Frankenwein und eine Leiche (eBook) - Jan Beinßen - E-Book

Frankenwein und eine Leiche (eBook) E-Book

Jan Beinßen

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Beschreibung

Bei einer Flusskreuzfahrt durch das schöne Franken wird ein reicher amerikanischer Passagier ermordet, als die MS Walküre gerade in Nürnberg vor Anker geht. Die Polizei um Kommissarin Jasmin Stahl tappt im Dunkeln, die Befragung der anderen Reisenden, darunter die undurchsichtige Witwe, ergibt keine brauchbaren Spuren. Paul Flemming, der gerade mit der Midlife-Crisis zu kämpfen hat, sucht derweil Entspannung und Erleuchtung in einem unterfränkischen Kloster. Alle Kontaktversuche Jasmins, die Pauls kriminalistisches Gespür für ihre Ermittlungen gut gebrauchen könnte, blockt der Hobbydetektiv ab: Die mönchische Ruhe sei gerade genau das Richtige für ihn. Da taucht ein geheimnisvoller neuer Gast im Kloster auf, und schon bald ist Paul Flemming mittendrin in einem neuen Fall zwischen Frankenwein, Elvis-Imitatoren und der amerikanischen Mafia ...

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Jan Beinßen

Frankenwein und

eine Leiche

 

Paul Flemmings zwölfter Fall

 

Kriminalroman

 

 

 

ars vivendi

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (Erste Auflage August 2017)

© 2017 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

Lektorat: Stephan Naguschewski

Umschlaggestaltung: FYFF, Nürnberg

Motivauswahl: ars vivendi

Coverfoto: © Markus Spiske/photocase

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

eISBN 978-3-86913-861-9

 

Inhalt

Prolog

Montag, 4. September

Dienstag, 5. September

Mittwoch, 6. September

Donnerstag, 7. September

Freitag, 8. September

Samstag, 9. September

Epilog

Danke

Der Autor

 

»Sende mir noch einige Würzburger, denn kein anderer Wein will mir schmecken.«

Johann Wolfgang von Goethe

 

Prolog

Weißwein aus Franken. Erstklassig im Geschmack und viel feiner strukturiert, als er es von Wein gewohnt war. Als Bryan Dexter gegen Mitternacht in seine Kajüte wankte, fühlte er sich beschwingt von einem äußerst vergnüglichen Abend, im Laufe dessen er mehrere Gläser dieses köstlichen Getränks zu sich genommen hatte. Eine höhere Qualität hätte er wohl selbst im kalifornischen Napa Valley nicht erwarten können, von wo er sonst seine besten Tropfen bezog. So dachte er, streifte seine Herrenslipper von den Füßen und streckte sich auf dem seidenweichen Bett aus.

In den vergangenen Stunden hatte er ein paar ebenso angenehme wie belanglose Gespräche führen können. Small Talk mit anderen Gästen der Schiffsbar, ab und zu unterbrochen von den Darbietungen eines Alleinunterhalters, eines Elvis-Imitators, der seine Sache recht gut machte. Auch seine Frau Bethany hatte den Abend genossen, das heißt: Sie genoss ihn noch immer. Dexter hatte nichts dagegen, dass sie länger blieb als er, denn er wollte sie nicht einschränken. Vor dreißig Jahren, als er in ihrem Alter gewesen war, hatte er selbst oft die Nacht zum Tag gemacht und war an den Wochenenden oder in Urlaubszeiten wie jetzt selten vor Anbruch der Morgendämmerung zu Bett gegangen. Heute sah das anders aus: Dexter war noch immer agil und unternehmungslustig, doch inzwischen schätzte er es durchaus, wenn er sich beizeiten zurückziehen konnte.

Während er entspannt auf dem Laken lag und sich fragte, ob er es schaffen würde, sich noch einmal aufzuraffen, um seinen Smoking gegen einen Pyjama zu tauschen, überkam ihn ein seltener Anflug von Glücksgefühlen. Wie gut es ihm doch ging, dachte er, dass er mit seiner bezaubernden jungen Frau diese faszinierende Reise unternehmen konnte. Ein Trip voller Highlights. Mit den grandiosen Metropolen des alten Europa, von Budapest bis Amsterdam. Und das an Bord eines schwimmenden Fünfsternehotels mit allem erdenklichen Komfort, denn nichts anderes war das Flusskreuzfahrtschiff MS Walküre als eine auf Kiel gelegte Nobelherberge. Luxus pur.

Dem nächsten Landgang sah Dexter bereits erwartungsvoll entgegen. Morgen würden sie Nürnberg erreichen, die legendäre Reichsstadt. Er freute sich auf die Kaiserburg und Bratwürste, und selbstverständlich würde er das Aufmarschgelände der Nazis besichtigen und sich auf der Empore in Positur stellen, auf der einst Adolf Hitler seine Reden geschwungen hatte. Bethany würde in der Zwischenzeit durch Nürnbergs Shoppingmeilen streifen. Sie hatte sich bereits schlaugemacht: In der Kaiserstraße waren internationale Fashionmarken wie Hermès, Lloyd und Louis Vuitton ansässig. Es gab dort feinstes Leder, edle Accessoires und ausdrucksstarken Schmuck. Seine Liebste wäre also für eine Weile beschäftigt und käme am Abend mit prall gefüllten Einkaufstaschen zurück an Bord, malte sich Dexter mit zufriedenem Lächeln aus. Sollte sie nur sein Geld ausgeben. Er liebte es, seine wunderschöne Beth zu verwöhnen.

Ja, ihm ging es gut, dachte Dexter mit tiefster Dankbarkeit. So gut, dass seine Probleme, die ihn zu Hause in Minnesota plagten, in weite Ferne rückten. Im wahrsten Sinne des Wortes. Denn zwischen Europa und seiner Heimat, den Vereinigten Staaten, lag ein ganzer Ozean. Diese Distanz wirkte sich noch stärker auf sein Wohlbefinden aus, als er es sich erhoffen durfte. Sie ließ all die Unliebsamkeiten, die sein Dasein als millionenschwerer Möbelproduzent mit sich brachte, klein und nichtig erscheinen. Vor allem der Ärger, den er derzeit mit seinen Geschäftspartnern hatte, erschien ihm von hier aus betrachtet längst nicht mehr so bedrohlich, wie es in der Heimat der Fall war: Die Daumenschrauben wollten sie ihm anlegen und kräftig daran drehen. Aber bei Bryan Dexter waren sie an den Falschen geraten. Er würde sich nicht einschüchtern lassen und ihnen stattdessen die Stirn bieten. Sollten sie sich doch jemanden anderen suchen, den sie für dumm verkaufen und ausnehmen konnten.

