Fräulein Wunder - Gisa Pauly - E-Book
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Fräulein Wunder E-Book

Gisa Pauly

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Beschreibung

Ein Panorama deutscher Geschichte, eine Liebeserklärung an Sylt und eine große Liebesgeschichte - die Sylt-Saga von Bestseller-Autorin Gisa Pauly!

1959. Die sechzehnjährige Brit kann es nicht erwarten, das kleine Kaff Riekenbüren endlich hinter sich zu lassen und die große weite Welt zu erkunden. Erster Stopp: Sylt! Dort verliebt sie sich Hals über Kopf in den Hotelpagen Arne - und verbringt sogar eine Nacht mit ihm. Dass diese Nacht nicht folgenlos bleibt, erfährt Brit erst, als sie zurück in Riekenbüren ist. Die Eltern wollen sie zur Adoption zwingen, Arne hingegen verspricht, Brit zu heiraten und das Kind gemeinsam großzuziehen. Doch dann verschwindet er spurlos. Brit kehrt zurück auf die Insel, auf der die Luft nach Freiheit riecht und das Meer nach Neuanfang klingt - und begibt sich auf die Suche nach dem Vater ihrer Tochter und der Liebe ihres Lebens ...

Der fulminante Auftakt der Sylt-Saga von SPIEGEL-Bestseller-Autorin Gisa Pauly

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Seitenzahl: 602

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DASBUCH

1959. Brit Heflik wächst in einem kleinen norddeutschen Kaff auf, ihr Vater führt die Schreinerei Wunder in der dritten Generation, ihre Mutter ist eine stille und ruhige Frau. Und die sechzehnjährige Brit langweilt sich zu Tode. Raus in die weite Welt will sie! Als ihre Schule eine Klassenfahrt nach Sylt plant, kann Brit es nicht erwarten, endlich ihre Tasche zu packen und auf die Insel zu kommen. Doch sie ahnt nicht, dass diese Reise ihr Leben für immer verändern wird.

Arne Augustin ist Hotelpage auf Sylt. Zumindest sollen das seine Kollegen im Hotel Miramar denken – denn er gibt nicht gerne an mit seiner Herkunft. Dass sein Vater, Knut Augustin, der große Hotelmagnat ist und plant, ein weiteres Hotel Augustin auf Sylt zu bauen, das sein Sohn schließlich leiten soll, behält Arne lieber für sich.

Als Brit und Arne sich auf Sylt begegnen, dauert es nur wenige Sekunden, und beide wissen: Sie sind füreinander geschaffen. Es ist die große Liebe, und nichts kann sie mehr trennen. Doch nur wenig später reißt ein Schicksalsschlag die beiden auseinander. Arne taucht unter und ist unauffindbar. Brit muss sich entscheiden, ob sie für einen Mann kämpfen will, der sie hintergangen hat …

DIEAUTORIN

Gisa Pauly hat zwanzig Jahre lang als Berufsschullehrerin gearbeitet, ehe sie das Unterrichten an den Nagel hängte und sich ganz dem Schreiben widmete. 1994 erschien ihr erstes Buch »Mir langt’s – eine Lehrerin steigt aus!«, darauf folgten zahlreiche Drehbücher und Romane. Mit den Sylt-Krimis rund um Mamma Carlotta erobert sie Jahr um Jahr die Bestsellerlisten und die Herzen der Leserinnen und Leser. Gisa Pauly zählt heute zu den erfolgreichsten Autorinnen im deutschsprachigen Raum.

Gisa Pauly

Fräulein Wunder

SYLT-SAGA

Band 1

WILHELMHEYNEVERLAG

MÜNCHEN

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Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Originalausgabe 03/2022

Copyright © 2022 by Gisa Pauly

Copyright © 2022 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Zero Werbeagentur, München,

unter Verwendung von © Getty Images/George Marks

und FinePic®, München

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-27677-5V003

www.heyne.de

TEIL I

Juni 1959, Riekenbüren

»Bi – ki – ni!« Erwartungsvoll blickte Brit ihren Vater an. Dieser jedoch setzte dieselbe Miene wie ihr Erdkundelehrer auf, der unter dieser Bezeichnung auf keinen Fall etwas anderes als eine Inselkette im Pazifischen Ozean verstehen wollte. »Mensch, Papa! Du musst doch schon mal von einem Bikini gehört haben!« Ihre Augen sprühten, hilfloser Zorn machte ihr rundes, weiches Gesicht schmal und hart. »Alle werden einen Bikini tragen, wenn wir auf Sylt sind.«

»Wenn das so ist, bleibst du zu Hause.« Edward Heflik humpelte zur Drechselbank und drehte seiner Tochter den Rücken zu, besonders breit, besonders unversöhnlich.

Im selben Augenblick wurde die Tür zur Werkstatt aufgerissen, Brits Mutter erschien auf der Schwelle mit hochrotem Gesicht, so strahlend, als hätte sie in der Lotterie gewonnen. »Sie funktioniert tatsächlich!« Wie ein Sportler einen Pokal, hielt sie eine elektrische Kaffeemühle triumphierend in die Höhe. Die war ihr von Edward zum Geburtstag geschenkt worden. »Ein Knopfdruck, und schon ist der Kaffee gemahlen.« Als sie weder von ihrer Tochter noch von ihrem Mann eine Reaktion erhielt, ließ Frida Heflik die Mühle entmutigt sinken. »Habt ihr schon wieder Streit?«

Brit schob ihre Mutter zur Seite und ging mit schnellen Schritten aus der Werkstatt. Und ob sie Streit hatten! Eigentlich hatte sie mit ihrem Vater nur noch Ärger. Er erlaubte ihr einfach gar nichts! Ständig hieß es: Was ist das für ein neumodisches Zeug? So was brauchst du nicht, das hatten wir früher auch nicht … 

Kopflos rannte sie aus der Schreinerei, über den Hof, an dem Traktor vorbei, um den Anhänger herum, der gerade beladen wurde. Früher hatte die Schreinerei Wunder am Rande des Dorfes gelegen, heute stand sie mittendrin, weil Riekenbüren größer geworden war. Nur hinter dem Haus war alles so geblieben wie früher, das Land gehörte ja der Familie. Wenn sie auch nie Bauern gewesen waren, Landbesitz war immer gut. Das hatten schon die Vorfahren von Edward Heflik gewusst.

