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Er schuf Leben – und zerbrach an seiner Schöpfung
Victor Frankenstein wagt das Undenkbare: Er entreißt der Natur ihr Geheimnis und schafft neues Leben. Doch im Moment seiner größten Vollendung beginnt auch sein Untergang – denn was er erschaffen hat, fordert ihn mit der ganzen Wucht menschlicher Schuld und Verantwortung heraus.
Mary Shelleys bahnbrechender Roman ist ein ergreifendes Drama über Macht, Verantwortung und menschliche Hybris.
Diese Neuausgabe zeigt den zeitlosen Konflikt zwischen Schöpfer und Geschöpf in neuer sprachlicher Klarheit und literarischer Tiefe.
Erleben Sie ein Werk, das die Folgen menschlichen Handelns mit erschütternder Klarheit aufzeigt!
nexx classics – WELTLITERATUR NEU INSPIRIERT
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Mary Shelley
Frankenstein
oder: Der moderne Prometheus
Mary Shelley
Frankenstein
oder: Der moderne Prometheus
ISBN/EAN: 978-3-95870-757-3
2. Auflage
Rechtschreibung und Schreibweise des Originaltextes
wurden behutsam angepasst.
Covermotiv: © nexx verlag gmbh; Portrait Mary Shelley von Samuel John Stump (1779–1863)
Covergestaltung: nexx verlag, 2025
www.nexx-verlag.de
Der Roman »Frankenstein« von Mary Shelley zählt zu den bedeutendsten Werken der Literaturgeschichte und gilt als eines der ersten Science-Fiction-Werke überhaupt. Der erste Entwurf entstand 1816, als die noch unverheiratete Mary Godwin mit ihrem Partner Percy Bysshe Shelley, deren gemeinsamen Sohn William, dem Dichter Lord Byron, dessen Leibarzt John Polidori und Marys Stiefschwester Claire Clairmont den Sommer am Genfer See verbrachten. Das Wetter war so schlecht, dass Lord Byron eines Abends vorschlug, dass jeder einen Schauerroman schreiben solle.
Der Roman erzählt die Geschichte des Schweizer Forschers Victor Frankenstein, der die Grenzen des Möglichen auslotet und dabei die Kontrolle über seine Kreatur verliert. Damit stellt Mary Shelley zentrale Fragen nach der Verantwortung des Schöpfers gegenüber seiner Schöpfung, nach moralischen Dilemmata und den Konsequenzen ungebremsten wissenschaftlichen Handelns. Auch heute sind diese Themen von hoher Relevanz, denn technologische Innovationen wie Künstliche Intelligenz, Gentechnik oder autonome Systeme werfen ähnliche ethische Fragen auf, die unsere Gesellschaft bewegen.
»Frankenstein« bleibt eine kraftvolle Mahnung, bewusst und verantwortungsvoll mit wissenschaftlichem Fortschritt umzugehen, und stets die Konsequenzen unseres Handelns zu bedenken. Die Macht, die aus diesem Fortschritt erwächst, geht mit einer großen Verantwortung einher und darf nicht ohne moralische Reflexion ausgeübt werden.
Diese Ausgabe wurde anhand des englischen Originaltextes komplett aufwändig ergänzt und überarbeitet.
Noch ein Wort zum Covermotiv dieses Titels: Ich habe mich dafür entschieden, weil es die stille, menschliche Seite von Mary Shelleys »Frankenstein« zeigt – fern von den Bildern der Filmgeschichte. Der kleine William, eine Figur, die im Roman kaum mehr als eine Erinnerung bleibt, aber dessen Ermordung den Wendepunkt in der Tragödie markiert, ruht hier im weichen Sonnenlicht des Genfer Sees.
Seine Figur steht für Unschuld – und Verantwortung, für das, was verloren gehen kann, wenn der Mensch über seine Grenzen geht. Das Motiv verweist auf das eigentliche Thema von Mary Shelleys Werk: die Verantwortung des Menschen für das, was er erschafft, und die unausweichlichen Folgen, die daraus erwachsen können.
Joachim FeserVerleger
Die Herausgeber haben mich vor Veröffentlichung meines »Frankenstein« gebeten, ihnen etwas über dessen Entstehung zu berichten. Ich entspreche diesem Wunsch umso lieber, als mir dadurch die Gelegenheit gegeben wird, die so häufig an mich gerichtete Frage zu beantworten, wie ich als junge Frau auf die Idee käme, mich mit einem so entsetzlichen Stoff zu beschäftigen. Ich stelle mich nicht gerne in den Vordergrund; aber da diese Erklärung mehr oder weniger nur ein Anhang zu meinem Werk ist und ich mich nur auf das beschränken werde, was mit meiner Autorschaft zusammenhängt, kann man mir kaum persönliche Eitelkeit zum Vorwurf machen.
Es ist meines Erachtens nichts Besonderes, dass ich, als Kind zweier literarischen Berühmtheiten, ziemlich früh im Leben am Schreiben Gefallen fand. Schon als kleines Mädchen war meine liebste Beschäftigung in meiner freien Zeit das »Geschichtenschreiben«, bis ich allerdings noch ein schöneres Vergnügen fand, das Bauen von Luftschlössern, das Versinken in Wachträume und das Verfolgen von Gedanken, die sich aus erfundenen Ereignissen ergaben. Meine Träume waren auf alle Fälle phantastischer und angenehmer als meine Aufzeichnungen. Denn beim Schreiben folgte ich mehr den Taten anderer, als dass ich meine eigenen Gedanken wiedergab.
Als Mädchen lebte ich hauptsächlich auf dem Land und verbrachte viel Zeit in Schottland. Ich besuchte gelegentlich dessen malerischere Gegenden, aber mein ständiger Wohnsitz lag an den kahlen und trostlosen nördlichen Ufern des Tay, in der Nähe von Dundee. Kahl und trostlos nenne ich sie im Rückblick; damals waren sie das für mich aber nicht. Sie waren der Hort der Freiheit und die angenehme Gegend, in der ich unbeachtet mit den Geschöpfen meiner Fantasie kommunizieren konnte. Ich schrieb schon damals – aber in einem sehr einfachen Stil. Unter den Bäumen des Grundstücks unseres Hauses oder an den kahlen Hängen der waldlosen Berge in der Nähe entstanden und wuchsen meine wahren Kompositionen, die luftigen Flüge meiner Fantasie.
