Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Iris weiß nicht, was sie will, nur, was sie nicht will. Auch um zu flüchten, fliegt sie auf eine griechische Insel, überstürzt, allein, ratlos. Ausgerechnet auf eine Insel, auf der jeder Einheimische bewaffnet ist. Sie will zur Ruhe kommen und verstehen, was zwischen ihr und ihren Freundinnen Ela und Katja geschehen ist. Was die beiden überhaupt zu Freundinnen gemacht hat. Und draufkommen, warum sie Jahre mit Simon verbracht hat, obwohl sie das nie sein wollte: eine Frau in einer Beziehung, schon gar nicht mit einem Schriftsteller. Sie will nachdenken, über ihre Schwester, die hat, was ihr fehlt, und über das unvollendete Manuskript der belgischen Autorin, das sie im Kühlschrank der Künstlerresidenz findet, für die sie so lange gearbeitet hat. Und sie fragt sich, was noch wichtig ist, wenn etwas, das ihr einmal alles bedeutet hat, egal geworden ist. Und warum sie sich immer zu wenig in ihr eigenes Leben involviert hat. "Frauen, die beim Lachen sterben" ist ein Roman über eine Freundschaft und die Sehnsucht nach dem Leben, das sich richtig anfühlt. Über das Scheitern und das Bedürfnis, sich selbst und allen anderen eine Geschichte zu erzählen, wenn man verlassen wird. Eine Geschichte, der, wie allen Geschichten, nicht zu trauen ist.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 243
Veröffentlichungsjahr: 2024
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
© 2024 Jung und Jung, Salzburg
Alle Rechte, einschließlich der Vervielfältigung, Veröffentlichung, Bearbeitung und Übersetzung, bleiben vorbehalten
Umschlagabbildung: Lovers Eyes 1840, Metropolitan Museum of Art
Umschlaggestaltung: BoutiqueBrutal.com
ISBN 978-3-99027-305-0
ALEXANDRA STAHL
Roman
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Verwendete Zitate
Im modernen Leben herrscht »immer der Verdacht (…) dass das eigene Leben eine Lüge oder ein Fehler ist; dass etwas Entscheidendes übersehen wurde, verpasst, vernachlässigt, nicht ausprobiert oder erforscht; dass eine wesentliche Verpflichtung dem eigenen authentischen Ich gegenüber nicht eingehalten wurde oder dass Gelegenheiten zu einem unbekannten Glück, das ganz anders ist als alles Glück, das wir bisher erlebt haben, nicht rechtzeitig aufgegriffen wurden und für immer verloren sein werden, wenn wir sie weiterhin ignorieren.«
Zygmunt Bauman
Erzählen heißt immer lügen,und wer am besten lügt, erzählt am besten.
Domenico Starnone
Die Katzen hatten alle Durchfall. Und eine hinkte. Es waren fünf Stück, rot-weiß getigert, alle noch klein. Ich konnte sie nicht auseinanderhalten, nur die mit dem verletzten Hinterbein stach heraus. Ich roch diese kleinen Katzen immer schon, bevor ich sie sah. Sie hatten verklebte Schwänze vom Durchfall, den sie in hellbraunen Schlieren über den Terrassenboden verteilten und auf die Decken und Kissen der Sitzmöbel vor den Ferienwohnungen schmierten. Aber hätte ich nicht gleich am ersten Abend die Hinkende dabei beobachtet, wie sie ihr Hinterteil über den Boden vor meinem Appartement schleifte, ich hätte die Flecken nicht gesehen.
Eigentlich hatte ich nur eine Woche bleiben wollen, eine Woche, um herauszufinden, wie ich weitermachen würde. Dann waren aus dieser Woche fast drei Monate geworden, erst zu Silvester buchte ich einen neuen Flug. Mir schien es plötzlich kein gutes Zeichen zu sein, mit diesen Katzen das nächste Jahr zu beginnen, mit diesen unglückseligen Geschöpfen, die ja doch keiner haben wollte. Es waren einfach zu viele.
Ich war vor dieser Reise nie in Griechenland gewesen, ich hatte mich für Griechenland entschieden, weil ich an einen Ort fahren wollte, mit dem mich nichts verband, keine Erinnerung, keine Sehnsucht. Außerdem hatte mir Ela die Unterkunft empfohlen. Wobei empfohlen nach einem Tipp klingt, richtiger wäre es zu sagen, dass Ela mir die Unterkunft befohlen hatte. Schau, da fährst du jetzt hin!, hatte sie erklärt und jedes Wort betont, wie gegenüber einem Kind, das nicht begreifen wollte. Und in gewisser Weise war ich das ja, wie ich da in Elas Wohnzimmer saß und nicht kapierte, was ich kurz zuvor gesehen hatte.
