutrinken und nachzudenken. Eigentlich müsste man mal weg hier, dachte er. Irgendwohin, wo man den Gegner auf sich zukommen sah, wo der sich nicht hinter der nächsten Häuserecke, einem am Straßenrand geparkten Auto oder in einer Toreinfahrt verstecken konnte, sondern wo die Landschaft flach und offen war, norddeutsche Tiefebene etwa oder Atlantikküste oder Iowa oder das australische Outback. Out und back, draußen und hinten, das war sicher sehr weit weg und flach und offen und außerdem still. Still musste es schon sein, weil: Stille bekam man hier nicht, niemals, nirgends, irgendwer oder irgendwas meldete sich immer, ein Kind, ein Auto, ein Radio, und wenn nicht, war da immer noch das Rauschen der Autobahnen und Hauptverkehrsstraßen, das führte alles früher oder später in den Wahnsinn, da musste man sich nichts vormachen.

Förster dachte kurz daran, die leere Flasche auf die Bahngleise zu werfen, einfach, weil man manchmal etwas irgendwo gegen- oder irgendwo runterschmeißen musste, um zu zeigen, dass man es noch in sich hatte, dass man nicht alles hinnahm, noch fähig war zum Protest, zur Anarchie oder wenigstens sich aufzuregen über die eigenen Unfähigkeiten, angefangen bei der, am frühen Sonntagmorgen eine leere Bierflasche von einer Brücke zu werfen. Denn natürlich warf er sie nicht, die Flasche, das war ja albern und pubertär und ziemlich asi, und außerdem war da noch Pfand drauf.

Er riss sich vom Anblick der Bahnlinie los und wollte weitergehen, sah dann aber etwas auf dem Bürgersteig sitzen. Zuerst hielt er es für ein großes Blatt, aber als er näher kam, sah er, dass es ein Hamster war. Der sieht nicht gut aus, dachte Förster. Wobei er nicht wusste, wie ein Hamster aussah, wenn es ihm gut ging, eigentlich sahen solche Tiere doch immer gleich aus. Wer was anderes behauptete, redete sich was ein und hatte als Kind zu oft Lassie gesehen oder Flipper oder Daktari oder Boomer der Streuner oder, wenn die Kindheit besonders hart gewesen war, Unser Charly.

In Försters Augen saß da also ein Hamster ohne besondere Kennzeichen an einem frühen Sonntagmorgen auf einer Brücke und machte Pause. Der muss einen ziemlichen Weg hinter sich haben, dachte Förster, die nächsten Häuser sind bestimmt fünfhundert Meter weit weg, und fünfhundert Meter waren für jemanden mit so kurzen Beinen eine Wahnsinnsdistanz.

Der Hamster blieb sitzen, auch als Förster ganz nah ranging. Jetzt sah Förster, dass der Kleine ganz schön am Pumpen war, völlig außer Atem. Die Straße war menschenleer, niemand war unterwegs, um nach dem Tier zu suchen. Den kann ich hier nicht sitzen lassen, dachte Förster, irgendwann rennt der auf die Straße und wird platt gefahren. Man könnte eher eine Flasche von einer Brücke werfen, als ein hilfloses Tier in den Untergang rennen zu lassen. Förster ging in die Hocke und strich dem Hamster übers Fell. Der hielt still, starrte vor sich hin und pumpte ohne Ende. Er wehrte sich nicht, als Förster ihn aufhob und in seiner Hand barg. Und entweder war das ein sehr kleiner Hamster oder Förster hatte größere Hände als gedacht, denn die Hand war für den Kleinen praktisch eine Anderthalbzimmerwohnung, nur hoffte Förster, dass das Klo draußen auf dem Gang war. Er steckte das Tier vorsichtshalber in die Tasche seines Cordjacketts und entschloss sich dann, die Abkürzung über den Friedhof zu nehmen.

Richtig still war es selbst hier nicht, das Autorauschen verfolgte einen auch auf dem Friedhof, woraus Martina sich mal die Vorstellung gebastelt hatte, dass diese Gleichzeitigkeit von Tod und Leben schon ganz passend war, das Leben unvergessbar, unverdrängbar, unüberhörbar, selbst auf dem Friedhof. Förster hatte geantwortet, dass er dafür war, die Sphären klar zu trennen, hier das Leben, da der Tod, denn wie sollte man sich auf das eine konzentrieren, wenn einem das andere ständig dazwischenrauschte?

Er verließ den Hauptweg und ging einen der Nebenwege bergauf. Er überlegte gerade, auf einer der hier aufgestellten Bänke eine Pause einzulegen, vielleicht ein wenig mit dem Hamster zu reden, hatte dann aber die Sorge, er könne einschlafen, was ihm auf dem Friedhof ziemlich unangenehm gewesen wäre, als er auf einer der Bänke einen Mann in einem dunklen Anzug liegen sah. Der Mann bewegte sich nicht. Da war kein Heben und Senken des Brustkorbs zu erkennen. Ein Toter, der es nicht mehr bis ins Grab geschafft hatte.

Und der im nächsten Moment mit einem lauten Stöhnen zurück ins Leben fand.

Förster zuckte zusammen und krallte sich an der leeren Bierflasche fest. In seiner Jackentasche schien der Hamster sich aufzuregen. Klar, der wollte seine Ruhe, der war erschöpft, der hatte ziemlich Meter gemacht aus seinem Käfig und der Wohnung, in der er lebte, bis auf die Brücke, aber er konnte auch froh sein, dass er da in der Tasche hockte und nicht mitansehen musste, wie der Mann sich auf die Seite drehte und neben die Bank übergab. Dann bemerkte er Förster, tat aber völlig unbeeindruckt.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Förster.

