Frankenstein (oder: Der moderne Prometheus) - Mary Wollstonecraft Shelley - E-Book

Frankenstein (oder: Der moderne Prometheus) E-Book

Mary Wollstonecraft Shelley

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Beschreibung

Mary Wollstonecraft Shelley: Frankenstein - oder: Der moderne Prometheus | Neu editierte Ausgabe 2020 | Der ehrgeizige Student Viktor Frankenstein erschafft an der damals höchst renommierten Universität Ingolstadt mit Hilfe alchemistischer Methoden und der neu entdeckten Elektrizität aus unbelebter Materie einen künstlichen Menschen. Als dieser aber zum Leben erwacht, ist Viktor vom Ergebnis seines Experiments - es ist eine monströse, angsteinflößende Kreatur, die er erschuf - entsetzt und angewidert und flieht aus dem Labor. Bei seiner Rückkehr ist der Unhold verschwunden. Als Abkömmling der Menschheit und doch vollständig Ausgestoßener irrt das Monster durch die Welt, auf der Suche nach seiner Bestimmung. Doch mit wachsender Verzweiflung nimmt auch die Begierde nach Rache an seinem Schöpfer, der ihn feige im Stich ließ, zu ...

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INHALT

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APITEL XXI

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APITEL XXII

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APITEL XXIII

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APITEL XXIV

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EGLEITWORT

DAS BUCH

DER EHRGEIZIGE STUDENT Viktor Frankenstein erschafft an der damals höchst renommierten Universität Ingolstadt mit Hilfe alchemistischer Methoden und der neu entdeckten Elektrizität aus unbelebter Materie einen künstlichen Menschen. Als dieser aber zum Leben erwacht, ist Viktor vom Ergebnis seines Experiments – es ist eine monströse, angsteinflößende Kreatur, die er erschuf – entsetzt und angewidert und flieht aus dem Labor. Bei seiner Rückkehr ist der Unhold verschwunden. Als Abkömmling der Menschheit und doch vollständig Ausgestoßener irrt das Monster durch die Welt, auf der Suche nach seiner Bestimmung. Doch mit wachsender Verzweiflung nimmt auch die Begierde nach Rache an seinem Schöpfer, der ihn feige im Stich ließ, zu ...

DIE AUTORIN

MARY WOLLSTONECRAFT SHELLEY (1797–1851), aus einer Londoner Intellektuellenfamilie stammend, war ohne Zweifel eine der faszinierendsten Persönlichkeiten des 19. Jahrhunderts. Von Kindesbeinen an schrieb sie, angeregt durch ihre Eltern, die beide Schriftsteller waren, Kurzgeschichten. Und bereits im Alter von zwanzig Jahren gelang ihr einer der berühmtesten Romane aller Zeiten: ›Frankenstein – oder: Der moderne Prometheus‹. Das Buch entstand 1816 während eines Aufenthalts am Genfer See, in illustrer Runde, unter anderem mit Lord Gordon Byron, ihrem zukünftigen Ehemann Percy Shelley, John Polidori, der zur selben Zeit einen Vorläufer-Roman des späteren ›Dracula‹ schrieb, und mit weiteren Freunden.

Mary Shelley war eine für ihre Zeit außerordentlich fortschrittliche und unkonventionelle Frau, sie lehnte religiöse Dogmen ebenso wie gesellschaftliche Normen ab, gehörte wie schon ihre Mutter zu den ersten Feministinnen, glaubte an freie sexuelle Entfaltung und Individualismus. Ihr Leben war turbulent, neben ihrem Mann, der es nicht anders hielt, hatte sie Geliebte, verlor mehrere Kinder in frühem Alter, wurde von Depressionen heimgesucht, verbrachte viel Zeit an unterschiedlichen Orten auf dem Kontinent, insbesondere in Italien. Zeit ihres Lebens war sie eine Vielschreiberin und Herausgeberin der Werke ihres bei einem Segelunglück früh verstorbenen Mannes. Mary Shelleys Gesamtwerk – neben Frankenstein gibt es weitere eindrucksvolle Romane – wurde lange Zeit unterschätzt, doch die Wiederentdeckung hat begonnen und viele ihrer Romane sind in jüngerer Zeit neu erschienen.

BEGLEITWORT DES HERAUSGEBERS

DER INDONESISCHE VULKAN TAMBORA spuckte nach einem gewaltigen Ausbruch – der größten Vulkan-Eruption seit 20.000 Jahren – Millionen Tonnen Asche in die Atmosphäre und sorgte für das legendäre ›Jahr ohne Sommer‹, 1816. In der Schweiz, in einer Villa am Genfer See, traf sich eine illustre Runde, die man, je nach Blickwinkel, als dekadente literarische Spinner, oder als geniale Vorfahren der Hippies bezeichnen könnte.

Im Zentrum der Gruppe: Mary Shelley, die spätere Autorin des Frankenstein.

Weil das Wetter so unselig war und überhaupt nicht zu Bergtouren und Spaziergängen einlud, verstieg man sich noch mehr in literarische Exkursionen, als es in der Gemeinschaft dieser intellektuellen Schöngeister ohnehin üblich war. Man schloss einen Pakt, dass sich jeder der Beteiligten an einer Schauer- oder Horrorgeschichte versuchen sollte – inspiriert von ›Phantasmagorien‹, eines populären Gespensterbuches, das sie gerade gelesen hatten. Dieser Pakt brachte zwei erstaunliche Werke hervor: einen direkten Vorgänger von Bram Stokers legendärem Dracula, und Mary Shelleys Frankenstein.

Das klingt nun, als ob sich literarischer Erfolg minutiös planen ließe – doch damit würde man einem oberflächlichen Irrtum erliegen. In der Nachbetrachtung stellt man fest: Bei einer Frau wie Mary Shelley, die Zeit ihres Lebens so viel geschrieben hat, die rastlos als Autorin und Herausgeberin eigene und fremde Texte publizierte, die für das Wort und mit dem Wort lebte, war es einfach naheliegend, dass wenigstens einer ihrer Gedanken Eingang in die Allgemeinkultur fand. Bemerkenswert war allerdings Mary Shelleys Alter, als sie Frankenstein schrieb: sie war gerade Zwanzig.

