Wenn, dann trifft es uns beide - Alexandra Stahl - E-Book

Wenn, dann trifft es uns beide E-Book

Alexandra Stahl

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Beschreibung

Zwölf Geschichten über ein Gefühl, das Liebe sein könnte, wäre es nicht dermaßen vergeblich oder schon wieder egal oder so wahnsinnig anstrengend. Zwölf Geschichten über Gefühle, die abhandengekommen sind oder noch nie da waren oder im Regal einfach zu weit oben stehen. Zwölf Geschichten über Menschen, die vielleicht zwei Bildschirme haben, aber immer noch nur ein Gehirn. Und ein Herz. Es sind Geschichten von heute an Orten von heute: schräg und schnell, böse und berührend. Aus dem Altenheim oder bei Google, beim Tierarzt oder im Erlebnispark des Diktators, von der Insel oder vom Tresen, unter dem irischen Heizpilz oder im slowenischen Biergarten, während der Theaterproben oder nach dem dritten Negroni, hinter dem Küchenfenster oder im Zug mit sieben Kindern. Es sind Geschichten aus einer Welt, in der selbst Katzen Stimmungsaufheller kriegen. Wo Waschbären Internetstars sind. Oder Papageien Nazis. Oder Hunde John Belushi heißen.

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Die Arbeit an diesem Buch wurde gefördert mit einem Literaturstipendium der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Europa.

Die Autorin dankt außerdem dem Deutschen Kulturforum Östliches Europa.

© 2022 Jung und Jung, Salzburg und Wien

Alle Rechte, einschließlich der Vervielfältigung, Veröffentlichung, Bearbeitung und Übersetzung, bleiben vorbehalten

Umschlagbild: Wardrobe Snack 4161 © Kelsey McClellan

Umschlaggestaltung: BoutiqueBrutal.com

eISBN 978-399027-187-2

ALEXANDRA STAHL

Wenn,dann trifft esuns beide

Storys

Für Johanna

If you put a dog in your Christmas photo,nobody will look at the family;they’ll only look at the dog.

Ann Beattie

Last Christmas

The loss of meaning

John Belushi

Schöne Aussicht

Die Tage im August

Ist Luisa hier?

Kalsarikännit

Herr Rosen

Pola

Die Frage ist nur, wann

Larry Amore

Irgendwie schon, aber irgendwie auch nicht

LAST CHRISTMAS

Womit Anna ihre Erzählung später immer beginnen würde:

Keiner war älter als dreißig.

Die Frauen trugen kleine Kreolen und eng anliegende Rollkragenpullover aus dünnem Stoff, die Farben unauffällig, darüber Goldkettchen. Eine Neunzehnjährige hatte ihr Haar grau gefärbt. Die Männer sahen gut gelaunt aus und hielten die Arme vor dem Körper verschränkt, nicht ablehnend, nur professionell. Alle hatten sehr schöne Brillen.

Das waren die Teamfotos im Internet.

Die schwarzen Rucksäcke, mit denen Annas Kollegen ins Büro kamen, sah man darauf nicht, genauso wenig wie die Mützen in Neonfarben, mit denen manche ihre Individualität unterstreichen wollten. Vergeblich, denn was Anna als Erstes dachte war: Alle sehen so gleich aus?

Das Büro lag am Fluss, den eine lange Reihe halbverfallener Backsteingebäude säumte, ehemalige Fabriken, nur wenige so weit renoviert, dass Menschen darin arbeiten konnten. Die, die das taten, standen in diesem Herbst oft mit ihren Mobiltelefonen vor den schweren Türen, aber nie mit Zigaretten. Es gab so wenig Raucher wie Wände. In den Fahrstühlen fehlten die Spiegel, auf den Toiletten auch. Manche Frauen machten Selfies nach dem Händewaschen, um sicherzugehen. In den Kaffeeküchen war es immer kalt.

Anna war seit dem Sommer in der Stadt. Hatte sich ein Rennrad gekauft, das nach zwei Wochen geklaut wurde. Hatte Pflanzen auf ihren kleinen Balkon gestellt, die sich schnell wieder aus ihrem Leben verabschiedeten. An dem Tag, an dem sie sich vornahm, sie endlich zu entsorgen, kam die Zusage.

Das Vorstellungsgespräch war holprig gewesen, ihre Internetverbindung. Einmal blieben die Gesichter ihrer künftigen Chefs hängen, zwei Gesichter, die für zwanzig Sekunden zu Fratzen wurden und dann wieder zu jungen Männern mit großen Zähnen. Am gleichen Abend hatte Anna den Trailer zur Neuverfilmung von Es entdeckt und über den Clown gelacht, am nächsten Morgen hatte sie Gesichter im Spiegel geübt, Gesichter und Frisuren. Bis ihre Mitbewohnerin sich vor dem Bad geräuspert hatte und es klang, als würde sie ganz dicht vor der Tür stehen.

Seit diesem Morgen im September teilte sich Anna einen hellen Holztisch mit drei Menschen, zu denen Paul sie gebracht hatte. Paul war einer der beiden Chefs mit den großen Zähnen und sah genauso aus wie Richard, sein Bruder, der zweite Chef. Sie waren keine Zwillinge. Es waren die Zähne und die Art, wie sie sprachen. Einen Tick zu laut, einen Tick zu deutlich. Anna konnte sie nur auseinanderhalten, weil Richard hellblaue Hemden trug und Paul keine Schuhe. Auch auf Socken verzichtete er. Und den Fahrstuhl.

— Das mit den Füßen, hatte Melvin als Erstes gesagt, ist so ein Buddhistenquatsch. Musst du nicht ernst nehmen.