Ich antwortete nicht auf Elas Befehl, sah mir auch die Fotos von der Unterkunft nicht an, die sie mir zeigen wollte, vielleicht aber nickte ich. Ganz sicher gab ich ihr an diesem Abend mein Telefon und meine Kreditkarte, damit sie für mich buchte. Ich hatte keinen Nerv, mich durch das Internet zu klicken, keinen Nerv für diese hirnrissigen Tests, bei denen man beweisen sollte, dass man kein Roboter war, indem man alle Ampeln, Vögel oder Traktoren anklickte, die auf einem bestimmten Bild zu sehen waren. Es waren für diese eine Oktoberwoche noch alle Ferienwohnungen frei, ich wollte die kleinste, die ruhigste. Auch der Flug am nächsten Morgen war nicht ausgebucht, obwohl gerade die Herbstferien begonnen hatten. Ich schlief in dieser Nacht auf Elas Couch nicht, in meinem Kopf war es zu laut. Irgendwann wurde mir schlecht, sehr schlecht.
Ela kam in dieser Nacht nicht zu mir. Ela blieb in ihrem Schlafzimmer, worum ich sie eindringlich gebeten hatte, und ich glaube, dass auch sie nicht schlief. Der Flug ging so früh, dass ich hoffte, mich einfach aus ihrer Wohnung in Rixdorf schleichen zu können, aber als ich gerade im Flur kniete und in meiner Tasche wühlte, strich sie mir übers Haar. Ich hielt inne. Diese Geste passte zu Ela, die immer sanft gewesen war und sensibel. Sie passte aber auch nicht zu Ela, die über die Jahre pragmatisch geworden war und ein bisschen verklemmt. Wir sprachen beide nicht, bis ich den Reißverschluss meiner Tasche zugezogen hatte. In der Wohnungstür drehte ich mich um. Aus Elas Schlafzimmer drang warmes Licht. Ich dachte, vielleicht hat sie die ganze Nacht gelesen, hat mich kotzen gehört und hat umgeblättert, Seite für Seite.
Ela hielt mir nochmal ihr Telefon hin, darauf ein bärtiger, lachender Mann. Sie sagte: Schau, das ist der Besitzer, den fragst du als Erstes nach einem schönen, starken Mokka, der macht ganz tollen Mokka! Sie sagte das in diesem optimistischen Ton, den sie sich angewöhnt hatte, dabei kannte sie die Unterkunft gar nicht. Sie hatte sie nur bei Instagram entdeckt, auf einem Account, über den sie früher die Augen verdreht hätte. Mittlerweile setzte Ela auf gewaltfreie Kommunikation und einen Mann, der Sätze sagte wie: Ich find’s total schön, dass das gerade passiert! Aktuell behauptete er das von Elas Schwangerschaft, ansonsten vom Abendessen.
Aber in diesem Moment dachte ich nicht an Elas Freund. Ich war ihr einfach nur dankbar, und das sagte ich ihr auch.
Der Taxifahrer hörte einen Klassiksender und trug keine Maske. Hinter seine Kopfstütze und die des Beifahrersitzes hatte er ein trauriges Stück Plastik gespannt, das den vorderen Teil des Wagens vom Fond trennte. Ich musste an einen Duschvorhang denken, und bis wir in Schönefeld ankamen, war ich sicher, dass es sich um einen handelte. Ich konnte mir sogar vorstellen, wie der Taxifahrer ihn zerschnitten und unter seinen Kollegen aufgeteilt hatte. Vermutlich glaubten nicht wenige von ihnen, Impfungen seien etwas für Schwächlinge. Ich gab dem Mann Trinkgeld, sah ihm aber nicht in die Augen, vielleicht wäre es umgekehrt besser gewesen. Es war Herbst 2021, meine erste Reise seit zwei Jahren, und es war auch das erste Mal, dass ich vom neuen Hauptstadtflughafen abflog. Nach all den Jahren und Skandalen um die immer wieder verschobene Eröffnung hatte ich nicht mal mitgekriegt, dass er inzwischen in Betrieb war.
Der Flug war schlimm.