»Sehe ich aus, als ob ich Hilfe brauche?«

Dazu sagte Förster lieber nichts.

»Ist da noch was drin?«, fragte der Mann und meinte die Bierflasche in Försters Hand.

»Nein.«

»Wieso schleppen Sie die dann mit sich rum?«

»Da ist noch Pfand drauf.«

»Ach so.«

Förster wollte weitergehen, der Mann hielt ihn auf. »Da bewegt sich was in Ihrer Tasche!«

»Das ist ein Hamster.«

Der Mann nickte. »Natürlich, warum nicht. Können Sie mir sagen, wie spät wir haben?«

»Kurz vor sechs.«

»Morgens oder abends?«

»Morgens.«

»Verdammt, ich muss in den OP!«

»Am Sonntag?«

»Dringende Sache. Ich habe Bereitschaft. Die haben mich von einer Hochzeit weggeholt. Ich muss los!«

Der Mann stand auf und wäre beinahe gleich wieder umgefallen. Förster stützte ihn.

»Ich muss da lang!«, sagte der Mann und ging in die Richtung, aus der Förster gekommen war. Er schwankte, spuckte aus, nahm ein Taschentuch aus der Hosentasche und wischte sich damit über die Stirn.

Ja, dachte Förster, ich muss unbedingt mal weg hier.

2FKK

War er gerade noch ziemlich müde gewesen, was nach dieser langen Nacht nicht verwunderlich war, so überkam ihn nun dieses trügerische Gefühl falscher Wachheit, das sich oftmals einstellte, wenn man einen gewissen Punkt überschritten hatte. Das kannte man ja noch von früher, wo man über diesen Punkt öfter hinauszugehen pflegte. Früher hieß in diesem Fall vor einem Vierteljahrhundert, was sich noch schlimmer und schräger anhörte als fünfundzwanzig Jahre, denn sobald ein Jahrhundert im Spiel war, wurde es ernst. Förster war jetzt seit fast zwanzig Stunden wach und hatte im Laufe der Nacht und des sehr langen, sehr ernsten Gespräches mit Fränge ungezählte Biere getrunken, allerdings über einen so ausgedehnten Zeitraum, dass er – im Gegensatz zu Fränge, der das Bier des Öfteren mit Tequila hinuntergespült hatte – nie richtig betrunken geworden war.

Weil ihm alles gerade so schön und leicht vorkam, machte Förster noch einen kleinen Umweg über das FKK-Gelände, vorbei an dem Schild, das jeden potenziellen Spanner darüber aufklärte, dass es hier um Höheres ging als nackte Leiber: Freie Kunst Kooperative stand da zu lesen. Früher hatte hier ein Stahlwerk gestanden, heute war das Gelände eine weitgehend verwilderte Brache, auf der sorgsam verteilt Plastiken herumstanden, ein regelrechter Skulpturenpark war hier entstanden, auf der Rückseite des alten Verwaltungsgebäudes, das als Einziges übrig geblieben war, als man das Stahlwerk abgerissen und, jedenfalls zum Teil, nach China verkauft hatte, was ja eigentlich eine groteske Vorstellung war, dachte Förster: Stahlwerk auseinandernehmen, ab aufs Schiff und nach China, als wären da Griffe und Scharniere dran zum Zusammenklappen und Wegtragen. Das konnte man sich ja gar nicht vorstellen, also dass es billiger sein sollte, so ein Stahlwerk in Deutschland zu kaufen, als es in China einfach selber zu bauen, aber letztlich ging Förster das nichts an.

In dem früheren Verwaltungsgebäude waren jetzt Ateliers untergebracht, und in dem großen Sitzungssaal mit dem an Werke des sozialistischen Realismus erinnernden Mosaik, das Szenen aus dem Alltag der Stahlarbeiter zeigte, fanden Vernissagen, Sonderausstellungen und auch Lesungen oder Performances statt, was oft schräg und bescheuert, aber nie langweilig war. Monika hatte im zweiten Stock nicht nur ein Studio, sondern machte immer wieder Fotos für die hier arbeitenden Künstler, außerdem hatte die Uli ein Atelier im Parterre, und Fränge organisierte im Sitzungssaal Veranstaltungen, für die das Café Dahlbusch zu klein war. Förster kannte sich hier also aus, und dann saß da vor der Tür, das Gesicht mit geschlossenen Augen in die Morgensonne gehalten: die Uli. Ein erstaunlicher Zufall, aber am Ende auch wieder ganz logisch, dass er nach diesem sehr langen, sehr ernsten Gespräch mit Fränge auch noch dessen Frau über den Weg lief, denn so benahm sich das Leben manchmal: Es tat so, als wäre es eine zusammenhängende Geschichte. Nur: Was machte die Uli hier so früh am Morgen, noch dazu an einem Sonntag? Vorbeischleichen wäre blöd und feige gewesen, außerdem konnte es sein, dass sie ihn schon von Weitem gesehen hatte, also stellte Förster sich ihr in die Sonne, sodass ein Schatten auf ihr Gesicht fiel und sie die Augen öffnete.

»Förster«, sagte die Uli.

»Die Uli«, erwiderte Förster.