— Okay, hatte Anna geantwortet und gelächelt.

Melvin, der direkt neben ihr saß, hatte ihr zur Begrüßung zwar nicht die Hand gereicht, aber zurückgelächelt.

Die beiden Frauen am Tisch hießen Nora und Olga. Sie waren immer gestresst, aber nie unfreundlich. Manchmal sagte Nora laut Fuck! und leise Sorry, und Olga stöhnte. Darüber hinaus sprachen sie nur in der Kaffeeküche und auch nur miteinander. So viel wusste Anna nach ihrer ersten Woche, und nach ihrer dritten stand wieder Paul neben dem hellen Holztisch. Er bat Anna darum, sich um das Essen für die Weihnachtsfeier im Dezember zu kümmern.

Anna sah abwechselnd Melvin und Paul an.

— Nicht selber machen, sagte Paul, nur organisieren. Machen unsere Neuen immer. Rechnung dann an mich.

Paul artikulierte den letzten Satz besonders deutlich. Anna starrte auf seine Zähne.

— Und –

— Nothing fancy!, rief Paul im Fortgehen.

Das war Melvins Stichwort, er lachte kurz auf.

Was Anna damals noch nicht wusste:

Dass ein Mensch noch nicht automatisch interessanter wurde, nur weil er Englisch sprach.

In jenem Herbst verbrachte Anna viele Abende im Internet. Suchte nach einem fancy Lieferservice. Asiatisch? War bald überfordert. Sie beschloss mit dem Nachtisch anzufangen, weil sie davon ausging, dass von ihr wenigstens ein selbst gebackener Kuchen erwartet wurde. Und wenn nicht, so erwartete sie ihn von sich selbst. Sie landete bei Backmischungen, las von Scones, Shortbread und Poppy-Lemon-Muffins. Kaufen brauchte man immer nur die Butter, aber das deprimierte Anna auf eine vage Weise, und zwar vor allem deshalb, weil sie so vage war.

So ein Abend im Internet verging immer schnell und brachte selten ein Ergebnis.

Anna klickte sich durch handcrafted rugs und Decken, aus denen einer die Farbe geschüttelt hatte. Sie studierte Zimmer, die exakt so aussahen wie ihr eigenes, trotzdem war sie überzeugt, dass sie ein Detail übersehen hatte, eines, das ihr Leben verändern würde. Ein Schaukelstuhl?

Anna überarbeitete auch regelmäßig ihr Profil in einem Jobnetzwerk, zumindest nahm sie sich das vor, immerhin zahlte sie jeden Monat Geld dafür. Meistens blieb sie aber an dem Slogan hängen – Mach Deinen Job zu Deinem Leben! – und an den Städtenamen, die sich darum gruppierten wie Früchte, die man nur vom Baum reißen musste. Säße Anna in Barcelona nicht wirklich in einem Schaukelstuhl?

An einem Abend dachte sie sich endlich ein paar Sprachkenntnisse aus.

Spanisch: Fließend.

Englisch: Verhandlungssicher.

Was Anna damals genauso wenig wusste:

Dass auch ein Leben noch nicht automatisch interessanter wurde, nur weil darin Englisch vorkam.

Oder Spanisch.

Oder ein Schaukelstuhl.

Es war im Büro, als Anna beschloss, ihre Mutter nach einem Rezept für Marmorkuchen zu fragen. Das war fancy, weil es nicht fancy war. Anna hatte in einem Magazin gelesen, dass man Dinge ironisch brechen musste. Seitdem konnte sie auch mehr mit den hässlichen Neonmützen anfangen. Zufrieden mit ihrer Entscheidung traf sie gleich noch eine zweite: Filterkaffee.

In der Küche standen Nora und Olga und reagierten nicht, als Anna kam. Sie irritierte das nicht mehr, trödelte nur, um mitzuhören. Die beiden sprachen aber so leise, dass sie außer Total! nichts verstand.

Anna widmete sich ihrem Telefon, bis die beiden die Kaffeemaschine freigaben. Sie scrollte sich durch die Tipps einer portugiesischen Influencerin mit definierten Oberarmen. Einer war: Sit-ups nach dem Aufstehen und Liegestütze während des Kochens.

Außerdem: Share your progress on social media for motivation! Aber: Go offline!

Dann: Go outdoors and meditate! Be silent! Aber: Meet new people, make new friends!

Schließlich: Give in to cravings – not too much, just a bit!

Anna fragte sich, wer auf der Welt nur einen Keks aß oder nur eine Kugel Eis, und war so empört, dass sie vergaß, Kaffee zu kochen. Stattdessen ging sie zurück zu ihrem Platz, wo Melvin sich gerade ein viel zu großes Stück Croissant in den Mund schob wie ein echter Mensch.

Anfang November traf sie sich mit ihm in einem Café, das Anna an eine unrenovierte Wohnung erinnerte.

Melvin kam mit Gary. Anna fand das in Ordnung, aber Garys Pullover zu klein.

— Ist der von einer Puppe?, fragte sie, während sie den Dackel streichelte und an seinem Outfit zupfte.

— Schön wär’s, winkte Melvin ab, hat mehr gekostet als mein eigener Pullover.

Anna lachte, und Gary sah ihr fest in die Augen. Also tätschelte sie seinen Kopf und entschuldigte sich. Melvin wiederum wirkte nicht, als wäre er beleidigt. Das mochte Anna an ihm: Dass er sich selbst nicht ernst nahm. Und eigentlich hatte sie erwartet, dass sich in einer Stadt, in der alle so viel Spaß hatten, niemand ernst nahm, aber dieser ganze Spaß schien harte Arbeit zu sein. Vor allem weil im Internet so viele zusahen.

