Frau des Himmels und der Stürme - Wilfried N'Sondé - E-Book

Frau des Himmels und der Stürme E-Book

Wilfried N'Sondé

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Beschreibung

Der Schamane Num vom Nomadenvolk der Nenzen entdeckt im aufgetauten Permafrostboden Russlands das über 10.000 Jahre alte, prunkvolle Grab einer Schwarzen Frau. War sie eine Königin? Unser aller Urmutter? Haben die sibirischen Völker der Jamal-Halbinsel womöglich Vorfahren aus Afrika? Zur gleichen Zeit werden in derselben Gegend riesige Erdgasvorkommen gefunden, deren Ausbeutung das empfindliche ökologische Gleichgewicht der arktischen Tundra zu zerstören droht. Der Schamane sucht, bestärkt durch das meditative Zwiegespräch mit der »Afrikanerin der Arktis«, Unterstützung bei einem befreundeten französischen Wissenschaftler, der schleunigst ein Forschungsteam zusammenstellt. Gemeinsam mit einer deutsch-japanischen Rechtsmedizinerin und einem nach Sinn suchenden Anthropologen mit kongolesischen Wurzeln bricht er zu einer geheimen Expedition auf die Jamal-Halbinsel auf. Der sensationelle Grabfund könnte die Ausbeutung der Erdgasvorkommen stoppen und die Natur vor der Zerstörung bewahren. Doch das Expeditionsteam hat es mit mächtigen und skrupellosen Gegnern zu tun: der russischen Mafia samt ihren Handlangern und Speichelleckern. Selbst der Neffe des Schamanen ist vom Versprechen des schnellen Geldes geblendet – bis zum Showdown unter der Mitternachtssonne.

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WILFRIED N’SONDÉ

FRAU DES HIMMELS UNDDER STÜRME

ROMAN

AUS DEM FRANZÖSISCHEN VON BRIGITTE GROSSE

Die Übersetzung dieses Werkes wurde gefördert durch das Centre national du livre (CNL).

Dieses Buch erscheint im Rahmen des Förderprogramms des Institut Français.

Die Arbeit der Übersetzerin am vorliegenden Text wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert im Rahmen des Programms „NEUSTART KULTUR“ der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.

Deutsche Erstausgabe 2023 

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel

Femme du ciel et des tempêtes bei Actes Sud.

Copyright © Actes Sud, 2021 

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe:

2023 by Kopf & Kragen Literaturverlag, Berlin

Herausgeber: René Koch

www.kopfundkragen-verlag.de

Übersetzerin: Brigitte Große

Lektorat: Katharina Gerhardt

Satz und Korrektorat: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

Umschlaggestaltung: Ruben August Fischer

Illustration: Ignacia Ossandón

ISBN (Hardcover) 978-3-949729-10-2 

ISBN (E-Book) 978-3-949729-11-9

Für Marina, Tochter Burjatiens … die jetzt auf der anderen Seite der Wolken weilt.

Uns erschien die Erde sanft, und wir lebten erfüllt von den Wohltaten des Großen Mysteriums. Die Lakota wussten seit je: Wenn der Respekt, der allem gebührt, was wächst und lebt, in Vergessen­heit gerät, wird auch der Mensch nicht mehr respektiert.

STANDING BEARCHIEF LAKOTA (SIOUX)

Die sintflutartigen Regenfälle hatten vor ein paar Stunden aufgehört, als Num beschloss, sein Zelt zu verlassen. Er zog die Stiefel und den langen Mantel aus Rentierfell an und blickte forschend zum Horizont. Das Tempo, in dem sich die dicken, trägen Wolken durch das Grau schoben, verriet ihm, dass die Aufhellung eine Weile dauern würde – jetzt war es Zeit! Er holte Luft und ging hinaus, dem trüben und immer noch bedrohlich tief hängenden Himmel entgegen. Auch die heftigen Böen, die auf ihrem Weg über das Nordpolarmeer und die Moore rundum immer mehr Kälte eingesammelt hatten, konnten ihn bei seinen ersten Schritten über die durchnässte Ebene nicht entmutigen. Er runzelte die Stirn, senkte den Kopf und sprach sich selbst leise Mut zu: »Nur zu, diesmal wird’s!« Dann schritt er beherzt weiter aus. Wegen des schlechten Wetters in den letzten Tagen hatte er viel zu lange vor dem Ofen gesessen und endlose Stunden trübselig wartend und schlotternd im Halbdunkel seiner Behausung zugebracht. Jetzt konnte ihn nichts mehr daran hindern, auf den Gipfel des Hügels zu steigen, um sich dort in Gebet und Meditation zu versenken. Schon fast einen Monat lang hatte er sich Tag für Tag beklommenen Herzens diesen Gang auferlegt, damit die Ahnen seine Klage endlich vernahmen und vor allem bald erhörten. Und jedes Mal war er enttäuscht zurückgekehrt, ohne ein Zeichen, ohne eine Antwort erhalten zu haben. Doch er blieb hartnäckig und gab nicht auf, denn die Hilfe der Ahnen war seine letzte Hoffnung.