Die Deadline, die sie ihm genannt hatten, um die Dinge mit ihnen ins Reine zu bringen, hatte Dexter verstreichen lassen. Nicht nur das: Er hatte seinen Europaurlaub so terminiert, dass diese Leute ihren Worten keine Taten folgen lassen konnten. Hier, Tausende Kilometer von Minnesota entfernt, kamen sie nicht an ihn heran. Das war zwar keine dauerhafte Lösung, doch bis er nach langer Reise zurück in seine Heimat kommen würde, würde ihm sicherlich etwas einfallen, um die Wogen zu glätten.

So sah Dexters Kalkül aus. Pragmatisch und ganz sicher von Erfolg gekrönt, wie fast immer, wenn Dexter Geschäfte machte. Nichts anderes war es ja, um was es diesen Leuten ging: Sie wollten einen guten Deal mit ihm abschließen. Es kam bloß darauf an, dass der Preis stimmte, und Dexter war sich sicher, dass der Handel am Schluss gut für ihn ausgehen würde. Bei dieser durchaus positiven Aussicht schlich sich ein Lächeln in sein Gesicht.

Als sich wenig später der Türknauf drehte, wunderte sich Dexter, dass Bethany schon jetzt in die Kabine kam. Ob der Champagner ausgegangen war, fragte er sich im Scherz und freute sich darauf, seine Frau in die Arme schließen zu können. Mit ihr hatte er auf seine alten Tage einen wahren Glücksgriff gelandet: eine Schönheit, eine Göttin, noch dazu schlagfertig und amüsant. Eine wahre Bereicherung für den Herbst seines Lebens.

Die Tür öffnete sich langsam, doch anstelle der liebreizenden Bethany in ihrem atemberaubenden Abendkleid füllte jemand anders den Rahmen aus. Breit und massig, ganz in Weiß gekleidet. Jemand von der Besatzung? Aber was wollte er um diese Zeit, und weshalb hatte er nicht angeklopft? Dexter tastete nach seiner Brille, die auf seinem Nachttisch lag. Er fragte sich, ob sich der ungebetene Gast vielleicht im Flur getäuscht hatte. Denn für das Personal waren die einfachen Kajüten unter Deck vorgesehen.

Dexter bekam seine Brille zu fassen, setzte sie auf und wollte seinen Augen nicht trauen.

»What the hell …«, begann er und stand auf. Weiter kam er nicht. Der Eindringling hob seine rechte Hand, in der er eine mattschwarze Pistole mit aufgeschraubtem Schalldämpfer hielt. Noch ehe Dexter eine Chance hatte zu begreifen, was eigentlich vor sich ging, feuerte der Mann zwei Projektile auf ihn ab.

 

Montag, 4. September

Es passierte am laufenden Band und traf fast jede zweite Ehe. Und es scherte sich niemand darum. Bilde sich keiner ein, dass ein blutendes Herz irgendjemanden interessierte. Bestenfalls ein mitleidiges Lächeln konnte man von dem einen oder anderen erwarten, was so viel sagte wie: Willkommen im Club.

Paul Flemming versuchte es so abgeklärt wie möglich zu sehen, doch das wollte ihm nicht gelingen, denn die Trennung von seiner Frau Katinka – mochte sie auch nur vorrübergehend sein – ging ihm an die Nieren.

Die Wörter des Briefes, den sie ihm geschrieben und mit denen sie ihre »Auszeit« eingeläutet hatte, hatten sich ihm eingeprägt wie ein ungeliebtes Gedicht, dessen Verse ihm nicht mehr aus dem Kopf gehen wollten:

»Ich habe auf jede mögliche Art und Weise versucht dir beizubringen, dass es irgendwann geschehen würde, wenn sich nichts ändert. Dass eine Partnerschaft nur dann bestehen kann, wenn man auch partnerschaftlich agiert und gegenseitige Rücksicht nimmt, anstatt sich immer bloß selbst zu verwirklichen. Aber entweder warst du zu dumm, um es zu begreifen, oder es war dir ganz einfach egal. Da ich deine Intelligenz nie in Zweifel gezogen habe, ist ja wohl nur ein Schluss zu ziehen. Fazit jedenfalls: Das Ende der Fahnenstange ist erreicht. Ich fände es unaufrichtig, sich weiterhin das Gegenteil vorzumachen.«

Mit dieser unmissverständlichen Botschaft, fein säuberlich aufgeschrieben mit dem teuren Montblanc-Stift, den Paul ihr zu Weihnachten geschenkt hatte, hatte Katinka ihn in die Wüste geschickt: vorläufig ausgeschlossen aus den gemeinsamen vier Wänden an der Kleinweidenmühle, die – der Gütertrennung sei Dank – in Wahrheit einzig und allein Katinka gehörten. Paul durfte sich in sein Fotoatelier am Weinmarkt trollen. Sein Refugium, in dem er seit dem Rausschmiss in der vergangenen Woche mit seinem persönlichen Schicksal und dem Leben allgemein haderte.

Seitdem hatte es Ratschläge en masse geregnet, von echten und von sogenannten Freunden. Keine dieser Belanglosigkeiten hatte Paul weiterhelfen können, denn die wenigsten interessierte es eben wirklich, wie es ihm ging. Den Vogel hatte Victor Blohfeld abgeschossen. Der Reporter wollte Paul trösten, indem er behauptete, Paul sei für Frau Oberstaatsanwältin Katinka Blohm ohnehin nur eine Verlegenheitslösung gewesen. Sie habe ihn sich geangelt, damit sie nicht länger als alleinerziehende Mutter dastehen müsse. Das Beziehungsaus sei für Blohfeld daher schon lange abzusehen gewesen.