Ein Mann in Jogginghose brachte Grüntee, Anna dachte an den japanischen Imbiss in ihrer Nachbarschaft. Die Frau freute sich jedes Mal sehr, wenn Anna kam. Sie redete Japanisch und Anna Deutsch, einmal ging das fast eine halbe Stunde so. Obwohl Anna keine Ahnung hatte, was ihr die Besitzerin erzählte, hatte sie danach immer gute Laune. Es war dann fast so, als müsste sie nicht alleine essen, auch wenn sie, gleich darauf, eben doch alleine aß. Von ihrer Mitbewohnerin war nichts zu erwarten. Anna hatte kurz nach ihrem Einzug zwei Steaks gekauft, ob sie die zusammen grillen wollten?

Die Mitbewohnerin: Sounds great! But let’s keep it on a professional level!

Seitdem wusste Anna, dass man professionell zusammenwohnen konnte. Es bedeutete, dass man den anderen zwar kotzen hörte, nicht aber miteinander kochen durfte. Annas Mitbewohnerin würgte jeden Morgen, schien jedoch zu glauben, dass Anna es nicht mitkriegte, wenn sie dabei den Wasserhahn laufen ließ. Anna hatte ein paar Mal überlegt, ob sie sie darauf ansprechen sollte. Nicht, um sie bloßzustellen, nur um zu vermeiden, dass die Nebenkosten in die Höhe schossen. Aber wie? Sie bat Melvin um Rat, und der befand: Ich liebe deinen Humor!

Und jetzt fragte er: Was macht die Party?

— Ich glaube, ich backe einen Marmorkuchen?, fragte Anna zurück.

— Für die ganzen Idioten?

— Wir brauchen doch einen Nachtisch.

— Also, ich nicht, sagte Melvin, aber als er Annas Enttäuschung sah, schob er nach: Hey, ich liebe Kuchen, aber den anderen reicht Reis mit Scheiß, da isst keiner was Süßes.

— Aber an Weihnachten?

Melvin hielt seine Zeigefinger vor dem Mund über Kreuz.

— X-Mas, flüsterte er beschwörend.

— Hm. Also, das Essen bestell ich beim Japaner.

— Sie werden dich lieben! Gehen wir spazieren?

Anna sah den Dackel an.

— Schafft er das?

— Tragen und pinkeln, unser Leben, stöhnte Melvin.

Annas Handy vibrierte. Jetzt stöhnte sie.

— Neues von Beppo?, fragte Melvin.

Er grinste und nahm Anna das Handy aus der Hand, um sich das Video von dem Waschbären anzusehen. Annas Mutter filmte ihn regelmäßig dabei, wie er die Katze jagte und aus den Mülltonnen fraß. Sie hatte ihn Beppo getauft, warum wussten Gott und Annas Mutter.

— Der wird echt immer dicker, sagte Melvin, ohne aufzusehen.

— Neulich hat sie ihn in dem Futterhäuschen für die Vögel erwischt und sein halber Hintern hing über, weil er gar nicht reingepasst hat!

Melvin gab Anna das Telefon zurück.

— Ach, deine Mom ist cool. Meine schickt mir nur Satzzeichen. Und sie nimmt nie nur ein Fragezeichen, sie nimmt eine ganze Zeile Fragezeichen. Oder Ausrufezeichen.

Gary bellte.

Draußen nahm Melvin Anna an die Hand und rollte mit den Augen: Gott, jetzt sind wir wieder in diesem Viertel, wo man an jeder Kreuzung überlegen muss, in welche Richtung man gehen soll!

Was Anna bereits nach wenigen Tagen begriffen hatte:

Egal, in welche Richtung man ging, man kam immer an einem Café raus, das wie eine unverputzte Wohnung aussah.

An diesem Nachmittag roch Anna schon im Flur, dass ihre Mitbewohnerin nicht zu Hause war. Wenn die ihr Zimmer verließ, blieb ihre Tür offen stehen, sodass sich der ganze Mief verbreitete. Schlaf und Schweiß und verbrauchte Luft. Anna war sicher, dass sie nie lüftete, ihr Bruder lüftete auch nie. Ihr Bruder aber war sechzehn und hasste die Welt. Annas Mitbewohnerin war über vierzig und besaß eine Handtasche aus echtem Leder. Manchmal dachte Anna: Wieso ist dieser Frau alles egal? Sie traute sich allerdings auch nicht, die Tür einfach zu schließen.

Also hielt sie im Flur die Luft an und öffnete in ihrem eigenen Zimmer das Fenster. Dann betrachtete sie Nora und Olga. Sie lagen in Schwarz-Weiß auf dem Deck eines kleinen Schiffs. Nora lachte, Olga rauchte. Anna stellte sich vor, wie ihr Leben wäre, wenn es so aussähe. Wäre sie eine Frau, von der sich andere Menschen fragten, was sie gerade tat?

Sie scrollte weiter.

Olga in Farbe, Olga in einer Küche. Sie trug ein übergroßes weißes Herrenhemd, sonst nichts, ihre Beine waren nackt. Das Hemd, Olgas zurückgegeltes Haar, die verblichenen Küchenfliesen im Hintergrund. Waren das die Zwanzigerjahre 2.0?

Sie klickte auf den Link unter Olgas Profil und landete auf einer Seite für Flüchtlingshilfe. Anna hatte Olga und Nora noch nie über Politik sprechen hören, außer einmal, da beschwerten sie sich über die afrikanischen Dealer im Park.