»Ich hab dich schon von Weitem gesehen und dachte noch: Wer streift denn da durch unseren Park, aber dann habe ich dich erkannt und war beruhigt, dass der Förster mal wieder nach dem Rechten sieht in Wald und Flur.«

Die Uli saß auf einem alten weißen Plastikstuhl, so einem zum Stapeln, der auf Millionen Balkonen dieser Welt zu finden ist, und hatte die Füße auf einen zweiten Stuhl gleichen Modells gelegt, von dem nahm sie ihre Füße jetzt runter, schob ihn Förster hin und fragte: »Kaffee? Ich hab drinnen noch welchen.«

»Danke«, sagte Förster und setzte sich, »aber ich will noch was schlafen.«

Die Uli hielt ihr Gesicht wieder in die Sonne. »Du warst mit meinem Mann unterwegs?«

»Schuldig.«

»Er hat also für die ganze Nacht ein Alibi?«

»Braucht er eins?«

»Kann nie schaden.«

Förster nickte. »Stimmt auch wieder.«

»Wieso bist du jetzt alleine unterwegs?«

»Er ist mir abgehauen, als wir aus dem Loft raus sind.«

»Ihr wart im Loft?«

»Auf der Treppe nach unten ist er mir ausgebüxt. Da kamen uns welche entgegen, und er war schneller.«

»Für das Loft seid ihr doch viel zu alt.«

»Da könnte was dran sein.« Was im Loft passiert war, dazu wollte Förster lieber keine Angaben machen.

Die Uli machte die Augen auf und sah Förster an. »Ganz ehrlich, Förster, das Loft! Hat der sie noch alle, mein Mann?«

»Woher weißt du, dass es seine Idee war, da hinzugehen?«

»Weil du in Würde altern kannst.«

»Niemand altert in Würde.«

»Stimmt, du schleppst eine leere Bierflasche mit dir rum.«

»Da ist noch Pfand drauf.«

»Kannst sie hier stehen lassen. Ich geb dir das Geld.«

»Nee, nee. Es war mir nur zu blöd, die irgendwo stehen zu lassen oder runterzuschmeißen.« Förster stellte die Flasche neben seinen Stuhl, wobei sein Blick auf etwas fiel, das neben dem Gebäude im hohen Gras lag, ein Mann vielleicht, nur größer und ganz rot, mit großen Poren, und bevor er fragen konnte, stand die Uli auf und bedeutete ihm mit einer Kopfbewegung, ihr zu folgen. Und so standen sie dann vor dem, was da im hohen Gras lag, eindeutig ein Mann bäuchlings, ein Bein angewinkelt, eines ausgestreckt, den Kopf auf den linken, ausgestreckten Arm gelegt, den rechten angewinkelt, die Hand locker neben dem Gesicht. Es war dunkelroter Lava-Tuff, woraus die Uli den Mann gehauen hatte, das wusste Förster deshalb, weil Lava-Tuff zu ihren bevorzugten Materialien gehörte, neben Kalksandstein, Beton oder Gips.

Wie sie so neben ihm stand, die Uli, fiel ihm nicht zum ersten Mal auf, dass sie fast genauso groß war wie er selbst, höchstens zwei oder drei Zentimeter weniger als die eins dreiundachtzig, die Förster immer noch an den Türrahmen brachte, aber sie hatte besser definierte Oberarme, als er sie je gehabt hatte, das kam davon, wenn man den ganzen Tag mit Hammer und Meißel auf Steine einprügelte.

»Neu?«, fragte er.

»Ziemlich.«

»Jemand Bestimmtes?«

»Sag du es mir.«

»Könnte Fränge sein.«

»Wenn du meinst.«

»Muss aber nicht.«

»Nee, nee«, sagte die Uli.

»Interesse an einem Haustier?«

»Wieso?«

»Ich hätte einen Hamster im Angebot.«

»Der schafft hier keine drei Tage, bis was auf ihn drauffällt. Das gibt eine Sauerei, also lieber nicht.«

»Guck mal«, sagte Förster, hielt die Tasche seines Jacketts ein wenig auf und erzählte, wo er das Tier gefunden hatte.

»Wie kommt ein Hamster so weit? Mit so kurzen Beinen? Da sind doch gar keine Häuser in der Nähe.«

»Ich nehme ihn erst mal mit nach Hause. Vielleicht macht ja jemand einen Aushang.«

»Ich glaube«, sagte die Uli, »ich habe noch nie einen Aushang gesehen, dass jemand einen entlaufenen Hamster sucht. Ich denke, das lohnt sich nicht, die werden ja nur zwei Jahre alt, und wenn einer weg ist, ist er eben weg. So ein Hamster ist das reinste Vergänglichkeitssymbol.«

Die Uli ging zu einem Tisch, der ein paar Meter neben den Plastikstühlen stand, griff nach einer Packung Zigaretten und zündete sich eine an.

»Förster«, sagte sie nach ein paar Zügen, »weißt du, was mit dem Fränge los ist?«

Es war klar oder zumindest nicht unwahrscheinlich gewesen, dass diese Frage aufkommen würde, weshalb Förster ja erst kurz daran gedacht hatte, sich wegzuschleichen, bevor die Uli ihn bemerkte.

»Ach, Uli«, sagte Förster, »das bringt nichts.«

Die Uli zog wieder an ihrer Zigarette und blickte über die Brache hinweg. »Als Kind hatte ich einen Hamster«, sagte sie nach ein paar Sekunden. »Rotz und Wasser habe ich geheult, als der eingegangen ist.« Sie sah Förster an. »Weißt du eigentlich, dass sie das ganze Gelände hier verkaufen wollen?«

»Ich habe davon gehört.«

»Erst waren sie froh, dass wir hier drin waren, so ist das Gebäude nicht verfallen, und gut fürs Image war es auch, Kunstförderung und so, aber jetzt steht da einer mit einem Koffer voller Dollars auf der Matte, und wir müssen in drei Monaten raus.«

»Ich dachte, ihr hättet noch ein Jahr.«

»Drei Monate, Förster. Das ist wie ’ne Krebsdiagnose, ich sage es dir. Bei einer Vernissage hatte ich mal so einen Anzugträger hier, der hat sich eine Skulptur von mir angesehen, ziemlich groß, die drei Frauen, du erinnerst dich vielleicht. Der Typ fragt mich, wie lange ich an so etwas arbeite. Hab ich ihm gesagt. Dann hat er gefragt, wie viel das kostet. Hab ich ihm auch gesagt. Dann hat er einen Moment nachgedacht und gemeint, dass man im Knast wahrscheinlich einen höheren Stundenlohn bekommen würde. Ich hab gesagt, das kann schon sein. Der hat mich nicht nur bedauert, der hat mich für krank gehalten. So sieht es aus. Knast ist vielleicht eine Lösung, dann müsste ich mir keine Gedanken mehr über Fränge machen, aber ich bin ja nicht nur Steineklopperin, ich bin auch noch Mutter, also wird vorläufig nichts aus dem lukrativen Urlaub hinter den Schweden ihren Gardinen.«

»Ich muss los«, sagte Förster.