»Nun mal langsam, junge Deern«, rief Piet, der älteste Geselle, ihr nach. »Oder läuft das Fräulein Wunder schon wieder vor der Arbeit in der Küche davon?«

»Idiot«, flüsterte Brit vor sich hin. »Idiot!« Lauter wurde sie erst, als der Abstand groß genug war und niemand sie mehr hören konnte. »I – di – ot!«. Immer wieder, im Rhythmus ihrer Schritte. Wie sie es hasste, Fräulein Wunder genannt zu werden. Besonders dann, wenn der Spitzname so spöttisch gemeint war wie jetzt. Und erst recht, seit der Begriff »Fräuleinwunder« ständig in den Schlagzeilen benutzt wurde. Nur, weil die Schreinerei den Namen Wunder behalten hatte, obwohl schon seit zwei Generationen die Besitzer Heflik hießen, nachdem eine der Wunder-Frauen einen Heflik geheiratet hatte.

Der Schuppen, in dem die Gerätschaften untergestellt waren, lag nun hinter ihr, der Hof der Schreinerei lief in einer Wiese aus, die niemand brauchte. Früher hatten dort mal ein paar Ziegen gestanden, die für Ziegenkäse sorgen sollten, aber irgendwann keine Milch mehr geben wollten. Doch es fand sich niemand, der sie schlachten wollte, auch Edward Heflik nicht und seine ansonsten eher unerschrockenen Arbeiter auch nicht. »Ich schlachte kein Tier, das einen Namen hat«, hatte der Altgeselle gesagt, »und erst recht keins, das ich mal gekrault habe.« Da die drei Ziegen Rosi, Betti und Hilde hießen, hatten sie auf der Wiese stehen bleiben dürfen, bis ihnen die Beine wegknickten. Das war dann ausgerechnet Hilde widerfahren, als sie Hassos Bollerwagen, den der Vater ihm gebaut hatte, zum Erntedankfest ziehen sollte. Die Bestürzung war sehr groß gewesen. Mittlerweile waren auch Rosi und Betti gestorben, und die Wiese war leer. Edwards Vater hatte sie vor dem Krieg gekauft, als der frühere Besitzer in finanzielle Schwierigkeiten gekommen war. Sie war von keinem großen Nutzen, seit die Ziegen weggestorben waren, erst recht nicht.

Am Ende der Wiese stand das kleine Haus, in dem die Familie Mersel zur Miete wohnte. Ganz in der Nähe stand der Wohnwagen, den sich Brit demnächst mal genauer ansehen wollte. Aber nun hatte sie keinen Blick für diese unglaubliche Neuigkeit, die sie vor ein paar Tagen noch brennend interessiert hatte. Denn offenbar wohnten darin Leute aus dem Ruhrgebiet, die auf dem Land Urlaub machen wollten. Urlaub! Was für ein Wort! Ihr Vater hatte sich darüber lustig gemacht. Kein Mensch brauchte seiner Meinung nach Urlaub, das war nur was für verwöhnte Städter. Wer auf dem Land wohnte und jeden Tag die gute Luft genießen konnte, brauchte keinen Urlaub. Urlaub war auch so was Neumodisches, das Edward Heflik aus Prinzip ablehnte. Und überhaupt … zusammengepfercht in einem winzigen Wohnwagen – das sollte Urlaub sein? Völlig verrückt. Wenn schon, dann bestand Brits Vater darauf, dass nicht von Camping sondern vom Kampieren die Rede war. Musste man denn jedes Wort dem englischen Sprachgebrauch angleichen?

Brit rannte bis zum Teich, hinter dem die Grundstücksgrenze verlief. Ein zugewucherter Zaun zeigte an, wo das Land von Bauer Jonker begann. Nein, dieses neue Wort Urlaub gab es nicht im Sprachschatz der Hefliks. Aber eine Woche Sylt – war das nicht so etwas wie Urlaub? Eine Auszeit auf jeden Fall. War es das, woran sich ihr Vater so störte? Die Zwischenprüfung der Handelsschule hatte sie bestanden, sogar mit guten Noten, sie konnte sicher sein, auch die Abschlussprüfung im März zu bestehen. Grund, sich Urlaub zu gönnen? Nein, Edward Heflik fand es selbstverständlich, dass seine Tochter sich anstrengte, um eine Bildung zu bekommen, die den Frauen früherer Generationen vorenthalten geblieben war.

»Urlaub!« Sie ließ sich auf den kleinen Steg fallen, der bedenklich knirschte, zog die Sandalen aus, warf sie hinter sich und steckte die Füße ins Wasser. Eiskalt! Aber die Nordsee würde garantiert noch kälter sein.

Ihr Vater hatte gelacht, als zum ersten Mal junge Leute bei ihm erschienen und ihn baten, auf seiner Wiese ihr Zelt aufschlagen zu dürfen. Wenn sie keinen Dreck machten und ihre Notdurft dort verrichteten, wo es sonst die Ziegen getan hatten, störte es ihn nicht weiter. An einem Abend war er dann zu den drei jungen Männern gegangen, um nach dem Rechten zu sehen, und hatte von ihnen erfahren, dass dieses Campen in Mode gekommen war. Das hatte sich bis Riekenbüren noch nicht herumgesprochen. Staunend hörte Edward Heflik, dass man Geld damit machen konnte, wenn man Fremden gestattete, auf dem eigenen Grund und Boden zu kampieren, und sich gleichzeitig darüber gefreut, dass er das ungenutzte Weideland hinter seinem Haus nie verkauft hatte. Natürlich musste man dann auch einiges zur Verfügung stellen: Toiletten und Waschgelegenheiten zum Beispiel und Parkplätze, wenn die Camper mit Autos kamen und einen Wohnwagen hinter sich herzogen. »Wohnwagen?« Edward Heflik hatte gelacht, als er zum ersten Mal davon hörte. Aber dann hatte er sehr nachdenklich vor sich hin geblickt, einen ganzen Abend lang, und am nächsten Tag verkündet, dass er einen neuen Weg gefunden habe, Geld zu verdienen. »Ein zweites Standbein kann nicht schaden.«