— Dass die immer Hello, Hello! sagen, obwohl klar ist, dass ich seit fünf Jahren nix von denen will, und dann fang ich doch heute auch nicht damit an, hatte Olga geflucht, und Nora hatte eingeworfen, vielleicht erkennen die dich nicht, vielleicht sehen wir für die auch alle gleich aus, aber Olga hatte sofort Einspruch eingelegt: Hallo, fünf Jahre?!

Anna schloss die Seite und suchte Videos von Waschbären. Einer wühlte in einem aufgerissenen Müllbeutel und griff geschickt nach einer Brezelhälfte. Unter dem Video Tausende Kommentare.

I want a raccoon SO bad!!

Anna ging zum Fenster, zündete sich eine Zigarette an. Ging zurück zum Schreibtisch. Holte ihr Telefon.

— Wusstest du, dass Waschbären fünf Finger haben, mit denen sie genau so zugreifen können wie Menschen?

Annas Mutter lachte.

— Nein, ich hab die vom Beppo ja noch nicht zählen können, aber wie geht’s dir denn, hast du schon was Warmes gegessen heute, bei uns ist’s jetzt richtig kalt ge –

— Mama, denkst du noch an das Rezept?

— Ja, das kann ich dir doch gleich sagen, Moment.

— Schick’s mir doch bitte, einfach ein Foto machen und –

— Aber.

— Mama!

— Schon gut.

Wenige Tage vor der Weihnachtsfeier überlegte Anna, ob sie etwas an sich ändern sollte. Grundsätzlich. Die Haarfarbe? Die Ohrringe? Sie probierte einen grünen Paillettenrock an.

Im Schaufenster hatte er noch gut ausgesehen.

Schließlich entschied sie sich für ein neues Gesicht. Sie schmiss ihre Wimperntusche fort und kaufte roten Lippenstift. Sie wusste, dass man das nude look nannte. Sie wusste auch, dass sie das sofort wieder vergessen musste. Aber sie gefiel sich. Fand sich älter, auf gute Weise.

Damit es nicht so auffiel, nahm sie ihr neues Gesicht schon in der Woche vor der Feier mit ins Büro. Melvin hatte Urlaub, die zweite Woche schon, und Olga und Nora schwiegen sogar in der Kaffeeküche. Einmal kam Anna von der Mittagspause zurück, als beide nicht am Platz waren. Olgas Bildschirm war gesperrt, der von Nora nicht. Darauf die Seite eines Online-Magazins, ein Interview zum Thema Bulimie in der Weihnachtszeit. Die Überschrift: Bei jedem Plätzchen laufe ich Gefahr, die Kontrolle zu verlieren!

Anna schrieb das Melvin, und der antwortete umgehend. So als wäre er gar nicht an einem Strand am anderen Ende der Welt, sondern nur ein kleines, rundes Foto in Annas Telefon und jederzeit verfügbar. Die meisten anderen Menschen in Annas Telefon waren verstummt.

Bilder, die noch immer keiner von der Wand genommen hatte.

Anna fuhr über das Trackpad, ihr Monitor leuchtete. Sie beschloss ihre Mittagspause zu verlängern und öffnete das Musikprogramm.

Hör dir Radiohead und 60 Millionen weitere Titel an!

Paul trug auch zur Weihnachtsfeier keine Schuhe. Aber rote Socken. Sie waren etwas mehr als dreißig Leute. Von allen Lampen hingen Mistelzweige. Anna kannte die anderen nur vom Sehen, obwohl sie seit drei Monaten ein Büro mit ihnen teilte. Der Raum war allerdings sehr groß, fand Anna. Die Tische standen außerdem weit auseinander. Die wenigen Male, die sie an einem vorbeigelaufen war, hatten die Frauen gequält gelächelt und die Männer nicht einmal aufgesehen. Anna aber hatte ihre Schnurrbärte gezählt. Nun trugen einige Hemden mit psychedelischen Mustern. Die Frauen hatten ihre Oberteile fest in ihre Röcke und Hosen gesteckt. Locker saßen nur die Dutts auf ihren Köpfen.

Anna und ihre Kollegen standen mit schweren Gläsern voreinander und sahen sich ein wenig ratlos an. Etwas lag in der Luft, Anna wusste nicht genau, was es war.

Die Verlockung, für einen Abend ein anderer Mensch zu sein?

Das Gefühl hatte sicher auch mit den rot-braunen Drinks zu tun, die auf den Tabletts zirkulierten, Tabletts, auf denen Tannenzapfen lagen und dazwischen goldene Luftschlangen.

Hinter Anna erklärte eine Frau einer anderen, warum es mit ihren Männern nie klappte. Der letzte hatte Schweiz mit tz geschrieben. Der vorletzte wusste nicht, wer Brad Pitt ist.

— Aber der war doch aus Wien, wandte die andere ein, die gehen halt ins Kaffeehaus, nicht ins Kino!

Neben Anna diskutierten zwei Männer das Frühwerk eines finnischen Regisseurs, dessen Name sie sich nicht merken konnte, obwohl er in fast jedem Satz fiel. Dazwischen missglückte der Versuch einer Verabredung.

— Wir könnten zusammen zur nächsten Retrospektive, schlug der eine Mann vor.

— Grundsätzlich gern, gab der andere zurück, aber ich sag’s dir lieber gleich: Mein Leben ist einfach immer total voll!

Anna drehte sich leicht, der Mann mit dem vollen Leben sah eigentlich ganz normal aus. Sie drehte sich wieder um und überlegte, ob sie irgendjemanden fragen sollte, ob er die Neuverfilmung von Es schon gesehen hatte, als eine Frau mit stark geschminkten Augen ihr Glas gegen das von Anna stieß und unvermittelt von einer Serie zu erzählen begann, die Anna nicht kannte, die Frau aber sehr aufzuwühlen schien. Anna sagte ein paar Mal Krass!, die Frau quittierte das mit einem Total!, dann entschuldigte sich Anna.