Nur das regelmäßige Pfeifen und Heulen der Böen, unter denen sich die wenigen Büsche der Ebene duckten, durchbrach die Stille, in der die Minuten quälend langsam vergingen. Auch Num duckte und krümmte sich auf seiner Wanderung. Zum Schutz zog er sich die weite Kapuze über den Kopf, dann bohrte er seinen Blick einen Moment lang in den Matsch, ballte die in die Ärmel zurückgezogenen Hände zu Fäusten und richtete sich, jetzt noch entschiedener, mühsam auf. Doch rund hundert Meter vor dem Aufstieg nahm das Toben des Windes weiter an Heftigkeit zu und bremste ihn in seinem Schwung. Mit Wut im Bauch drehte und wendete sich der Schamane, kam aber nicht voran. Wie ungerecht waren doch die vielen Hindernisse auf seinem Weg und das Wüten der Elemente, wo er doch gar nichts für sich wollte, es ging ihm nicht um Aufmerksamkeit für seine Person! Sein unermüdliches Flehen sollte die Mächte des Jenseits zum Eingreifen bewegen, um diesen wunderbaren Ort im Westen der noch unberührten, wilden Jamal-Halbinsel vor der Zerstörung zu schützen und dessen Harmonie für immer zu bewahren. Zum Schutz der Tiere, der Pflanzen und der Erde, auf der sie gediehen. Num sammelte all seine Kräfte, raffte sich noch einmal auf und setzte seinen Weg fort. Jetzt begann der schwierige Aufstieg durch den Morast an der Flanke des Hügels.

Außer Atem und mit schmerzendem Rücken erklomm der Schamane ein paar Meter des Hanges, legte dann eine Pause ein, hockte sich hin und verschränkte die Arme auf den Knien. Während er sich mit dem Ärmelaufschlag den Schweiß von der Stirn wischte, begann es auf einmal unter seinen Füßen zu rumoren. Die durchweichte Erde bebte bedrohlich und geriet ins Rutschen. Ein schlechtes Vorzeichen, dachte er. Was hatte er bloß verbrochen, dass die tobende Natur ihm so seine Schwäche vor Augen führen musste? Musste sie ihn daran erinnern, was für ein unbedeutendes Stäubchen er war, verloren im grenzenlosen Universum? Helle Angst befiel ihn. Mutterseelenallein in dieser ausweglosen Lage, konzentrierte sich der Sechzigjährige darauf, das Adrenalin, das seine Adern flutete, im Griff zu behalten und stoisch Ruhe zu bewahren, obwohl seine Schuhe langsam im Torf versanken. Er musste unbedingt positive Energien mobilisieren, um die wachsende Panik im Zaum zu halten. Schon wieder wurde ihm, dem Einsiedler, eine Prüfung auferlegt, die für Normalsterbliche unerträglich wäre! Er versuchte, sie zu bestehen, doch noch immer drang ein tiefes Grollen aus dem Inneren des Berges. Plötzlich rissen die Mineralschichten auf, und der felsige Untergrund spaltete sich mit einem ohrenbetäubenden Knall. Verzweifelt versuchte der Schamane, den Willen der Materie zu deuten und den Sinn dieser von weither kommenden Botschaft zu verstehen. Doch er hörte nichts in dem Getöse, nur das dumpfe Pochen seines Blutes in den Schläfen angesichts der Gefahr der totalen Vernichtung. Isoliert und machtlos inmitten des großen Ganzen, im Herzen des Chaos, suchte Num Zuflucht in einer tiefen Trance, als auf einmal ein Strom aus Kies und Schlamm aus den Eingeweiden der Erde brach und sich ein breites Bett bis zum Fuß des Hügels bahnte. Dem Schamanen blieb nur noch eine letzte Hoffnung: Er würde sich von den Elementen tragen lassen, ihre Bewegungen und Entscheidungen respektieren und, wenn nun sein letztes Stündlein geschlagen haben sollte, die Weltengrenzen überschreiten und mit Frieden im Herzen durch die Wolken gehen.

In seiner Levitation zwischen dem Gipfel des Hügels und dem brodelnden Moor, das ihn in den Abgrund zu saugen drohte, vernahm Num ein Flüstern, als ob Mutter Erde nach ihm riefe. Irgendwann geriet der Aufruhr ins Stocken. Nachdem ein gewaltiger Erdrutsch große Placken aus dem bebenden Hang etwa fünfzehn Meter in die Tiefe gerissen hatte, versiegte der Strom aus Kies und Schlamm, und die Erde kam langsam zur Ruhe. Auch der Schamane fand wieder festen Halt. Die Füße im braunen Wasser, stand er vor Sedimenten, die seit Jahrtausenden kein Tageslicht gesehen hatten.

Ein leuchtender Punkt aus der Tiefe interessierte und faszinierte Num. Er widerstand dem Schillern, das sich immer stärker ausdehnte, bis es ihn umhüllte und an sich zog. In seiner Meditation flüsterte ihm eine Stimme ein, sich dem Punkt zu nähern und seine Finger in den Lehm zu tauchen. Kaum hatte er den Boden berührt, zog dieser sich zurück und gab eine etwa dreißig Zentimeter große Öffnung frei. Ein feiner goldener Strahl, dessen Bahn Num mit zusammengekniffenen Augen folgte, fiel in den Hohlraum darunter, streifte die Spitze eines Elfenbeinzepters und blieb auf den Silberplättchen eines prunkvollen Brustschmucks liegen. Num zuckte erschrocken zurück, begann dann aber das Grab in der winzigen Höhle genauer zu erforschen.

Vor ihm lagen die sterblichen Überreste einer Frau, und zwar dergestalt, dass sie ihn, auf ihre Ellbogen gestützt, anzusehen schien. Als Erstes fielen ihm ihr hübsch geflochtenes lockiges Haar und ihre dunkle Hautfarbe auf. Die reichen Grabbeigaben, der Schmuck aus kunstvoll durchbohrten Perlen und Muscheln, auf dessen Fragmenten ihr Körper gebettet war, ließen ihn an eine afrikanische Königin aus längst vergangenen Zeiten denken.