Von ein paar Wochenenden bei meiner Schwester in Hamburg abgesehen, hatte ich die Monate seit Beginn der Pandemie ausschließlich in Berlin verbracht. Wo kamen all diese Menschen her und wann hatten sie sich das letzte Mal gewaschen? Früher war ich gerne geflogen, nie hatten mir Morgenflüge etwas ausgemacht, selbst zwischen Mundgeruch und fettigen Haaren freute ich mich auf Italien. Mehrmals im Jahr war ich nach Rom geflogen, und jeden Sommer hatte ich zwei Wochen in unserem Partnerhaus auf Sizilien verbracht. Ich arbeitete für die Verwaltung einer internationalen Künstlerresidenz, deren Direktorium in New York saß. Die Organisation hatte in den USA drei Häuser, in denen ich nie war, und zwei in Europa – eine Villa in Brandenburg zwischen Potsdam und Werder, und einen ehemaligen Bauernhof in der Nähe von Palermo.
Ich war für die Betreuung der Künstler zuständig, die nach Deutschland kamen. Über die Bewerbungen entschied eine jährlich wechselnde Jury, die Stipendiaten waren Schriftsteller, Musiker, Fotografen, Illustratoren und bildende Künstler. Sie kamen selten aus Deutschland. In ihren Heimatländern waren sie manchmal schon etabliert, darüber hinaus fast immer unbekannt. Meistens blieb es so. Auf Sizilien dagegen landeten die Erfolgreichen, Namen, die man überall kannte. Wer dorthin durfte, entschied ein Gremium in New York. Manche behaupteten Jack Nicholson sitze in dieser Jury, jemand anderes erzählte von einem Holocaustüberlebenden. Man konnte sich für Italien nicht bewerben, für Italien wurde man ausgewählt. Es waren nur Schriftsteller. In einem Sommer luden sie Karl Ove Knausgård ein. Danach veröffentlichte er im New Yorker einen Essay darüber, dass er im Süden besser denken könne. Etwas mit dem Lichteinfall auf abblätterndem sizilianischem Putz. Christian Kracht sagte trotzdem ab.
Mit dem Beginn der Pandemie verwaiste unser Haus an der Havel. Die Künstler konnten nicht mehr anreisen, und ich begann mein Leben zu überdenken. Den Rest davon vielleicht doch mit anderen Dingen zu verbringen als Honorarverträgen, Stehempfängen, Get-together-Events, Wochenmenüs, Schlüsselübergaben und Putzplänen. Nicht zu vergessen all die Notizbücher und Kaschmirpullover, die ich ihren Besitzern quer durch die Welt hinterherschickte.
Niemand überredete mich, zu bleiben.
Meine Kollegen reagierten, als würde dann eben jemand anderes fortführen, was ich siebzehn Jahre lang gemacht hatte. Und so war es ja auch.
Ich zweifelte nicht an meinem Entschluss.
Drei Tage vor meinem vierzigsten Geburtstag, einem grauen Tag im März, holte ich meine Sachen aus dem Büro. Einen alten Laptop, das Heft, in dem ich die Nahrungsmittelunverträglichkeiten der Stipendiaten notiert hatte, einen Stiftebecher aus rosa Pappmaché, den mir ein mexikanischer Musiker geschenkt hatte. Und das Manuskript einer deutschbelgischen Autorin, die während ihres Aufenthalts einen Nervenzusammenbruch gehabt hatte. Wir hatten ihr alle Sachen aus der Wohnung nachgeschickt, das Manuskript hatte im Kühlschrank gelegen. Und ich hatte es eingesteckt.
Es war nur ein Fragment, kein richtiges Manuskript.
Wochenlang hatte ich mir vorgenommen, es der Frau zukommen zu lassen, aber sie fragte nicht danach, meldete sich nie wieder. Ich googelte sie täglich. Auch bei ihren Verlagen erkundigte ich mich, aber keiner konnte mir etwas sagen, der belgische Lektor nicht, der deutsche nicht.
Als hätte sich die Frau in Luft aufgelöst.
Erst nach meinem letzten Arbeitstag wurde mir klar, wie überreizt ich war. In der S-Bahn, auf dem Weg zurück ins Berliner Zentrum, begriff ich, wie satt ich war von all den wechselnden Gesichtern, Biografien, Projekten, Neurosen. Ich lehnte meinen Kopf gegen die Scheibe, schloss die Augen und stellte mir vor, wie es wäre, wochenlang nichts zu tun, vielleicht nicht mal mehr Tampons zu kaufen. Daran dachte ich, keine Tampons mehr kaufen, aber natürlich kaufte ich weiter Tampons. Und als Ela fragte, ob ich nicht vorübergehend bei ihr einsteigen wolle, weil sie seit dem Lockdown mit der Arbeit nicht mehr fertig wurde, sagte ich ebenfalls zu. Sie betrieb einen kleinen Bioladen in Rixdorf, und ich hatte plötzlich Lust auf körperliche Arbeit. Auf eine, bei der ich nicht permanent etwas bedenken musste. Ich hatte keine Angst vor dem Virus. Oder: Ich fürchtete es nicht mehr, als alleine zuhause zu sitzen.