Nicht um sich umzubringen.

Nur um ihren Lippenstift nachzuziehen.

Als sie wiederkam, fiel die Frau gerade in den Mund des Mannes mit dem vollen Leben. Daneben stand nun die Neunzehnjährige mit dem grauen Haar, die Anna bislang nur von den Teamfotos kannte. Sie hatte einen Mistelzweig in ihren Ausschnitt gesteckt und sah sich zufrieden um. Anna schrieb die dritte Nachricht an Melvin, der direkt vom Flughafen zur Weihnachtsfeier kommen wollte. Da sprach Richard sie an. Er wollte offenbar das Essen loben, solange er noch klare Sätze bilden konnte. Anna gab ihm in dieser Hinsicht noch ungefähr zehn Minuten.

— Undwoher. Hast du das?

— Von dem Imbiss meiner japanischen Nachbarin.

Beim Einpacken hatten sie zusammen Sake getrunken, zum Abschied hatte Anna ein Video von Beppo gezeigt, woraufhin die Japanerin ins Englische gewechselt war: Good food, America! Good food, America! Nun wusste Anna, dass Waschbärengulasch in anderen Teilen der Welt ein normales Gericht war und die Frau nicht aus Tokio kam. Sondern aus Missouri.

— Aber sinddie. Echte Japaner? Hassu mal gefragt? Manchmal sind die ja aus Korea. Und. Tunnurso! Weil Japaner beliebter sind! Machenjadiealbanerimmer. Tunso als wärnsie. Italiener!

— Tja, nur wie die Deutschen will keiner sein, murmelte Anna, die einen Schwips hatte, der nicht reichte.

Nicht für das, nicht für den.

— Wa-was?, schrie Richard, weil gerade jemand die Anlage aufdrehte.

— Sind echte Japaner!, schrie Anna zurück. Hab nachgefragt!

Richard nickte mit offenem Mund. Mit offenem Mund bestand er nur aus Zähnen. Hinter ihm schwankte Paul. Bevor Anna flüchten konnte, hatte sie ein neues Glas in der Hand.

— Hast du? Irgendwas anders? Mit deinen Haaren? Gemacht?

Anna antwortete nicht, nippte nur.

Paul sah aus wie der Sänger von R.E.M.

Aber er war Paul.

Nicht der Sänger von R.E.M.

Anna nippte nochmal.

Dachte sie das, weil Losing My Religion lief?

— Lach!, lachte Paul. Doch mal!

— Dürft ihr Buddhisten überhaupt trinken?, fragte Anna.

— Tanzen?, nuschelte Paul, der Blick unfokussiert.

— Steht das nicht der Erleuchtung im Weg?, fragte Anna.

— Tanzen?, nuschelte Paul wieder, der Blick noch schiefer.

— Du hast doch gar keine Schuhe, sagte Anna.

— Tanzen!!, maulte Paul und stampfte mit seiner roten Socke auf.

— Nee, Paul, nee, sagte nun Melvin und zog Anna fort.

Sie verschwanden auf die kleine Empore, mit einer Flasche Amaretto und Annas Marmorkuchen. Melvin fasste seinen Urlaub in Rio de Janeiro mit einer wegwerfenden Handbewegung und einem anschließenden Schulterzucken zusammen.

Anna wusste nur, dass er nicht alleine gefahren war.

Sie berichtete, dass Gary einmal in den Flur und einmal in das Zimmer ihrer Mitbewohnerin gepinkelt hatte und sich beim Spazierengehen nicht tragen lassen wollte.

— Aber wir haben doch so schön geübt!, rief Melvin und schnitt sich ein zweites Stück Kuchen ab, und Anna nickte.

Was Anna damals lernte und nicht wieder vergessen sollte:

Dass man einen Dackel nicht so hochheben darf wie andere kleine Hunde. Dass der lange Rücken eines Dackels immer gerade bleiben muss. Dass einem Dackel alles andere wehtut.

Es lief Last Christmas, als einer der Männer in den psychedelischen Hemden zu Anna und Melvin auf die Empore trat. Er sah sie ernst an, so ernst, als würde alles von dem Satz abhängen, den er als Nächstes sagte. Dieser Satz war: Ey, die Leute denken immer, San Francisco wär wie dieses Lied aus Forrest Gump, aber San Francisco ist halt ganz! anders!

Unten sah Anna George Michael in die Augen. Irgendwer hatte einen Beamer aufgebaut. George Michael saß mit seinen Freunden am Tisch und schmollte mit der Frau, die ihm im Jahr zuvor das Herz gebrochen hatte. Draußen schneite es. Die Freunde von George Michael sahen aus, als wäre Winter nur eine Sache von übergroßen Jacken und Frisuren mit Volumen. Sie sahen aus, als wäre Winter gar nicht kalt.

— Tanzen oder gehen?

Melvin war von der Toilette zurück.

— Tanzen, antwortete Anna, eng tanzen!

Das taten alle, nur Paul schlief auf einem Stuhl.

Man hatte ihn mit Luftschlangen und Tannenzapfen geschmückt. Anna bezweifelte, dass ihn in dieser Nacht noch jemand wecken würde, vielleicht nicht mal in diesem Leben.

Melvin roch nach frischer Bettwäsche, und Anna dachte an früher. Früher, als Prominente zusammen Weihnachtslieder aufnahmen und jeder eine Strophe singen durfte.