Ich machte mich selbst nie zur Heldin meiner Erzählungen, denn das Leben erschien mir in Bezug auf mich selbst als nichts Romantisches und ich konnte mir nicht vorstellen, dass außergewöhnliche Leiden oder merkwürdige Ereignisse in meinem Dasein eine Rolle spielen sollten. Und so konnte ich in meiner Phantasie Geschöpfe entstehen lassen, die mir damals weitaus interessanter erschienen als meine eigenen Empfindungen.
Dann aber wurde mein Leben ereignisreicher und die Wahrheit trat an die Stelle der Dichtung. Allerdings war mein Mann ängstlich darauf bedacht, dass ich meiner literarischen Abstammung Ehre mache und selbst zu einer Berühmtheit werde. Er erregte in mir den Wunsch, einen literarischen Ruf zu erringen; ein Ziel, das mir heute vollkommen gleichgültig geworden ist. Damals wünschte er, dass ich schreiben sollte, nicht so sehr in der Hoffnung, dass ich etwas Bemerkenswertes hervorbringen könnte, sondern damit er selbst beurteilen konnte, inwieweit ich das Versprechen auf Besseres für die Zukunft in mir trug. Dennoch tat ich nichts. Reisen und die Sorgen um meine Familie nahmen meine Zeit in Anspruch; und das Studium, in Form von Lesen oder der Erweiterung meiner Ideen im Austausch mit seinem weitaus kultivierteren Geist, war alles, was meine Aufmerksamkeit in literarischer Hinsicht in Anspruch nahm.
Im Sommer 1816 bereisten wir die Schweiz und ließen uns in der Nähe Lord Byrons nieder. Wir verbrachten mit ihm herrliche Stunden auf dem See oder an dessen Ufern. Der einzige unter uns, der seine Gedanken schriftlich niederlegte, war Lord Byron. Er hatte gerade den dritten Gesang seiner »Childe Harold's Pilgerfahrt« in Arbeit. Diese Verse, die er uns nach und nach zu Gehör brachte, schienen uns ein Ausfluss all der uns umgebenden Naturschönheit zu sein, verklärt durch den Glanz und den Wohllaut seiner Kunst.
Aber es war ein nasser, unfreundlicher Sommer, und der unaufhörliche Regen zwang uns oft tagelang ins Haus. Einige Bände mit Geistergeschichten, übersetzt aus dem Deutschen ins Französische, fielen uns in die Hände. Da war die Geschichte des unbeständigen Liebhabers, der, als er die Braut, der er sein Gelübde gegeben hatte, umarmen wollte, sich in den Armen des blassen Geistes derjenigen wiederfand, die er verlassen hatte. Da war die Geschichte des sündigen Gründers seines Geschlechts, dessen furchtbares Schicksal es war, allen jüngeren Söhnen seines verfluchten Hauses den Todeskuss zu geben, sobald sie das heiratsfähige Alter erreicht hatten. Seine riesige, schattenhafte Gestalt, gekleidet wie der Geist in Hamlet, in voller Rüstung, aber mit hochgeschlagenem Helm, wurde um Mitternacht im flackernden Mondlicht gesehen, wie sie langsam die düstere Allee entlangschritt. Die Gestalt verschwand im Schatten der Burgmauern, doch bald schwang ein Tor auf, Schritte waren zu hören, die Tür der Kammer öffnete sich, und er ging zu den Liegen der blühenden Jünglinge, die in gesundem Schlaf lagen. Ewige Trauer lag auf seinem Gesicht, als er sich bückte und die Stirn der Jungen küsste, die von dieser Stunde an verwelkten wie Blumen, die am Stiel abgebrochen wurden. Ich bin diesen Geschichten seitdem nicht mehr begegnet, aber in meiner Erinnerung sind sie so frisch, als hätte ich sie gestern erst gelesen.
»Wir wollen jeder eine Gespenstergeschichte schreiben,« schlug Lord Byron vor, und alle stimmten diesem Vorschlag zu. Wir waren zu viert. Der adlige Autor begann eine Geschichte, von der er ein Fragment am Schluss seines »Mazeppa« verwendete. Shelley, der es besser verstand, Gedanken und Gefühle in die schönsten, glänzendsten Verse zu bringen, die unsere Sprache kennt, als eine Geschichte zu erfinden, erzählte ein Jugenderlebnis. Der arme Polidori hatte eine schreckliche Idee über eine Frau mit einem Totenkopf, die dafür bestraft wurde, dass sie durch ein Schlüsselloch geschaut hatte – was sie gesehen hat, habe ich vergessen – etwas sehr Schockierendes und Unrechtes natürlich; aber als sie in einen noch schlimmeren Zustand geriet als der berühmte Tom von Coventry, wusste Polidori nicht, was er mit ihr anfangen sollte, und war gezwungen, sie zum Grab der Capulets zu schicken, dem einzigen Ort, für den sie geeignet war. Auch die berühmten Dichter, genervt von der Plattitüde der Prosa, gaben ihre unangenehme Aufgabe schnell auf.
Ich selbst gab mir Mühe, eine Geschichte zu erdenken, die es mit den von uns gelesenen aufnehmen könne. Eine Geschichte, die das tiefste Entsetzen im Leser hervorrufen, das Blut stocken und das Herz heftiger schlagen lassen sollte. Wenn ich diese Dinge nicht erreicht hätte, wäre meine Geistergeschichte dieser Bezeichnung nicht würdig. Ich dachte und grübelte – vergeblich. Ich spürte diese blanke Unfähigkeit, sich etwas auszudenken, die das größte Elend des Schreibens ist, wenn nur eine dumpfe Leere auf unsere ängstlichen Bitten antwortet. »Hast du dir eine Geschichte ausgedacht?«, wurde ich jeden Morgen gefragt, und jeden Morgen musste ich mit einem demütigenden »Nein« antworten.
Alles muss einen Anfang haben, um es mit den Worten von Sancho Panzazu sagen; und dieser Anfang muss mit etwas verbunden sein, das zuvor geschah. Die Hindus geben der Welt einen Elefanten, um sie zu stützen, aber sie lassen den Elefanten auf einer Schildkröte stehen. Erfindungen, das muss man demütig zugeben, bestehen nicht darin, aus dem Nichts etwas zu erschaffen, sondern aus dem Chaos. Die Materialien müssen zunächst einmal vorhanden sein: Sie können dunklen, formlosen Substanzen Gestalt geben, aber sie können nicht die Substanz selbst erschaffen. In allen Fragen der Entdeckung und Erfindung, selbst in denen, die die Vorstellungskraft betreffen, werden wir ständig an die Geschichte von Kolumbus und seinem Ei erinnert. Erfindung besteht in der Fähigkeit, die Möglichkeiten eines Themas zu erfassen, und in der Kraft, die dazu angeregten Ideen zu formen und zu gestalten.