Offenbar hatte es ihn an jenen Ort verschlagen, an dem sich die irdische Welt und das Jenseits trafen. Endlich konnte er Kontakt mit dem Gedächtnis der Toten aufnehmen! Num dankte dem Himmel für den vorwitzigen Sonnenstrahl, dessen zarte Berührung die im Permafrost begrabene Frau wiedererweckt hatte. Als das volle Tageslicht auf das Grab fiel, löste sich ein durchscheinender Schatten von der Toten und schwebte eine Weile über dem Skelett mit dem üppigen Haar und der über die Knochen gespannten Haut, die dem Zahn der Zeit widerstanden hatten – nach einer Ewigkeit im Schattenreich war ihre Seele wieder zurück in der Welt der Lebenden. Wie hypnotisiert grub Num mit bloßen Händen die Füße der Toten aus und reckte den Kopf, um ins Innere des Grabes zu sehen. Das Schillern wurde immer stärker, bis es zu einem Strahlen anschwoll, das den furchtsamen alten Mann verstörte. Vergebens versuchte er, sich aus der extremen Helligkeit zu lösen, und beruhigte sich erst, als sie wieder abnahm.

Die Frau eröffnete Num die Erinnerung eines sehr alten Volkes. Bilder entstanden und strömten in einer ununterbrochenen Flut auf seine Seele ein. Sie führte ihn von ihrem Heiligtum aus auf eine Reise durch die Jahrtausende, die seit ihrem Tod vergangen waren, eine Reise rückwärts bis in jene unvordenklichen Zeiten, da Fischer, Jäger und Sammler den Winden und den Jahreszeiten folgten – Nomaden in einer gerecht verteilten Welt, achtsame, bedachte Wanderer, die sich bescheiden in das fügten, was die Natur ihnen gewährte, und ihr Respekt erwiesen, indem sie nie mehr Raum in Anspruch nahmen, als sie für ihr Überleben brauchten. Voller Begeisterung erkannte Num in den Herzen der Frauen und Männer jener Zeit seine eigene Verbundenheit mit dem Frieden der Schöpfung wieder. Wie er waren sie empfänglich für das Gemurmel der Steine, das Rauschen der Bäche, die Gesänge der Wale und die Rufe der Wölfe im Unterholz. Sie errieten die Vorzeichen eines Gewitters und konnten den betörenden Duft einer Süßwasserrinne in einer Grotte riechen. Dass diese Frau aus einer weit zurückliegenden Epoche seine Faszination für das Lebendige teilte, das ihn umgab und die Grundlage seiner Existenz bildete, erfüllte ihn mit Begeisterung.

Ein unerhörter Dialog entspann sich zwischen der aus den gefrorenen Finsternissen Auferstandenen und dem Schamanen. Freudig öffnete Num dieser Frau, die die Grenzen der Zeit überschritten hatte, sein Herz. Und sie sah hinter seiner Heiterkeit die schmerzhafte Prüfung, der er ausgesetzt war, seine Bedrängnis. Ihn quälten Fragen, die ohne Antwort blieben. Er litt, weil er sich als Einziger gegen das Unheil stemmte, das seine Zuflucht am Rand des Arktischen Ozeans bedrohte, den wunderbaren Ort, an den er sich zurückgezogen hatte, um dem räuberischen Wahn der Menschen zu entfliehen. Tief bewegt von der für ihn offensichtlichen Tatsache, dass sein Gegenüber dem Land der Ahnen entstammte, wollte Num der Frau kein Körnchen seines Wissens vorenthalten und ihr alles erzählen, was seit Kurzem den Himmel über der viel geliebten Erde verdunkelte und das natürliche Gleichgewicht in diesem Landstrich bedrohte. Also berichtete er von der Bedrängnis, in die sein Rückzugsort geraten war, seit Satelliten große Gasfelder im Boden entdeckt hatten. Die Nachricht hatte ein ungeheures Interesse für dieses vergessene Fleckchen Erde hervorgerufen, da dessen natürliche Ressourcen einen enormen Wirtschaftsaufschwung versprachen. Nach kurzer Diskussion hatte die Regierung der Russischen Föderation die Einrichtung einer gigantischen Baustelle bewilligt, um das graue Gold zu heben, von dem die Erde überquoll. Der erste Spatenstich sollte in zwei Wochen stattfinden.

Bedrückt berichtete der Schamane, dass sie die Erde misshandeln und ihr den Bauch aufschlitzen wollten. Hunderte von Rentieren würden demnächst von den Nenzen in dieser Gegend vorbeigetrieben und durch die verschmutzte Umwelt vergiftet werden, wodurch auch das Überleben der letzten Nomadenfamilien auf dem Spiel stünde. Um das zu verhindern, müsste etwas passieren, und zwar schnell. Denn wenn nicht bald etwas geschehe, würde die Industrie den natürlichen Lebensraum unzähliger Arten zerstören. Der Schamane sah sich in der Pflicht zu kämpfen, hatte aber mit fortschreitendem Alter jede Neigung zum Konflikt in sich abgetötet und sich in seiner friedfertigen Haltung eingerichtet. Verzweifelt ob seiner Unfähigkeit, Maßnahmen gegen die drohende Einrichtung der Baustelle zu ergreifen, hatte er sich der stillen Versenkung und Meditation verschrieben. Er dankte dem Geist der Verstorbenen, dass sie sein Flehen erhört hatte, und bat sie um Unterstützung und Rat für sein Vorhaben, die Wahnsinnigen aufzuhalten, die wild entschlossen waren, die Natur zu plündern, um ihre unersättliche Gier nach Reichtum zu befriedigen.