Gab es so etwas noch?

Anna tanzte, als wären sie und Melvin alleine, und irgendwann hoffte sie ernsthaft auf Alice von Smokie, aber dann kam nur Somewhere over the rainbow. Auch für Melvin war der dicke Hawaiianer mit der Ukulele zu viel.

Anna erlaubte sich ein Total!

An der Garderobe sah sie zum ersten Mal an diesem Abend Olga und Nora und bemerkte, dass sie die beiden nicht mal vermisst hatte. Sie hockten auf dem Fußboden, die Gesichter verschmiert, die Haare verklebt. Anna ließ sich Zeit damit, den Schal umzubinden, hörte aber nur einen Satz.

— Und weißt du, das Süßeste an Tieren mit Schnauze sind diese kleinen Punkte, aus denen die Schnurrhaare wachsen!

Anna erschrak über diesen Satz. Nicht deshalb, weil er so dumm klang, sondern weil er auf den Punkt brachte, warum sie ihren Kopf immer leicht schief hielt, wenn sie eines der Waschbärenfotos heranzoomte, die ihre Mutter schickte.

Melvin bestand darauf, das Taxi zu zahlen. Anna hätte lieber die U-Bahn genommen. Da, wo sie herkam, gab es keine, und Taxis benutzten dort nur alte Menschen, die keiner liebte.

Gary war beleidigt, dass er mitten in der Nacht die Wohnung wechseln sollte. Er sah Anna finster an, während Melvin munter auf ihn einredete, keine Spur von Jetlag. Das Taxi wartete vor dem Haus, der Fahrer hatte drei Mal gefragt, wie groß der Hund sei, und am Ende etwas gebrummt. Anna fürchtete, dass Gary sich im Wagen erleichtern würde, nur um sich zu rächen. Sie hätte Melvin gerne gefragt, ob er und Gary die Nacht bei ihr bleiben wollten, ließ es aber sein, weil sie wusste, dass er Ja sagen würde. Sie umarmten einander lange, und als Melvin und Gary etwas später versöhnt auf Melvins Schlafsofa lagen, stand Anna immer noch in ihrem erleuchteten Zimmer und betrachtete sich in der Fensterscheibe. Ihr Scheitel erinnerte sie an eine Puppe mit handgeknüpftem Haar.

Wenigstens ihr Scheitel.

Der nächste Tag war ein Samstag. Anna war allein, ihre Mitbewohnerin seit einer Woche in der Schweiz, wo sie Weihnachten mit ihren Geschwistern verbringen wollte. Annas erster Gedanke an diesem Morgen war, dass es doch gar keinen Sinn machte, dass ihre Mitbewohnerin Englisch mit ihr sprach. Oder konnte es sein, dass Anna ihr dermaßen gleichgültig war, dass sie nicht einmal gemerkt hatte, dass sie Deutsche war?

Anna kochte Kaffee und holte ihre restlichen Packungen Waffeln, das Vanilleeis und den Toaster in ihr Zimmer. Auf einem Streaming-Portal sah sie sich nacheinander alle drei Sissi-Filme an.

Für die große Liebe reichten damals ein Spaziergang auf der Alm und drei Gemeinsamkeiten. Im Fall von Franz und Sissi:

Lieblingsblumen (Rosen)

Lieblingsbeschäftigung (Reiten)

Lieblingsmehlspeise (Apfelstrudel)

Jedes Mal, wenn Sissi auf die Frage nach ihrer jeweiligen Lieblingssache antwortete, rief Franz mit schlecht gespielter Empörung: Aber das gibt’s ja gar nicht! Meine auch!

In der nächsten Szene verlobten sie sich, und Anna überlegte, ob Romy Schneider sich wohl sehr überwinden musste, Karlheinz Böhm zu küssen. Er hatte große Ähnlichkeit mit den Waffeln. Jemand fragte in den Kommentaren, wie der Walzer bei 45:02 hieß. Anna googelte Alain Delon und verbrannte sich am Toaster. Dann war Sissi schon schwanger, und ihr bayerischer Vater, ein ausgemachter Alkoholiker, bestellte Champagner beim Hausdiener. Es war zehn Uhr morgens. Der Hausdiener nickte und stellte den Rotwein weg. Da nahm der Vater Magda Schneider auf den Schoß und säuselte: Das sind die Glückstage, die einem leise zuflüstern, dass man älter wird!

Anna konzentrierte sich von da an auf den Dackel. Er wurde von Sissis Eltern überhaupt nicht artgerecht hochgehoben, einmal sogar regelrecht fortgeschleudert. Dabei mussten Dackel mit ihren kurzen Beinen vorsichtig auf den Boden gesetzt werden! Sie teilte all ihre Erkenntnisse mit Melvin, der sie mit einer Reihe Emoticons quittierte und der Frage, was die böse Schwiegermutter Sophie machte. Hat Angst vor einem Krrrieg mit Rrrussland!, schrieb Anna. Am hottesten ist eh der ungarische Graf, fand Melvin.

Als der letzte Abspann lief, war es draußen wieder dunkel und Annas Kater besiegt. Sie badete. Fast alle waren tot, die in Sissi mitgespielt hatten. Sie packte ihre Tasche und fiel in einen traumlosen Schlaf. Der Zug ging sehr früh.

Am Bahnhof wartete Annas Bruder. Anna und Burger King schienen das Einzige auf der Welt zu sein, das er nicht hasste. Robert ließ sich umarmen und stellte keine Fragen. Sein Schal roch nach seinem ungelüfteten Zimmer, während sie nebeneinander durchs Dorf liefen, der Weg nach Hause dauerte keine Viertelstunde. Annas Mutter wartete am Gartentor.