Oft und lange diskutierten Lord Byron und Shelley, während ich als bescheidene aber aufmerksame Zuhörerin dabeisaß. Eine der philosophischen Hauptfragen, die diskutiert wurden, war die nach dem Ursprung des Lebens und ob es je möglich sein werde, ihm auf den Grund zu kommen. Man besprach die Experimente Darwins. Es handelt sich für mich nicht darum, dass der Gelehrte diese Experimente wirklich vornahm, sondern um das, was darüber gesprochen wurde. Darwin hatte in einem Glas ein Stückchen Makkaroni aufbewahrt, das dann aus irgendwelchen Ursachen willkürliche Bewegungen zu machen schien. Jedenfalls glaubte ich nicht, dass auf diesem Weg Leben erzeugt werden könne. Aber vielleicht wäre es denkbar, einen Leichnam wieder zu beleben, was ja auf galvanischem Weg bereits geschehen ist, oder die Bestandteile eines Lebewesens zusammenzufügen und es mit der lebenswichtigen Wärme auszustatten.
Unter diesen Gesprächen wurde es Nacht. Als ich mein Haupt auf die Kissen bettete, konnte ich nicht einschlafen; man kann aber auch nicht sagen, ich hätte nachgedacht. In meiner Phantasie tauchten ungebeten Bilder vor mir auf, die einen selten hohen Grad an Lebendigkeit erreichten, die weit über die üblichen Grenzen der Träumerei hinausgingen. Ich sah mit geschlossenen Augen den bleichen Studenten der schrecklichen Wissenschaft vor diesem Ding knien, das er geschaffen hatte. Ich sah das schreckliche Zerrbild eines Menschen ausgestreckt daliegen und dann sich plump, maschinenmäßig bewegen. Furchtbar müsste es auf den Menschen wirken, wenn es ihm gelänge, den Schöpfer in seinem wunderbaren Wirken nachzuahmen. Der Erfolg müsste den Künstler aufs Tiefste erschrecken, so dass er entsetzt von der Stätte seiner Arbeit flieht. Er müsste hoffen, dass der schwache Lebensfunke, den er entzündet hat, sich selbst überlassen, wieder erlösche. Dass das Ding, dem er eine Art Leben eingehaucht hat, wieder in die Materie zurücksinke. Und er müsste einschlafen mit dem Gedanken, dass das Grab sich wieder schlösse über dem hässlichen Leib, den er bisher als Triumph des Lebens betrachtet hatte. Er schläft, aber nicht tief; er öffnet plötzlich die Augen – an seinem Bett steht das Ungeheuer, hält die Vorhänge auseinander und starrt ihn mit seinen gelben, wässerigen, aber aufmerksamen Augen an.
Auch ich öffnete erschreckt die Augen. Die Idee hatte mich derart gefangen genommen, dass es mich eiskalt überlief und ich mich vergebens bemühte, das gespenstische Bild meiner Phantasie wieder mit der Wirklichkeit zu vertauschen. Ich erinnere mich noch heute ganz genau an das dunkle Zimmer mit seiner Täfelung, auf der sich durch die geschlossenen Gardinen blass das Licht des Mondes spiegelte. Ich wusste, dass draußen spiegelglatt der See lag und die Alpen ihre Häupter starr zum Himmel erhoben; aber trotzdem konnte ich mein Phantasiegebilde nicht loswerden. Ich musste versuchen an anderes zu denken. Da fiel mir meine Gespenstergeschichte ein, meine unglückselige Gespenstergeschichte! Oh könnte ich doch eine erfinden, die meine Leser ebenso erschüttern würde wie mich das Gesicht dieser Nacht!
Schnell wie das Licht und genauso erfreulich flammte ein Gedanke in mir auf. Ich habe sie! Was mich erschreckte, wird auch andere erschrecken. Ich müsste nur den unheimlichen Traum beschreiben, der mich auf dem mitternächtlichen Kissen gequält hatte. Am nächsten Tag verkündete ich, dass ich mir eine Geschichte ausgedacht hätte. Ich begann noch am selben Tag mit den Worten: »Es war in einer trüben Novembernacht«, und schrieb einfach meinen schrecklichen Wachtraum nieder.
Zunächst dachte ich nur an ein paar Seiten – an eine kurze Erzählung; aber Shelley drängte mich, die Idee ausführlicher zu entwickeln. Ich verdanke meinem Mann sicherlich nicht die Anregung zu einem einzigen Ereignis, ja kaum zu einem einzigen Gefühlsausbruch, und doch hätte es ohne seine Anregung niemals die Form angenommen, in der es der Welt präsentiert wurde. Von dieser Erklärung muss ich das ursprüngliche Vorwort ausnehmen, soweit ich mich erinnern kann, wurde es vollständig von ihm verfasst.
Und nun, einmal mehr, sende ich mein abscheuliches Kind hinaus in die Welt, damit es gedeihe. Ich habe eine Zuneigung zu ihm, denn es war das Kind glücklicher Tage, als Tod und Trauer nur Worte waren, die in meinem Herzen kein wirkliches Echo fanden. Die einzelnen Seiten erzählen von vielen Spaziergängen, vielen Autofahrten und vielen Gesprächen, bei denen ich nicht alleine war; und mein Begleiter war jemand, den ich in dieser Welt nie mehr wiedersehen werde. Aber das ist meine persönliche Angelegenheit, meine Leser haben mit diesen Assoziationen nichts zu tun.
London, 15. Oktober 1831
Mary Wollstonecraft Shelley
An Mrs. Saville, London
St. Petersburg, den 11. Dezember 17..
Es wird dich freuen zu hören, dass keines der Missgeschicke den Anfang dieser Unternehmung betroffen hat, deren Vorbereitungen du mit solch trüben Ahnungen verfolgt hast. Ich bin gestern hier angekommen, und das Erste, was ich tue, ist, meiner lieben Schwester mitzuteilen, dass ich es mir gut geht und dass ich mit wachsender Hoffnung dem Fortgang meiner Unternehmung entgegensehe.