»Wissen Sie, Flemming«, hatte Blohfeld gesagt, »bei ihren Liebhabern mögen Frauen wählerisch sein, aber heiraten tun sie ab einem gewissen Alter jeden.« Und dann gab es als Trostpflaster noch einen Tipp des Fachmanns obendrauf: »Wer auch immer sagt, Liebe könne man nicht kaufen, hat nicht genug Geld. Gehen Sie ins Bordell, Flemming. Dort bekommen Sie, was Sie brauchen, und haben anschließend keinen Stress.«

Nun gut. Von Blohfeld konnte Paul nichts anderes erwarten. Er war, wie er war. Als große Enttäuschung hatte sich aber leider auch Jasmin Stahl erwiesen, mit der Paul sich dank jahrelanger Freundschaft stark verbunden fühlte. Statt ihm Trost zu spenden und Geborgenheit zu bieten, wimmelte sie ihn mit Plattitüden ab – wohl weil sie ihrem neuen Freund, dem Stararchitekten, keinen Grund zur Eifersucht bieten wollte. Eine ganz schwache Nummer, wie Paul fand.

So auch heute Morgen: Eigentlich hatten sie sich zu einem gemeinsamen Frühstück beim Bäcker am Weißen Turm verabredet, von wo aus es Jasmin anschließend nicht weit bis zu ihrem Büro im Polizeipräsidium gehabt hätte. Paul war dafür extra früh aufgestanden. Doch gerade als er losgehen wollte, erreichte ihn die Absage. Ihr war schon wieder etwas dazwischengekommen. Angeblich ein neuer Fall. Jasmin hatte etwas von einem Toten auf einem Fahrgastschiff angedeutet, aber so langsam mochte Paul nicht mehr daran glauben, dass sie sich wirklich mit ihm treffen wollte. »Der Tote ist nach unserem Frühstück immer noch tot«, hatte er sie umzustimmen versucht. Vergebens.

Letztendlich landete Paul bei Hannes Fink. Der Pfarrer von St. Sebald, ein guter Freund seit über einem Jahrzehnt, griff seine Sorgen auf. Und er nahm sich Zeit, um mit Paul eine Lösung für seine Probleme zu finden: Im rustikalen Esszimmer des Pfarrhauses saßen sie bei Eiern mit Speck und starkem schwarzen Kaffee beisammen und suchten nach Gründen für Pauls Ehekrise.

»Also, noch einmal von Anfang an«, sagte der Geistliche mit gemütlicher Brummstimme. »Womit genau hast du deine Frau so sehr verärgert, dass sie dir den Koffer vor die Tür gestellt hat?«

»Eigentlich geht es in erster Linie gar nicht um Katinka und mich.«

Fink hob die linke Braue. »Sondern?«

»Um ihre Tochter! Ich habe Hannahs Liebhaber vergrault, woraufhin sie nach Südamerika durchgebrannt ist, was mir ihre Mutter zutiefst verübelt. Und zwar so sehr, dass sie all das, was uns verbindet, in Zweifel stellt und sich von mir zurückzieht«, fasste Paul zusammen, was er für den Auslöser der Misere hielt.

Fink hinterfragte das nicht, merkte jedoch an, dass dies wahrscheinlich nur die Spitze des Eisbergs sei und der wahre Kern der Probleme tiefer liege. »Denk an den Brief, den Katinka dir geschrieben hat«, erinnerte er Paul. »Darin ist nicht die Rede von Hannah, sondern nur von dir.« Er riet Paul, an sich zu arbeiten, um offener zu werden für das, was für eine gesunde Beziehung wichtig sei. »Und deshalb empfehle ich dir, den Rauswurf aus eurer gemeinsamen Wohnung als Chance zu begreifen«, schloss Fink und wischte sich mit der Handkante einige Krümel Eigelb vom Schnauzbart. »Nutze die Auszeit, um zu dir selbst zu finden. Wenn du mit dir im Reinen bist, wirst du offener für das sein, was andere von dir erwarten, insbesondere deine Frau.«

Paul neigte den Kopf und sah den Geistlichen zweifelnd an. »Ich soll zu mir selbst finden? Und wie, bitte sehr, soll ich das deiner Meinung nach anstellen?«

»Weißt du Paul, es gibt etliche verborgene Wurzeln, die erst dann ausschlagen, wenn die Menschen in die mittleren Jahre kommen.«

»Wurzeln? Kannst du mir bitte etwas weniger bildlich erklären, was deiner Meinung nach mein Problem ist?«

»Es besteht jedenfalls kein Grund zur Panik, Paul. Das, was du derzeit durchmachst, ist ganz normal. Es entspricht der Maslowschen Bedürfnispyramide, dass man sich eines Tages auf die Sinnsuche begibt. Diese Entwicklung wird meist erst durch eine Krise angestoßen.«

»Die Krise ist definitiv da. Mit der Sinnsuche tue ich mich allerdings schwer. So ganz ohne Anleitung …«

Fink nickte ihm aufmunternd zu. »Du möchtest wissen, wie du zu dir selbst findest? Dann habe ich einen Vorschlag für dich.«

»Ich bin gespannt. Lass mal hören.«

»Geh ins Kloster!«

Paul musste unwillkürlich lachen. Dass Hannes Fink selbst bei einem so existenziellen Thema nicht seinen Sinn für Humor verlor, gefiel ihm. Denn es war ja wohl ein Scherz, dass der Pfarrer ihn in ein Kloster schicken wollte. – Oder?