— Gut schaust du aus! Nur so blass!

Robert ging sofort nach drinnen.

— Ich benutz nur keine Wimperntusche mehr, Mama.

— Aber wieso?

— Trägt man jetzt so. Was macht Beppo?

Beppos Stern, erfuhr Anna noch vor dem Kaffee, war am Sinken. Nicht nur, dass er den Schwanz der Katze abgebissen hatte. Danach hatte er sich seelenruhig auf ein Nickerchen in der Garage der Nachbarin niedergelassen, wo ihn Annas Mutter erwischt hatte, als sie sich Streusalz borgen wollte. Er hieß jetzt nicht mehr Beppo, sondern wieder Waschbär.

An seiner Schnauze war noch Blut.

Was Anna damals nicht erfuhr (und später auch nicht):

Dass Annas Mutter nicht nur den Waschbären bei der Nachbarin erwischt hatte, sondern auch Annas Vater. Den allerdings schon drei Jahre, bevor der Waschbär aufgetaucht war.

Die geschändete Katze sollte Anna während ihres Besuchs nicht zu Gesicht bekommen, den Waschbären auch nicht. Und Annas Vater lieferte an Heiligabend, was von ihm erwartet wurde: einen frisch geschlagenen Tannenbaum und drei lauwarme Fragen. Den Rest des Festes bestritten Anna und ihre Mutter allein, auch wenn Robert und der Vater die ganze Zeit anwesend waren, sich einmal sogar anschrien, bei der Bescherung war das.

Am ersten Weihnachtstag übernachtete Anna bei ihrer Großmutter und sah nochmal alle drei Sissi-Filme, hielt sich aber mit Kommentaren zurück. Nur über die Misshandlung des Dackels klärte sie ihre Oma auf, die sorgenvoll nickte und die zweite Plätzchendose holte, die und den Eierlikör.

Am zweiten Weihnachtstag übte Anna wieder Gesichter im Spiegel, Gesichter und eine Stimme. Sie hatte ein eigenes Bad, ihre Mutter hatte die Wohnung unter dem Dach gelassen, wie sie war, sogar die Fenster geputzt. Anna hatte auch einen eigenen Eingang, aber den benutzte sie aus Prinzip nicht.

Das war nicht mehr ihre Wohnung, sie würde ihrer Mutter das wirklich noch einmal sagen müssen.

Lara ging beim ersten Klingeln ran. Anna gefiel, dass sie unsicher klang. Sie verabredeten sich für den Nachmittag, bestätigten die Uhrzeit, die seit einem Jahrzehnt die gleiche war.

Anna hatte in der Stadt ein Buch für das Kind gekauft. Auf dem Cover: Ein Hund. Ein Ball. Ein Auto. Ein Käfer. Anna hatte erwartet, dass der Ball vor das Auto rollen, der Hund beim Hinterherrennen überfahren und der Käfer den toten Hund auffressen würde, aber in dem Buch geschah nichts davon. Der Hund bellte den Ball nur an, das Auto hupte ohne jeden Zusammenhang, und der Käfer saß seelenruhig in einer Blume und lächelte.

Auch Lara wohnte in einer Dachgeschosswohnung, der von ihren Schwiegereltern. Das Haus lag am anderen Ende des Dorfes, eine halbe Stunde durch den Wald, vorbei am See. Anna hasste diesen See, auch wenn es korrekter gewesen wäre, Lara zu hassen, aber Anna fiel es leichter, den See zu hassen als ihre beste Freundin. Drei Menschen mit Schlittschuhen über der Schulter grüßten Anna, Anna grüßte zurück, wusste gar nicht, wen. Im Schnee waren alle gleich.

Lara sah aus wie immer.

Sie umarmte Anna so fest, dass Anna im ersten Moment die Luft wegblieb, und da wusste Anna wieder, wieso sie Lara niemals hassen könnte.

Danach schwiegen die Freundinnen für einen Moment. Den einen, in dem sie nicht darüber sprachen, dass Anna keine Nachrichten und keine Anrufe mehr beantwortet hatte, seit sie in die Stadt gezogen war. Den einen, in dem sie einander mit einem Blick sagten, dass sie gewusst hatten, dass sie sich heute trotzdem sehen würden.

Und dann holte Lara den Kuchen, den Kuchen und das Baby, und als Anna Lara das Buch gab, lachte die.

— Das dauert aber noch, bis er das lesen kann!

Ich hab einfach keine Ahnung von Kindern, antwortete Anna, aber da kam schon Andreas ins Wohnzimmer, sah ebenfalls aus wie immer und rief: Ich ja auch nicht!

Warum Anna den See hasste:

Weil Andreas und sie nebeneinander auf dem Bauch gelegen hatten. Weil Andreas sein Gesicht auf Annas Arm gelegt, an ihm gerochen und gesagt hatte: Sonnencreme. Weil Andreas das Wort Sonnencreme so gesagt hatte, dass Anna die Wehmut hören konnte. Die, mit der sie durchs Leben ging, seit sie denken konnte. Weil Anna in diesem Moment verstanden hatte, dass sie und Andreas zusammengehörten.

Weil Anna das verstanden hatte. Und Andreas nicht. Das Kind schlief nachts gut und am Tag auch, die Geburt war nicht so schlimm gewesen, wie Lara erwartet hatte, und ins Rathaus würde sie im Sommer zurückkehren. Die Kollegen hätten sich oft nach Anna erkundigt, auch Lara frage sich, wie Annas neuer Job sei, ihr neuer Job und ihr neues Leben, gebe es vielleicht jemanden?