Zurück zur Runde am Genfer See: Wer waren die bohèmehaften Hippies, die da zusammen in den Tag hinein lebten, und sich ihren literarischen Ergüssen hingaben? Der bekannteste zu jener Zeit war Lord Gordon Byron, bisexueller Exzentriker und Künstler, der mit seinem sogenannten Leibarzt Dr. John Polidori, ein gerade mal einundzwanzig Jahre alter Kerl, angereist war. Byron hatte die Villa Diodati am Genfer See gemietet, in der sich die sinistre Runde traf. Dabei auch Claire Clairmont, Mary Shelleys Schwester, die von Byron schwanger war. Dieser wollte aber davon nicht mehr allzu viel wissen und machte stattdessen Mary Shelley Avancen, ungeachtet dessen, dass auch deren Ehemann Percy Shelley zugegen war. Der wiederum zeigte überdurchschnittliches Interesse an Claire.

Ein munteres, sexuell ausschweifendes Luxusleben spielte sich da also ab, das auch Vorlagen für andere Stoffe wie ›Das große Fressen‹ oder ›Der Reigen‹ hätte liefern können.

Von all jenen literarischen Werken der Gruppe, die in jener Zeit entstanden, war ›Frankenstein‹ das bei weitem folgenreichste – zunächst nicht unbedingt das erfolgreichste. Es dauerte eine Weile, bis Mary Shelley einen Verlag für das zwielichtige Werk mit seinen teils blasphemischen Inhalten gefunden hatte. Das Londoner Verlagshaus Lackington, Hughes, Harding, Mavor & Jones brachte das Buch schließlich im Januar 1818 auf den Markt, als dreibändiges Werk, in einer Auflage von 500 Stück, zu einem Preis von 16 1/2 Schilling – für viele Menschen war das damals ein halber Wochenlohn und kaum erschwinglich: aber der übliche Preis für Bücher.

Auf Grund der hohen Preise gab es damals noch keinen Massenmarkt für Literatur. Doch etwas anderes, Bemerkenswertes geschah: Die Populärkultur, wenn man sie schon so nennen kann, entdeckte Frankenstein – und plötzlich gab es zahlreiche Adaptionen des Themas für das große Theater, ebenso wie für heruntergekommene kleine Wanderbühnen. So geschah es, dass Mary Shelley am 29. August 1823, am Abend vor ihrem 26. Geburtstag, im English Opera House ein Stück mit dem Titel ›Presumption; or, The Fate of Frankenstein‹ sah: eindeutig eine Kopie ihres Buches. Sie fühlte sich nicht betrogen, sondern schrieb an einen Freund: »Aber siehe da! Ich fand mich berühmt! ...« – Es war eine Zeit, in der es keinen Urheberrechtsschutz im heutigen Sinne gab, der die Adaption und Weiterverwendung eingeschränkt hätte. Jeder konnte sich also des Stoffes bedienen. Im Jahre 1826 wurden bereits rund 15 verschiedene Dramatisierungen des Frankenstein-Sujets gespielt, diesseits und jenseits des Ärmelkanals.

Für einen Autor ist es eine ernüchternde Erfahrung zu sehen, wie andere an seinem geistigen Eigentum profitieren und man selbst leer ausgeht. Andererseits, erklärt Hans Schmid in einem Essay für ›Telepolis‹, hat Frankenstein die laxe Auslegung des Urheberrechts wahrscheinlich sogar genutzt: denn nachdem Mary Shelleys zweiter Verleger Richard Bentley das Buch eine Weile auf den Markt gebracht hatte (von 1831 bis 1849), verzichtete er später auf eine weitere Auflage, gab aber andererseits die Rechte nicht frei – sodass das Buch nach den damaligen Gesetzen mindestens zwei Jahrzehnte lang nicht offiziell nachgedruckt werden durfte. Ohne die populären Frankenstein-Adaptionen im Theater wäre das Werk möglicherweise heute vergessen, und nie wieder aufgelegt worden. Und man kann nur spekulieren, wie vielen großen literarischen Würfen es in der Tat so ergangen ist.

Hans Schmid: »Wenn man das weiterdenkt, lässt sich die Möglichkeit nicht ausschließen, dass ›Frankenstein‹ heute zu den vergessenen, längst nicht mehr gedruckten Werken der Weltliteratur gehören würde, wenn es bei Bühnenadaptionen einen Schutz des geistigen Eigentums von Romanschriftstellern gegeben hätte.«

Was man bedenken sollte: Das Bild von Frankenstein, das wir heute im Kopf haben, ist geprägt von diesen Theaterstücken, an denen sich wiederum viele spätere Kinostoffe orientierten. Es tauchen darin Versatzstücke, Personen und Schauplätze auf, die sich mehr oder weniger kreative Dramaturgen aus den Fingern sogen, um den Massengeschmack (noch) mehr zu befriedigen. Wer den echten Frankenstein, also Mary Shelleys Buch liest, wird über die psychologische Vielschichtigkeit und literarische Tiefe des Romans erstaunt sein. – Andererseits war diese wahrhafte Qualität des Werkes wahrscheinlich genau der Grund, warum es von Beginn an so viele Leser in seinen Bann zog.

Wie viele andere Bücher wurde auch Frankenstein erst nach dem Tod der Autorin (1851) zu einem echten Erfolg: Nach dem Auslaufen des Urheberrechtsschutzes veröffentliche der Verlag Routledge ab 1882 drei verschiedene Ausgaben, die es schon im ersten Jahr auf eine höhere Frankenstein-Auflage brachten, als alles, was bis dahin gedruckt worden war – nicht zuletzt wegen der nun erschwinglichen Buchpreise. Nun begann der wahre Aufstieg des Frankenstein, bis zum heutigen Tag.

© Armin Fischer, Redaktion AuraBooks

ERSTER BRIEF

An Frau Saville, London

St. Petersburg, den 11. Dez. 18..

Es wird dir Freude bereiten, zu hören, dass kein Missgeschick den Anfang des Unternehmens betroffen hat, dessen Vorbereitungen du mit solch trüben Ahnungen verfolgtest. Ich bin gestern hier angekommen, und das Erste, was ich tue, ist, meiner lieben Schwester mitzuteilen, dass ich mich wohl befinde und dass ich mit immer wachsenden Hoffnungen dem Fortgang meines Unternehmens entgegensehe.