»Das meine ich durchaus ernst«, sagte Fink, ohne eine Miene zu verziehen. »Im Kloster geht es um Ruhe, um Besinnung und Inspirationen. Um Selbsterkenntnis und eine neue Einstellung zum Leben.«

Pauls Kinnlade klappte nach unten, und er brauchte eine Weile, bis er auf Finks überraschende Idee eingehen konnte: »Sind Klöster nicht katholisch?«, fragte Paul in der Absicht, den Vorschlag als für einen Lutheraner abwegig ausschlagen zu können. »Nehmen die denn überhaupt einen Protestanten wie mich? Wohl nicht, oder?«

»Es gibt auch evangelische Klöster. Trotz Luther«, entgegnete Fink mit einem Augenzwinkern. »Du liegst zwar insofern richtig, als Luther – der bis 1517 ja selbst katholischer Mönch gewesen war – die Institution Kloster abschaffen wollte und in den protestantischen Landesteilen bereitwillige Helfer in Person der Landesfürsten fand. Die haben die reichen Klöster enteignet und als Wirtschaftsbetriebe weitergeführt. Aber etliche blieben eben doch erhalten. Im Übrigen würden dich auch die katholischen Klöster aufnehmen. Davon abgesehen macht es heutzutage kaum noch einen Unterschied, denn die Ökumene ist weit fortgeschritten: Evangelische und katholische Bischöfe pilgern mittlerweile ja sogar zusammen ins Heilige Land.«

Paul merkte, wie sich ein Kloß in seinem Hals bildete, als er einsah, dass ihn der Pfarrer nicht so einfach davonkommen lassen würde: »Was erwartet mich denn dort? Ein Leben wie ein Mönch?«

»Ein Leben ähnlich dem der Mönche«, antwortete Fink vollkommen offen. »Das Ganze hat etwas mit Reduzierung und Entschleunigung zu tun, mit dem Besinnen auf das Wesentliche.« Manchmal seien allein schon die kargen Zimmer Reduktion, die einem beim Loslassen helfen, erläuterte Fink. Im Übrigen werde jedem Gast mit viel Geduld begegnet und es gebe so viel Hilfestellung, wie man brauche. Letztendlich komme es aber darauf an, was man selbst daraus mache. »Wenn du zum Beispiel vier Romane mitnimmst und dort durchliest, kommst du zwar zur Ruhe, fliehst jedoch trotzdem aus der Stille. Denn du lenkst dich ab von der Besinnung.«

»Verstehe«, sagte Paul und kaute nachdenklich auf seinen Lippen. Ob das wirklich etwas für ihn wäre? Er wusste nicht recht, wie er zu der Idee stehen sollte.

Fink schien seine Zweifel zu spüren, denn er sagte: »Die Entscheidung, aus dem Klosteraufenthalt etwas mitzunehmen, kann nur aus dem eigenen Willen heraus entstehen. Entweder man lässt sich darauf ein oder eben nicht. Es liegt bei jedem selbst.«

Paul wusste, dass es der Pfarrer gut mit ihm meinte, doch konnte sich Paul als Kirchenmuffel nur schwer mit dem Gedanken anfreunden. »Gesetzt den Fall, ich würde mich wirklich zu einem Klosteraufenthalt hinreißen lassen: Müsste ich dann etwa auch an deren Gottesdiensten teilnehmen?«, wollte er wissen.

»Nein, es ist meist freiwillig, die Gebetszeiten wahrzunehmen. Wobei diese den Tag strukturieren und begleiten und viele Impulse geben können. Du darfst dir das nicht als brottrockene Angelegenheit vorstellen: Es wird gesungen, und es hat nicht viel mit den herkömmlichen Gottesdiensten, die du aus deiner Konfirmationszeit kennst, zu tun. Glaub mir: Sich eine Zeit darauf einzulassen, öffnet Herz und Seele für Neues.«

Paul ließ diese Auskünfte auf sich wirken und dachte, dass ihm diese gänzlich neuen Erfahrungen vielleicht wirklich guttun könnten. Nun wollte er es genauer wissen: »Welche Rechte und Pflichten habe ich während meines Aufenthalts im Kloster?«

»Das kommt darauf an, welche Form und welche Zeit du wählst. Mitarbeiten in der Gemeinschaft gehört dort immer dazu. Das fordert den Geist und bringt dich auf andere Gedanken.«

»Mmmm.« Paul sah in die großen, dunklen Augen seines Gegenübers. »Du meinst also, dass ich in meiner Lage von einem Klosteraufenthalt profitieren würde?«

»Ich bin fest davon überzeugt! Es hilft dir, die Antworten auf deine Fragen zu finden. Denn diese kannst nur du allein für dich beantworten: Wer bin ich? Was treibt mich bewusst und unbewusst an? Bin ich frei in meinen Entscheidungen? Was beeinflusst mein Verhalten und meine Entscheidungen?« Fink blickte ihn intensiv an. »Du musst Verantwortung für dich und dein Leben übernehmen, Paul. Wenn dir das gelingt, hast du auch die Kraft und Überzeugung, deine Ehe zu retten. Verantwortung kann man im Kloster üben. Man lernt achtsam mit sich und seinem Leben umzugehen und damit auch in seinen Beziehungen mit seinen Mitmenschen.«

So abwegig wie Paul den Gedanken an einen Aufenthalt im Kloster am Beginn ihrer Unterhaltung empfunden hatte, so sehr freundete er sich nun mehr und mehr mit dieser Möglichkeit an. Er erkundigte sich danach, wo es denn Klöster gebe, die bereit seien, Leute wie ihn kurzfristig aufzunehmen. Denn auf die lange Bank schieben wollte er sein Vorhaben nicht. Und zu weit weg sollte es auch nicht sein.

Fink machte ihm mehrere Vorschläge für Adressen in Franken, genauer gesagt in Unterfranken: der Benediktushof, ein Zentrum für Meditation und Achtsamkeit, sei überkonfessionell, unabhängig von Kultur und Religion und dadurch offen für alle. Ein perfekter Ort, um eine Auszeit zu nehmen, zu sich selbst zu kommen und sich auf Wesentliches zu besinnen, meinte Fink. Dabei kämen Zen und Kontemplation zur Anwendung. Eine wichtige Rolle spiele auch Yoga.

»Yoga? Ach nein. Ich möchte mich nicht zu sehr verbiegen«, meinte Paul, woraufhin der Pfarrer mit der nächsten Empfehlung aufwartete.