Brit starrte in den Himmel, ohne die Vögel zu sehen, die sich einen Schlafplatz suchten, ohne zu merken, dass die Kronen der großen Bäume sich nicht mehr bewegten. Der Wind war eingeschlafen, aber ihr Zorn war noch hellwach. Über Riekenbüren entstand die Ruhe, die es nur sonntags und nach Feierabend gab. Alle Maschinen waren abgestellt worden, Stimmen waren auch nicht mehr zu hören. Nachdem ihr Vater die Gesellen nach Hause entlassen hatte, sprach er selbst auch immer ruhig und leise. Nur gelegentlich knatterte ein Motorroller, der einem jungen Arbeiter gehörte, der heimfuhr. Aber in diesem Augenblick war nichts zu hören. Nur Stille.

Eine Stille, die Brit schon seit Langem in den Ohren wehtat. Sie wünschte sich nichts sehnlicher als ein Kofferradio, das diese Stille zunichtemachen konnte. Aber diesen Geburtstagswunsch hatte ihr Vater ihr rundweg abgeschlagen. Er hielt alles für überflüssig, was es nicht auch früher schon gegeben hatte. Dass er seiner Frau eine elektrische Kaffeemühle geschenkt hatte, war ein kleines Wunder. Vielleicht sogar ein echter Liebesbeweis.

Brit hatte lange betteln müssen, bis ihr Vater die Erlaubnis für die Fahrt nach Sylt gegeben hatte. Nicht, weil kein Geld im Haus war, wie das bei einigen Klassenkameradinnen der Fall war, deren Väter im Krieg geblieben oder schwer versehrt zurückgekommen waren. Nein, sie hatten ja Glück gehabt, ihr Vater war aufgrund seiner Behinderung ausgemustert worden. Er hatte Haus und Hof über die Kriegsjahre retten können. Aber da, wo die Frauen genötigt waren, den Unterhalt für die Familie zu verdienen, ging es ärmlich zu. Frauen verdingten sich als Erntehelferinnen, als Hausmädchen, Putzhilfen, sie hatten meist nichts gelernt. Nur die Klassensprecherin in der Handelsschule hatte eine Mutter, die Goldschmiedin war. Aber ihr Geld verdiente sie dennoch als Hilfsarbeiterin in einer Fabrik, weil keiner der Juweliere im Umkreis eine Frau einstellen wollte.

Nein, der Grund für die Skepsis von Edward Heflik, wenn es um die Sylt-Reise seiner Tochter ging, war nicht das Geld. Er besaß eine gut gehende Schreinerei, die schon seit Generationen die Familie ernährte, sie waren zwar nicht reich, hatten aber nie Geldsorgen gehabt. Vielmehr verstand Edward Heflik nicht, was das Wort Erholung zu bedeuten und was es mit einer Reise an die Nordsee zu tun hatte. Außerdem gehörte es sich für eine junge Frau einfach nicht zu verreisen, selbst dann nicht, wenn es sich um eine schulische Unternehmung handelte, die unter der Aufsicht von zwei Lehrern stand. Brit konnte es immer noch nicht fassen, dass sie ihn am Ende doch umgestimmt hatte. Und sie hoffte inständig, dass das Bikini-Thema die Entscheidung ihres Vaters nicht ins Wanken gebracht hatte.

Dass er aber auch so an seinen altmodischen Ansichten hing! Und das leider nicht nur, wenn es um Urlaub und Bikinis ging. Er war der Meinung, dass Brit sehr dankbar sein sollte, dass sie eine Ausbildung auf der Handelsschule machen durfte. Schreibmaschineschreiben, Stenogramme, Buchführung, das war solide Frauensache, eine gute Grundlage für die Zukunft. Auch Brits Mutter hatte die Handelsschule besucht und konnte nun dem Vater neben der Hausarbeit noch das Büro führen. Schriftverkehr, Rechnungswesen, Telefondienst, damit konnte eine Ehefrau ihrem Mann zur Seite stehen. Denn genau dafür diente die Ausbildung – und selbstverständlich würde sie nach dem Abschluss nicht nach einer Stelle Ausschau halten, sondern nach einem Mann. Dass sich ihre Mitschülerinnen bereits mit den Zeugnissen der Zwischenprüfung auf Anstellungen bewarben, hatte als Argument nicht gegolten. Frauen, die bis zur Eheschließung berufstätig sein würden? Edward Heflik musste einsehen, dass eine neue Generation heranwuchs. Aber nicht seine Brit. Da konnte sie noch so bitten und flehen, argumentieren und begründen. Nein, sie sollte ihrer Mutter unter die Arme greifen, ihr demnächst die Büroarbeit abnehmen und später, wenn sie selbst die Frau eines Handwerksmeisters mit eigenem Betrieb war, ihren Mann unterstützen. Manchmal kam es Brit so vor, als hätte ihr Vater schon einen Eheaspiranten ins Auge gefasst. Womöglich Enno, der älteste Sohn des Klempnermeisters im Nachbarort, der nicht einmal tanzen konnte? Oder Jens, dessen Vater eine Bauunternehmung besaß und der einmal versucht hatte, sie zu küssen? Er hatte sich derart an ihr festgesaugt, dass die Leidenschaft, die kurz in ihr aufgeflackert war, rasch in der Angst, sich nie wieder von ihm lösen zu können, untergegangen war. Beide kamen für Brit nicht infrage, aber für ihre Meinung hatte ihr Vater meistens nur eine wegwerfende Handbewegung übrig. Sie sollte erst mal älter und vernünftig werden, dann würde sie schon sehen, worauf es ankam.