»Tschuldigung«, sagte die Uli, warf die Zigarette auf den Boden und trat sie mit ihren schweren Bikerboots aus. »Ich sülz dich hier voll, dabei hat das sicher mein Mann schon die ganze Nacht getan.«

»Ich will mich noch ein bisschen hinlegen.«

Die Uli umarmte ihn und flüsterte ihm ins Ohr: »Pass auf dich auf, Förster.«

3Die Äußeren Hebriden

Förster schlief bis kurz nach zwölf und machte sich dann ein Frühstück mit Rührei, Toast und schwarzem Kaffee, auch wenn er davon höchstwahrscheinlich wieder Sodbrennen bekommen würde, weil man das alles ja nicht mehr so einfach wegsteckte wie früher, wo man alles Mögliche in sich hatte hineinstopfen können, ohne dass es irgendeine Wirkung zu haben schien, aber heute, da musste man schon aufpassen, andererseits hatte er Riopan im Haus, und die Sonne schien, und wie er da so am offenen Fenster saß und in den Garten schaute und das gut gewürzte, mit Schnittlauch angereicherte Rührei auf weißem Buttertoast aß, wusste er, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte, und das war doch schon mal was, eine Entscheidung, die sich richtig anfühlte, der Tag würde nicht völlig scheitern, das war bereits klar.

Er hörte die Kellertür unter seinem Fenster aufgehen und schwere Schritte die Treppe hochkommen. Dann stand Dreffke, der pensionierte Cop, einen Liegestuhl am langen Arm, vor dem offenen Fenster und sagte: »Mann, Förster, du hast ein Leben!«

»Es ist Sonntag, Dreffke, da hat jeder ein Leben.«

»Für dich ist doch jeder Tag ein Sonntag. Dein ganzes Leben ein einziges Wochenende. Wo hast du dich heute Nacht wieder rumgetrieben? Hast du die Puppen tanzen lassen, nur für dich?«

»Ich hatte tolle Gespräche.«

»In runtergekommenen Eckkneipen, die es eigentlich kaum noch gibt und wo keiner dich kennt und dich deshalb auch keiner fragen kann, wie es mit der Arbeit vorangeht?«

»Ich war in einer Diskothek, Club nennt man das heute.«

»Diskothek, Club, soso. Ich nehme an, da hast du den Altersdurchschnitt massiv nach oben getrieben.«

»Kann man sagen.«

»Was sagt deine Freundin dazu?«

»Sie ist noch unterwegs. Auf den Äußeren Hebriden.«

»Das ist aber ziemlich weit weg.«

»Nicht so weit wie das australische Outback.«

»Outback, da ist nichts los, das sagt schon der Name!«

»Mag sein, aber es ist schön flach.«

»Wieso? Willst du Fahrrad fahren?«

»Nicht, wenn ich es vermeiden kann.«

»Wer braucht Australien, wenn er diese tolle Wiese haben kann? Angebot: Ich habe unten noch eine zweite Liege. Du bist blass wie Edward Cullen.«

»Wer ist das?«

»Du weißt gar nichts, was? Das ist die Hauptfigur in diesen Filmen über liebeskranke Vampire.«

»Wieso kennst du dich mit so was aus?«

»Habe ich mit meiner Enkelin auf DVD gesehen. Ist natürlich totaler Schrott, aber man muss wissen, was da draußen läuft. Bei denen, die wirklich noch jung sind und nicht nur so tun.«

»Das ist aber auch schon wieder ein paar Jahre her, das lief schon im Fernsehen, so hip und aktuell kann das auch nicht mehr sein.«

Dreffke brummte ein Brummen, das man früher manchmal im Radio zu hören gekriegt hatte. Jetzt schon länger nicht mehr, dachte Förster, wahrscheinlich, weil alles längst digital ist. Nicht, dass ihm das Radiobrummen fehlte. Es fiel ihm nur auf. Jedenfalls sagte Dreffke: »Das hat meine Enkelin auch gesagt. Als ich von ihr weg bin, hat sie zum Abschied gesagt, dass es schön war mit Opa, also habe ich gesagt, dass wir uns ja auch den zweiten Film aus dieser Vampir-Serie angucken könnten, und da druckste sie so ein bisschen herum und meinte dann, dass das mittlerweile eher was für ihre kleine Schwester sei. So weit ist es schon, dass die jungen Leute Vampir-Filme aus Mitleid mit ihrem Großvater angucken. Damit der nicht so einsam ist. Herrgott, Vampire mit Liebeskummer! Was für ein Quatsch! Jetzt komm raus und leg dich in die Sonne, Förster!«

»Ich lege mich hier nicht auf den Präsentierteller und lasse mich aus den anderen Häusern begaffen.«

»Du überschätzt dich. Wenn du neben mir liegst, wirst du gar nicht wahrgenommen.«

Dreffke ging in die Mitte des kleinen Rasenstücks, entfaltete seinen Liegestuhl und zog seine Trainingsjacke aus. Untenrum trug er nur eine dieser winzigen Badehosen, wie sie in den Siebzigern modern gewesen waren. Dreffkes Modell war definitiv ein Original. Er streifte die Adiletten von den Füßen und legte sich ab. Dreffke war braun von oben bis unten, sein ganzer Körper wirkte hart wie eine Schreibtischplatte. Der Brustkorb war ein ausgeklapptes Akkordeon, also oben breit, unten schmal, nur ohne Falten, der Bauch eine Bongo.