Schwanberg sei zwar eigentlich ein Kloster für Frauen innerhalb der Evangelisch-Lutherischen Kirche, nehme aber auch männliche Gäste auf Zeit auf. Diese Ordensgemeinschaft lebe im Geiste der Regeln des heiligen Benedikt.

»Ein Frauenkloster wäre kontraproduktiv, denn von Frauen will ich mich ja gerade erholen«, lehnte Paul ab.

Als Nächstes trug ihm Pfarrer Fink die Abtei Münsterschwarzach an. Dem Klostergast werde die Möglichkeit zu individuellen Seelsorgegesprächen und geistlicher Begleitung geboten.

»Das geht mir zu sehr ins Persönliche«, fand Paul.

Fink stöhnte, bevor er eine weitere Option aus dem Hut zauberte: »Das Jakobus-Kloster bei Würzburg ist genau das, was du suchst. Das Gästehaus steht für Einzelgäste offen, die einige Tage dabei sein möchten, ohne dass sie sich zu irgendetwas verpflichtet fühlen müssen. Wenn sie mögen, können sie sich dem klösterlichen Tagesrhythmus anschließen und an den Gebetszeiten teilnehmen und werden aus der Klosterküche verpflegt.«

»Klosterküche? Klingt verlockend«, meinte Paul. »Gibst du mir die Adresse?«

»Mache ich gern. – Aber von der Küche versprich dir bitte nicht zu viel …«

Der Europakai am Rhein-Main-Donau-Kanal gegenüber dem Nürnberger Frachthafen war die Adresse, zu der Oberkommissarin Jasmin Stahl beordert wurde.

Der Anruf, mit dem sie unerwartet zur Leiterin einer Sonderkommission berufen worden war, hatte sie beim frühmorgendlichen Joggen durch den Pegnitzgrund erreicht. Kurz vor ihrem Frühstück, zu dem sie sich eigentlich mit ihrem alten Freund Paul Flemming verabredet hatte und das sie leider platzen lassen musste. Es war ein Auftrag, den sie mit gemischten Gefühlen annahm. Denn wie es hieß, würde sie es mit dem Mord an einem Amerikaner zu tun bekommen. Da waren Ärger und Kompetenzgerangel mit der US-Botschaft vorprogrammiert. Aber was sollte sie machen? Es war nun mal ihr Job.

Jasmin fuhr mit ihrem Wagen eine Rampe direkt bis zur Hafenanlage herab, einem Ort, an den es sie nur selten verschlug. Während im Hintergrund Verladekräne, Lagerhallen und Silos für hanseatisches Flair inmitten der Frankenmetropole sorgten, waren diesseits des Kanalufers mehrere elegante Personenschiffe vertäut. Ein jedes war gut und gern hundert Meter lang, mit schneeweißem Rumpf und mehrstöckigen Aufbauten. Kreuzfahrtschiffe im Westentaschenformat, aber nicht minder komfortabel als ihre riesigen Schwestern auf den Meeren.

Als Jasmin aus ihrem Auto gestiegen war und die Parade der Luxuskähne abschritt, staunte sie über die großzügig bemessenen Balkone der Außenkabinen, über Panoramascheiben und chromglänzende Handläufe. Sie hatte sich nie mit dem Thema Flusskreuzfahrt beschäftigt und war umso überraschter, wie edel die Boote ausgestattet waren.

Ihr Ziel war die MS Walküre, ein besonders elegant wirkender Kanalkreuzer. Über eine Gangway gelangte sie an Bord und in eine Art Foyer, wie sie es von vornehmen Hotels kannte. Auch hier viel Chrom, dazu Tropenholzvertäfelungen und üppige Blumendeko. Der hochgewachsenen Dame am Empfang, einer feingliedrigen Blondine mit meerblauen Augen, war nicht im Geringsten anzumerken, dass sich auf dem Schiff ein Verbrechen ereignet hatte. Ebenso wenig wie einem Mann in Uniform, der Jasmin mit einstudiertem Höflichkeitslächeln entgegentrat. Bei dem graumelierten Herrn im tadellos sitzenden dunklen Anzug handelte es sich um den Hotelmanager, wie ihr ein bereitstehender Schutzpolizist mitteilte.

»Willkommen an Bord«, sagte der Manager mit starkem amerikanischem Akzent und stellte sich mit dem Namen Mike Collins vor. »Ich begleite Sie gern zur Kabine von Mr Dexter.«

Wie Jasmin schnell feststellte, sprach offenbar nur ein Teil der Besatzung Deutsch, weshalb auch sie ins Englische wechselte, was ihr nicht schwerfiel. Auf dem Weg durch hell erleuchtete Flure, über plüschige Teppiche und vorbei an teuer aussehenden Kunstobjekten konnte sie dank Collins’ Auskunftsfreude einige Wissenslücken schließen, mit denen sie den neuen Auftrag angetreten hatte.

Denn bisher wusste sie nicht viel mehr, als dass ein Herr namens Bryan Dexter mit tödlichen Schussverletzungen in seiner Kajüte gelegen hatte, dass es die Frau des Toten gewesen war, die ihn aufgefunden und um Hilfe gerufen hatte, und dass ein mitreisender Arzt gegen zwei Uhr früh den Tod festgestellt hatte. Da sich die MS Walküre zu diesem Zeitpunkt bereits kurz vor Nürnberg befand, hatte der Kapitän entschieden, die hiesige Polizei zu verständigen und wie geplant den Nürnberger Hafen anzulaufen. Nun war Jasmin gespannt darauf, was sie vorfinden und in welchem Zustand sich der Tatort befinden würde. Da sie davon ausgehen musste, dass sich neben der Witwe und dem Arzt wahrscheinlich auch andere Helfer, Neugierige und sicher auch der Kapitän oder seine Offiziere in dem Raum aufgehalten hatten, musste sie mit einer diffusen Spurenlage rechnen.

»Können Sie mich bitte kurz ins Bild setzen«, bat Jasmin ihren Begleiter, während sie durch ein gläsernes Treppenhaus in die nächsthöhere Etage gingen. »Ich kenne mich nicht besonders gut aus in Sachen Flusskreuzfahrten. Daher wären ein paar grundlegende Informationen von Vorteil.«

»Selbstverständlich, was möchten Sie wissen?«, erkundigte sich ihr Gegenüber mit höflicher Zuvorkommenheit.