Ich bin hier bereits ein gutes Stück weiter nördlich als London, und während ich durch die Straßen Petersburgs schlendere, pfeift mir ein eisiger Wind um die Wangen, der meine Nerven erfrischt und mich mit Zufriedenheit erfüllt. Kennst du dieses Gefühl? Dieser Wind, der aus den Gegenden herüberweht, in die ich reisen will, gibt mir einen Vorgeschmack auf deren frostiges Klima. Dieser Wind trägt mir auf seinen Flügeln Verheißungen zu und meine Phantasien werden lebhafter und glühender. Ich versuche vergebens, mir klar zu machen, dass der Nordpol eine Eiswüste ist; immer stelle ich ihn mir als eine Stätte der Schönheit und des Vergnügens vor. Dort, Margaret, geht die Sonne nicht unter; ihre mächtige Scheibe streift am Horizont und verbreitet ein beständiges Licht. Was dürfen wir von diesem Land der ewigen Sonne erwarten? Vielleicht entdecke ich dort die geheimnisvolle Kraft, die der Magnetnadel ihre Richtung verleiht, und tausend Beobachtungen Erklärungen finden, die zu finden es nur dieser Reise bedurfte. Meine brennende Neugierde will ich mit dem Anblick eines Teils der Erde befriedigen, der noch nie von einem Menschen betreten wurde. All das erscheint mir so verlockend, dass ich jede Furcht vor Gefahr oder Tod überwinde und mich dazu bewegt, diese mühsame Reise mit der Freude eines Kindes anzutreten. Und selbst wenn all diese Vermutungen falsch sein sollten, liegt ein unschätzbarer Nutzen darin, eine Passage vom Pol zu den Ländern zu entdecken, deren Erreichung heute noch Monate in Anspruch nimmt, oder dem Geheimnis des Magnetismus näher zu kommen, was ja doch nur durch eine Reise geschehen kann, wie ich sie unternehmen will.
Diese Betrachtungen haben die Rührung verfliegen lassen, die mich zu Beginn dieses Briefes ergriffen hatte, und ich glühe vor himmelstürmendem Enthusiasmus. Nichts vermag die Seele so sehr auszugleichen, wie eine ernste Absicht, ein fester Punkt, auf den sich das geistige Auge richten kann. Diese Expedition war schon ein Wunsch meiner frühen Jugendjahre. Ich habe mit heißem Kopf die verschiedenartigen Beschreibungen der Reisen gelesen, die die Entdeckung einer Passage durch die den Pol umgebenden Meere zum nördlichen Teil des Stillen Ozeans zum Ziel hatten. Du erinnerst dich vielleicht daran, dass solche Reisebeschreibungen den größten Bestandteil der Bibliothek unseres guten Onkels Thomas bildeten. Diese Werke waren mein Studium, dem ich Tage und Nächte widmete, und je mehr ich mich mit ihnen anfreundete, desto tiefer bedauerte ich es, dass der Vater unserem Onkel in seinem Testament auftrug, mir ein Leben als Seemann zu verbieten. Wie du weißt, wurde ich daraufhin Dichter – und scheiterte. Das Vermögen unseres Cousins, das ich erbte, ließ mich wieder von meinem Abenteuer träumen.
Sechs Jahre sind es nun, seit ich mich zu diesem Vorhaben entschlossen habe. Ich erinnere mich noch genau an den Moment, in dem ich mich dieser großen Aufgabe widmete. Ich begann damit, meinen Körper zu stählen; ich nahm an den Fahrten mehrerer Walfänger in die Nordsee teil; ich ertrug freiwillig Kälte, Hunger, Durst und Schlafmangel; ich arbeitete tagsüber zuweilen härter als die Matrosen und widmete meine Nächte dem Studium der Mathematik, der Medizin und der Physik, aus denen Seefahrer Nutzen ziehen können. Zwei Mal heuerte ich als Unteroffizier auf einem Grönland-Walfänger an und bewährte mich erstaunlich gut. Ich muss zugeben, ich war etwas stolz, als mir mein Kapitän den zweiten Rang auf dem Schiff anbot und mich eindringlich bat, zu bleiben, so wertvoll schätzte er meine Dienste ein.
Habe ich es also nicht verdient, liebe Margaret, etwas Großes zu vollbringen? Ich könnte ein Leben voll Reichtum und Luxus führen, aber ich ziehe Ruhm vor. Oh wenn doch nur eine ermutigende Stimme mit »Ja« antworten würde! Mein Mut und meine Entschlossenheit sind unerschütterlich, doch meine Hoffnungen schwanken, und meine Stimmung ist oft gedrückt. Ich stehe kurz vor einer langen und beschwerlichen Reise, deren Gefahren all meine Stärke fordern werden: Ich bin nicht nur dazu verpflichtet, andere zu ermutigen, ich muss mich auch selbst ermutigen, wenn der Mut der anderen schwindet.
Momentan ist die günstigste Reisezeit in Russland. Man gleitet im Schlitten schnell über den Schnee, und die Fahrt ist meiner Meinung nach weitaus angenehmer als die in einer englischen Postkutsche. Die Kälte ist nicht übermäßig, wenn man sich in Pelze hüllt – etwas, das ich mir bereits zur Gewohnheit gemacht habe, denn es ist ein großer Unterschied, ob man an Deck spazieren geht oder stundenlang regungslos dasitzt, und die Bewegungslosigkeit einem das Blut in den Adern gefrieren lässt. Ich habe nicht die Ambition, mein Leben auf der Poststraße zwischen St. Petersburg und Archangelsk zu verlieren.
Dorthin will ich in zwei, drei Wochen abreisen. Ich beabsichtige, dort ein Schiff zu mieten und unter den an im Walfang geübten Einheimischen die nötige Anzahl Matrosen anzuwerben. Ich werde wohl nicht vor Juni in See stechen, aber wann werde ich zurückkehren? Wie soll ich diese Frage nur beantworten, liebste Schwester? Wenn ich erfolgreich bin, werden viele, viele Monate, vielleicht Jahre vergehen, bis wir uns wiedersehen. Wenn es misslingt, sehen wir uns entweder früher wieder, oder nie wieder.
Leb wohl, meine liebe Margaret. Der Himmel segne dich und behüte mich, damit ich dir auch weiterhin meine Dankbarkeit für all deine Liebe und Güte beweisen kann.
Dein dich liebender Bruder,Robert Walton
An Mrs. Saville, London
Archangelsk, 28. März 17..