Ehe ich mich’s versah, verging das Frühjahr der Apokalypse, und ein trügerischer Sommer begann, in dem ich keine Lust hatte zu verreisen, schon gar nicht nach Italien. Ich fürchtete, dass dort alles anders wäre, als hätte das Virus Italien in ein dunkleres Land verwandelt. Ein anstrengender Winter folgte, und wieder begann ein seltsames Frühjahr und schließlich ein Sommer, in dem man hoffte, alles wäre endlich vorüber. Nun war Herbst, und ich saß in diesem Flugzeug nach Griechenland, und keiner wusste, ob es endlich vorüber war, aber die meisten waren geimpft und fühlten sich sicher. Auch ich. Es war nicht die Angst vor einer Ansteckung, die mich in diesem Flieger umtrieb, es waren die Menschen. Ihr Geruch, ihr Gerede, ihr Leben. Diese Nähe.
Ich saß zwischen einer Mutter und ihren pubertierenden Kindern und einem älteren Ehepaar. Ich am Gang, rechts, direkt neben mir, das Paar, links die Familie. Die Mutter hatte die Kapuze ihres Pullovers über den Kopf gezogen und bewarf ihre gähnenden Kinder mit Hanuta, dann bestellte sie Porridge bei der Bordcrew – zwei Männer, die unerträglich gute Laune hatten. Dass mittlerweile sogar in Flugzeugen Haferschleim angeboten wurde, war etwas, das ich noch nicht mitgekriegt hatte.
Bei uns hatte einmal ein Haferbauer aus Edinburgh an einem Manuskript über zwei verfeindete Familien im schottischen Porridge-Business gearbeitet, aus dem später ein Bestseller wurde. Wochenlang hatte er sich in seinem Zimmer verschanzt, nie sah man ihn. Außer an der Begrüßungsrunde nahm er an keiner Veranstaltung teil, nicht einmal zum täglichen gemeinsamen Abendessen erschien er. Normalerweise war das Pflicht, aber ich wies ihn nicht zurecht. Er hatte mit seinem blonden Schnurrbart ausgesehen, als stammte er aus dem 19. Jahrhundert, und er meinte es ernst mit dem Schreiben. Er sprach verständliches Englisch, sodass ich anfangs bezweifelte, dass er wirklich Bauer und Schotte war. Nach drei Monaten, nach Ablauf der Residenzzeit, kam er in mein Büro und bat mich, mit ihm auszugehen, er sei jetzt fertig mit dem Buch und wolle sich betrinken.
That would be lovely, sagte er.
In einem Pub im Berliner Westend verloren wir kein Wort über den Siegeszug des Haferschleims, dem er sich in seinem Roman widmete. Er erzählte stattdessen, dass er vor seiner Zeit als Bauer länger in Spanien gelebt hatte. Er unterrichtete dort Englisch und hatte sogar eine Freundin gefunden, drei Jahre älter, bernsteinfarbene Augen, diese Dinge. Er widmete sich den Fakten genauso behutsam wie einigen wenigen Details, schönen Details, und er erzählte mit einer Ruhe, die mich faszinierte, weil sie selten geworden war. Er schaute kein einziges Mal auf sein Telefon.
Eines Tages, so berichtete er weiter, habe ihn solches Heimweh gepackt, dass er wusste, er müsse so schnell wie möglich zurück nach Schottland. Er griff nach seinem Glas und ließ den Whisky darin kreisen, dann beschrieb er den Moment, als er in Edinburgh landete, noch im Flieger seine schottische SIM-Karte einlegte, um auf dem Weg vom Flughafen in die Stadt all seinen Freunden zu schreiben, die sich keine zwei Stunden später im Haus seines Vaters zusammenfanden und schon bald das mitgebrachte Bier im Flur stehen lassen mussten, weil in der Küche kein Platz mehr war. Er grinste vor sich hin, sah mir dann irritierend lange in die Augen und sagte, am nächsten Morgen habe er den Kater seines Lebens gehabt – but, my God, I was home again!