»Wie groß ist Ihr Schiff, wie viele Personen befinden sich an Bord?«

»Die MS Walküre ist einhundertfünfunddreißig Meter lang und vierzehn Meter breit.« Skizzenhaft beschrieb der Manager den Aufbau des Schiffes, angefangen beim Empfang mit Rezeption, Concierge, Shop und dem zentralen Treppenhaus. Es gab einen Businessbereich mit kompletter Büroausstattung und eine Lounge mit Entertainmentareal und Bar. Er zählte zudem Speisesaal, Bibliothek, überdachte Veranda und Sonnendeck auf und erklärte anschließend die Klasseneinteilung der Kabinen: Die günstigste Kategorie Lower Level Room verfügte über Doppelbett und Bad und befand sich knapp über der Wasseroberfläche. Die Upper Level Rooms lagen höher und hatten einen zusätzlichen Wohnraum und Balkon. In dieser Kategorie war auch der Tote untergebracht gewesen, erläuterte der Manager und ergänzte: »Derzeit befördern wir zweihundertzwei Passagiere. Hinzu kommt das Personal.«

»Wer gehört alles dazu?«, wollte Jasmin wissen.

»Grundsätzlich ist der Erste Kapitän in der Hierarchie der Endverantwortliche bei einem Ereignis wie diesem. Innerhalb unserer Reederei ist der Erste Kapitän derjenige, der in einem Notfall die alleinige Befehlsgewalt ausübt. Selbstverständlich wird er dabei von der ganzen Besatzung unterstützt, wobei die bestehende Rangfolge an Bord zum Tragen kommt.«

»Was kann ich mir darunter vorstellen?«

»Das bedeutet, dass mir als Hotelmanager die Hotelbesatzung untersteht, dem Küchenchef sein Küchenteam, dem Barmanager die Barbelegung und dem Housekeeper die Housekeeping-Besatzung. Das alles, wie erwähnt, im Auftrag und beobachtet vom Ersten Kapitän.«

»Eine Menge Menschen«, stellte Jasmin fest und ahnte, dass sie es mit einer Vielzahl von Befragungen zu tun bekommen würde. »Der Arzt, der den Toten untersucht hat, gehörte aber nicht zur Besatzung, richtig?«

»Nein, leider verfügen wir über keinen eigenen Schiffsarzt. Jedoch muss jedes Schiff laut Gesetz mindestens zwei diplomierte Ersthelfer an Bord haben, wir haben sogar drei. Im medizinischen Bedarfsfall wird in der Regel Ersthilfe geleistet und der nächstgelegene Notdienst informiert, woraufhin das Schiff anlegt und ein Notarzt an Bord kommt. In diesem Fall aber war offensichtlich, dass es dafür zu spät war. Daher entschied unser Kapitän, zunächst einen Gast zurate zu ziehen, der in der Passagierliste als Arzt gekennzeichnet ist. Da sich das Schiff noch in Fahrt befand, hat währenddessen der Steuermann das Kommando auf der Brücke übernommen, während der Zweite Kapitän die örtlichen Sicherheitsdienste informierte und unsere Ankunft im Nürnberger Hafen anmeldete.«

Das klang alles überaus professionell, fand Jasmin. Sie wusste bloß nicht, ob diese sorgsam abgestimmten Abläufe ihr bei ihrer Arbeit helfen würden.

Kurz darauf erreichten sie ihr Ziel. Neben der Tür mit der Kabinennummer 2.12 war ein Polizist postiert. Jasmin zeigte ihm ihren Dienstausweis, woraufhin er den Weg freimachte. Als sie das Innere des Raums erblickte, war sie überrascht von dessen schierer Größe. Eine Schiffskajüte hatte sie sich deutlich überschaubarer vorgestellt: als kleine Kammer mit Bullauge. Diese hier erinnerte eher an eine vornehme Suite inklusive Sitzecke, Spiegelbar und bodentiefen Fenstern mit Aussicht auf den zimmereigenen Balkon.

Doch sie war nicht gekommen, um die Kabine zu bestaunen. Ihre Aufmerksamkeit musste der Tatorterkundung gelten: Das Opfer, ein korpulenter Mann mit speckigem Gesicht und grauem Haarkranz, lag ausgestreckt auf einem Kingsize-Bett. Er wirkte entspannt, und wäre die Wunde auf seiner Brust nicht gewesen, hätte man meinen können, er schliefe.

Jasmin machte diese ersten Beobachtungen aus einer gewissen Entfernung: Sie blieb im Türrahmen stehen, denn im Zimmer hatten sich bereits die Kollegen der Spurensicherung eingerichtet. In ihren weißen Mondanzügen mit Kapuze und Mundschutz sahen sie alle gleich aus, bis auf einen, der wegen seines hünenhaften Körperbaus herausragte.

»Dr. Todt!«, sprach Jasmin den Forensiker an. »Schön, Sie mal wieder zu treffen.«

Todt war Rechtsmediziner der alten Schule, mit dem Jasmin ausgesprochen gern zusammenarbeitete. Denn im Unterschied zu manch jüngerem Kollegen legte er keinerlei Allüren an den Tag und zeigte sich offen für jede ihrer Fragen, seien sie aus der Sicht eines Arztes auch noch so naiv. Todt strahlte zudem eine Ruhe und Gelassenheit aus, die sich auf die Kollegen übertrug und die Tatortarbeit deutlich entspannte. Einzig verwunderlich fand Jasmin Todts Einstellung in Gesundheitsfragen – sich selbst betreffend: er war ja nicht nur groß, sondern ausgesprochen massig. Dass er noch dazu Kettenraucher war, förderte seine Kurzatmigkeit und hinterließ, ganz nebenbei, hässlich gelbe Verfärbungen an seinem grauen Oberlippenbart.