— Gary, antwortete Anna und beließ es bei einem Lächeln mit ihren roten Lippen.

Dass Lara sie daraufhin wieder fest umarmte, war schlimmer als alles andere.

Alles andere:

An dem Tag am See war nichts passiert. Und danach auch nicht. Jedenfalls nicht, was Anna sich gewünscht hatte. Aber Anna und Andreas und Lara machten ihr Abitur und fuhren in einen Ort an der Costa del irgendwas, wo sie nur Gleichaltrige aus ihrem Landkreis trafen. Am Ende der zwei Wochen waren Andreas und Lara ein Paar, und Anna suchte immer noch nach einem Spanier, fand aber nur einen Schotten. Der Schotte fragte Anna, wo ihr Teint sei, und Anna sah in sein krebsrotes Gesicht und antwortete kühl: I don’t have any!

Darüber lachte Andreas später länger als Lara, und dann vergingen drei Jahre oder fünf, in denen sie regelmäßig schlechte Horrorfilme ansahen und das Wort übelst zu oft benutzten, drei Jahre oder fünf, in denen sie alle im Rathaus arbeiteten, in der Kreisstadt, dort, wo die Frauen ihre Typen manchmal vor der Eisdiele küssten und dabei ihr Bein einschlugen wie ein Zirkuspferd. Fand Anna. Und wenn Anna das nicht fand, lief die Platte in ihrem Kopf, die mit dem Sprung.

Klar. Einer, der so aussieht. Der nimmt Lara. Der nimmt Lara und nicht mich. Einer, der so aussieht, der nimmt Lara und nicht mich. Einer, der so aussieht. Einer, der so aussieht. Einer, der so aussieht. Klar. Der nimmt Lara.

Und. Nicht. Mich.

Anna erzählte ein paar Geschichten von Beppo, Andreas erklärte, dass der Bürgermeister bald die Erlaubnis zum Abschuss unterschreiben würde. Anna beschloss, ihrer Mutter das lieber nicht zu sagen, es ging ja nicht um Beppo persönlich, es ging um alle Waschbären im Landkreis.

— Invasive Art, sagte Andreas ernst und sah dabei sein Kind an, und Anna fand das irgendwie unpassend.

Lara sah sehr besorgt aus.

Wann es endete:

Im Mai. Es war schon warm, aber Lara kam mit dieser Jacke. Anna konnte sich nicht mehr daran erinnern, was Lara ihr erzählt hatte, sie erinnerte sich nur an den Knopf. Dieser Knopf an Laras Jacke, der immer wieder aufsprang, weil Lara schon so dick war. Anna wusste es ja seit Monaten, aber sie begriff erst in diesem Moment, dass Lara unter diesem Knopf tatsächlich das Kind von Andreas trug, und weil sich das anfühlte, als hätte es irgendwie und eigentlich doch einfach wirklich Annas Kind sein müssen, wusste Anna, dass sie nun fortgehen musste und glücklich werden, und wenn sie nicht glücklich werden würde, dann wäre sie wenigstens fort und woanders unglücklich.

Lara fragte ein zweites Mal, ob Anna nicht zum Essen bleiben wolle, so wie sonst immer? Aber Anna schüttelte erneut den Kopf, und die Freundinnen schwiegen wieder für einen Moment.

Den einen, in dem sie wussten, dass alles anders geworden war und für immer anders bleiben würde.

Was Anna damals nicht wusste, damals im Mai:

Dass es nicht helfen würde, den Job im Rathaus zu kündigen und in die Stadt zu ziehen. Dass es nicht helfen würde, ein Rennrad zu kaufen und einen Balkon zu bepflanzen. Dass es nicht helfen würde, in einem zugigen Fabrikloft zu arbeiten und die Wimperntusche wegzuschmeißen und Lippenstift zu kaufen.

Zurück nahm Anna den Umweg durch das Dorf. Diesmal begegnete ihr keiner. Sie rauchte. Sie dachte an Melvins Hand in ihrer. Sie rauchte noch eine. Dass es da wenigstens manchmal jemanden in ihrem Leben gab. Dass es wenigstens so aussah.

Die restlichen Tage traf sie niemanden, schwieg mit ihrem Bruder im Auto und mit ihrer Mutter in der Küche, und als die Anna im neuen Jahr zum Bahnhof brachte, sagte Anna ihr nicht, dass sie doch bitte endlich aufhören sollte, die Fenster in der Dachwohnung zu putzen. Aber sie sagte: Komm mich doch im Frühling mal besuchen!

Was Anna ahnte (sie war froh, es nicht zu sehen):

Dass ihre Mutter ein bisschen weinte, als der Zug fort war.

Was Anna nicht ahnen konnte, aber verstanden hätte:

Dass ihre Mutter Beppo inzwischen lieber hatte als Annas Vater. (Trotz der Sache mit der Katze.)

Was der Vollständigkeit halber erwähnt werden sollte:

Dass es Annas Vater völlig egal ist, was die Leser von ihm halten.

Als Anna am ersten Tag nach dem Urlaub in die Fabrik ging und sich an ihren Platz setzen wollte, sahen Olga und Nora beide von ihren Rechnern auf. Das alarmierte Anna so sehr, dass sie stehen blieb und für drei Sekunden alles sah: Melvin an einem Balken, Melvin in einer Badewanne, Gary bellend und verängstigt, die Wohnung vollgekackt.

— Wo ist –

Nora grinste, Olga auch.

— Anna, Paul ist krank, sagte Nora, und weil Anna nicht reagierte, ergänzte Olga: Krank, Anna, verstehst du, krank!