Ich bin ein gut Stück weiter nördlich als London, und wenn ich so durch die Straßen Petersburgs schlendere, pfeift mir ein eisiger Wind um die Wangen, der meine Nerven erfrischt und mich mit Behagen erfüllt. Begreifst du dieses Gefühl? Dieser Wind, der aus den Gegenden herbraust, denen ich entgegenreise, gibt mir einen Vorgeschmack jener frostigen Klimate. Dieser Wind trägt mir auf seinen Flügeln Verheißungen zu und meine Phantasien werden lebhafter und glühender. Ich versuche vergebens, mir klar zu machen, dass der Pol eine Eiswüste sein muss; immer stelle ich ihn mir als eine Stätte der Schönheit und des Entzückens vor. Dort, Margarete, geht die Sonne nicht unter; ihre mächtige Scheibe streift am Horizont und verbreitet ein mildes Licht. Was dürfen wir erwarten von diesem Land der ewigen Sonne? Vielleicht entdecke ich dort den Sitz jener geheimnisvollen Kraft, die der Magnetnadel ihre Richtung verleiht, und bin imstande, die Unrichtigkeit so mancher astronomischen Beobachtung und Hypothese zu beweisen. Meine brennende Neugierde will ich mit dem Anblick von Ländern befriedigen, die nie eines Menschen Auge noch sah, Erde werde ich betreten, die nie vorher eines Menschen Fuß betrat. All das erscheint mir so verlockend, dass ich Not und Tod nicht fürchte und die mühselige Reise mit den freudigen Gefühlen eines Kindes antreten werde, das mit seinen Gespielen das erste Mal ein Boot besteigt, um den benachbarten Fluss zu befahren. Und selbst wenn alle meine Vermutungen mich täuschen sollten, werde ich wenigstens darin ein erhabenes Ziel finden, eine Passage nahe dem Pol zu jenen Ländern zu entdecken, deren Erreichung heute noch Monate in Anspruch nimmt, oder dem Geheimnis des Magnetismus näherzukommen, was ja doch nur durch eine Reise geschehen kann, wie ich sie unternehmen will.

Diese Betrachtungen haben die ganze Rührung verfliegen lassen, die sich meiner bei Beginn dieses Briefes bemächtigt hatte, und ich glühe vor himmelstürmendem Enthusiasmus. Nichts vermag der Seele so sehr das Gleichmaß zu verleihen als eine ernste Absicht, ein fester Punkt, auf den sich das geistige Auge richten kann. Diese Expedition war schon ein Wunsch meiner frühen Jugendjahre. Ich habe mit heißem Kopf die mannigfachen Beschreibungen der Reisen gelesen, die die Entdeckung einer Passage durch die den Pol umgebenden Meere nach dem nördlichen Teile des Stillen Ozeans bezweckten. Du erinnerst dich vielleicht, dass solche Reisebeschreibungen den Hauptbestandteil der Bibliothek unseres guten Onkels Thomas bildeten. Jene Werke waren mein Studium, dem ich Tage und Nächte widmete, und je mehr ich mich mit ihnen befreundete, desto tiefer bedauerte ich es, dass mein Vater auf dem Sterbebett meinem Onkel das Versprechen abgenommen hatte, mich nicht Seemann werden zu lassen.

Sechs Jahre sind es nun, dass ich den Plan zu meinem jetzigen Unternehmen fasste. Ich erinnere mich noch, als sei es gestern gewesen, der Stunde, in der ich mich der großen Aufgabe widmete. Ich begann damit, meinen Körper zu stählen. Ich nahm an den Fahrten mehrerer Walfischfänger in die Nordsee teil; ich ertrug freiwillig Kälte, Hunger und Durst und versagte mir den Schlaf; ich arbeitete zuweilen härter als der letzte Matrose und widmete dann meine Nächte dem Studium der Mathematik, der Medizin und jenen physikalischen Disziplinen, von denen der Seefahrer Nutzen erwarten darf. Zweimal ließ ich mich als gemeiner Matrose auf einem Grönlandfahrer anwerben und entledigte mich erstaunlich gut meiner selbstgewählten Aufgabe. Ich muss gestehen, ich empfand einen gewissen Stolz, als mir der Kapitän die Stelle eines ersten Offiziers auf seinem Schiff anbot und mich allen Ernstes beschwor, zu bleiben. So hoch hatte er meine Dienste schätzen gelernt.

Habe ich es also nicht verdient, liebe Margarete, eine große Aufgabe zu erfüllen? Ich könnte ein Leben voll Reichtum und Luxus führen, aber ich habe den Ruhm den Annehmlichkeiten vorgezogen. O möchte mir doch eine ermunternde Stimme sagen, was ich zu erwarten habe! Mein Mut ist groß und mein Entschluss steht fest; aber mein Selbstvertrauen hat oft gegen tiefste Entmutigung anzukämpfen. Ich habe eine lange, schwierige Reise vor mir, deren Anforderungen meine ganze Kraft beanspruchen, und ich soll ja nicht nur mir selbst den Mut erhalten, sondern auch noch den anderer anfeuern.

Gegenwärtig haben wir die für das Reisen in Russland vorteilhafteste Jahreszeit. In Schlitten fliegt man pfeilschnell über den Schnee. Die Kälte ist nicht lästig, wenn man sich genügend in Pelze gehüllt hat, und das habe ich mir schon angewöhnt. Denn es ist ein bedeutender Unterschied, ob du an Deck spazieren gehst oder stundenlang unbeweglich auf einen Sitz gebannt bist, sodass dir das Blut tatsächlich in den Adern erstarrt. Ich habe absolut nicht den Wunsch, auf der Poststraße zwischen Petersburg und Archangel zu erfrieren.

Dorthin will ich in vierzehn Tagen oder drei Wochen abreisen. Ich beabsichtige, dort ein Schiff zu mieten und unter den an die Walfischfängerei gewöhnten Leuten die nötige Anzahl von Matrosen anzuwerben. Ich werde kaum vor Juni abfahren können. Aber wann werde ich zurückkehren? Wie könnte ich wohl diese Frage beantworten, liebste Schwester? Wenn ich Erfolg habe, können viele, viele Monate, vielleicht Jahre vergehen, ehe wir uns wiedersehen. Wenn es misslingt, sehen wir uns vielleicht eher wieder oder nie mehr.

Leb wohl, Margarete. Der Himmel schenke dir seinen reichen Segen und schütze mich, dass es mir auch fernerhin vergönnt sei, dir meine Dankbarkeit für all deine Liebe und Güte zu beweisen.

Stets dein treuer Bruder

R. Walton

ZWEITER BRIEF

An Frau Saville, London

Archangel, 28. März 18..

Wie langsam hier doch die Zeit vergeht, mitten in Eis und Schnee! Der zweite Schritt zur Ausführung meines Planes ist getan. Ich habe ein Schiff gemietet und bin daran, meine Matrosen zu heuern. Die, welche ich schon angeworben habe, scheinen mir Leute zu sein, auf die man sich verlassen kann und die unbegrenzten Mut besitzen.