An der Freude, die er empfand, merkte Num, dass die Tote seinen Schmerz teilte und ihr das Gleichgewicht der Erde genauso am Herzen lag wie ihm. Sie erkannte das Ausmaß seiner Erwartungen, doch die Fremdartigkeit und vor allem die extreme Gewalt seiner Epoche schienen ihr kaum überwindbar. Er müsste die durch sie wirkenden Energien des Jenseits kanalisieren, um zu verhindern, dass die Harmonie seiner so lange verschonten letzten Bleibe vernichtet würde. Sie wusste noch nicht, wie sie vorgehen wollte, die Aufgabe, die sie zu bewältigen hatte, war enorm … Und die Zeit drängte.

Num jedenfalls zweifelte nicht mehr – seine Hoffnung kehrte zurück.

Der Schamane taufte die rätselhafte Frau aus dem Eis »Afrikanerin der Arktis«. Die Begegnung mit ihr hatte ungewöhnliche Gefühle in ihm ausgelöst, ja, ihn in einen wahren Taumel versetzt, und der verblüffende Austausch hatte ihn neu belebt. Als Erstes verschloss er den Eingang zur Höhle, in der sich das Grab befand, sorgfältig mit Erde. Dann prägte er sich die Lage am Hang, etwa zehn Meter über dem Fluss, genauestens ein, als Orientierungspunkt diente ihm die Stelle, an der der Erdrutsch fast einen rechten Winkel in die Böschung gerissen hatte.

Schließlich machte sich Num, der sonst eher gemächlich unterwegs war, in höchster Eile auf den Weg ins Tal. Der Anblick des Heiligtums würde für immer in sein Gedächtnis eingraviert bleiben. Die kostbaren Gegenstände, die man der Toten mit ins Grab gegeben hatte, zeigten, dass hier einer herausragenden Persönlichkeit von den Ihren feierlich die Ehre erwiesen worden war, einer Frau, die sich entweder durch einen besonderen gesellschaftlichen Rang oder durch politische oder spirituelle Macht ausgezeichnet hatte – sie musste eine Königin oder eine Prinzessin gewesen sein. Viel faszinierender war für Num allerdings, dass diese Tote eine ungeahnte, unermessliche Seite der Geschichte seines Volkes und der Menschheit insgesamt verkörperte.

Ein breites Lächeln erhellte sein Gesicht, die innere Erregung trieb ihn voran; er ging mit großen Schritten den Fluss entlang, als hätte ihn ein Wirbelwind erfasst, und aus dieser Hochstimmung erwuchsen Mut und Auflehnung. Er fühlte sich nicht mehr so hilflos und schlecht gerüstet gegenüber den mächtigen Feinden, die auf ihn und sein Tun als Schamane verächtlich herabsahen. Er war bereit, sich ihnen entgegenzustellen, auch wenn sie noch so viel Geld und Energie einsetzen würden, um ihre Ziele zu erreichen. In seinem Kopf überstürzten sich die Gedanken, jetzt, da er nicht mehr darauf angewiesen war, auf der Grundlage stummer Fossilien oder Knochen aus einer fernen Vergangenheit gewagte Schlussfolgerungen für die Zukunft zu ziehen, sondern das Privileg hatte, direkt aus dem Wissen jener zu schöpfen, die ihm in dieser Welt vorangegangen waren. Bestimmt verfügte die verehrungswürdige Ahnin über magische Kräfte, die sie in die Lage versetzten, widerstrebende Interessen zu versöhnen oder auszugleichen und allen Menschen Respekt einzuflößen. Außerdem hatte sie mit Sicherheit tiefer und weiter reichende Ziele als diese Handvoll Opportunisten mit ihren niedrigen materiellen Bedürfnissen, die nichts anderes wollten, als das wunderbare Land am Ende der Welt in ein Industriegebiet zu verwandeln. Nums Fund würde das Gewissen der Menschen wachrütteln. Das war seine größte Hoffnung: dass diese Vereinigung der sichtbaren mit der unsichtbaren Welt die Kraft hätte, den Umgang mit der Natur zu verändern. Beflügelt von seiner Begeisterung, wollte er noch einmal den Schritt beschleunigen, aber die Anstrengungen des Tages und die Wucht der Gefühle, die über ihn hereingebrochen waren, hatten ihn erschöpft. Er blieb stehen und begann zu lachen, bis ihm die Luft ausging. Dann öffnete er seinen Mantel, füllte die Lunge mit frischer Luft und hob bewundernd den Blick gen Himmel.

Die Magie seines Landes, dessen unvergleichlicher Zauber lag in der unglaublichen Wandelbarkeit der Natur. Das stundenlange Toben der Elemente, all das Graue, Windige, Eisige, war vergessen und hatte einer blendenden Helligkeit Platz gemacht. Zu Nums größtem Entzücken kamen nun zahllose Vögel, die vor dem Dröhnen des Erdrutschs geflohen waren, in die Tundra zurück. Myriaden bunter Flügel flatterten über den Wolken, trugen die kleinen Körper über die Böschungen am Wasserlauf entlang in die Ferne, bis hin zum Ozean. Hier, an den Rändern der Halbinsel, fand gerade eine außergewöhnliche Versammlung statt. Der Schamane breitete die Arme aus und hieß das ganze Volk willkommen, das aus rund zwanzig verschiedenen Arten bestand, die in Frieden miteinander lebten und sich gegenseitig beschützten. Möwen und Seeschwalben, die ihn anschwebten wie Schneeflocken vom Himmel, Tausende Regen­pfeifer und Schnepfen trippelten zu den Wassersäumen, um nach Futter zu suchen, und viele, viele andere zwitscherten, pfiffen und schnatterten fröhlich durcheinander. Auf einer Welle schaukelte eine Handvoll Enten, darüber tanzten welche um einen der letzten Eisflecken. Überall prunkte das Leben, üppig, frei und wild. Am liebsten hätte Num jedem dieser Vögel versprochen, dass alles bis in alle Ewigkeit so bleiben würde, wie es war.