Wie langsam hier doch die Zeit vergeht, mitten in Eis und Schnee! Der zweite Schritt zur Ausführung meines Planes ist getan. Ich habe ein Schiff gemietet und bin daran, Matrosen anzuheuern. Die, welche ich schon angeworben habe, scheinen mir Leute zu sein, auf die man sich verlassen kann und die unbegrenzten Mut besitzen.
Aber etwas fehlt mir, Margaret: ein Freund. Wenn ich vom Enthusiasmus meiner Erfolge glühe, habe ich keinen Menschen, mit dem ich meine Freude teilen kann; und habe ich Misserfolge, dann ist niemand da, der mir gut zuspricht und mich wieder aufmuntert. Ich werde meine Gedanken dem Papier anvertrauen, das ist wenigstens etwas; aber es ist doch ein armseliges Mittel zum Austausch unserer Gefühle. Ich bräuchte einen Mann, eine gleichfühlende Seele. Du wirst mich vielleicht sentimental nennen, aber ich kann nichts dafür, ich brauche einen Freund. Ich habe niemanden um mich, der – vornehm und mutig, gebildet und verständig, mit denselben Neigungen wie ich – imstande wäre, meinen Plänen zuzustimmen oder mir davon abzuraten. Welch guten Einfluss könnte ein solcher Freund auf deinen armen Bruder haben! Ich bin oft zu unüberlegt und verliere bei Schwierigkeiten zu schnell die Geduld.
Aber was helfen alle Klagen? Auf dem weiten Ozean werde ich ebenso wenig einen Freund finden wie hier in Archangelsk unter Kaufleuten und Seefahrern. Nicht, dass ich damit sagen möchte, dass diese rauen Naturen ohne jegliche menschlichen Gefühle wären. Mein Leutnant zum Beispiel ist ein Mensch von außerordentlichem Mut und unvergleichlicher Tatkraft, geradezu begierig nach Ruhm. Oder wenn ich mich deutlicher ausdrücken muss, begierig, in seinem Beruf Hervorragendes zu leisten. Er ist Engländer und hat sich, fernab aller Kultur, seine feinen menschliche Regungen zu bewahren gewusst. Ich lernte ihn zuerst an Bord eines Walfischfängers kennen. Da er hier in Archangelsk keine geeignete Beschäftigung hatte, war es ein leichtes, ihn für mich zu gewinnen.
Der Maat ist ein Mann von vorzüglichen Anlagen und auf dem Schiff beliebt wegen seiner Milde und der freundlichen Behandlung der Mannschaft. Dieser Umstand, verbunden mit seiner untadeligen Ehrlichkeit und seinem rücksichtslosen Mut, brachten mich zu dem Entschluss, den Mann anzuwerben. Meine einsam verbrachte Jugend, der Einfluss, den du in meinen späteren Jahren auf mich ausgeübt hast, haben mein Gemüt derart verfeinert, dass mir der übliche rohe Ton an Bord ein Gräuel ist; ich habe ihn von jeher für unnötig gehalten. Es ist daher leicht zu begreifen, dass ich mich der Dienste eines Mannes versicherte, der zugleich wegen seiner Herzensgüte als auch wegen des großen Einflusses auf seine Untergebenen bekannt war.
Die Gefühle, die mich – jetzt, wo ich der Erfüllung meiner Träume so nahe bin – beseelen, kann ich dir nicht beschreiben. Es ist unmöglich, dir auch nur annähernd die Empfindungen zu schildern, die meine Reisevorbereitungen begleiten. Ich reise in unerforschte Gebiete, ins Land des Nebels und des Schnees; aber ich werde keinen Albatros töten, also sorge dich nicht um meine Sicherheit oder darum, ob ich so erschöpft und traurig zurückkehren sollte wie der alte Seemann [Anm.: Anspielung auf »The Rime of the Ancient Mariner« von Samuel Taylor Coleridge, 1797–1798]. Ihr werdet über meine Anspielung lächeln; aber ich will euch ein Geheimnis anvertrauen. Ich habe meine Verbundenheit mit den gefährlichen Geheimnissen des Ozeans, meine leidenschaftliche Begeisterung dafür, oft dem Werk der fantasievollsten modernen Dichter zugeschrieben. Etwas in meiner Seele ist am Werk, das ich nicht verstehe. Ich bin praktisch, fleißig, gewissenhaft. Ein Arbeiter, der mit Ausdauer und Arbeit handelt, aber darüber hinaus gibt es eine Liebe zum Wunderbaren, einen Glauben an das Wunderbare, der all meine Vorhaben durchdringt und mich aus den gewohnten Pfaden der Menschen hinausführt, selbst zum wilden Meer und in unerforschte Gebiete, die ich nun erkunden werde.
Doch zurück zu etwas Wichtigerem. Werde ich dich wiedersehen, nachdem ich unermessliche Meere überquert und das südlichste Kap Afrikas oder Amerikas erreicht habe? Ich wage nicht, mit einem solchen Erfolg zu rechnen, doch ich kann es nicht ertragen, das Gegenteil zu ertragen. Schreibe mir bitte weiterhin bei jeder Gelegenheit: Ich erhalte deine Briefe vielleicht gerade dann, wenn ich sie am meisten brauche, um meinen Mut zu stärken. Ich liebe dich sehr.
Denke in Liebe an mich, auch, falls du nie wieder von mir hörst.
Dein dich liebender Bruder,Robert Walton
An Mrs. Saville, London
7. Juli 17..
Meine liebe Schwester!
Ich schreibe dir diese Zeilen in aller Eile, um dich wissen zu lassen, dass es mir gut geht und auf meiner Reise gut vorankomme. Diesen Brief wird ein Handelsschiff von Archangelsk nach England bringen. Der Glückliche! Er wird das Heimatland bald wiedersehen, was mir vielleicht viele Jahre nicht vergönnt sein wird.
Trotzdem bin ich guter Dinge. Meine Männer sind mutig und offenbar zu allem bereit; auch die schwimmenden Eisberge, die unaufhörlich an uns vorbeiziehen und uns die Gefahren vorausahnen lassen, denen wir entgegenfahren, scheinen ihnen keine Sorgen zu bereiten.
Wir haben schon eine hohe nördliche Breite erreicht, aber es ist Hochsommer, und wenn es auch nicht ganz so warm ist wie in England, so tragen die Südwinde, die uns dem heißersehnten Ziel näherbringen, doch eine wohltuende Wärme mit sich, wie ich sie nicht erwartet hätte.