Menschen, die so sicher wussten, wo ihr Platz auf dieser Welt war, hatte ich immer beneidet. Meiner, so viel wusste ich, konnte nicht in diesem Flugzeug nach Griechenland sein. Wir waren bald zwei Stunden in der Luft, als der Mann in meiner Reihe von seinem Fensterplatz aufstand, um, wie ich zunächst glaubte, zur Toilette zu gehen. Er ging aber nicht zur Toilette, sondern stellte sich mit dem Rücken zur Tür davor und sah munter in die Reihen der Passagiere. Wir, seine Frau und ich, konnten das nicht übersehen, denn wir saßen in der zweiten Reihe mit direktem Blick auf die feixenden Stewards und die beiden WCs. Mir war es vollkommen gleich, was der Mann tat oder nicht, es war ja sein gutes Recht, nach dem langen Sitzen auch mal einen Moment zu stehen, aber seine Frau wurde immer unruhiger in ihrem Sitz neben mir. Während sie versuchte, ihren Mann mit Gesten zurückzuwinken, schüttelte der nur langsam seinen Kopf und richtete den Blick wieder auf die Leute hinter uns. Je länger er da so stand und sich selbst genügte, desto wilder wurden die Gesten der Frau. Dazu verfiel sie nun auch noch in eine Art lautes Flüstern, formte ständig Befehle mit ihrem Mund, ohne wirklich zu sprechen, wobei ihr manchmal so ein komisches Zischen entwischte. Ich fand das alles unerträglich, aber irgendwie auch lustig. Es kam mir vor, als hätte der Mann nach Jahren, vielleicht sogar Jahrzehnten endlich eine Möglichkeit gefunden, seinen eigenen Standpunkt zu behaupten, und je länger er da stand, desto mutiger fand ich ihn. Sobald die beiden alleine waren, würde ihn ein gewaltiges Gewitter erwarten, die Reaktion seiner Frau ließ keinen anderen Schluss zu. Sie konnte einfach nicht begreifen, dass ihr Mann ein paar Minuten stehend in diesem Flugzeug verbringen wollte, statt neben ihr zu sitzen.
Vielleicht war aber auch alles, wie so oft, ganz anders.
Wenigstens lenkte mich ihr peinliches Schauspiel ein wenig ab, bis wir bald darauf landeten. Aus den linken Fenstern konnte ich das Meer sehen und aus den rechten das Flughafengebäude. Darin drückten sich unzählige Menschen gegen die Scheiben, ganz dicht standen sie davor, ich meinte fast, ihre platten Nasen zählen zu können. Das alles, um Flugzeugen beim Starten und beim Landen zuzusehen? Mit einem Versprechen an mich selbst stieg ich aus dem Flieger: Dass ich alle künftigen Reisen mit der Bahn oder mit dem Schiff machen würde oder von mir aus auch mit dem Auto.
Die Tatsache, dass ich bereits für sieben Tage später einen Rückflug hatte, blendete ich aus.
Im Terminal empfing uns eine Traube schwarz gekleideter Polizisten. Das würde ewig dauern, dachte ich, aber dann trat nur einer von ihnen nach vorne, während die anderen unschlüssig um ihn herum standen. Dieser eine Polizist warf einen halbherzigen Blick auf die gezückten Telefone mit den Impfnachweisen, und auch sonst wollte niemand etwas von mir. Für einen Moment war ich beschwingt, Deutschland hinter mir gelassen zu haben, wenigstens für die nächsten Tage. Die vergangenen zwei Jahre waren vielleicht ein wenig zu lang gewesen. Es war schön, wieder einmal unter einem blauen Himmel zu stehen. Natürlich war auch der in Berlin manchmal blau, und die Sommer dort konnten ganz fantastisch sein, aber jedes Mal, wenn ich die Stadt verließ und woanders an sie dachte, sah ich sie im Wintermodus, egal, welche Jahreszeit wirklich war. Und von Oktober bis April sah der Berliner Himmel eben immer aus, als hätte ihm jemand eine Decke übergeworfen. Man fand auch niemals den Mond.
Draußen vor dem Gebäude wartete ein Spalier Männer mit Schildern. Ich ging die Reihe einmal ab, langsam, gründlich, aber meinen Namen fand ich nirgends. Es war das erste Mal, dass ich von einem Fremden abgeholt werden sollte. Wenn ich früher irgendwo gelandet war und in der Ankunftshalle diese Menschen mit ihren Schildern sah, hatte mich das immer traurig gemacht. Dass da jemand warten musste, der so gar nichts von einem wusste. Nicht einmal, wie man aussah.
Ich versuchte mich an den gestrigen Abend zu erinnern. Ela hatte doch gesagt, der Besitzer der Unterkunft würde einen Fahrer schicken. Oder nicht?