Aber etwas fehlt mir, Margarete, ein Freund. Wenn ich von dem Enthusiasmus meiner Erfolge glühe, dann habe ich keinen Menschen, mit dem ich meine Freude teilen kann; und habe ich Misserfolge, dann ist niemand da, der mir zuspricht und mich wieder aufmuntert. Ich werde meine Gedanken dem Papier anvertrauen, das ist wenigstens etwas; aber immerhin ist es doch ein armseliges Mittel zur Aufnahme unserer Gefühle. Ich bedürfte eines Mannes, einer gleichfühlenden Seele. Du wirst mich vielleicht sentimental schelten, aber ich kann nichts dafür, ich brauche einen Freund. Ich habe niemand um mich, der, zugleich vornehm und mutig, gebildet und verständig, von denselben Neigungen wie ich, imstande wäre, meinen Plänen zuzustimmen oder davon abzuraten. Welch guten Einfluss könnte ein solcher Freund auf deinen armen Bruder haben! Ich bin zu unüberlegt und verliere bei Schwierigkeiten zu rasch die Geduld.

Was helfen aber alle Klagen? Auf dem weiten Ozean werde ich ebensowenig einen Freund finden wie hier in Archangel mitten unter Kaufleuten und Seefahrern. Nicht als ob ich sagen möchte, dass diese rauen Naturen ohne jegliches menschliche Fühlen wären. Mein Leutnant zum Beispiel ist ein Mensch von außerordentlichem Mut und unvergleichlicher Tatkraft, geradezu begierig nach Ruhm. Oder wenn ich mich deutlicher ausdrücken muss, begierig, in seinem Beruf Hervorragendes zu leisten. Er ist Engländer und hat sich mitten in seinem Beruf, fern von aller Kultur, einige feine menschliche Regungen zu bewahren gewusst. Ich lernte ihn zuerst an Bord eines Walfischfängers kennen. Da er hier in Archangel keine geeignete Beschäftigung zu haben schien, war es mir ein Leichtes, ihn für mich zu gewinnen.

Der Maat ist ein Mann von vorzüglichen Anlagen und auf dem Schiff beliebt wegen seiner Milde und der vornehmen Behandlung der Mannschaft. Dieser Umstand, verbunden mit seiner untadeligen Ehrlichkeit und seinem rücksichtslosen Mut, brachten mich zu dem Entschluss, den Mann anzuwerben. Meine einsam verbrachte Jugend, der Einfluss, den du in meinen späteren Jahren auf mich geübt, haben mein Gemüt derart verfeinert, dass mir der übliche rohe Ton an Bord ein Gräuel ist; ich habe ihn von jeher für unnötig gehalten. Es ist daher sehr begreiflich, dass ich mich der Dienste eines Mannes versicherte, der zugleich wegen seiner Herzensgüte als auch wegen des großen Einflusses auf seine Untergebenen bekannt war.

Meine Gefühle kann ich dir nicht beschreiben, die mich beseelen, jetzt, wo ich so nahe der Erfüllung meiner Träume bin. Es ist unmöglich, dir auch nur annähernd die Empfindungen zu schildern, die alle meine Reisevorbereitungen begleiten. Ich bin im Begriff, unerforschte Landstriche zu betreten, die Heimat des Nebels und des Schnees; aber ich werde nicht nach Albatrossen jagen, deshalb sei um meine Sicherheit nicht besorgt.

Werde ich dich erst wiedersehen, wenn ich nach langer Fahrt durch ungeheure Ozeanweiten einmal an der Südspitze von Afrika oder Amerika herauskomme? Solche Erfolge darf ich ja gar nicht erwarten; aber ich bringe es jetzt nicht über das Herz, die Kehrseite der Medaille zu betrachten. Schreibe mir jedenfalls so oft als es dir möglich ist, vielleicht erreichen mich deine Briefe gerade dann, wenn ich ihrer am notwendigsten bedarf. Ich habe dich herzlich lieb. Denke auch du meiner in Liebe, wenn es sich treffen sollte, dass wir uns nimmer sehen. Stets dein getreuer Bruder

Robert Walton

DRITTER BRIEF

Frau Saville, London

7. Juli 18..

Liebe Schwester! Ich schreibe dir in aller Eile, um dich wissen zu lassen, dass ich wohlauf bin und dass ich schon ein Stück meiner Reise hinter mir habe. Diesen Brief wird ein Kaufmann von Archangel aus nach England mitbringen. Der Glückliche! Er kann wieder Heimatluft atmen, was mir vielleicht auf Jahre hinaus nicht vergönnt sein wird. Trotzdem bin ich bester Laune. Meine Leute sind kühn und offenbar zu allem willig; auch die schwimmenden Eisberge, die unaufhörlich an uns vorbeiziehen und uns die Gefahren vorausahnen lassen, denen wir entgegengehen, scheinen ihnen keine Sorge einzuflößen. Wir haben schon eine hohe nördliche Breite erreicht, aber es ist Hochsommer, und wenn es auch nicht ganz so warm ist wie in England, so tragen uns doch die Südwinde, indem sie uns dem heißersehnten Ziele näherbringen, eine wohltuende Wärme zu, wie ich sie nicht erwartet hätte.

Bisher hat sich noch nichts ereignet, was der Mitteilung wert wäre. Ein oder zweimal eine steife Brise und einmal ein kleines Leck, das sind Zufälle, deren ein erfahrener Seemann kaum Erwähnung tut, und ich will recht zufrieden sein, wenn uns auf der ganzen Reise nichts Unangenehmeres passiert.

Lebe Wohl, teure Margarete. Sei überzeugt, dass ich um deinet- wie um meinetwillen mich nicht allzu kühn der Gefahr aussetzen werde. Ich will kaltblütig, überlegt und vernünftig sein.

Aber der Erfolg muss mein Werk krönen. Warum auch nicht? So weit bin ich nun gekommen über die pfadlose See; nur die Sterne am Himmel sind Zeugen meines Sieges. Warum soll ich nicht noch weiter fortschreiten auf dem ungezähmten, aber doch zähmbaren Element? Was wäre imstande, sich auf die Dauer dem mutigen, willensstarken Mann entgegenzustellen?

Mein Herz ist zu voll, als dass es nicht überlaufen sollte. Aber ich muss schließen. Gott sei mit dir, liebe Schwester!

Robert Walton

VIERTER BRIEF

An Frau Saville, London

5. August 18..

Etwas sehr Merkwürdiges hat sich ereignet und ich muss es dir berichten, wenn ich auch wahrscheinlich eher bei dir bin, als diese Zeilen dich erreichen.