Plötzlich fuhr ein Falke auf das Völkchen nieder, aber nach einem Moment der Panik wurde er von allen Seiten angegriffen, bis er gezwungen war, den Rückzug anzutreten. Dann versuchte es der hungrige Raubvogel bei den Jungen, aber die klugen, geselligen Weibchen bildeten schnell einen Schwarm, der mit synchronisierten Flügelschlägen eine wassersprühende Wolke aufwirbelte. Das verwirrte den Angreifer und vertrieb ihn schließlich. Voller Rührung beobachtete der Schamane, wie sich das Vogelvolk nach seinem Sieg einer Art groß angelegter Entspannungsübung hingab, die aus einer Choreografie von mehr oder weniger organisierten Tänzen und Exerzitien zu einer zunächst undefinierbaren Kakofonie bestand. Eine Hundertschaft flog auf ihn zu, und je näher sie kam, desto deutlicher nahm er Muster in diesem Klangteppich wahr. Er streckte den Vögeln die Hände entgegen und drehte sich um sich selbst, um sie zu grüßen, als sie die Wiesen und Sümpfe der weiten Ebene überflogen, und verbeugte sich vor denen, die sich lärmend in seiner Nähe niederließen und drei, vier Minuten lang lauthals die schönsten Melodien anstimmten. Hundert Meter entfernt antworteten andere mit kraftvollen Gesängen. Wieder andere kreisten über ihm in der Luft und steuerten vom Wind unterstützte Rhythmen bei. Vom Ufer des Flusses kamen verschwommenere, fast unhörbare Klänge, die von den letzten, die über der Ebene schwebten, etwas lauter wiederaufgenommen wurden. Mit geschlossenen Augen, aber in ständiger Bewegung, lauschte Num der magischen Sinfonie der Vogelstimmen, bis er sich schließlich wieder in Bewegung setzte. Die Musik begleitete ihn noch eine Weile den Fluss entlang Richtung Westen, wurde schwächer und verflüchtigte sich; doch der Zauber, dessen Zeuge er geworden war, bestärkte ihn in seiner Entschlossenheit. Das Entzücken, in das ihn dieses gemeinschaftliche Erlebnis versetzt hatte, war es wirklich wert, Tote wiederzuerwecken und um ihr Eingreifen zu bitten.

Der Schamane deutete das Schauspiel, dem er gerade beigewohnt hatte, als Ermunterung durch die Natur, die seinen Austausch mit dem Jenseits offenbar guthieß. Bevor er sich in der Dämmerung des endlosen Tages wieder in sein Zelt zurückzog, versenkte er seinen Blick in die orangefarbenen Töne der untergehenden Sonne. Dann rief er den Geist der afrikanischen Eiskönigin an und ließ ihn in seinen Körper und seine Seele eindringen. Die Stimme aus dem Jenseits ermahnte ihn, in Zukunft aufmerksam auf ihre Zeichen zu achten. Diesem Appell gehorchend, konzentrierte sich Num darauf, sein ganzes Wesen für die Sprache der Ahnen empfänglich zu machen. Dann gab er sich einer ausgedehnten Innenschau hin, die erst endete, als der goldene Flügel der Mitternachtssonne den Horizont streifte. Die Botschaft war klar: Mit diesem Chor aus verschiedenen Liedern hatte das Volk des Himmels die Tundra zu seinem Spielplatz erkoren und dem Schamanen aufgetragen, sich an dieser Inszenierung der Macht gegenseitiger Hilfe ein Beispiel zu nehmen. Num versicherte der vergessenen Königin, dass er seine erste Aufgabe verstanden hatte: sich aus seiner Einsamkeit zu lösen, positive Kräfte um sich zu sammeln und Verbündete zu finden.

Als Erstes dachte Num an Laurent Joubert, einen französischen Zoologen, mit dem er sich im vergangenen Sommer angefreundet hatte, einen fähigen Wissenschaftler und Universitätsprofessor, der sich um die Geschicke der Jamal-Halbinsel ernsthaft Sorgen machte. Seine Forschungsarbeiten hatten ergeben, dass das Ökosystem zwar noch halbwegs intakt war, aber aufgrund der rasanten Industrialisierung im Osten der Region schon bedenkliche Verhaltensänderungen bei einigen Zugvögeln zu beobachten waren. Num, der ohnehin schon um das Land fürchtete, in dem er lebte, war davon so bestürzt, dass Laurent sich zurückhielt, um ihn zu schonen, doch seine wichtigste Botschaft, dass eine Ausweitung der menschlichen Aktivitäten katastrophale Auswirkungen auf Flora und Fauna dieses Landstrichs haben würde, hatte er ihm eindringlich genug vermittelt. Um ihn zu beruhigen, hatte er Num versprochen, dass er wiederkäme, um die Veränderungen genauer zu analysieren, sobald er das Geld für eine weitere Forschungsreise zusammenhätte. Nun war Laurent zwar kein Archäologe, dennoch hoffte Num, dass die Entdeckung einer jahrtausendealten Begräbnisstätte sein Interesse wecken und vielleicht einen entscheidenden Anstoß liefern könnte, eine neue Expedition zusammen mit Paläontologen und Anthropologen zu organisieren. Außerdem blieb Num gar nichts anderes übrig, als diesen Ausländer um Unterstützung zu bitten, denn den Experten seines eigenen Landes traute er nicht mehr, in seinen Augen waren das nichts als Vasallen im Dienste reicher Industrieller.