Ich ging wieder nach drinnen, überlegte, ob der Mann – ich hielt es für ausgeschlossen, dass es eine Frau sein könnte – vielleicht dort auf mich wartete, vielleicht hatten wir uns verpasst. Und drinnen sah ich tatsächlich einen älteren Mann mit einem Schild, aber auf dem stand family zusammen mit einem Namen, den ich sofort wieder vergaß. Ich steuerte einen Getränkeautomaten an, bis ich sah, dass darin keine Flaschen hingen, sondern Pflanzensamen. Saatgut in einem Flughafenterminal? War das ernst gemeint? Ein griechischer Glücksbrauch vielleicht? Ich kramte zwei Euro aus meiner Tasche und warf sie ein. Es gab Kräuter, Gemüse und Blumen. Rucola oder Auberginen wollte ich nicht, aber ich nahm Gerbera.
Dass ich einen Schluck Wasser hatte trinken wollen, hatte ich vergessen, und als ich erneut aus dem Terminal trat, um nach meinem Fahrer Ausschau zu halten, kam er gerade auf mich zu. Ein kleiner Mann mit Goldkette, Pferdeschwanz und aufgeknöpftem Hemd. Seine ganze Erscheinung schien einer Vergangenheit anzugehören, die hier noch Gegenwart war. Das gefiel mir. Ich winkte, er blieb stehen. Dann schloss ich zu ihm auf, und wir gingen zusammen in die Richtung, aus der er gekommen war. Er trug meine Tasche in der Hand, mit der er das Schild mit meinem Namen hielt, die andere brauchte er für seine Zigarette. Er hatte auch Brusthaar. Er hätte einunddreißig sein können oder zweiundfünfzig. Er sah aus wie eine Karikatur.
Wir stiegen in einen grauen Mercedes, der in einer langen Reihe identisch aussehender Wagen stand, und ich bewunderte den Mann für seinen Instinkt, weil er sofort in das richtige Auto stieg. Auf der Fahrt sprach er kein Wort, und mir fiel nichts ein. Ich wollte ihn nicht mit Englisch behelligen, wozu auch, und dann klingelte sein Telefon, und er unterhielt sich über die Freisprechanlage mit einem anderen Mann auf Griechisch. Es klang zornig und gleichzeitig belustigt. Ich öffnete das Fenster einen Spalt. Links, auf den Hängen neben der Straße, sah ich Ziegen. Zur anderen Seite lag das Meer, blau und ewig. Als der Grieche fünfzehn Minuten später fünfunddreißig Euro verlangte, gab ich ihm Trinkgeld. Er hatte ja auch das Schild mit meinem Namen gebastelt. Außerdem mochte ich seinen Pferdeschwanz.
Zuerst sah ich den Gartenschlauch. Der Besitzer kam damit um die Ecke und rief: Molto secco! Ich drehte mich um, als würde er jemand anderen meinen. Oder vielleicht auch, als würde hinter mir jemand stehen, den ich fragen konnte: War das wirklich eine griechische Insel? Wieso redete der Mann dann italienisch?
Paolo, sagte er nun und hielt mir seine Hand hin.
Diese Hand erinnerte mich sofort wieder an das Virus, aber natürlich schüttelte ich sie trotzdem. Er hatte keinen Bart, er lachte auch nicht, vielleicht war er gar nicht der Mann, den mir Ela im Morgengrauen auf ihrem Telefon gezeigt hatte.
Ich nannte ebenfalls meinen Namen, wusste aber nicht, was ich darüber hinaus sagen sollte. Aber Paolo hatte sich auch schon meine Tasche gegriffen und war damit zur Treppe gelaufen.
Das Haus glich einem dreistöckigen Würfel, grünweiß angestrichen, mitten in einem Olivenhain, der wiederum auf einem Berg lag. Meine Wohnung war im obersten Stock, daneben eine zweite, im mittleren Stock hatten drei Appartements Platz, unten wohnte Paolo, er wohnte dort mit seinem Esel.
Ich war der einzige Gast.
Paolo war mittlerweile zu Englisch übergegangen, erzählte, dass er schon seit zwanzig Jahren in diesem Haus wohne. Er habe Sizilien verlassen, um hier zu leben. Das sei einfach passiert, seine Mutter sei krank gewesen und wollte noch einmal nach Griechenland, woher die Großmutter stammte. Nun sei seine Mutter lange tot, aber er sei immer noch hier, und die Insel sei so unglaublich trocken, kein Regen seit April. Jeden Tag müsse er nachhelfen, sonst werde das nichts mehr mit der Olivenernte im Dezember.
Er sah mich nicht an, während er sprach.
Er machte auch keine Pause.
Viele der Gäste kämen aus Berlin, sagte er, manche aus Paris, sagte er, ein paar aus New York, sagte er, und all diese Gäste wollten bei ihm ihre Ruhe haben. Ja, wenn er eines versprechen könne, dann, dass ich meine Ruhe haben würde.
Er sah mich immer noch nicht an.