Brit ließ ihre Füße im Wasser kreisen. Fünf Jahre noch bis zur Volljährigkeit! Die Eltern lachten nur, wenn sie von ihrem einundzwanzigsten Geburtstag sprach. Bis dahin würde sie vermutlich schon verheiratet, mindestens aber verlobt sein. Mit einem Mann, der in Riekenbüren oder in der Umgebung wohnte, hier arbeitete und lebte. Brit schüttelte sich. Wenn sie in Riekenbüren bleiben würde, wüsste sie sogar jetzt schon, in welchen Grabstein man ihren Namen meißeln würde. Die Gruft der Familie Heflik war groß.

Die Beine ausgestreckt, stieß sie die Hacken ins trübe Teichwasser und sorgte für einen Wirbel unter der Wasseroberfläche, den sie gern in ihr Leben übertragen hätte. Einen Alltag voller Wirbel, Aufregungen und Neuigkeiten wünschte sie sich statt des Einerleis, das sie in Riekenbüren erwartete. Wenn sie erst einundzwanzig war, würde sie aus dem Elternhaus ausziehen, so viel stand fest. Raus aus Riekenbüren und in ein Leben aufbrechen, in dem es auch Urlaub gab. Sechzehn war kein gutes Alter, das war ihr klar. Noch zu jung für ein bisschen Selbstständigkeit, aber schon zu alt für Märchen, die nicht in Erfüllung gingen. Mit sechzehn war man auch noch nicht schön genug fürs Leben. Vor allem Brit nicht. Sie war zu pummelig, Babyspeck, wie ihre Großmutter sagte. Aber die sagte auch, wenn Brit sich über ihre Pickel beklagte: »Bis zur Hochzeit ist alles wieder gut.« Immerhin, über die Anschaffung eines Büstenhalters und eines Hüfthalters war schon gesprochen worden. Während der Sylt-Woche würde sie genau hinsehen, was die anderen Mädchen trugen.

Sie drehte sich zu dem Wohnwagen um, der ohne den Borgward Arabella dastand, der ihn hierhin gezogen hatte. Wie konnte man in Riekenbüren Urlaub machen? In einem Dorf, das man gesehen hatte, wenn man einmal die Hauptstraße herauf und herunter gegangen war? In einer Umgebung, die außer Wiesen, Feldern und glotzenden Kühen nichts zu bieten hatte? Gestern hatte sie mitbekommen, wie Frau Ersting in dem Wohnwagen kochte und anschließend den Abwasch machte. Wie in einer ganz normalen Küche! Verrückt! Und abends, das hatte der Vater zu erzählen gewusst, bauten sie die Polsterbänke zu bequemen Betten um. An der See gab es sogar schon sogenannte Campingplätze, die voll waren von solchen Wohnanhängern. Dort waren auch Toiletten und Duschen für die Camper installiert. Hier, auf der Wiese der Hefliks, mussten die Erstings die Toilette der Mersels benutzen, die darüber nicht besonders erfreut waren. Aber schließlich hatten sie sich gefügt. Weil sie sich ja immer in alles fügten. Sie waren dankbar, in einem so geräumigen Haus wohnen zu können und Arbeit zu haben. Ihnen ging es hier viel besser als in der sowjetischen Besatzungszone, der sie den Rücken gekehrt hatten. Manche sagten auch schon DDR dazu.

Wenn der Borgward Arabella nicht neben dem Wohnwagen stand, waren die Erstings zu irgendeiner Besichtigung aufgebrochen. Vermutlich nach Bremen. Und vor dem Denkmal der Stadtmusikanten, das es seit ein paar Jahren gab, musste Frau Ersting sich dann in Positur stellen und sich von ihrem Mann mit der nagelneuen Agfa-Box-Kamera fotografieren lassen, mit der er gern herumprahlte.

Brits Beinbewegungen wurden langsamer. Eine unbändige Vorfreude auf ihre eigene Reise überkam sie. Erst Sylt – und dann, eines Tages, der Rest der Welt! Auf dem Schulhof hatte sie jemanden erzählen hören, der in Rimini gewesen war. Endlose Strände, wolkenloser Himmel, ein spiegelglattes Meer, immer gutes Wetter. Und die jungen Italiener waren angeblich alle gut aussehend und äußerst charmant. Brit wusste nicht genau, wo Rimini lag, aber trotzdem wusste sie, dass sie dort eines Tages Urlaub machen wollte.

Die Erstings dagegen schwärmten täglich von der herrlichen Landschaft rund um Riekenbüren, von den Wanderwegen, den klaren Bächen, denen sie gefolgt waren, den Wäldern, in denen sie sich verlaufen hatten. Sie taten dann so, als hätten sie einen Dschungel unter Lebensgefahr durchquert. Vielleicht war Urlaub nicht das, wofür man bezahlte, sondern das, was man daraus machte. Und natürlich musste es anders sein als der Alltag, den man kannte. Die Erstings kamen aus einer Gegend, die Kohlenpott genannt wurde, mit rauchenden Schloten, Kohle- und Stahlöfen und Ruß auf der Wäsche, wenn sie zu lange auf der Leine hing. Dann war es wohl schön, in einer Gegend Urlaub zu machen, die all das nicht hatte.

Angeekelt betrachtete Brit das trübe Wasser, die grünen Algen, die an ihren Füßen hängen blieben. Nein, das war nicht das blaue Wasser, von dem sie träumte. In Riekenbüren brauchte man keinen Bikini.

Was sie hier trug, war völlig gleichgültig. Ihr Kleid, das sie im Handarbeitsunterricht hatte nähen müssen und das vertrackte Ähnlichkeit mit der Kittelschürze ihrer Mutter hatte, spielte keine Rolle. Was würde sie nur dafür geben, einmal ein modisches Kleidungsstück zu besitzen! Die Hilflosigkeit, zu der sie in diesem Kaff verdammt war, tat weh, vom Kopf bis zu den Füßen und in der Mitte besonders. Aber ehe sie gezwungen war, den anderen nachzuwinken, die in den Zug nach Sylt stiegen, würde sie Zugeständnisse machen müssen, so schwer es ihr auch fiel. Dann musste eben der alte Badeanzug noch mal herhalten. Sie wollte unbedingt mit nach Sylt. Klein beigeben? Sie trat so heftig mit den Füßen, dass ihr das Wasser bis ins Gesicht spritzte. Manchmal musste es eben sein.