Bisher hat sich noch nichts ereignet, was eine Mitteilung wert wäre. Ein, zwei heftige Stürme und ein Leck sind Zwischenfälle, die einen erfahrenen Seemann kaum erschüttern kann, und ich will zufrieden sein, wenn uns auf der Reise nichts Schlimmeres widerfährt.
Lebe wohl, teure Margaret. Sei versichert, dass ich mich um deinet- wie um meinetwillen nicht leichtsinnig in Gefahr begeben werde. Ich werde besonnen, ausdauernd und umsichtig sein.
Und Erfolg wird meine Bemühungen krönen. Und warum auch nicht? Ich bin bisher gekommen. Die Sterne sind Zeugen meines Triumphes.
Warum soll es nicht so weitergehen und ich das ungezähmte Element bezwingen? Was kann ein entschlossenes Herz und der feste Wille eines Menschen aufhalten?
Mein Herz ist so voll, dass die Worte nur so herausquellen wollen, aber ich muss schließen.
Gott sei mit Dir, geliebte Schwester!R. W.
An Mrs. Saville, London
5. August 17..
Etwas sehr Merkwürdiges hat sich ereignet und ich muss es dir berichten, wenn es auch sehr wahrscheinlich ist, dass wir uns wiedersehen, bevor dich diese Zeilen erreichen werden.
Letzten Montag (31. Juli) waren wir fast vollständig von Eis eingeschlossen, so dass wir nicht mehr weitersegeln konnten. Unsere Lage war einigermaßen gefährlich, besonders, weil uns ein dichter Nebel einhüllte. Wir drehten deshalb bei, in der Hoffnung, dass sich das Wetter ändere.
Gegen zwei Uhr lichtete sich der Nebel und wir erblickten, wohin wir auch sahen, nur weite, endlos erscheinende Eisflächen. Einige meiner Kameraden wurden unruhig und auch ich machte mir Sorgen, als plötzlich etwas Seltsames unsere Aufmerksamkeit auf sich zog und uns unsere gefährliche Situation vergessen ließ. Wir sahen einen niedrigen Wagen, der auf Schlittenkufen befestigt war, von Hunden gezogen wurde, und sich in einer Entfernung von etwa einer halben Meile nordwärts bewegte. Im Schlitten saß eine Gestalt, die einem Menschen glich, aber gigantische Ausmaße zu haben schien, und die Hunde lenkte. Wir verfolgten den Reisenden, der blitzschnell dahinflog, mit unseren Fernrohren und bald hatte er sich in den Unebenheiten des Eises verloren.
Diese Erscheinung erregte begreiflicherweise unsere Neugierde. Wir hatten geglaubt, uns Hunderte Meilen vom Festland entfernt zu befinden, aber diese Erscheinung schien zu zeigen, dass dies wohl nicht der Fall war. Da wir vollkommen von Eis eingeschlossen waren, war es uns unmöglich, ihm zu folgen.
Etwa zwei Stunden nach diesem Vorfall hörten wir schweren Wellengang, und kurz vor Einbruch der Nacht brach das Eis auf und das Schiff war frei. Wir blieben aber bis zum Morgen liegen, da wir befürchten mussten, in der Dunkelheit gegen die treibenden Eismassen zu stoßen. Ich nutzte diese Zeit, um mich etwas auszuruhen.
Am nächsten Morgen ging ich, sobald es hell war, an Deck und fand alle Matrosen auf einer Seite des Schiffes stehend, sich mit jemandem unterhalten, der scheinbar unten auf dem Wasser war. Es war ein Schlitten – ähnlich dem, den wir gestern gesehen hatten –, er war in der Nacht auf einer Eisscholle zu uns herangetrieben worden. Von dem Gespann hatte nur ein Hund überlebt, und im Schlitten saß ein Mann. Die Matrosen überredeten ihn, an Bord zu kommen. Er war kein wilder Eingeborener, wie uns der Fremde von gestern erschien, sondern Europäer. Als ich an Deck erschien, sagte der Maat: »Da kommt unser Kapitän, er wird nicht zulassen, dass Sie auf offener See umkommen.«
Als mich der Fremde sah, sprach er mich auf Englisch an, allerdings mit ausländischem Dialekt. »Bevor ich an Bord Ihres Schiffes komme,« sagte er, »hätten Sie die Freundlichkeit, mir mitzuteilen, wohin Sie zu fahren gedenken?«
Du wirst mein Erstaunen verstehen, eine solche Frage von einem Menschen zu hören, der gerade eben knapp dem Untergang entronnen war und von dem man annehmen musste, dass mein Schiff für ihn ein Zufluchtsort sei, den er nicht für allen Reichtum der Erde eintauschen würde. Ich antwortete ihm, dass wir uns auf einer Entdeckungsreise zum Nordpol befänden.
Dies schien ihn zufriedenzustellen und er nahm unsere Einladung an. Großer Gott! Margaret, wenn du den Mann gesehen hättest, der sich nur so schwer retten ließ, dein Erstaunen hätte keine Grenzen gehabt. Seine Glieder waren fast erfroren und sein Körper durch Erschöpfung und Entbehrungen furchtbar abgemagert. Ich habe noch nie einen Menschen in einem so erbärmlichen Zustand gesehen. Wir trugen ihn in die Kajüte hinunter, aber kaum war er aus der frischen Luft heraus, verlor er das Bewusstsein. Wir brachten ihn also wieder an Deck zurück und versuchten, ihn durch Einreiben mit Brandy und dem Einflößen von kleinen Schlucken desselben, ins Leben zurückzuholen. Als er ein Lebenszeichen von sich gab, wickelten wir ihn in Decken ein und legten ihn in die Nähe des Küchenofens. Allmählich erholte er sich und aß ein paar Löffel Suppe, die ihm sehr gut taten.
Zwei Tage vergingen so, bis er wieder sprechen konnte, und ich fürchtete ab und an, dass ihm seine Leiden den Verstand geraubt hatten. Als er einigermaßen wiederhergestellt war, ließ ich ihn in meine Kajüte bringen und pflegte ihn, soweit es sich mit meinen Pflichten vereinbaren ließ. Ich habe nie in meinem Leben einen interessanteren Menschen kennen gelernt. In seine Augen liegt meist ein Ausdruck von Wildheit, ich möchte fast sagen von Wahnsinn; aber in manchen Momenten, besonders wenn ihm jemand etwas Gutes oder einen, wenn auch noch so kleinen, Dienst getan hat, leuchtet sein ganzes Wesen auf und wird durchstrahlt von einem Schimmer von Liebenswürdigkeit und Freundlichkeit, wie man ihn selten findet. Sonst ist er aber melancholisch und verzweifelt und knirscht zuweilen mit den Zähnen, als könne er das Übermaß der Qualen, die er erleidet, nicht mehr ertragen.