»Willkommen!«, begrüßte der Riese sie mit ausgeprägter Bassstimme. »Ist mir stets ein Vergnügen, Sie zu sehen, Frau Stahl – nur leider sind die Begleitumstände meistens weniger erbaulich.«

»Da haben Sie recht«, pflichtete Jasmin ihm mit Blick auf die Leiche bei. »Können Sie mir etwas über den Tathergang berichten?«

»Habe ich gerade schon Ihrem jungen Kollegen.«

Junger Kollege? Dr. Todt musste Polizeikommissariatsanwärter Timo Schlelein meinen, einen Azubi, der ihrer Soko zugeteilt worden war, folgerte Jasmin. Da sich der junge Mann nicht im Raum aufhielt, fragte sie: »Wo ist Schlelein jetzt?«

»Bei der Witwe«, antwortete Todt. »Er sagte, dass er sie vernehmen will.«

Jasmin ärgerte sich und wäre Schlelein gern zuvorgekommen, denn die Erfahrung hatte gezeigt, dass es sich bei den meisten Tötungsdelikten um Beziehungstaten handelte und somit die Ehefrau des Verstorbenen als Tatverdächtige Nummer eins angesehen werden musste. Aber Schlelein war noch zu grün hinter den Ohren, um diese Erkenntnis zu nutzen und ein Geständnis zu erwirken. Jasmin befürchtete, dass der Jungsporn Jasmin ins Handwerk pfuschen und die Witwe durch unbedachte Fragen kopfscheu machen würde.

Daher hatte sie es eilig, selbst die Hinterbliebene aufzusuchen, um zu verhindern, was noch zu verhindern war. Von Hotelmanager Collins, der im Flur gewartet hatte, ließ sie sich zu einem Besprechungszimmer führen, in dem man Mrs Dexter vorerst untergebracht hatte. Jasmin atmete auf, als sie Schlelein vor der Tür des Konferenzraums vorfand. Der hochgewachsene Polizeianwärter mit athletischer Figur und vollem, heublonden Haar trug lässige Freizeitkleidung: Bluejeans und graues Sweatshirt. Als er sie aus großen, wasserblauen Augen ansah und lächelte, konnte sie ihm schon nicht mehr böse sein.

»Guten Morgen, Kollege«, grüßte sie ihn. »Ich hoffe, Sie haben nicht vorgegriffen und mit der Hinterbliebenen gesprochen.«

»Natürlich nicht«, sagte er mit vollkommen überzeugender Selbstverständlichkeit und zerstreute damit Jasmins Befürchtungen. »Ich passe bloß auf, dass sie bleibt, wo sie ist. Die Dame wollte nämlich von Bord. Sich die Beine vertreten, wie sie sagte. Aber der Kapitän hat es allen untersagt, das Schiff zu verlassen.«

Glück gehabt, dachte Jasmin und nahm sich vor, dem jungen Kerl etwas mehr Verantwortung zuzugestehen. Das musste sie auch. Denn ihre Soko bestand nur aus ihr selbst und Timo Schlelein. Später würden zwar voraussichtlich weitere Kollegen folgen, doch zunächst waren sie auf sich allein gestellt und konnten lediglich auf die Unterstützung einiger Beamter in Uniform zurückgreifen.

»Der Käpt’n hat also so eine Art Quarantäne verhängt, was uns sehr gelegen kommt. Haben Sie sonst etwas in Erfahrung bringen können?«, fragte sie.

»Ja, ein Vertreter der Hafenbehörde hat mir ein paar aufschlussreiche Zahlen nennen können. Man hat den Nürnberger Hafen normalerweise ja gar nicht so auf dem Schirm. Ich wusste nicht, wie groß die Kaianlagen sind, bis ich hier war.«

»Was hat Ihnen der Hafenmensch denn sagen können?«, erkundigte sich Jasmin.

»Eine ganze Menge! Wussten Sie zum Beispiel, dass Nürnberg Jahr für Jahr von mehr Passagierkähnen angesteuert wird und sich daraus ein regelrechter Schub für den Fremdenverkehr entwickelt hat?«

»Nein«, gestand Jasmin freimütig ein. »Bis vor Kurzem wusste ich nicht einmal, dass Nürnberg einen Anleger für Personenschiffe hat. Ich dachte, es gebe nur den Frachthafen.«

»Eben nicht! Noch interessanter ist, dass es sich bei neunzig Prozent der Passagiere um gut begüterte US-Amerikaner handelt, die meisten im Rentenalter. Daher wird an Deck nur Englisch gesprochen.«

»Hat das auch der Mann von der Hafenbehörde gesagt?«, fragte Jasmin.

»Nein, eine Yogalehrerin, die Fitnesskurse an Bord anbietet«, antwortete Timo Schlelein. Daran, dass sich seine Wangen rosa färbten, las Jasmin ab, dass es sich um eine ziemlich attraktive Animateurin gehandelt hatte.

»Wie gehen wir vor?«, fragte Schlelein schnell, weil er sich wohl ertappt fühlte.

»Der Tote wurde von seiner Frau gefunden. Also vernehmen wir als Erstes die Witwe und fixieren ihre Aussage schriftlich«, spulte Jasmin das übliche Prozedere ab. »Diese legen wir dem Ermittlungsrichter vor, denn vielleicht reicht das schon als Grundlage für einen Haftbefehl.«

»Sie gehen von einer Beziehungstat aus?«

»Es ist das Nächstliegende. Stirbt ein Ehepartner eines gewaltsamen Todes, steckt in den allermeisten Fällen der Mann beziehungsweise die Frau dahinter.«

»Und wenn sie es nicht gewesen ist?«, gab Schlelein zu bedenken. »Immerhin gibt es Zeugen, die aussagen, dass sie sich bis kurz vor Entdeckung des Mordes in der Bar aufgehalten hatte.«

»Woher wissen Sie das? Haben Sie etwa doch schon mit den Befragungen begonnen, Timo?«