Juni 1959, Sylt

Arne wurde von ein paar jungen Mädchen mit ausdrucksvollen Blicken bedacht. Er kannte das. Groß und schlank wie er war, mit dichten kurzen Haaren, einem schmalen, sympathischen Gesicht und hellblauen Augen fiel er häufig auf. Aber meist hielt er es so wie in diesem Moment, er sah über das verführerische Lächeln der interessierten jungen Damen hinweg. Er mochte es nicht, wenn er so unverhohlen angehimmelt wurde. Er stellte seinen Koffer ab und blickte am Hotel Miramar hoch. Eins von den Häusern, die heute noch so aussahen wie vor Jahren, als hätten sie sich dem Fortschritt verschlossen und wollten nichts von Modernisierungen wissen. Arne schien es so, als wäre sogar der Portier, der am Eingang stand, noch derselbe wie damals. Er sah ihn fragend an, aber Arne wich seinem Blick aus, hob den Koffer wieder an und ging weiter. Aufs Meer zu. An der Promenade klemmte er seinen Koffer zwischen die Beine und zündete sich eine Zigarette an. Eigentlich rauchte er gar nicht gern, aber zum Erwachsenwerden gehörte es einfach dazu, den Rauch einer Zigarette wegzublasen, als täte man das schon jahrelang. Tief sog er die kühle Brise ein, die ihm entgegenwehte, und drückte die Zigarette wieder aus. Das Meer lag ruhig da, die Wellen schwappten träge ans Ufer, zu kraftlos zum Auslaufen, ohne Gischt, ohne Schaumkronen. Schade eigentlich. Arne mochte es, wenn die See aufgewühlt war, wenn die Brandung an den Strand donnerte, wenn sie zischte, während sie auslief. Heute kam sie den vielen Sandburgen nicht nahe, mit denen die Strandkörbe eingefasst waren. Er grinste, als er einen Mann in den Fünfzigern dabei beobachtete, wie er die Burgeinfassung mit der kleinen Plastikgießkanne seiner Kinder besprengte, damit die Türme feucht und in Form blieben.

Es schien eine Tradition auf Sylt zu sein. Das Mindeste, was sich ein Familienvater, der auf Sylt Urlaub machte, vorzunehmen hatte, war ein zwanzig bis dreißig Zentimeter hoher Wall, gekrönt von Sandkuchen, Muscheln und Seetang. Wer das Territorium noch in Muschelschrift mit dem Namen der Herkunftsstadt oder gar mit deren Wappen vor dem Eingang verzierte, der bekam Respekt. Der Eingang, das war die vordere Seite des Strandkorbs, dort, wo der Strandburgherr mit seinem Strandburgfräulein saß, das auch noch so genannt wurde, wenn es an die sechzig und übergewichtig war.

Arne wandte sich lächelnd ab. Er kannte die Gesetze des Strandlebens. Einmal im Jahr war sein Vater zu einem echten Vater geworden, wie ihn auch andere Kinder hatten. Einer, der mit ihm an der Wasserkante Burgen baute, dazwischen Kanäle grub und natürlich den Wall um den Strandkorb anlegte. Er musste höher sein als alle anderen, reicher geschmückt und während der Stunden am Strand gewissenhaft im Auge behalten werden, damit der Sand nicht trocknete und herunterrieselte. Vor sechs Jahren dann zum letzten Mal. Damals hatte sein Vater gesagt: »Schluss mit den Kindereien, du wirst jetzt erwachsen, mein Sohn.«

Da war Arne vierzehn Jahre alt, so alt wie die Pagen, die Kochlehrlinge und Zimmermädchen, die im Hotel seines Vaters ihre Arbeit oder Ausbildung begannen. Also war auch für ihn Schluss mit den unbeschwerten Spielen. Er blieb natürlich am Gymnasium, aber er war nun kein Kind mehr. Der jährliche Urlaub auf Sylt wurde gestrichen. Die besonderen Stunden mit seinem Vater auch. Vorbei das Sandburgenbauen! Knut Augustin war nun der Vater eines Heranwachsenden. Von da an fuhren sie nach Baden-Baden oder Bayreuth, damit er in die Gesellschaft eingeführt wurde und die richtigen Leute kennenlernte, wie sein Vater es nannte.

Arne stand an der Mauer der Kurpromenade unterhalb des Hotels Miramar und wunderte sich darüber, welche Kraft die Erinnerungen hatten. Er sah seinen Vater in einer Badehose, mit einem Strohhut auf dem Kopf, wie er abwinkte, wenn das Kindermädchen Arne auf den Arm nehmen wollte. »Das mache ich selbst.« Höchstpersönlich hatte er Arne ins Miramar getragen und sich nicht um die Sandspuren gekümmert, die er dort im Foyer hinterließ. Das war Sache des Kindermädchens gewesen.

Arne spürte noch die raue Wange seines Vaters an seiner, schlecht rasiert, was sonst nie vorkam, die kräftigen Hände, die ihn unerschütterlich hielten, und die barschen Worte ans Hotelpersonal, von dem er sich nicht helfen lassen wollte. Ein Vater, der stark war. Der mit seiner dröhnenden Stimme, den Maßanzügen in Übergröße, der schweren goldenen Uhrkette und den dicken Zigarren seine Hotels repräsentierte. Wieder einmal fragte sich Arne, ob er selbst wirklich auch so werden musste.

Mit schweren Schritten ging Arne zurück zum Hotel. Der Portier war nun sicher, dass er sich nicht geirrt hatte. »Bitte, mein Herr!« Mit einer leichten Verbeugung öffnete er die Tür.