Letzten Montag (31. Juli) waren wir fast ganz von Eis eingeschlossen, sodass das Schiff kaum mehr den zum Vorwärtskommen nötigen Platz hatte. Unsere Lage war einigermaßen gefährlich, besonders deswegen, weil ein dichter Nebel uns einhüllte. Wir drehten deshalb bei, in der Hoffnung, dass die Witterung endlich anders werde.

Gegen zwei Uhr lichtete sich der Nebel und wir erblickten, wohin wir sahen, weite, fast unermesslich scheinende Eisflächen. Einige meiner Leute wurden unruhig und auch mich beschlichen trübe, ängstliche Gedanken, als plötzlich etwas Seltsames unsere Aufmerksamkeit auf sich zog und uns unsere gefährliche Situation vergessen ließ. Wir bemerkten einen niedrigen Wagen, der auf Schlittenkufen befestigt war, von Hunden gezogen wurde und sich in einer Entfernung von etwa einer halben Meile nordwärts bewegte. Im Schlitten saß eine Gestalt, die einem Menschen, aber einem solchen von außergewöhnlicher Größe glich und die Tiere lenkte. Wir verfolgten mit unseren Fernrohren den Reisenden, der blitzschnell dahinflog und bald durch Unebenheiten des Eises unseren Blicken entzogen wurde.

Diese Erscheinung erregte begreiflicherweise unsere Neugierde in hohem Maße. Wir hatten geglaubt, uns Hunderte von Meilen vom festen Land entfernt zu befinden, diese Erscheinung aber schien uns das Gegenteil zu beweisen. Da wir vom Eis völlig eingeschlossen waren, war es uns unmöglich, die Spuren des rätselhaften Wesens zu verfolgen.

Etwa zwei Stunden danach hörten wir die Grunddünung, und ehe es Nacht wurde, löste sich das Eis und das Schiff wurde frei. Trotzdem aber blieben wir bis zum Morgen liegen, da wir fürchten mussten, in der Dunkelheit mit den treibenden Eismassen zusammenzustoßen. Ich benützte diese Zeit, um mich etwas auszuruhen.

Als es Tag wurde, ging ich an Deck und fand alle Matrosen auf einer Seite des Schiffes stehen, sich mit jemand unterhaltend, der scheinbar unten auf dem Wasser war. Es war in der Tat ein Schlitten, ähnlich dem, den wir gestern gesehen hatten; er war in der Nacht auf einem schwimmenden Stück Eis zu uns herangetrieben worden. Nur ein Hund war noch vorgespannt, und im Schlitten saß ein Mensch, den die Matrosen veranlassen wollten, an Bord zu kommen. Er war nicht, wie uns der Fremde von gestern geschienen hatte, ein wilder Eingeborener irgendeines unentdeckten Eilandes, sondern ein Europäer. Als ich an Deck kam, sagte der Maat: »Da kommt unser Kapitän, der wird nicht zugeben, dass Sie auf offener See zugrunde gehen.«

Der Fremde gewahrte mich und sprach mich dann englisch, allerdings mit etwas eigentümlichem Dialekt, an. »Ehe ich an Bord Ihres Schiffes gehe«, sagte er, »bitte ich Sie mir zu sagen, wohin Sie zu fahren gedenken.«

Du wirst begreifen, dass ich momentan sehr erstaunt war, diese Frage von einem Menschen zu hören, der eben knapp dem Untergang entronnen zu sein schien und von dem man annehmen musste, dass ihm mein Schiff ein Zufluchtsort sei, den er nicht gegen alle Reichtümer der Erde mehr vertauscht haben würde. Ich erklärte ihm, dass ich mich mit meinem Schiff auf einer Entdeckungsreise nach dem Nordpol befände.

Dies schien ihn zufriedenzustellen und er nahm meine Einladung an. Großer Gott! Margarete, wenn du den Mann gesehen hättest, der sich nur so schwer retten ließ, dein Erstaunen hätte keine Grenzen gehabt. Seine Glieder waren fast völlig erfroren und sein Leib war förmlich gebrochen von Müdigkeit und Krankheit. Ich habe noch nie einen Menschen in einer so kläglichen Verfassung gesehen. Wir versuchten ihn in die Kajüte zu tragen, aber kaum hatten wir ihn unter Deck, da wurde er schon ohnmächtig. Wir brachten ihn also wieder an Deck zurück und suchten durch Reiben mit Branntwein und Einflößen von kleinen Schlucken ihn ins Leben zurückzurufen. Als er Lebenszeichen von sich zu geben begann, wickelten wir ihn in Leinentücher und legten ihn in der Nähe des Küchenofens nieder. Allmählich erholte er sich und aß ein paar Löffel Suppe, die ihm sehr wohl taten.

Zwei Tage vergingen, ehe es ihm möglich war zu sprechen, und mir kam es zuweilen vor, als hätten ihm all die Leiden den Verstand geraubt. Als er einigermaßen hergestellt war, ließ ich ihn in meine Kajüte bringen und pflegte ihn, soweit es sich mit meinen Pflichten vereinbaren ließ. Ich habe nie in meinem Leben einen interessanteren Menschen kennengelernt. Seine Augen haben meist den Ausdruck der Wildheit, ich möchte fast sagen des Irrsinnes; aber in manchen Momenten, besonders wenn ihm jemand etwas Liebes erweist oder ihm einen, wenn auch noch so kleinen Dienst leistet, leuchtet sein ganzes Wesen auf und wird durchstrahlt von einem Schimmer von Liebenswürdigkeit und Freundlichkeit, wie man ihn selten findet. Sonst ist er aber melancholisch und verzweifelt und knirscht zuweilen mit den Zähnen, als könne er das Übermaß der Qualen, die er leidet, nimmer tragen.

Als mein Gast einigermaßen wieder gesund war, hatte ich große Mühe, meine Leute daran zu hindern, dass sie ihn mit allen möglichen Fragen belästigten. Ich konnte es doch nicht gestatten, dass durch ihre müßige Neugierde die geistige und körperliche Genesung des Fremden, die offenbar nur durch ungestörteste Ruhe bewirkt werden konnte, aufgehalten werden sollte. Einmal jedoch gelang es meinem Leutnant dennoch, die Frage an ihn zu richten, wo er denn in seinem seltsamen Vehikel so weit über das Eis herkäme.