Förster spülte den Teller und das Besteck ab und blickte zwischendurch immer wieder in den Garten. Dreffke lag da wie angenagelt, völlig bewegungslos, die Augen geschlossen, siebzig Jahre alt und eins mit sich und der Welt.

Förster stellte dem Hamster frisches Wasser in die große Kiste, die er heute Morgen noch aus dem Keller geholt und mit Zeitungspapier ausgelegt hatte, aber das Tier war nicht zu sehen, hatte sich noch immer in der kleinen Kiste verkrochen, die Förster umgedreht und mit ausgeschnittenem Eingangsloch in die große gestellt hatte, weil solche Viecher ja nachtaktiv waren und sich bei Sonnenlicht versteckten wie Vampire. Der Vergleich gefiel Förster, und er beschloss, den Hamster Edward Cullen zu nennen.

Als er ihn heute früh aus der Jackentasche genommen hatte, hatte dessen Herz im Rhythmus eines Maschinengewehrs mit gefühlt tausend Schuss pro Minute gerattert. Förster wusste nicht, was solche Nager üblicherweise für einen Ruhepuls hatten, aber der Kleine hatte einiges hinter sich, da konnte einem schon mal der Blutdruck nach oben gehen. Außerdem hatte Förster auch noch schnell gegoogelt, was man Hamstern zu essen geben konnte. Das Einzige, was einigermaßen passte und Förster im Haus hatte, waren Möhren, also hatte er eine klein geschnitten und in die Kiste gelegt. Die Möhre lag immer noch da.

Als das Telefon klingelte, war Försters erster Gedanke: Hoffentlich wird der Hamster nicht wach!

Monika ging es gut. »Förster, mein Förster«, sagte sie, »wie geht es dir ohne mich?«

»Ich habe den Sonnenaufgang erlebt.«

»Ich hoffe, allein.«

»Sind die Äußeren Hebriden immer noch so weit draußen wie der Name behauptet?«

»Ganz am Rande der Erdenscheibe. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht ins Urmeer fallen. Im Ernst, du solltest dabei sein. Vielleicht fahren wir hier mal zusammen hin.«

»Vielleicht aber auch ins Outback.«

»Outback? Da ist doch nichts los!«

»Ich weiß, das sagt ja schon der Name. Aber auf den Äußeren Hebriden geht die Post ab, oder was?«

»Das Meer, Förster, das Meer! Wo das Meer ist, geht immer die Post ab.«

»Außer an der Ostsee.«

»Die Ostsee ist kein Meer«, sagte Monika, »die Ostsee ist mehr so eine Art Bodensee, nur etwas größer.«

»Wie geht es mit der Arbeit voran?«

»Wir konnten bisher nur Aufnahmen landeinwärts machen. Wir warten auf stärkeren Seegang für die Fotos an der Küste.«

»Ich dachte, am Meer, da geht immer die Post ab, Monika!«

»Ich gebe zu, es gibt kleinere und größere Postämter.«

»Hört sich jedenfalls an, als hättest du viel zu tun.«

»Keine Sorge, am Sonntag stehe ich dir bei.«

Das war das Tolle: Monika wusste immer, worum es ging, selbst, wenn man es nicht explizit sagte.

»Es geht nicht um Beistand. Ist ja keine OP oder so.«

»Das Älterwerden ist schlimmer als jede OP. Und wenn man nullt, sowieso.«

»Das ist alles albern«, sagte Förster. »Ob mit Null hintendran oder nicht, jedes Jahr gibt es nur einmal.«

»Der Mensch teilt alles gern in Abschnitte ein, damit er weiß, wo er steht.«

»Der Mensch vielleicht, aber der Förster nicht. Dem ist das alles egal.«

Monika lachte. »Der war gut!«

Förster dachte: Die habe ich nicht verdient, diese Frau.

Sie plänkelten noch ein wenig, dann legten sie auf. Das Wichtigste war ja geklärt. Das mit Sonntag.

Dreffke lag noch immer unbeweglich auf seiner Liege.

»Dreffke!«

»Ja?«

»Wie heißt eigentlich die weibliche Hauptfigur in diesem Vampir-Film?«

»Bella Swan.«

Nur falls der Hamster ein Weibchen war.

4Enthirnte Aktivmongos

Nachdem Förster geduscht hatte, lappte der Sonntagmittag schon in den Nachmittag, Dreffke hatte sich noch immer nicht bewegt, das Sodbrennen nach dem Rührei-Frühstück war ausgeblieben, und Förster rief Fränge an.

Er musste es nicht lange klingeln lassen.

»Fränge, du hörst dich schon wieder richtig gut an!«

»Mir geht es blendend, Förster. Wieso auch nicht?«

Hm, dachte Förster, Tequila, verschiedene Biersorten, alles in rauen Mengen – er selbst wurde beim bloßen Gedanken an die letzte Nacht praktisch rückwirkend noch mal blau, aber Fränge war schon immer ein guter Verwerter gewesen oder hatte die Fähigkeit, sich nichts anmerken zu lassen, zur Perfektion getrieben.

»Beneidenswert, Fränge, wirklich.«

»Normal.«

Förster fragte, ob Fränge denn noch alles parat habe, was sie besprochen hätten, und ob er sich auch sonst noch an alles erinnere.