Arne reagierte nicht auf seine einladende Geste. »Haben Sie keinen Dienstboteneingang?«

Der Portier begann zu stottern. Natürlich gäbe es einen für das Personal, direkt um die Ecke, aber er habe gedacht …

Arne ließ ihn nicht zu Ende haspeln, nahm energisch seinen Koffer und ging ums Haus herum. Kaum war er die paar Stufen zum Souterrain hinabgestiegen, wusste er, dass sein Versuch, hier inkognito zu bleiben, zwecklos war.

»Was ist denn das für ein feiner Pinkel?«

»Seht euch den schnieken Lederkoffer an.«

»Und den Haarschnitt. Hast du was mit einer Friseuse am Laufen?«

Juni 1959, Riekenbüren

Hinter dem Zaun von Bauer Jonker tat sich was. Geraschel, knickende Zweige und leises Kichern. Brit verhielt sich mucksmäuschenstill. Das mussten Hasso und Marga Jonker sein. Sie ahnte es ja schon lange: Ihr Bruder war in die Nachbarstochter verliebt. Beim letzten Scheunenball hatte er mit ihr viel öfter getanzt als mit allen anderen.

Hasso hatte davon nichts hören wollen. »Die hat sich mir an den Hals geschmissen. Eins sage ich dir – wenn du verrückt nach einem Jungen bist, lass es ihn nicht merken.«

Brit hatte einmal gelauscht, als die Eltern über Marga Jonker sprachen. Sie sei genau die Richtige für Hasso. Solide und bodenständig, kein Mädchen, das auf Firlefanz aus war. Was ihr Vater unter Firlefanz verstand, wusste Brit: hoch toupierte statt streng gescheitelte Haare, Petticoats oder Caprihosen statt knielange Röcke und Elvis Presley statt Rudolf Schock. Ob Marga wirklich gern auf all das verzichtete, was unter Gleichaltrigen als neumodisch galt und zu Edward Hefliks Empörung mit dem englischen Ausdruck »up to date« bezeichnet wurde? Oder war es ihr, wie Brit, von ihren Eltern verboten worden? Vielleicht Letzteres, denn wenn sie die einsetzende Dämmerung nutzte, um ungesehen mit ihrem Bruder zu knutschen, war Marga vielleicht doch nicht so gesittet und sterbenslangweilig, wie sie tat.

Brit lauschte auf die vertrauten Geräusche des Abends. Das ferne Lachen der heimkehrenden Arbeiter, quietschende Stalltüren, klappernde Eimer, blökende Schafe und das Geraschel im Gras waren erst zu hören, wenn der Tag nicht mehr rief und schrie, die Motoren nicht mehr brüllten und die Sägen in der Werkstatt nicht mehr kreischten. Dann war ein Flüstern hinterm Zaun zu hören, Rascheln von Kleidung, abwehrende Worte, hastiges Drängen, dann wieder leises Kichern und Seufzen im Gebüsch.

Brit setzte sich auf und zog die Beine an. Vorsichtig ließ sie den Körper erst nach rechts, dann auf die Knie fallen und erhob sich langsam und geräuschlos. Als der Steg nicht mehr unter ihr knarrte, fühlte sie sich sicher. Niemand würde sie bemerken. Sie brauchte nur wenige Schritte, um zu sehen, was geschah. Das Gesicht ihres Bruders stand im letzten Licht des Abends. Sie sah den konzentrierten Ausdruck darin, schließlich die Anstrengung und den Schweiß, der sich auf seiner Stirn bildete, dann das Verzerrte, als litte er Schmerzen, bis sich Entspannung auf seinem Gesicht breitmachte.

Brit hatte ihn einmal gefragt, was sie ihre Eltern unmöglich fragen konnte, und er hatte geantwortet, sie solle sich die Tiere angucken. »Schweine und Kühe machen es genauso.«

Das hatte sie getan, doch erst durch das Getuschel anderer Mädchen hatte sie wirklich erfahren, was sie wissen wollte. Die Entspannung, das Lächeln, das lang anhaltende Glück auf seinem Gesicht war natürlich weder beim Eber noch beim Ochsen zu erkennen gewesen, aber ansonsten stimmte, was Hasso ihr gesagt hatte. Das Mädchen, das bäuchlings vor ihm auf einem Baumstumpf gelegen hatte, erhob sich und richtete lächelnd seine Kleidung. Die beiden umarmten sich, er murmelte ihr etwas ins Haar, sie seufzte tief. So musste Liebe sein. Komisch nur, dass Hasso bis jetzt stets einen Hehl daraus machte, in wen er verliebt war, dass er überhaupt verliebt war. Brit verstand es erst, als sich das Mädchen von Hasso löste und sich abwandte. Sie ging nicht zum Haus zurück, sie schlich am Zaun entlang, bis zu der Stelle, wo er von den Jonker-Kindern schon vor Jahren niedergetreten worden war, damit sie Zugang zum Teich der Hefliks hatten. Das Mädchen stieg darüber, drehte sich noch einmal um, winkte Hasso zu und verschwand. Halina Mersel! Die Tochter der Flüchtlinge.

Brit drückte sich ins Gebüsch, als ihr Bruder an ihr vorbeiging. Sie sah ihm nach, beobachtete, wie sein Gang zunächst unsicher, seine Haltung gebeugt war, wie er dann aber zügig ausschritt, den Kopf zurückwarf und sich durch die Haare fuhr, als könnte er damit abstreifen, was er getan hatte.