Ein Schatten tiefster Betrübnis huschte über sein Gesicht, dann sagte er: »Um einen zu suchen, der vor mir floh.«

»Und reiste der Mann, den Sie suchten, in derselben Weise, wie Sie?«

»Ja.«

»Dann, glaube ich, haben wir ihn gesehen. Denn am Tag, ehe wir Sie fanden, sahen wir einen Mann auf einem von Hunden gezogenen Schlitten über das Eis hinwegfahren.«

Dies erregte die Aufmerksamkeit des Fremden und er stellte eine Reihe dringender Fragen, die sich darauf bezogen, welche Richtung der Dämon – so nannte er den anderen – genommen habe. Als er kurz nachher mit mir allein war, sagte er: »Ich habe ohne Zweifel Ihre Neugierde erregt, ebenso wie die dieser guten Leute, aber Sie selbst sind ja zu rücksichtsvoll, um mich auszufragen.«

»Gewiss; ich würde es für aufdringlich und unmenschlich halten, Sie mit irgendwelchen Fragen zu belästigen.«

»Und das, trotzdem Sie mich aus einer seltsamen, verzweifelten Situation gerettet und mich zum Leben zurückgebracht haben!«

Einige Zeit danach fragte er mich, ob ich glaube, dass der Eisgang den Schlitten des ›Anderen‹ zerstört habe. Ich antwortete ihm, dass ich hierüber mit Bestimmtheit nichts aussagen könne, denn der Eisgang habe erst gegen Mitternacht eingesetzt und der Reisende könne bis dahin recht wohl sich in Sicherheit gebracht haben.

Seit dieser Auskunft schien neuer Lebensmut den gebrechlichen Körper des Fremden zu durchströmen. Er wollte absolut an Deck bleiben, um nach dem Schlitten auszuspähen, von dem wir ihm gesprochen hatten. Aber ich habe ihn überredet, sich in der Kabine aufzuhalten, da er für die raue Temperatur da oben doch noch nicht stark genug sei. Ich habe ihm aber versprochen, dass jemand an seiner Stelle Ausschau halten und ihn sofort benachrichtigen werde, wenn sich irgendetwas sehen lassen sollte.

Bis zum heutigen Tag habe ich dir nun alles über das seltsame Ereignis berichtet. Der Fremde scheint sich nach und nach zu kräftigen, aber er ist still und in sich gekehrt und ist ärgerlich, wenn ein anderer als ich seine Kajüte betritt. Aber er ist trotzdem so freundlich und liebenswürdig, dass die Matrosen ihn alle gern haben, wenn sie auch nur sehr wenig mit ihm in Berührung kommen. Ich aber gewinne ihn allmählich lieb wie einen Bruder und sein ständiger, tiefer Gram flößt mir tiefes Mitleid mit ihm ein. Er muss in seinen guten Tagen ein prächtiger Mensch gewesen sein, er, der noch als Wrack so anziehend und liebenswert ist.

Ich habe schon einmal in einem meiner Briefe gesagt, liebe Margarete, dass es mir wohl nicht vergönnt sein werde, auf dem weiten Ozean einen Freund zu finden. Aber ich habe wenigstens einen Mann kennengelernt, der mir wirklich, wäre sein Geist nicht so tief verstört, ein Herzensfreund hätte werden können.

Ich werde dir von Zeit zu Zeit von dem Fremden berichten, vorausgesetzt, dass es etwas zu berichten gibt.

*

13. August 18..

Meine Zuneigung zu dem unglücklichen Gast wächst von Tag zu Tag. Ich bewundere und bemitleide ihn zugleich. Wie wäre es möglich, ein so edles Geschöpf von Gram verzehrt zu sehen, ohne selbst den tiefsten Schmerz mitzuempfinden? Er ist so gut und dabei klug, auch ist er außerordentlich gebildet und spricht wohlgesetzt und gewandt.

Er hat sich jetzt von seiner Krankheit ziemlich erholt und hält sich unausgesetzt auf Deck auf, offenbar um den Schlitten nicht zu übersehen, auf den er immer noch wartet. Er ist unglücklich, aber in all seinem Elend hat er doch immer noch Interesse für die Pläne der andern. Er hat viel mit mir über den meinigen gesprochen, den ich ihm rückhaltlos dargelegt habe. Aufmerksam folgte er allem, was ich im Sinne eines glücklichen Ausganges meines Unternehmens vorzubringen wusste, und vertiefte sich mit mir bis in die Details der Maßnahmen, die ich getroffen. Er hatte mir so viel Sympathie eingeflößt, dass ich offen mit ihm reden musste. Ich ließ ihn in meine leidenschaftliche Seele blicken und sagte ihm auch, dass ich gern mein ganzes Vermögen, meine Existenz, meine Zukunft aufs Spiel setze, um mein Unternehmen zu einem guten Ausgang zu führen. Leben oder Tod eines Mannes seien ja gar nichts im Vergleich zu dem, was der Wissenschaft durch mein Unternehmen genützt werde. Während ich sprach, überzog eine dunkle Glut das Antlitz meines Zuhörers. Ich bemerkte, dass er anfänglich sich bemühte, seine Bewegung zu meistern. Er hielt die Hände vor das Gesicht, und meine Stimme bebte und stockte, als ich sah, dass Tränen zwischen seinen Fingern niederrannen, als ich hörte, wie ein wehes Stöhnen sich seiner Brust entrang. Ich hielt inne, da sagte er mit gebrochener Stimme: »Unglücklicher! Hat Sie derselbe Wahnsinn erfasst wie mich? Haben auch Sie von dem Gift getrunken? Hören Sie mich an, lassen Sie mich meine Geschichte berichten und Sie werden den Becher mit dem unheilvollen Trank von Ihren Lippen wegstoßen.«

Du kannst dir denken, dass diese Worte meine ganze Neugier erregten. Aber das Übermaß des Schmerzes hatte die schwachen Kräfte des Fremden übermannt und es bedurfte vieler Stunden der Ruhe und sanfter Überredung, um ihn wieder ins Gleichgewicht zu bringen.

Nachdem er seiner heftigen Gefühle Meister geworden war, schämte er sich, dass seine Leidenschaft ihn so überwältigt hatte. Er unterdrückte mit Gewalt seine Verzweiflung und veranlasste mich, über mich selbst zu sprechen. Er frug nach meiner Kindheit. Diese war rasch erzählt, aber dennoch gab sie verschiedene Anknüpfungspunkte. Ich sprach von meinem Wunsch, einen Freund zu finden, von meiner Sehnsucht nach einer gleichgestimmten Seele, die ich nie mein eigen nennen durfte, und gab meiner Überzeugung Ausdruck, dass niemand wahres Glück genossen habe, der sich nicht echter Freundschaft rühmen könne.