Num schmiedete einen Plan. So wie er die Gesetze der Russischen Föderation verstand, war der Staat, falls ein Bewohner des Nordens ein mit der Geschichte seines Volkes verknüpftes Überbleibsel auf seinem Boden fand, dazu verpflichtet, dieses als historisches, kulturelles und spirituelles Erbe zu bewahren. Könnten die Beziehungen zwischen den heutigen Nenzen und der Afrikanerin der Arktis bewiesen werden, dann vereinte der Ort des Grabmals genügend Kriterien auf sich, um als sakrale Stätte, als anerkanntes Heiligtum unter Schutz gestellt zu werden; damit wäre auch die Erdgasförderung in der Region ausgeschlossen. Ursprünglich hatte er vorgehabt, das Regionalbüro der Vereinigung der indigenen Völker Nordsibiriens, einer mächtigen NGO, um juristische Hilfe zu bitten, um die Menschenrechte und vitalen Interessen der Nenzen auf der Jamal-Halbinsel zu bewahren. Doch nach ausführlichen Erwägungen war ihm die Chance, die Anwälte der NGO von seinem Vorhaben zu überzeugen, lächerlich gering erschienen. Sollten jedoch westliche Experten vor Ort die Echtheit und den Wert seiner Entdeckung bestätigen, wären das gewichtige Argumente, von denen sich die Organisation vielleicht dazu bringen ließe, den Beginn der Bauarbeiten zu verhindern. Num gehörte selbst dem Volk der Nenzen an, das schon immer auf der Jamal-Halbinsel gelebt hatte, war aber wie viele andere als Kind seiner Familie entrissen worden und fern seiner Herkunftsgemeinde aufgewachsen, sodass er sich als Fremder fühlte. Vor rund zehn Jahren erst war er zurückgekehrt, um den Ruhestand in seiner Heimat zu genießen, hatte sich in die Einsamkeit zurückgezogen und sein Leben der Meditation und Versenkung geweiht. Andere Mitglieder seines Volkes traf er nur zu den seltenen Gelegenheiten, wenn er in die Stadt kam, um seinen Neffen Mischa Malewitsch zu besuchen. Es war ihm ein Anliegen, sich nützlich zu machen, um zu zeigen, dass er sich trotz seiner russischen Erziehung nicht für etwas Besseres hielt. Viele schätzten ihn für seine Freundlichkeit und seinen guten Rat, und ein paar von den Alten wunderten sich, dass es ihm trotz der Unkenntnis ihrer Kultur gelang, die Handlungen und Haltungen der Schamanen von einst wieder aufleben zu lassen. Für die letzten noch nomadisch lebenden Nenzen verkörperte er seine Rolle glaubhaft, im Gegensatz zu jenen Scharlatanen, die, besonders wenn Touristen im Anmarsch waren, mit fantastischen Zauberbehängen klimperten und sich maskierten, um ihre geschminkten Augen besonders wirkungsvoll zur Geltung zu bringen. Diese Schausteller lieferten Folklorejüngern die perfekte Bestätigung ihrer Vorurteile über indigene Völker und lebten davon wie die Maden im Speck. Außerdem behaupteten sie gern, dass sie über magische Kräfte verfügten, und verbreiteten Angst und Schrecken unter den Leuten, um sie auszunehmen und unwissend zu halten.

Die erfolgreich sesshaft gewordenen Nenzen wiederum, die städtischen Notabeln, verspotteten Num als Verrückten, der sich für erleuchtet halte und pausenlos Unsinn aus längst vergangenen Zeiten schwafle. Von wieder anderen, nach deren Ansicht er es ohnehin an Respekt vor den Traditionen fehlen ließ, wurde ihm vorgeworfen, dass er sich, nachdem er seinen russischen Vornamen Aljoscha abgelegt hatte, Num nannte – wie konnte ein so unbedeutender Mensch den Namen einer Gottheit annehmen? Dieser Exzentriker diente ihnen als weiteres Beispiel für die Verkommenheit der im 20. Jahrhundert von der Sowjetmacht Zwangsassimilierten.

Der alte Mann wusste nur zu gut, dass seine Stimme wenig zählte. Um der Nachricht von seiner Entdeckung die erhoffte Sprengkraft zu verleihen, mussten andere sie verkünden. Deshalb beschloss Num, am nächsten Tag bei Sonnenaufgang in die Stadt zu reisen, um sich von dort aus mit Laurent in Verbindung zu setzen.

Uralte menschliche Überbleibsel so weit nördlich des Polarkreises! Die Nachricht von diesem sensationellen Fund riss Laurent endgültig aus seiner Umnebelung durch den letzten Rausch, der ihn vor ein paar Stunden niedergestreckt und in einen kurzen, schweren Schlaf versenkt hatte. Als die Internetverbindung mit Sibirien abbrach, war seine Überraschung vollkommen. Er fragte sich, ob das ein Hoax war oder ein Streich, den ihm der Alkohol gespielt hatte, aber nein, er hatte schon richtig verstanden! Ein paarmal wiederholte er aus dem Gedächtnis die Sätze, die sein Gegenüber klar und deutlich ausgesprochen hatte. Auch wenn Num ein eher ungewöhnlicher Schamane war, weil er Nenzisch mit russischem Akzent sprach und mit dem Brauchtum seines Volkes fremdelte, war er doch keiner, der Leute in Tausenden Kilometern Entfernung aufscheuchte, um ihnen Lügenmärchen zu erzählen. Nachdem Ton und Bild sich verabschiedet hatten, begann Laurent auf seinem Schreibtischstuhl zu wippen. Eine grandiose Idee schoss ihm durch den Kopf: Wenn die Information sich als zuverlässig erwiese, wäre das eine wahre Revolution, ein wissenschaftliches Erdbeben. Es klingelte kurz, dann war die Verbindung wieder tot. Frustriert schlug Laurent mit den flachen Händen auf den Tisch, stand auf und massierte sich die Schläfen, um eine heraufziehende Migräne zu vertreiben. Er machte ein paar Schritte in seinem dunklen, kalten Zimmer und blieb dann stehen, um seine Gedanken zu ordnen. Vor ein paar Jahren, erinnerte er sich, war im Westen der Jamal-Halbinsel das Skelett eines jungen Mammuts ausgegraben worden, das dort seit rund zehntausend Jahren lag. Aus welcher Zeit wohl die Grab­stätte stammte, die der alte Schamane entdeckt hatte? Bestimmt war sie auch Tausende Jahre alt. Daran hatte Num, der ganz gut Französisch sprach, keinen Zweifel gelassen: dass diese Leiche gewiss aus der Vorgeschichte stammte. Der Forscher wagte es kaum zu glauben. Noch nie hatte jemand die Möglichkeit menschlichen Lebens auf diesem Gebiet in einer so weit zurückliegenden Epoche für möglich gehalten. Ausnahmsweise hatte der Klimawandel einmal sein Gutes.