Oben an der Straße fahre aber auch jede Stunde ein Bus in die Stadt. Er machte eine vage Handbewegung, auf der linken Seite in die eine, er wiederholte die Handbewegung, auf der rechten in die andere, jede Stunde, betonte er.
Ich fragte ihn, welche der beiden Städte er empfehle, und nun sah er mich an: I don’t like cities!
Wir standen nebeneinander auf der Terrasse und schauten hinunter auf die Olivenbäume. Ich überlegte, ob er mir seinen Esel vorstellen würde und ob ich ihn danach fragen konnte. Auf dem gegenüberliegenden Hügel stand ein Haus, vor dem ein Hund ohne Pause bellte. Hinter dem Hain schlängelten sich Serpentinen über einen Berg, auf dem mehrere Lastwagen unterwegs waren. Nur ein kleines Stück dahinter war das Meer zu sehen, es ging direkt in den Horizont über. Ich schloss meine Augen und atmete tief ein. Es roch nach Thymian. Als ich sie wieder öffnete, war Paolo fort, aber in der grünen Holztür, die in meine Wohnung führte, steckte ein Schlüssel.
Ich hatte keine Ahnung, wie spät es war, als ich aufwachte. Ich hatte beide Fenster geöffnet, das eine lag zum Berg hin, das andere schaute aufs Meer hinaus. Es war das perfekte Schlafzimmer. Ich hatte mich sofort hingelegt und war in einem schwarzen Nichts versunken.
In der Küche fiel mir der seltsame Geruch wieder auf, den ich vorhin schon bemerkt hatte. Ich konnte ihn nicht zuordnen und vermutete, dass er von den Holzdielen kam, die recht mitgenommen aussahen. Das kleine Appartement war würfelförmig wie das ganze Haus. Kam man zur Tür herein, stand man auch schon im Flur, im Wohnzimmer und in der Küche, die zusammen einen Raum bildeten, der an eine Schiffskajüte erinnerte. Dahinter lag ein winziges Badezimmer, daneben das Schlafzimmer. Ich öffnete die Schiebetür zur Terrasse und setzte mich draußen auf die Bank. Der Hund vor dem Haus am Hang gegenüber war endlich verstummt. In der Ferne hörte ich Glocken, die vermutlich ein paar Ziegen vom Hals baumelten. Ich schloss wieder die Augen, aber ich war zu hungrig für die Stille.
Das Erdgeschoss war verwaist, alle Türen verschlossen, der Geländewagen von Paolo fort. Ich spazierte bergab Richtung Dorf, bis ein kleines Schild nach links zeigte, das einen supermarket versprach. Das Dorf konnte warten. Ich kaufte dunkles Brot, Oliven, ein bisschen Käse und eine Packung Feigen. Der Mann hinter der Kasse trug keine Maske und sah aus, wie Kevin Spacey aussehen würde, wenn er sein Leben am Meer verbracht hätte.
Draußen vor dem Supermarkt konnte ich deutlich das Haus von Paolo erkennen, das grün-weiß auf dem Berg thronte. Im ersten Moment war ich entmutigt, die ganze Strecke zurücklaufen zu müssen, aber dann ging es natürlich doch.
Paolos Wagen war immer noch nicht zu sehen. Allmählich schien sich der Himmel einzutrüben, trotzdem aß ich auf der Terrasse. Bis ich plötzlich einen widerlichen Geruch in der Nase hatte und mitten im Kauen innehielt. Ehe ich richtig begriff, dass der Gestank nicht von meinem Abendessen kam, hörte ich einen leisen Schrei. Eine Katze lugte um die Ecke und schleppte sich dann zielstrebig in meine Richtung. Das Tier hinkte und hatte Durchfall, ein kleiner Tiger, süß und abstoßend zugleich.
Das Kätzchen versuchte, zu mir auf die Bank zu klettern, ich wehrte es ab. Hochspringen konnte es nicht, weil sein linkes Hinterbein vom Auto des Nachbarn mit dem bellenden Hund zertrümmert worden war, wie ich bald erfahren würde. Seine Geschwister ließen sich nicht so leicht abwimmeln. Was ich an dem Abend aber noch nicht wusste. So wie ich an jenem Abend auch noch nicht wissen konnte, dass ich dieses invalide Tigerchen ein paar Tage vor meiner Rückreise ertränken würde.
Ich bin nicht stolz drauf.
Bevor ich nach drinnen flüchtete, verteilte ich für die Katze etwas Feta auf dem Boden. Der Gestank hatte mir ohnehin den Appetit verdorben. Und der Himmel war mittlerweile schwarz.