»Ich bin ganz Ihrer Ansicht«, entgegnete der Fremde. »Wir sind nur halbe Geschöpfe, wenn uns nicht ein Weiserer, Besserer – und das muss ja ein Freund sein – zur Seite steht, um unsere schwache, fehlerhafte Natur zu verbessern. Ich hatte einmal einen Freund, den edelsten Menschen, den man sich denken kann, und habe deshalb ein gewisses Recht mitzusprechen, wenn von Freundschaft die Rede ist. Sie sind noch voller Hoffnung und haben die Welt vor sich und deshalb keinen Grund zu verzweifeln. Aber ich – ich habe alles verloren und keinen Mut mehr, von vorn anzufangen.«

Als er das sagte, nahm sein Gesicht einen gramvollen Ausdruck an, der mir bis ins Herz hinein weh tat. Aber er sprach nicht weiter und zog sich in seine Kajüte zurück.

Trotz seines Leides hegt er eine tiefe, innige Liebe zur Natur. Der sternenbesäte Himmel, das Meer und alle Wunder dieser herrlichen Regionen schienen erhebend auf seine Seele zu wirken. Ein solcher Mensch hat eigentlich eine doppelte Existenz: er mag leiden und sich grämen, aber wenn er sich in sich selbst zurückzieht, dann ist er wie ein himmlischer Geist, den ein Heiligenschein umgibt, den Leid und Schmerz nicht zu verdunkeln vermögen.

Lächle nur über den Enthusiasmus, mit dem ich von diesem prächtigen Menschen erzähle. Wenn du ihn kenntest, würdest du nicht lächeln. Ich weiß, deine feine Erziehung und die Zurückgezogenheit deines Lebens haben dich wählerisch gemacht; aber gerade das würde dich besonders geeignet machen, das Außerordentliche an diesem Menschen zu erkennen und zu schätzen. Ich habe mich schon öfter bemüht, mir klar zu werden, was es ist, das ihn so himmelhoch über alle anderen Menschen erhebt. Ich glaube, vor allem ist es sein mehr als natürlicher Scharfsinn, eine nie fehlende Urteilskraft, eine Erkenntnis der Ursachen aller Dinge. Stelle dir nun noch vor, dass er die Gabe besitzt, sich glänzend, dabei klar und präzis auszudrücken und dass seine Stimme eine außergewöhnliche Modulationsfähigkeit hat, so wirst du begreifen, dass dieser Mann imstande ist, jemand zu bestricken.

*

19. August 18..

Gestern sagte der Fremde zu mir: »Sie haben sicherlich erkannt, Kapitän Walton, dass mich großes, unsagbares Leid betroffen hat. Ich hatte schon beschlossen, dass die Erinnerung daran mit mir ins Grab steigen solle; aber Sie haben mich so weit gebracht, dass ich meinem Entschluss untreu geworden bin. Sie suchen, wie ich einst, nach Wissen und Weisheit und ich wünsche Ihnen von ganzem Herzen, dass dieses Streben Ihnen nicht, wie mir, zum fürchterlichsten Fluch werde. Ich weiß nicht, ob Ihnen die Erzählung meiner Leiden von Nutzen sein wird; wenn ich aber bedenke, dass Sie denselben Weg gehen wie ich, sich denselben Gefahren aussetzen, die mich zu dem machten, was ich jetzt bin, so kommt mir die Überzeugung, dass Sie aus meiner Erzählung doch eine Moral zu ziehen vermögen; eine Moral für den Fall, dass Sie Erfolg mit Ihren Bestrebungen haben, wie auch für den Fall, dass Sie enttäuscht werden. Bereiten Sie sich darauf vor Dinge zu hören, die Sie als unglaublich bezeichnen möchten. Wären wir in kultivierteren Zonen der Erde, ich würde mich besinnen zu erzählen, weil ich fürchten müsste, dass Sie mir nicht glauben oder mich gar verlachen könnten; aber in diesen wilden, geheimnisvollen Regionen wird Ihnen manches möglich erscheinen, was solche, die mit den immer wechselnden Kräften der Natur nicht vertraut sind, zum Spotte reizen würde.« – Du kannst dir denken, dass ich dankbar und erfreut das Angebot annahm, wenn ich mir auch sagen musste, dass durch die Erzählung sein Leid wieder lebendiger, die Wunden nur wieder aufgerissen würden. Ich war ungeheuer gespannt auf das, was ich hören sollte, teils aus wirklicher Neugierde, teilweise aber auch, weil ich hoffte, vielleicht dadurch einen Fingerzeig zu bekommen, wie ich, wenn es überhaupt möglich wäre, ihm helfen könnte.

»Ich danke Ihnen«, sagte er, »für Ihre Teilnahme, aber sie ist unnütz; mein Schicksal ist nahezu erfüllt. Ich warte nur eines ab; wenn dies eintrifft, werde ich zur Ruhe gehen. Ich verstehe Ihre Gefühle«, fuhr er fort, nachdem ich vergebens versucht hatte, ihn zu unterbrechen, »aber Sie sind im Irrtum, mein Freund – wenn ich mir erlauben darf Sie so zu nennen – wenn Sie meinen, irgendetwas wäre imstande, mein Geschick zu ändern. Hören Sie erst meine Geschichte und Sie werden verstehen, wie unabänderlich es feststeht.«

Er sagte mir noch, dass er am nächsten Tag mit seiner Erzählung beginnen wolle, wenn es meine Zeit erlaube. Dieses Versprechen verpflichtete mich zu aufrichtigem Dank. Ich habe beschlossen, immer nachts, wenn mich nicht gerade mein Dienst abhält, möglichst wörtlich alles niederzuschreiben, was ich am Tag erfahren haben werde. Zum Mindesten aber werde ich mir kurze Notizen machen. Diese Aufzeichnungen werden dir sicher interessant sein, und mit welcher Teilnahme werde erst ich, der ich doch alles von seinen eigenen Lippen höre, in späteren Zeiten die Zeilen lesen. Während ich daran denke, wie ich meiner Aufgabe gerecht werden soll, tönt in meinen Ohren noch seine volle, melodische Stimme; ich sehe seine warmen, melancholischen Augen auf mir ruhen, seine feinen, schmalen Hände sich lebhaft bewegen, während sich in den Zügen seines Antlitzes seine Seele widerspiegelt. Seltsam und schrecklich muss seine Geschichte, furchtbar der Sturm gewesen sein, der das schöne Lebensschiff zerbrach.