Brit folgte ihm langsam. Ihr Vater würde niemals akzeptieren, dass Hasso die Tochter von Handlangern liebte, die mit leeren Händen aus der Sowjetunion gekommen waren und bei ihm Unterschlupf gefunden hatten. Aber vielleicht liebte Hasso sie ja gar nicht? Vielleicht war es bei ihm so, wie die Mutter es häufig mit düsterer Stimme verkündete: Männer wollten immer nur das Eine, und wenn sie es hatten, waren sie an dem Mädchen, das sich weggegeben hatte, nicht mehr interessiert. Wenn Brit gefragt hatte, was sie damit meinte, war sie nur vielsagend angeblickt worden. Es reiche, wenn sie sich diesen Satz merke …

Edward Heflik kam seinem Sohn entgegen, humpelnd, mit einem kräftigen und einem dünnen, lahmen Bein. Kinderlähmung hatte er gehabt, in einem Alter, in dem man schon fast erwachsen war. Ein gut aussehender junger Mann war er gewesen, kräftig und sportlich. Seine dichten dunklen Haare wellten sich, seine hellgrauen Augen, das scharfkantige Profil, die schmale Nase und die geschwungene Oberlippe gaben seinem Gesicht etwas Distinguiertes. Er war in jungen Jahren häufig mit Hans Söhnker verglichen worden, dem beliebten Schauspieler, der als Frauenschwarm galt. Edward Heflik war ein Mädchenschwarm gewesen. Genau so erzählte es Brits Mutter. Frida war eine seiner Klassenkameradinnen gewesen, sie zeigte ihm nie, dass sie in ihn verliebt war. Sie war die graue Maus der Klasse gewesen. Alles an ihr war fahl, ihre aschblonden dünnen Haare, ihre verwaschenen Augen, nicht grau und nicht blau und immer so, als wollten sie überlaufen, das pickelige Gesicht, in das sie schon die ersten Aknenarben gekratzt hatte, ihre Figur mit dem verschwindend kleinen Busen, dem viel zu dicken Hintern und den Beinen, die ihre Mitschüler erbarmungslos Sauerkrautstampfer genannt hatten. Natürlich hatte der flotte Edward Heflik ihr nie einen Blick gegönnt. Das änderte sich erst, als er der arme kranke Edward Heflik geworden war, der Krüppel, der zusehen musste, wie seine gleichaltrigen Kameraden in den Krieg zogen, Ruhm und Ehre erlangten oder den Heldentod sterben durften.

»Wo warst du?«, herrschte er Hasso an. »Ich habe dich gesucht.«

Ehe Hasso antworten konnte, stellte sich Brit ihrem Bruder an die Seite, mit den Schuhen in den Händen. »Am Teich.« Sie zeigte auf die Füße ihres Bruders. »Hasso ist immer noch wasserscheu.«

Die Augen ihres Bruders wurden groß, sein Mund blieb offen stehen. Er blickte seine Schwester an, als hätte sie etwas Unanständiges gesagt.

Edward Heflik schien mit der Auskunft zufrieden zu sein. Er drehte sich um und ging zum Wohnhaus zurück in der sicheren Erwartung, dass sein Sohn ihm folgte.

In dem Moment kam Alfons Mersel, Halinas Vater, auf den Hof. »Kann ich Sie etwas fragen?«

Edward Heflik reagierte ungehalten. »Was ist los?«

Mersel sah Brit und Hasso an, als würde er das Gespräch lieber mit ihrem Vater allein führen. Aber dann gab er sich einen Ruck. »Es geht um meine Tochter. Halina … Sie braucht Arbeit.«

Edward Heflik runzelte die Stirn. »Ich dachte, sie hat eine Stelle bei dem Imbiss am Bahnhof.«

»Es gefällt ihr dort nicht. Die Arbeitszeiten … Sie muss oft spätabends arbeiten. Am Bahnhof treibt sich allerlei Gesindel herum.«

»Tja.« Edward Heflik zuckte mit den Achseln. »Und wie kann ich ihr helfen?«

»Könnte sie nicht bei Ihnen arbeiten? Als Putzfrau?«

»Ich brauche keine Putzfrau.«

Brit sah ihren Bruder an, der auf einen Punkt vor seinen Füßen starrte. Sie bückte sich, um ihre Schuhe wieder anzuziehen, und öffnete dabei schnell und flink den Schnürsenkel seiner Schuhe. Ein altes Spiel, mit dem sie ihren Bruder als kleines Mädchen oft geärgert hatte.

Hasso sah sie an, als würde er ihr gern zur Strafe die Zöpfe abschneiden, wie er es ihr früher oft angedroht hatte, dann aber knotete er sich die Schuhe geduldig wieder zu und gab ihr, als er sich erhob, mit einem Zwinkern zu verstehen, dass er sie als Komplizin akzeptierte.

»Ich denke darüber nach, auf der Wiese einen Campingplatz zu errichten«, brummte Brits Vater. »Natürlich mit einem Haus für Toiletten, Wasch- und Duschanlagen. Da könnte Ihre Tochter beschäftigt werden.«

»Als Toilettenfrau?« Alfons Mersel, der sonst immer so unterwürfig war, begehrte zum ersten Mal auf.

Edward Heflik zuckte mit den Achseln. »Sie kann es sich ja überlegen. Wir leben mittlerweile in einer Zeit der Vollbeschäftigung. Es wird vom Wirtschaftswunder geredet. Da kann es für eine junge gesunde Frau doch nicht schwer sein, Arbeit zu finden, die ihr gefällt.« Er griff nach dem Arm seines Sohnes und zog ihn mit sich, ohne weiter auf Alfons Mersel zu achten.

Brit blieb zurück, folgte Hasso und ihrem Vater nur langsam und sah sich schließlich um. Alfons Mersel verschwand mit gesenktem Kopf in der Dunkelheit. Er tat ihr leid. Was mochte in Hasso vorgehen, wenn er sah, wie Halinas Vater gedemütigt wurde? Aber … vielleicht liebte er Halina ja gar nicht. Vielleicht hatte er nur das Eine gewollt.

Juni 1959, Sylt

Arne nahm seinen Koffer auf und ärgerte sich, dass er sich für diese Reise keinen Seesack besorgt hatte. Was für eine dumme Idee, hier mit einem Lederkoffer aufzukreuzen! Der Personalchef hatte natürlich einen anerkennenden Blick darauf geworfen. Er wusste, wessen Sohn Arne war, und fand es völlig normal, dass er mit teurem Gepäck reiste, so wie die gut betuchten Gäste des Hotels. Deswegen begrüßte er Arne auch persönlich, ließ einfließen, dass er ein sehr angenehmes Telefonat mit seinem Vater geführt habe und dass es für das Miramar eine Ehre sei, den Sohn von Knut Augustin ins Hotelfach einzuführen. Selbstverständlich durfte er sich auch Zeit lassen, sein Quartier aufzusuchen, und sich erst mal bei seiner Verwandten einrichten, ehe er am nächsten Tag mit dem Dienst begann.