»Geht so«, gab Fränge zu. »Der Film müsste an einigen Stellen geklebt werden. Da war irgendwas mit Jugendlichen, oder?«

Förster dachte: Fit wie ein Marathonläufer, aber erinnerungslos wie Jason Bourne.

»Du warst groß in Form, Fränge!«

»Die waren zu dritt, oder?«

»Ich habe übrigens deine Uhr sichergestellt.«

»Meine Uhr?«

»Die hast du abgelegt, als …«

»… ich einem der drei Prügel angedroht habe?«

»Du hast ihm nicht direkt gedroht. Ich würde eher sagen, du hast darum gebettelt, aufs Maul zu bekommen.«

»Aber das ist dann nicht passiert, oder?«

»Weil du weggelaufen bist!«

»Ich bin weggelaufen?«

»Die anderen waren in der Überzahl.«

Fränge war entsetzt. »Aber ich bin mehr als doppelt so alt!«

»Ein Grund mehr, wegzulaufen.«

»Zusammen hätten wir sie fertiggemacht, Förster!«

»Gewalt ist keine Lösung, Fränge!«

Fränge seufzte. »Die waren jung und stark, die anderen, nicht wahr?«

»Echte Sportler waren das«, bestätigte Förster. »Die gehen regelmäßig in die Muckibude.«

»Schlimm, dieser Fitness-Wahn!«, stöhnte Fränge.

»Machte aber ganz klar den Unterschied.«

»Ich hätte sie vielleicht nicht enthirnte Aktivmongos nennen sollen.«

»Ja, das war nicht so eine gute Idee.«

»Ich dachte halt, hochbegabt sehen die nicht aus, also haben sie wahrscheinlich ADHS, das sind ja heutzutage die zwei Möglichkeiten. Außerdem finde ich die Formulierung enthirnte Aktivmongos schon vom Klang her sehr schön.«

»Ich glaube, dass du die Freundin von dem einen angebaggert hast, war auch nicht so gut.«

Fränge seufzte. »Ja, ja, das hat sich irgendwie hochgeschaukelt.«

»Und dass du dann ausgerechnet dem Größten der drei Prügel angedroht hast, hat die Situation nicht gerade entspannt.«

»Dem Kleinsten Prügel androhen ist uncool.«

»So richtig cool war dein überstürzter Aufbruch dann aber auch nicht. Auf der Treppe sind uns Leute entgegengekommen, da habe ich dich verloren, und als ich unten ankam, warst du weg. Ich dachte, du findest schon nach Hause.«

»Schön, wenn einem die Leute noch was zutrauen.«

Förster wartete darauf, dass Fränge noch etwas zu dem sagte, worum es die ganze Nacht gegangen war, aber da hielt Fränge sich jetzt bedeckt. Vielleicht war es an Förster, das Gespräch in diese Richtung zu lenken.

»Ich habe die Uli heute Morgen getroffen«, sagte er.

»Oh«, machte Fränge nur. Weil er Lunte roch.

»Ich bin übers FKK-Gelände nach Hause, und da saß sie in der Sonne.«

»Ja, die geht manchmal schon frühmorgens dahin, weil sie dann komplett ihre Ruhe hat, vor allem am Sonntag.« Pause. »Was hat sie denn so gesagt?«

»Wollte wissen, ob ich dir ein Alibi für die ganze Nacht geben könne.«

»Brauche ich denn eines?«

»Habe ich sie auch gefragt, Fränge.«

»Meinst du, sie ahnt was?«

»Ist eine kluge Frau, die Uli.«

»Sicher.« Fränge schwieg einen Moment. Dann: »Ja, also, hör mal, Förster, was ich dir da so alles erzählt habe … Ich meine, das bleibt unter uns, oder?«

»Schon die Frage ist eine Beleidigung, Fränge.«

»Ja, ja, natürlich.« Fränge atmete tief durch. »Und jetzt hast du meine Uhr? Wann kriege ich die zurück?«

»Ich komme morgen bei dir im Laden vorbei.«

»Morgen ist alles wieder in Ordnung.«

»Nee, Fränge, das glaube ich nicht. Du musst das erst klären.«

Und wieder seufzte Fränge. Er sagte: »Weißt du noch, als wir so jung waren wie die, die jetzt ins Loft gehen? Das war unsere beste Zeit, oder? Als wir saufen konnten, ohne krank zu werden, und den besten Sex unseres Lebens hatten.«

»Krank? Ich dachte, dir geht es blendend?«

»Vielleicht habe ich da ein bisschen übertrieben. Ich meine, es ist ja auch peinlich, nach so einer Nacht dem anderen am Telefon einen vorzujammern. Früher hat man das besser weggesteckt.«

»Ich bin vom Saufen immer krank geworden«, sagte Förster. »Und schlecht ist der Sex, den ich jetzt habe, wirklich nicht.«

»Damals waren wir die enthirnten Aktivmongos, Förster!«

»Ich bin nie in eine Muckibude gegangen.«

»Weißt du«, sinnierte Fränge, »so viele Leute wären gerne wieder sechzehn oder achtzehn, dabei war die Zeit Mitte zwanzig die beste.«

Jetzt war Förster mit dem Seufzen dran. »Mag sein, keine Ahnung.«

Fränge war jetzt voll in Fahrt. »Ach komm, Förster, das war die geile Zeit. Nirvana, Edwyn Collins, Manic Street Preachers, Oasis, Blur, das ganze gute Zeug.«

»Du bist zur Love Parade gefahren, Fränge!«

»Einmal, Förster! Ein einziges Mal! Und das war nichts für mich, wirklich nicht! So eine halb nackte Angemalte hat mir auf die Schuhe gegöbelt. Die konnte ich wegschmeißen, die Schuhe! Techno war nie mein Ding! Obwohl ich immer total offen war für neue Sachen, nicht wie Brocki, der Horst! Ehrlich, so engstirnig, wie der ist, müsstest du den eigentlich unter Naturschutz stellen, weil: So was gibt es eigentlich gar nicht mehr.«

Förster hörte, wie Fränge irgendwas trank.