KAPITEL I

ICH BIN IN GENF GEBOREN. Meine Familie ist eine der vornehmsten dieser Stadt. Mein Vater war angesehen bei allen, die ihn kannten, wegen seiner unbestechlichen Rechtschaffenheit und der treuen Hingabe an seine Pflichten. In jüngeren Jahren schon hatte er im Dienste seiner Vaterstadt gestanden und verschiedene Umstände hatten es mit sich gebracht, dass er lange nicht zur Gründung eines eigenen Herdes gekommen war. Erst als die Mittaghöhe des Lebens schon überschritten war, hatte er geheiratet.

Da die Vorgeschichte seiner Ehe für seinen ganzen Charakter bezeichnend ist, kann ich nicht umhin, ihrer Erwähnung zu tun. Einer seiner intimsten Freunde war ein Kaufmann, der infolge missgünstiger Schicksale von der Höhe des Glückes herab in die tiefste Armut geriet. Dieser Mann, er hieß Beaufort, war stolz und unbeugsam und konnte es nicht ertragen, jetzt an der gleichen Stätte arm und vergessen zu leben, wo man ihn einst wegen seines Reichtums und seines glänzenden Auftretens besonders geehrt hatte. Er zahlte als ehrlicher Mann noch seine Schulden und zog sich dann mit seiner Tochter nach Luzern zurück, wo er unerkannt und armselig sein Leben fristete. Mein Vater war ihm in aufrichtiger Freundschaft zugetan und fühlte tiefes Erbarmen mit dem unglücklichen Mann. Auch bedauerte er sehr den falschen Stolz, der den Freund hinderte, seine Hilfe anzunehmen; hatte er doch gehofft, ihm mit seinem Rat und seinem Kredit wieder auf die Beine helfen zu können.

Tatsächlich hielt sich Beaufort dermaßen sorgfältig verborgen, dass es meinem Vater erst nach Verlauf von zehn Monaten gelang, ihn ausfindig zu machen. Überwältigt von der Freude, die ihm diese Entdeckung bereitet hatte, eilte er nach dem Haus, das in einer schmalen Gasse in der Nähe der Reuß lag. Aber schon bei seinem Eintritt wurde ihm klar, dass er eine Stätte der Not und des Elendes vor sich sah. Beaufort hatte aus seinem Zusammenbruch nur eine ganz unbedeutende Summe gerettet, aber sie hätte wenigstens genügt, ihn einige Monate zu erhalten. In dieser Zeit hoffte er in einem Kaufhaus eine Stellung zu finden. Die erzwungene Untätigkeit gab ihm Zeit, noch mehr über das nachzudenken, was aus ihm geworden, und vertiefte seinen Gram, sodass er schließlich nach drei Monaten aufs Krankenbett sank.

Seine Tochter pflegte ihn mit der äußersten Hingabe, aber sie konnte es sich nicht verhehlen, dass ihr kleines Kapital rapid dahinschwand und dass dann keine Hoffnung auf irgendeine Unterstützung bestand. Aber Karoline Beaufort besaß eine ungewöhnliche Spannkraft und ihr Mut wuchs in diesen Widerwärtigkeiten. Sie versah die ganze Arbeit und vermochte durch Strohflechtereien wenigstens so viel zu verdienen, dass sie beide gerade noch notdürftig ihr Leben zu fristen imstande waren.

Einige Monate vergingen in dieser Weise. Ihr Vater wurde immer elender, sodass sie von seiner Pflege ausschließlich in Anspruch genommen wurde. Die letzten Notpfennige waren bald ausgegeben und im zehnten Monat starb ihr Vater in ihren Armen, sie als bettelarme Waise zurücklassend. Dieser letzte Schlag war der härteste für sie; sie kniete gerade bitterlich weinend am Sarg Beauforts, als mein Vater eintrat. Er kam wie ein rettender Engel zu dem armen Mädchen und vertrauensvoll legte sie ihr Geschick in seine helfenden Hände. Nach der Beerdigung seines Freundes brachte er Karoline nach Genf und gab sie dort Verwandten zur Obhut. Zwei Jahre später war sie seine Frau.

Der Altersunterschied meiner beiden Eltern war zwar sehr bedeutend, aber gerade das schien die Liebe, die sie zueinander hegten, nur zu vertiefen. Mein Vater besaß ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl, das ihn nur da wirklich lieben ließ, wo er auch seine Achtung geben konnte. Vielleicht hatte er in seinen früheren Jahren irgendeine Erfahrung in dieser Hinsicht gemacht und legte deshalb so viel Wert auf den inneren Wert. Er zeigte für meine Mutter eine Verehrung, die sich von der schwächlichen Liebe älterer Leute wohl unterschied und die aus wirklicher Hochachtung vor ihr entsprang und vielleicht auch aus dem Wunsch, sie für all das Leid zu entschädigen, das ihr ihre Jugend gebracht. Alles drehte sich um sie, um ihr Wohlergehen. Er hielt sie, wie ein Gärtner eine wertvolle exotische Blume hält und sie vor jedem rauen Windzug behütet. Allerdings hatte ihre Gesundheit und auch ihr starker, mutiger Geist unter den schweren Erschütterungen gelitten. Während der zwei Jahre, die seiner Verehelichung vorausgingen, hatte mein Vater allmählich alle seine Ämter abgegeben, und sofort nach der Hochzeit begab sich das Paar nach Italien, wo das milde Klima und eine Reise durch das wundervolle Land die Gesundheit der jungen Frau wiederherstellen sollten.

Von Italien aus ging dann die Reise nach Deutschland und Frankreich. Ich, das älteste Kind, kam in Neapel1 zur Welt und begleitete als kleiner Bursche schon meine Eltern auf ihren Streifzügen. Mehrere Jahre blieb ich ihr einziges Kind. Aus ihrer unerschöpflichen Liebe zueinander entsprang eine reiche Quelle von Liebe für mich. Die Liebkosungen meiner Mutter und das wohlwollende Lächeln meines Vaters sind meine ersten Erinnerungen. Ich war ihnen zugleich Spielzeug und Idol und, was das Beste ist, ihr Kind, das kleine, hilflose Wesen, das ihnen Gott geschenkt hatte, um es aufzuziehen, dessen Wohl und Wehe in ihren Händen lag. Es ist nicht verwunderlich, dass bei dem hohen Pflichtgefühl, das meine Eltern beseelte, und bei dem Geiste wahrer Zärtlichkeit, der in unserem Hause waltete, mein Leben einer Reihe von Freuden glich.