Laurent Joubert hatte sich auf die Analyse der Auswirkungen menschlicher Aktivitäten auf die arktische Tier- und Pflanzenwelt spezialisiert. Seit zwanzig Jahren erforschte er die Gefahren, die nicht nur die Balance der hochempfindlichen Ökosysteme langfristig bedrohten, sondern katastrophale Auswirkungen auf die ganze Welt haben würden. Das schmelzende Packeis und die Erderwärmung führten nicht nur dazu, dass das Habitat der nördlich des Polarkreises lebenden Tierarten allmählich verschwand, sondern auch zu einem gefährlichen globalen Anstieg des Meeresspiegels. Laurent hatte schon oft Alarm geschlagen, doch außerhalb akademischer Kreise waren seine Warnungen ungehört verhallt. Der Fund eines prähistorischen Menschen in diesem vergessenen Landstrich, das war ihm sofort klar, wäre ein Trumpf, der alles verändern würde. Mit dieser Geschichte könnte man auch ein breiteres Publikum erreichen und den Ergebnissen seiner Studien ein weltweites Echo verschaffen. Als das Signal eines neuerlichen Anrufs ertönte, eilte Laurent an seinen Rechner. Num hatte die Zwangspause genutzt, um die französischen Worte, mit denen er seinen Freund überzeugen wollte, sorgfältig abzuwägen.

»Tut mir leid, Laurent, dass die Verbindung hier so oft zusammenbricht … Was ich noch ergänzen wollte: Es handelt sich um eine Frauenleiche, die sich in einem exzellenten Zustand befindet. Die Pigmentierung ihrer Epidermis ist erhalten geblieben. Es ist unglaublich, aber ihre dunkle Haut und die geflochtenen krausen Haare lassen keinen Zweifel zu: Die da seit Jahrtausenden in unserer Erde ruht, ist eine Afrikanerin!«

Num fuhr mit der eindringlichen Beschreibung des Grabmals fort, erwähnte die möglicherweise königliche Abstammung der Toten, das wahrscheinlich aus dem Stoßzahn eines Mammuts kunstvoll geschnitzte Elfenbeinzepter, das prächtige lange Collier aus Perlen und Silber auf ihrer Brust … dann überlagerten metallische Geräusche den Ton der Übertragung, die immer unverständlicher wurde, bis sie von Neuem abbrach; Störungen verzerrten das Bild, das schließlich erstarrte und dann endgültig schwarz wurde.

Laurent verschlug es den Atem. Handelte es sich hier womöglich um die Entdeckung des Jahrhunderts? Was Num berichtete, war unglaublich, er musste unbedingt mehr darüber erfahren. Dass ihn gerade jetzt, wo sich die Fragen in seinem Kopf überschlugen, die Technik im Stich lassen musste! Er konnte nichts anderes tun als warten, bis sich auf dem schwarzen Rechteck vor ihm wieder etwas tat. Vor Erregung hielt es ihn nicht mehr auf seinem Platz, er war wie von Sinnen: Etwas Außergewöhnliches brach sich gerade Bahn. Er riss das Fenster auf, um sich ein wenig abzukühlen, stützte sich auf die Brüstung und beugte sich hinaus.

Eine Weile lang ließ er den Blick über die Dächer des an die Bergflanke geschmiegten Dorfs in der Auvergne schweifen, in das er sich zurückgezogen hatte. Und mit einem Mal erschienen ihm die Hänge mit den tief eingeschnittenen Tälern, die Flüsse im Lauf der Jahrhunderte gegraben hatten und die heute von spärlichem Gebüsch und kleinen Wäldchen bestanden waren, in einem ganz neuen Licht. Fasziniert betrachtete er die wellige Landschaft, folgte den Verzweigungen der Wasserläufe, die die Erde mit Leben versorgten – wie der Blutkreislauf den Menschen, dachte er. Er staunte über die nackten Böschungen, die ihn an die Textur menschlichen Gewebes erinnerten. Die Form mancher Felsen wirkte wie ein Oberschenkelknochen oder ein Schienbein, und die zerklüftete, geschwungene Linie eines Bergkamms krümmte sich wie eine Wirbelsäule. Und als die Zweige des Fichtenwaldes im Wind tanzten wie feines lockiges Haar, riss Laurent verblüfft die Augen auf. Er trat einen Schritt vom Fenster zurück, um seine anscheinend vom Rausch entstellte Wahrnehmung geradezurücken, und überraschte sich dabei, dass ihm die leicht aufgeworfene Trasse eines Weges unter dem Gipfel wie ein lockendes Lächeln vorkam. Verwirrung machte sich im Kopf des Forschers breit, der eigentlich zutiefst vom Rationalismus der Wissenschaft durchdrungen war. Er fuhr sich ein paarmal mit beiden Händen übers Gesicht, um den Eindruck zu verscheuchen, der sich ihm wie eine Selbstverständlichkeit präsentierte: Das Bergpanorama, das er auswendig zu kennen glaubte, verwandelte sich vor seinen Augen in die sanften Rundungen eines weiblichen Körpers. Seine Wahrnehmung, deren Verfälschung er nur allzu gern dem Einfluss des Alkohols zugeschrieben hätte, gaukelte ihm vor, dass die rätselhafte, aus dem Permafrost erstandene Dame bis in die Auvergne gereist war, um sich dort in die Hügelkette vor seinem Fenster zu schmiegen. Er rieb sich die Augen.