»Was trinkst du denn da?«

»Ach, Förster, ein Konterbier, was soll es denn, du bist nicht meine Mutter!«

»Ist schon gut.«

»Als Kind wollte ich Astronaut werden, wusstest du das?«

»Nein, das wusste ich nicht.«

»Als ich klein war, wollte ich Astronaut werden, weil ich die Welt retten wollte und weil ich dachte, Astronauten, das sind ehrliche Menschen. Im All musst du ehrlich sein, sonst bist du verloren, so weit weg von der Erde.«

»Kann sein.«

»Wir sollten die Welt retten, dabei können wir nicht mal mehr enthirnte Aktivmongos verhauen.«

»Rettung der Welt war doch Achtziger, oder?«

»Nein, nein!«, rief Fränge, »Rettung der Welt war immer! Aber irgendwann hat das aufgehört. Ich glaube, es hat bescheuerterweise aufgehört, als ich Vater wurde. Für wen aber sollte man die Welt retten, wenn nicht für seine Kinder? Stattdessen fährt man dann seine Ehe an die Wand.«

»Muss ja nicht sein, Fränge.«

»Ich lege jetzt auf«, stöhnte Fränge, »ich geh echt am Stock.«

Und Förster saugte einen Beutel Riopan leer, weil das Sodbrennen jetzt doch noch gekommen war.

5Keine Quallen an der Côte d’Azur

Der Rest des Tages schleppte und schleppte sich hin, wie Sonntage es nun mal tun, denn da treiben alle Leute wie Quallen durch den Tag, wie es die Michaela in Michaela sagt von Element of Crime so sagt, und diese Michaela in dem Lied mochte ja eine ziemlich merkwürdige Person sein, aber mit dem Quallenvergleich hatte sie eindeutig recht, vor allem, wenn man sich vor Augen führte, dass viele Menschen in der Nacht zuvor kräftig gebechert hatten und entsprechend nicht auf dem Damm waren. Förster sah mehrfach nach Edward Cullen, aber der ließ sich nicht blicken, während Dreffke sich irgendwann doch wieder erhob, seine Liege zusammenklappte und im Keller verschwand. Kurz darauf hörte Förster ihn im Flur husten, und er hörte auch, wie Dreffke von der alten Strobel abgepasst und zur Rede gestellt wurde. Da musste jeder durch, der über den Hausflur ging, egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit.

Förster sammelte im Internet ein paar Infos über Hamster, weil: Wenn sich niemand meldete, war Edward Cullen sein neuer Mitbewohner, und dann sollte es ihm auch gut gehen.

Irgendwie wurde es Abend, auch wenn es zwischendurch den Anschein hatte, der Tag wolle überhaupt nicht mehr vergehen, was im Prinzip kein Problem für Förster gewesen wäre, denn wenn man sich erst mal auf so einen Sonntag eingelassen hatte, wenn man also zur Sonntagsqualle geworden war, dann wünschte man sich, er möge ewig währen, besonders, wenn die Sonne schien und es auf den Straßen so vergleichsweise still war wie heute. Eigentlich sollte man was lesen, das berühmte gute Buch oder wenigstens eine dicke Sonntagszeitung, aber Förster machte das, was man seiner Meinung nach viel zu selten machte, nämlich gar nichts, saß einfach nur da und guckte, ohne zu sehen. Nur die Gedanken, die ja frei waren, sind und sein werden, die bekam er nicht abgeschaltet, die waren auf den Äußeren Hebriden und im Loft und bei der Uli und bei Fränge, und bevor diese so freien Gedanken bei seinen Eltern ankommen konnten, riefen die auch schon an, aber nicht über Telefon, sondern via Skype, und Förster war froh, dass er den Laptop vorhin nicht zugeklappt hatte, denn das hier war ganz eindeutig so eine Art von Sonntag, an dem man gut mit seinen Eltern skypen konnte, wenn man sie schon höchstens zweimal im Jahr leibhaftig zu sehen bekam. Seine Eltern meldeten sich immer an einem Sonntag, als seien sie sich zu schade dafür, an einem Werktag anzurufen.

Er nahm den Skype-Anruf an und sah gleich darauf seine Eltern auf ihrem braunen Ledersofa unter dem Kandinsky-Druck sitzen, seine Mutter in einem zauberhaften gelben Sommerkleid, das ihre immer noch makellosen, gebräunten Beine zur Geltung brachte, seinen Vater in Kaki-Shorts und Hawaiihemd, wie Magnums kleiner Bruder, nur ohne Achtzigerjahre-Porno-Balken unter der Nase, lässig ergraut und ganz entspannt im Hier und Jetzt, wobei »Hier« die Côte d’Azur meinte. Bei Försters Freunden hatten seine Eltern immer als cool gegolten. Seine Mutter, weil sie so schön war und das auch wusste und gerne zeigte, und sein Vater, weil er die Stones hörte, als die anderen Väter an Schlager und Klassik laborierten. Dazu kam, dass das Ehepaar Förster immer eine sehr entspannte Haltung bezüglich der Partys ihres Sohnes gehabt hatte, zu denen sie ihn aber oft hatten überreden müssen, weil dazu auch gehörte, den Keller des elterlichen Eigenheims hinterher wieder in den Status quo ante zu versetzen, wozu Förster eigentlich zu faul war, weshalb er am liebsten auf Partys, bei denen er der Gastgeber war, verzichtet hätte. Das aber ließen seine Eltern ihm nicht durchgehen, Partys waren Pflicht, als Förster zwischen fünfzehn und neunzehn gewesen war. Und dass seine Eltern jetzt in einem kleinen Kaff in der Nähe von Villefranche-sur-Mer lebten, wo die Stones Anfang der Siebziger in der legendären Villa Nellcôte Exile on Main St. aufgenommen hatten, war natürlich nur ein Zufall, auch wenn sein Vater, sobald die Sprache darauf kam, sich bemühte, seinem Lächeln etwas Geheimnisvolles zu geben, um den Eindruck zu erwecken, Mick und Keith seien seine alten Buddies. Tatsächlich ging ihre Vorliebe für alles Gallische auf Försters Mutter zurück, die mit ihren hugenottischen Vorfahren und ihrer Vergangenheit als Französischlehrerin sowohl qua Herkunft als auch aus Überzeugung immer schon schwer frankophil ausgerichtet gewesen war.