Ich hatte gerade geduscht, als ein gewaltiger Regen losbrach. Es war noch früh, aber mir fiel nichts anderes ein, als mich ins Bett zu legen. Vorher nahm ich mein Telefon aus der Tasche und deaktivierte den Flugmodus. Ela hatte gefragt, ob ich gut angekommen sei, außerdem kam eine SMS, die das Taxi ankündigte, das mich am Morgen nach Schönefeld gefahren hatte. Sonst nichts.
Von Katja nichts.
Natürlich nicht.
In der ersten Nacht träumte ich.
Ich träumte davon, wie ich mit Katja und Ela im Gras lag, im Freibad in der Wuhlheide, das wir alle drei liebten, weil dort niemand hinging, den wir kannten. Bald brachte Ela Pommes, aber Katja musste sich davon erbrechen, und dann war Ela auf einmal verschwunden, während eine getigerte Katze sich über Katjas Kotze hermachte. Nun überkam mich ein Brechreiz, ein vollkommen echter Brechreiz, sodass ich aufwachte, so wie ich auch immer aufwachte, wenn ich in einem Traum weinte oder einen Orgasmus hatte oder dachte, ich müsse sterben.
Von draußen schien der Mond auf mein Bett.
Er hing direkt über dem Berg neben Paolos Haus.
Das Gewitter hatte sich beruhigt, der Regen klopfte nur noch leise auf das Dach. Mir fiel ein, dass ich in Griechenland war. Es fühlte sich an, als wäre ich in Sicherheit. Ich schlief wieder ein, ich schlief am liebsten bei Regen. Als Kind fand ich nur in den Schlaf, wenn ich zuvor am Himmel den Mond gesehen hatte. Ich glaube, es ging mir um Ordnung.
Dass die Dinge an ihrem Platz waren.
Katja, Ela und ich haben eigentlich nur einen Sommer so richtig miteinander verbracht, es ist ewig her. Simon, mein damaliger Freund, war gerade mit einem Stipendium in Frankreich, Katja war seit zwei Jahren mit Gustav verheiratet und hatte mehr Zeit als sonst, und Ela redete von ihrem Ex, einem dürren Texaner namens Derek. Ein Tänzer. Ela und er waren damals schon lange getrennt, aber jeder, der verlassen wird, muss sich darüber eine Geschichte erzählen. Ela präsentierte uns jede Woche eine neue Version ihrer Geschichte. Einmal unterbrach Katja sie und rief: Mensch; Ela, vielleicht hättest du mal mit den Türen knallen müssen, Männer mögen das! Woraufhin Ela aufsprang und von Katjas Balkon in die Küche ging, wo sie sich umdrehte: Ja, mögen Männer das? Dann knallte sie Katjas Wohnungstür zu und schmollte zwei Wochen.
Katja konnte das gut: Ratschläge geben, die ein wenig gehässig klangen. Katja konnte sich ihre Gedanken selten verkneifen, Katja brauchte Platz. Eigentlich stritten sie und Ela ständig, trotzdem habe ich nur schöne Erinnerungen an diesen Sommer. Wahrscheinlich, weil ich Katja so oft sah, fast so oft wie früher. In manchen dieser Sommernächte vergaß ich sogar, dass ich einen Freund hatte, und vielleicht hatte ich Simon sowieso nur aus Panik in mein Leben gelassen, weil Katja Gustav geheiratet hatte.
Katja war für mich in Berlin der erste Mensch gewesen, mit dem Berlin plötzlich Spaß machte. Ich hatte Hamburg direkt nach dem Abi verlassen und schrieb mich in Berlin für Klassische Archäologie ein. Ich glaubte, ich könnte damit vielleicht die Zeit anhalten, vor allem aber war es Trotz. Ich wollte etwas studieren, was niemandem aus meinem Jahrgang eingefallen war. Ich hielt ein halbes Semester durch.
Es fällt mir schwer, mich daran zu erinnern, ich sehe nur diesen einen Professor vor mir, dessen Büro in einem denkmalgeschützten Flügel lag. Ich verlief mich, wenn ich zu ihm wollte, und es konnte mir keiner helfen, weil sich dort niemand zurechtfand. Wenn ich dann irgendwann angekommen war, hockte er hinter seinem Schreibtisch, ein Schreibtisch wie ein Wall, ein Wall aus dunklem Holz, und dieser Wall wiederum stand vor einer Wand, die ebenfalls aus dunklem Holz war. Ich stellte mir vor, wie der Tisch in dieser Wand verschwinden würde, sobald ich gegangen wäre, der Schreibtisch mitsamt meinem Professor. Mir fällt auch sein Name nicht mehr ein, nur, dass er Holländer war.