Als das erste Glimmen der Morgendämmerung den Horizont wie mit einem Feuerschein überzog, ließ die Verschmelzung von lebhaftem Rot mit den letzten blauen Flecken des Nachthimmels die Landschaft noch unwirklicher erscheinen. Ihm war, als ob die aus dem Eis befreite Frau nach ihm riefe und ihn sanft, aber unwiderstehlich aufforderte, ihr zu folgen. Und in dem Maße, wie sein Sichtfeld vom Morgenlicht geflutet wurde, offenbarten sich ihm die majestätisch gerundeten Formen einer riesigen Nackten. Dieses Bild von unvergleichlicher Schönheit deutete er als ein Zeichen, das sein Leben in eine neue Richtung lenken und ihm eine bessere Zukunft verheißen sollte.

Er schlug sich mit der Hand an die kahle Stirn und schüttelte den Kopf, um die Halluzinationen loszuwerden und wieder zu sich zu kommen. Er musste jetzt klar denken. Sein Mobiltelefon zeigte 5.37 Uhr, die Gedanken überstürzten sich in seinem Kopf, und wieder einmal bereute er, so viel getrunken zu haben. Es war immer dasselbe mit ihm. Nach ein paar Gläsern verlor er die Kontrolle und konnte nicht mehr aufhören, sondern musste einfach weitertrinken, bis er in das schwarze Loch stürzte, in dem schon der Kater auf ihn lauerte. Und jetzt fiel er auch noch ins Delirium!

Als auf seinem Bildschirm das Gesicht seines alten Freundes erschienen war, hatte Laurent zunächst nichts anderes erwartet als den üblichen Austausch von Höflichkeiten und neuesten Nachrichten. Er fand es amüsant, dass der Mann aus der Tundra sich endlich dazu durchgerungen hatte, die Technik des 21. Jahrhunderts zu nutzen. Und dann dieser Paukenschlag! Laurent stützte sich auf die Armlehnen seines Schreibtischstuhls und näherte sein Gesicht dem Bildschirm – immer noch nichts. Endlich klingelte es, und Laurent nahm den Anruf an.

»Du musst so schnell wie möglich wiederkommen, mein Freund. Und vor allem: Bring noch andere Spezialisten mit, ich würde zu gern wissen, ob man beweisen kann, dass diese Frau wirklich eine Ahnherrin meines Volkes ist. Dann nämlich dürfte niemand mehr Fabriken bei uns errichten, verstehst du, Laurent, niemand! Das ist sehr wichtig, musst du wissen. In zwei Wochen schon soll hier eine Baustelle entstehen.«

»Unglaublich, was du erzählst. Du kannst sicher sein, dass ich Himmel und Erde in Bewegung setzen werde, um wiederzukommen.«

»Gut, ich zähle auf dich, bis bald!«

Die Verbindung brach ab, doch diesmal hielt Laurent es nicht für nötig, sie wiederherzustellen. Er kannte den schweigsamen Schamanen, der seine Worte stets bedacht und sparsam einsetzte, gut genug, um zu wissen: Er hatte gesagt, was er zu sagen hatte. Jetzt war es an ihm, dem Wissenschaftler, darauf zu reagieren.

Reglos saß Num im Schneidersitz auf dem Gipfel des Hügels ein paar Meter über dem Fluss. Wie gern thronte er hier, über dieser einzigartigen, beeindruckenden Landschaft, die eine solche Kraft und Ruhe ausstrahlte, um sich zu versenken und sich der mystischen Sphäre der unsichtbaren Welt anzunähern. So weit das Auge reichte, breitete sich über die Anhöhen und das darunter liegende Tal ein bezaubernder Schleier in den leuchtenden, warmen Farben der ersten Blüten, die im Wind auf ihren Stängeln nickten. Die höchsten Gipfel waren noch von einem Hauch Schnee bedeckt, doch überall sonst hatte das Leben die schrecklichen dunklen Wintermonate vergessen lassen. Manche Gipfel hatten ihren Eismantel abgelegt, und die orangefarbenen Strahlen der Polarsonne spiegelten sich in den Fluten der Bäche an ihren Hängen. In der Ferne verlor sich das da und dort schon ziemlich löchrige Packeis in einer Reihe unterschiedlich großer Seen und traf schließlich auf den azurblauen Streifen eines Meeresarms. Als ein Walrücken unvermutet zwischen den Eisbergen auftauchte, musste der Schamane lächeln. Er konnte sich nicht sattsehen an diesem Schauspiel, das ihn in Entzücken versetzte: Hier zeigte die Natur sich beharrlich und widerständig angesichts all des Leids, das ihr die Menschen zufügten. Er segnete den Himmel, der ihm wieder einmal das Privileg gewährte, die Rückkehr der schönen Sommertage nach den langen Wintermonaten mitzuerleben.

Als er bemerkte, dass sich jemand von hinten näherte, beendete er seine Meditation und drehte sich blinzelnd um.

»Wolltest du mich überraschen, Mischa Malewitsch?«