»Junge, wie geht es dir?«, wollte sein Vater wissen und blickte dabei wieder nur auf den Bildschirm, wo Förster zu sehen war, anstatt in die Kamera.

»Danke der Nachfrage. Wir haben schon seit Tagen ganz tolles Wetter.«

»Ach, Junge, du weißt gar nicht, was richtig gutes Wetter ist.«

»Du siehst müde aus«, bemerkte seine Mutter, die es im Gegensatz zu ihrem Mann richtig machte: Sie blickte beim Sprechen in die kleine Kamera im Deckel des Laptops, sodass Förster den Eindruck hatte, seine Mutter, obwohl sie mehr als tausend Kilometer weit entfernt war, sehe direkt in ihn hinein, und das stimmte sicher auch, denn das konnten alle Mütter.

»Ich war etwas länger unterwegs heute Nacht«, gab Förster zu.

»Bist um die Häuser gezogen, was?«, sagte sein Vater. »Mit Monika oder …«

»Monika ist auf den Äußeren Hebriden.«

Försters Vater wirkte von einem auf den anderen Moment so, als hätte er in etwas sehr Saures gebissen. »Was will die denn da? Ist es da nicht arschkalt?«

»Fotos machen will die da, Papa.«

»Aber da ist doch nichts los, auf den Äußeren Hebriden. Übrigens auch nicht auf den Inneren. Muss man auch gar nicht unterscheiden, da oben ist überall nichts los.«

»Aber da ist das Meer, Papa, und wo das Meer ist, da geht die Post ab.«

»Ja, ja, aber das Wetter! Äußere Hebriden, das ergibt im Sommer gar keinen Sinn!«

»Martina ist heute Abend wieder im Fernsehen«, sagte Försters Mutter.

»Habe ich gelesen.«

»Wirst du es dir ansehen?«

»Ich weiß noch nicht.« Das war gelogen, natürlich würde er sich den Tatort mit Martina ansehen, und an der Art, wie seine Mutter in die Kamera blickte, erkannte Förster, dass sie das auch wusste.

»Aber viel wichtiger ist«, wechselte er das Thema, »wie es euch geht.«

»Junge«, sagte der Vater, »wie sehen wir denn aus?«

»Toll, wie immer.«

»Und weißt du, warum?«

»Nein, Papa, sag es mir!«

»Weil es uns super geht!«

Der Vater hob die Hand zum High Five, aber die Mutter schlug nicht ein. So oder so ähnlich lief das immer.

»Deutschland, das kann ich mir schon lange nicht mehr vorstellen.«

»Das sagst du immer«, sagte die Mutter.

»Ist ja auch so.«

»Was machst du den ganzen Tag?«, fragte die Mutter. »Wieso bist du überhaupt zu Hause, wenn das Wetter so schön ist?«

»Ach«, sagte Förster, »das Wetter ist schon ziemlich lange schön, da muss man sich nicht mehr jeden Tag diesem Freiluftdiktat beugen. Ich treibe heute mehr so wie eine Qualle durch den Tag.«

»Quallen haben wir hier nicht«, sagte der Vater. »Super sauberes Wasser! Glasklar, ehrlich!«

»Es gibt auch sehr schöne Quallen, Klaus! Und Quallen bedeuten nicht, dass das Wasser schmutzig ist.«

»Was ich dich immer schon fragen wollte, Junge: Willst du nicht mal wieder Gitarre spielen?«

Förster war ehrlich verblüfft. »Wie kommst du denn jetzt darauf?«

»Ach, wir haben neulich alte Fotos angesehen, und da hast du Gitarre gespielt. Weißt du noch, wie du an deiner Schule aufgetreten bist? Du warst gut, ehrlich! Nur dein Bartwuchs war nix, Junge. Du hast keinen guten Bartwuchs, ich bin echt froh, dass du dich mittlerweile regelmäßig rasierst.«

»Dafür kann er nichts, Klaus.«

»Entschuldigung«, sagte Förster, »es ist jetzt kurz vor acht, und wenn ich den Tatort sehen will …«

»Wir sehen uns den auch an«, sagte seine Mutter. »Mach’s gut, Roland! Wir haben dich lieb!«

»Äh, ja, ich euch auch.«

»Siehst du, Susanne, das kann er nicht leiden.«

»Lass ihn, Klaus!«

»Also, macht’s gut«, sagte Förster. »Und weiter keine Quallen. Auch wenn die schön sein können.«

»Wir melden uns natürlich am Sonntag«, sagte seine Mutter. »Bist du schon aufgeregt?«

»Warum sollte ich?«

»Fünfzig, das ist schon ein dickes Ding«, sagte sein Vater.

»Neunundvierzig oder achtunddreißig waren auch dicke Dinger«, meinte Förster.

Seine Mutter lächelte. »Wir lassen dich jetzt in Ruhe.«