»Nein. Der Kapitän hat es mir gesagt.«

Jasmin hob die Brauen. »Ach ja?« Der junge Kollege schien mehr auf Zack zu sein, als sie angenommen hatte. Das gefiel ihr und spornte den eigenen Ehrgeiz an. »Wir stellen selbstverständlich die Personalien aller Passagiere und Besatzungsmitglieder fest. Das ist eine schöne Aufgabe für Sie: Setzen Sie sich mit der Reederei in Verbindung und lassen Sie sich die Listen mit sämtlichen Namen geben, damit Sie Person für Person abhaken können.« Sie zwinkerte ihm zu. »Bei der Gelegenheit können Sie auch einige technische Informationen einholen: etwa die Geschwindigkeit, mit der die MS Walküre auf dem Kanal unterwegs ist.«

»Wozu soll das gut sein?«

»Nun, wahrscheinlich ist die Hinterbliebene die Täterin, oder der Pistolenschütze ist unter den Passagieren beziehungsweise der Besatzung zu finden. Doch wir dürfen nicht außer Acht lassen, dass der Mörder ebenso gut von außerhalb gekommen sein könnte. Zum Beispiel, indem er ein kleines Motorboot benutzte und nach der Tat wieder verschwand. Man sollte frühzeitig klären, ob dies eine reale Option ist oder wir den Schuldigen definitiv im Kreis derjenigen zu suchen haben, die sich an Bord befinden. Also: Auf ans Werk! Fangen Sie mit dem Check der Gästeliste an.«

Timo Schlelein machte große Augen. »Das kann dauern. Aber so viel Zeit haben wir nicht. Das Schiff läuft doch schon heute Abend wieder aus.«

»Keine Sorge, das wird nicht passieren«, sagte Jasmin mit dem abgeklärten Lächeln einer erfahrenen Kripofrau. »Die Staatsanwaltschaft wird die MS Walküre vorerst an die Kette legen. Trotzdem sollten Sie nicht trödeln, denn wirtschaftliche Interessen können der Polizeiarbeit durchaus in die Quere kommen. Wir werden einen zusätzlichen Tag zur Verfügung haben, allenfalls zwei.«

Nicht viel Zeit, wenn sich der Täterkreis nicht sehr bald einschränken ließe, dachte Jasmin und setzte daher große Hoffnung auf einen Erfolg der Erstbefragung von Dexters Witwe.

»Ich sage es doch: Alles bestens. Mach dir bitte keine Sorgen, Mami!«

Diese Worte, die als Beruhigung dienen sollten, verfehlten ihren Zweck. Katinka Blohm starrte noch immer auf den Bildschirm ihres PCs, obwohl die Skype-Verbindung zu ihrer Tochter schon seit fünf Minuten beendet war. Sie hatten heute ungewöhnlich lange miteinander gesprochen. An sich ein gutes Zeichen, fand Katinka. Denn für gewöhnlich hatte sich Hannah in den letzten Monaten extrem kurz gehalten und kaum den Kontakt zu ihrer Mutter gesucht. Was sie dort drüben in Südamerika trieb, darüber ließ Hannah sie weitgehend im Unklaren. Katinka wusste lediglich, dass sich Hannah mit verschiedenen Hilfsjobs durchschlug, weil ihre Ersparnisse von zu Hause natürlich längst aufgebraucht waren. Ebenso wusste sie, dass Hannah mehrfach die Wohnung gewechselt hatte. Bei ihren Facebook-Freunden, ihrer ersten Anlaufstelle, war sie schon nach kurzer Zeit wieder ausgezogen. Es folgten Aufenthalte in verschiedenen WGs. Aktuell teilte sie sich ein Zimmer mit einer israelischen Studentin.

Aber ob Hannah glücklich war, ob sich ihre Träume im Ausland erfüllten oder ob es gar einen neuen Mann in ihrem Leben gab – all diese Informationen enthielt sie Ka­tinka vor. Besonders kurz angebunden war Hannah, wenn Katinka sich nach ihrer Rückkehr erkundigte. Denn dass sie nicht dauerhaft auf der anderen Seite des Atlantiks bleiben würde, schien für Katinka eine klare Sache zu sein. Schließlich war es Hannah bei ihrer überstürzten Flucht in die Ferne darum gegangen, dass die Wunden heilen, die die geplatzte Verlobung mit dem Mann ihres Herzens, Alexander, hinterlassen hatte. Der Heilungsprozess dürfte nach all den Monaten abgeschlossen sein, fand Katinka, der Rückkehr stand also nichts mehr im Weg.

Doch noch war Hannah offenkundig nicht so weit, sich Katinkas Meinung anzuschließen. Sie konnte oder wollte sich nicht dazu durchringen, ein Rückreisedatum zu nennen. Daher blieb Katinka nichts weiter übrig, als auf die Vernunft ihrer Tochter zu hoffen und darauf zu bauen, dass sie ihr Flugticket bald kaufen würde. Das wünschte sich Katinka nicht nur, um ihr Mutterherz zu beruhigen, sondern es gab auch handfeste monetäre Gründe: Noch konnte Hannah ihren alten Job im Kulturamt der Stadt Nürnberg wiederhaben, da ihr Auslandsaufenthalt als Sabbatjahr eingestuft wurde. Das Sabbatical wurde vom Arbeitgeber wie ein Jahr mit Teilzeitarbeit oder eine komplette Auszeit vom Arbeitsleben betrachtet, also als eine längere Pause mit Rückkehrmöglichkeit. Katinka vertraute auf das Verantwortungsbewusstsein ihrer Tochter und ging davon aus, dass sie die Frist dafür nicht verstreichen lassen würde und bald zurückkäme.

Bis es so weit war, musste Katinka jedoch für Ablenkung für sich selbst sorgen. Denn sie konnte es nicht ertragen, sich in Selbstmitleid zu suhlen und abwechselnd ihrer Tochter und ihrem vor die Tür gesetzten Mann nachzutrauern. Sie vermisste beide schrecklich! Hannah ebenso wie Paul.

Die gewünschte Abwechslung kam in Form einer Leiche: Die Kripo ermittelte am Personenhafen, und wie es aussah, war dies ein Fall für sie als Oberstaatsanwältin, denn bei dem Toten handelte es sich um einen US-Amerikaner. Eine heikle Angelegenheit, die höchstes diplomatisches Geschick erforderte.

Katinka krempelte die Ärmel ihrer Bluse hoch und spornte sich an: »An die Arbeit!«