Als mein Gast wieder einigermaßen gesund war, hatte ich große Mühe, meine Leute daran zu hindern, ihn mit allen möglichen Fragen zu bestürmen. Ich konnte es nicht gestatten, dass durch ihre müßige Neugierde die geistige und körperliche Genesung des Fremden, die offenbar absolute Ruhe benötigte, aufgehalten wurde. Einmal jedoch gelang es meinem Leutnant, ihm die Frage zu stellen, warum er denn in seinem seltsamen Vehikel soweit über das Eis gereist sei.
Sein Gesicht nahm augenblicklich einen Ausdruck tiefster Finsternis an, und er antwortete: »Um jemanden zu suchen, der vor mir flieht.«
»Und reist der Mann, den Sie suchen, auf dieselbe Weise, wie Sie?«
»Ja.«
»Dann, glaube ich, haben wir ihn gesehen. Denn am Tag, bevor wir Sie auflasen, sahen wir einen Mann auf einem von Hunden gezogenen Schlitten über das Eis fahren.«
Dies erregte die Aufmerksamkeit des Fremden und er stellte viele Fragen, die sich darauf bezogen, welche Richtung der Dämon – wie er ihn nannte – genommen habe. Kurz danach, als er mit mir alleine war, sagte er: »Ich habe zweifelsohne Ihre Neugierde erregt, ebenso wie die dieser guten Leute, aber Sie sind zu rücksichtsvoll, um mich zu fragen.«
»Gewiss, ich würde es aufdringlich finden, Sie mit meiner Neugier zu belästigen.«
»Und das, obwohl Sie mich aus einer seltsamen und gefährlichen Situation gerettet und gütigst wieder zum Leben erweckt haben!«
Einige Zeit danach fragte er mich, ob ich glaube, dass das Aufbrechen des Eises den Schlitten des anderen zerstört habe. Ich antwortete ihm, dass ich dazu nichts Sicheres sagen könne, denn das Aufbrechen des Eises habe erst gegen Mitternacht eingesetzt und der andere konnte bis dahin wohl einen sicheren Ort erreicht haben, was ich aber nicht beurteilen könne.
Seit dieser Auskunft schien den gebrechlichen Körper des Fremden neuer Lebensmut zu durchströmen. Er wollte unbedingt an Deck gehen, um nach besagtem Schlitten Ausschau zu halten. Aber ich habe ihn davon überzeugt, in der Kajüte zu bleiben, weil er für die raue Temperatur oben noch zu schwach sei. Ich habe ihm aber versprochen, dass jemand Ausschau halten und ihn sofort benachrichtigen werde, wenn irgendetwas zu sehen wäre.
Bis zum heutigen Tag habe ich dir nun alles über das seltsame Ereignis berichtet. Der Fremde erholt sich nach und nach, ist aber sehr schweigsam und wird unruhig, wenn jemand anderer als ich seine Kajüte betritt. Dennoch ist sein Verhalten so freundlich und liebenswürdig, dass ihn alle Matrosen mögen, auch, wenn sie nur sehr wenig Kontakt mit ihm haben. Ich für meinen Teil beginne, ihn wie einen Bruder zu lieben und seine ständige, tiefe Trauer erfüllt mich mit Mitgefühl und Anteilnahme. Er muss in seinen besseren Tagen ein edler Mensch gewesen sein, wenn er selbst jetzt, wo er nur noch ein Wrack ist, so anziehend und liebenswert ist.
Ich habe in einem meiner Briefe geschrieben, liebe Margaret, dass ich auf dem weiten Ozean wohl keinen Freund finden werde. Aber ich habe einen Mann gefunden, den ich, bevor sein Geist durch ein Elend gebrochen wurde, gerne als Herzensbruder gehabt hätte.
Ich werde dir von Zeit zu Zeit von dem Fremden berichten, vorausgesetzt, dass es etwas zu berichten gibt.
13. August 17..
Meine Zuneigung zu unserem Gast wächst von Tag zu Tag. Ich bewundere und bemitleide ihn zugleich. Wie könnte ich ein so edles Wesen von Gram verzehrt sehen, ohne selbst tiefe Trauer zu empfinden? Er ist so gut und dabei weise; sein Geist ist so kultiviert; und wenn er spricht, fließen seine Worte, obwohl sie mit größter Kunst ausgewählt sind, dennoch mit Schnelligkeit und unvergleichlicher Eloquenz.
Er hat sich nun von seiner Krankheit erholt und hält sich ständig an Deck auf, offenbar, um den Schlitten nicht zu übersehen, dem er folgte. Aber obwohl er unglücklich ist, ist er nicht so sehr mit seinem Elend beschäftigt, dass er sich nicht auch intensiv für die Vorhaben anderer interessieren würde. Er hat viel mit mir über meine Unternehmung gesprochen, die ich ihm vorbehaltlos dargelegt habe. Aufmerksam folgte er allem, was ich im Sinne eines glücklichen Ausganges meiner Unternehmung vorbrachte, und er vertiefte sich mit mir bis in die Details der Maßnahmen, die ich getroffen hatte. Ich ließ mich von dem Mitgefühl, das er bekundete, dazu verleiten, in der Sprache meines Herzens zu ihm zu sprechen und der brennenden Leidenschaft meiner Seele Ausdruck zu verleihen. Mit aller Inbrunst, die mich erfüllte sagte ich ihm, wie gerne ich mein Vermögen, mein Leben und all meine Hoffnung opfern würde, um mein Vorhaben voran zu bringen. Das Leben oder der Tod eines Menschen seien ja nur ein geringer Preis für den Erwerb des Wissens, das ich suchte. Während ich so sprach, verfinsterte sich das Gesicht meines Zuhörers. Ich bemerkte, dass er sich anfänglich bemühte, seine Gefühle zu unterdrücken. Er hielt seine Hände vor das Gesicht, und meine Stimme zitterte und stockte, als ich sah, dass Tränen zwischen seinen Fingern hindurchflossen und ein Stöhnen aus seiner tief atmenden Brust drang. Ich hielt inne, da sagte er mit gebrochener Stimme: »Sie Unglücklicher! Hat Sie derselbe Wahnsinn erfasst wie mich? Haben auch Sie von dem berauschenden Trank getrunken? Hören Sie mich an, lassen Sie mich meine Geschichte erzählen und Sie werden diesen Becher von Ihren Lippen stoßen.«
Du kannst dir vorstellen, dass diese Worte meine Neugier erregten. Aber das Ausmaß des Schmerzes, das den Fremden ergriffen hatte, übermannte seine geschwächten Kräfte und es bedurfte vieler Stunden der Erholung und der Beschwichtigung, um ihn wieder zu beruhigen.
Nachdem er seine heftigen Gefühle überwunden hatte, schämte er sich, dass seine Leidenschaft ihn so überwältigt hatte, und nachdem er die dunkle Tyrannei der Verzweiflung besiegt hatte, veranlasste er mich, zunächst über mich selbst zu sprechen. Er frug nach meiner Kindheit. Diese war rasch erzählt, aber dennoch gab sie verschiedene Anknüpfungspunkte. Ich erzählte von meinem Wunsch, einen Freund zu finden, von meiner Sehnsucht nach einer gleichgesinnten Seele, die nie erfüllt worden war, und gab meiner Überzeugung Ausdruck, dass niemand wahres Glück genossen habe, der sich nicht echter Freundschaft erfreuen könne.
»Ich bin ganz Ihrer Ansicht,« entgegnete der Fremde. »Wir sind unvollendet, wenn uns nicht ein Weiserer, Besserer – und so muss ein Freund sein – zur Seite steht, um unsere schwache, fehlerhafte Natur zu verbessern. Ich hatte einmal einen Freund, den edelsten Menschen, den man sich denken kann, und bin deshalb berechtigt, über Freundschaft zu reden. Sie haben noch Hoffnung und die ganze Welt vor sich und deshalb keinen Grund zu verzweifeln. Aber ich – ich habe alles verloren und kann nicht noch einmal von vorne beginnen.«
Als er das sagte, nahm sein Gesicht einen traurigen Ausdruck an, der mich zutiefst berührte. Aber er sprach nicht weiter und zog sich bald darauf in seine Kajüte zurück.
Trotz seines Leides hegt er eine tiefe, innige Liebe zur Schönheit der Natur. Der sternenbesäte Himmel, das Meer und alle Wunder dieser herrlichen Region schien erhebend auf seine Seele zu wirken. So ein Mann hat eigentlich eine doppelte Existenz: er mag leiden und von Enttäuschungen überwältigt sein, aber wenn er sich in sich selbst zurückzieht, wird er zu einem himmlischen Geist, den ein Heiligenschein umgibt, den weder Leid noch Schmerz zu verdunkeln wagen.
Lächle nur über die Begeisterung, mit der ich von diesem prächtigen Menschen erzähle. Wenn du ihn kenntest, würdest du nicht lächeln. Ich weiß, deine feine Erziehung und die Zurückgezogenheit deines Lebens haben dich wählerisch gemacht; aber gerade das würde dich besonders dafür geeignet machen, das Außerordentliche an diesem Mann zu schätzen. Ich habe mich manchmal bemüht, mir klar darüber zu werden, was es ist, das ihn so himmelhoch über alle anderen Menschen erhebt. Ich glaube, es ist seine intuitive Urteilskraft, eine nie irrende Fähigkeit, Dinge zu beurteilen und die Kenntnis der Ursachen aller Dinge, die an Klarheit und Genauigkeit unübertroffen ist. Hinzu kommen eine Ausdrucksfähigkeit und eine Stimme, deren Klang wie Musik ist, die die Seele berührt.
19. August 17..
Gestern sagte der Fremde zu mir: »Sie haben sicherlich erkannt, Captain Walton, dass ich großes, unsagbares Leid erlebt habe. Ich hatte eigentlich beschlossen, dass ich die Erinnerungen daran mit ins Grab nehmen werde; aber Sie haben mich dazu gebracht, diesen Entschluss zu ändern. Sie suchen, wie ich früher, nach Wissen und Weisheit und ich wünsche Ihnen von ganzem Herzen, dass Ihnen die Erfüllung dieses Wunsches nicht, wie mir, zum Verhängnis wird. Ich weiß nicht, ob Ihnen die Schilderung meiner Leiden von Nutzen sein wird, aber wenn ich bedenke, dass Sie denselben Weg gehen wollen wie ich, und sich denselben Gefahren aussetzen werden, die mich zu dem machten, was ich jetzt bin, dann nehme ich an, dass Sie aus meiner Geschichte etwas lernen können. Bei Erfolg mag sie Sie leiten und im Scheitern trösten. Bereiten Sie sich darauf vor, Dinge zu hören, die weithin als merkwürdig gelten. Wären wir in kultivierteren Gegenden, müsste ich befürchten, dass Sie mir nicht glauben oder mich gar auslachen würden. Aber hier, in dieser wilden, geheimnisumwitterten Gegend erscheint manches möglich, was diejenigen, die mit den vielfältigen Kräften der Natur nicht vertraut sind, zum Lachen bringen würde. Auch liefert die Geschichte einen Beweis für die Wahrheit der geschilderten Ereignisse.«
Du kannst dir denken, dass ich über dieses Angebot sehr erfreut war, auch, wenn ich es nicht ertragen konnte, dass seine Wunden durch das Erzählen wieder aufgerissen würden. Ich war ungeheuer gespannt darauf, seine Geschichte zu hören, teils aus Neugierde, teils in der Hoffnung, vielleicht einen Hinweis darauf zu bekommen, wie ich ihm vielleicht helfen könnte. Ich brachte diese Gefühle in meiner Antwort zum Ausdruck.
»Ich danke Ihnen,« antwortete er, »für Ihre Anteilnahme, aber es ist nutzlos; mein Schicksal ist nahezu erfüllt. Ich warte nur noch auf ein Ereignis, dann werde ich in Frieden ruhen. Ich verstehe Ihre Gefühle,« fuhr er fort, als er bemerkte, dass ich ihn unterbrechen wollte, »aber Sie irren sich, mein Freund – wenn Sie mir gestatten, Sie so zu nennen – mein Schicksal kann nichts mehr ändern. Hören Sie sich meine Geschichte an, und Sie werden erkennen, wie unwiderruflich mein Schicksal besiegelt ist.«