Arne ging Richtung Süden und hoffte, dass er sich nicht verirrte. Solange er am Strand entlanggehen konnte, war er sicher, wenigstens in die richtige Richtung zu laufen. Aber dann wurden seine Erinnerungen unscharf. Es war schon sechs Jahre her, dass er Tante Ava zum letzten Mal besucht hatte. Jedes Jahr, wenn er mit seinem Vater Urlaub auf Sylt machte, war er zu ihr gegangen. Und einmal während der Ferienwochen hatte sein Vater die Cousine seiner verstorbenen Frau zum Essen ins Miramar eingeladen. Pflichtschuldigst. Und jedes Mal mit dem Seufzer: »Hoffentlich benimmt sie sich anständig.«

Natürlich hatte sie sich jedes Mal anständig benommen. Sie war ja in denselben Verhältnissen aufgewachsen wie Arnes Mutter. Als hätte sie mit der unpassenden Ehe und dem Verstoß aus dem Elternhaus gleichzeitig sämtliche Manieren verloren!

Als die St.-Christophorus-Kirche in Sicht kam, verließ er die Wasserkante und ging auf dem Stranddistelweg weiter. Er hatte gehört, dass die kleine Kirche in der Neuen Straße Anfang des Jahres abgerissen worden war. Schon vor zwei Jahren war als Ersatz dafür mit dem Bau der Kirche neben dem Friedhof der Heimatlosen begonnen worden. Sie war nach dem Heiligen Christophorus benannt worden, dem Schutzpatron der Reisenden, eine freundliche Verneigung der Insel an ihre Feriengäste. Arne hatte in einer Zeitschrift gelesen, dass die Architektur dieser Kirche zukunftsweisend sei. Eine sehr außergewöhnliche Bauart! Tante Ava hatte geschrieben, er solle nach dem Turm Ausschau halten, dann könne er ihr kleines Haus am Bundiswung nicht verfehlen.

Vor der Kirche stellte er seinen Koffer ab und betrachtete sie, damit niemand erkannte, dass er eine Pause brauchte, weil ihm der Koffer zu schwer geworden war.

Prompt stellte sich ein Mann mit einer Kamera neben ihn. »Eine Voigtländer«, erklärte er und beriet mit Arne, dem es nicht gelang, sich zu entziehen, wie er am besten die ganze Kirche und vielleicht sogar noch die Wolkenformation über dem Turm mit einem einzigen Foto aufnehmen könne. »Die Entwicklung der Bilder kostet ja.«

Als es gelungen schien, setzte Arne seinen Weg fort. Er würde ihn demnächst jeden Morgen und jeden Abend gehen müssen, auch bei Regen und Sturm. Sein Vater hatte gesagt: »Es wird Zeit, dass du dir mal einen anderen Wind um die Nase wehen lässt, mein Sohn. Sei froh, dass du einen Namen hast, der im Miramar bekannt ist. Ein paar Privilegien sind dir also sicher.«

Da war etwas in ihm aufgestiegen, was wohl auch Tante Avas Lebensweg bestimmt hatte: kindlicher Trotz und der Wunsch zu beweisen, dass er mehr Kraft besaß, als ihm zugetraut wurde.

Der Personalchef des Miramar hatte ihn verblüfft angesehen. »Ist das Ihr Ernst?«

Arne hatte genickt. »Die Lehrlinge werden doch sowieso mit ihren Vornamen angesprochen, oder? Da kann es kein Problem sein, wenn mein Nachname unter den Tisch fällt. Oder vielmehr … wenn ich meinen Kollegen einen anderen nenne. Meine Tante, bei der ich wohne, heißt Ava Düseler. Ich werde mich Arne Düseler nennen.«

»Düseler?«, hatte der Personalchef wiederholt und Arne angesehen, als hielte er ihm einen schmutzigen Socken entgegen.

»Ich will keine Sonderbehandlung«, hatte Arne noch einmal erklärt.

Das Haus der Tante, eine Cousine seiner verstorbenen Mutter, war nicht schwer zu finden. Es war das kleinste Haus, das ungepflegteste, das ärmlichste. Arne blieb eine Weile am Zaun stehen und betrachtete es. Tante Avas Liebe zu dem Sylter Matrosen musste groß gewesen sein, wenn sie das komfortable Leben in Hamburg für dieses karge Dasein aufgegeben hatte. Sein Vater hatte ihm nicht viel erzählen können, nur, dass Ava sich in einen Sylter Seemann verliebt hatte und nicht davon abzubringen gewesen war, ihm auf seine Insel zu folgen. Von den Eltern war sie daraufhin verstoßen und enterbt worden, niemand wollte mehr etwas mit ihr, der Frau eines einfachen Matrosen, zu tun haben. Nicht einmal, als Tante Avas Mann nach nur kurzer Ehe auf See blieb und seine Frau mittellos zurückließ. Knut Augustin hatte vermutet, dass Ava wieder in den Schoß der Familie aufgenommen worden wäre, wenn sie ihren Stolz vergessen, ihren schweren Fehler eingesehen und die Eltern gebeten hätte, zurückkehren zu dürfen. Aber dazu war Ava Düseler nicht bereit gewesen. Und damit war sie ganz allmählich vergessen worden. Knut Augustin war der Einzige, der ihr einmal im Jahr einen Besuch abstattete, da er regelmäßig mit seinem Sohn auf die Insel kam. Er hielt es für ungehörig, in Avas Nähe Urlaub zu machen und ihr die kalte Schulter zu zeigen. Und das wegen eines Familienstreits, mit dem er selbst nie etwas zu tun gehabt hatte. In den ersten Jahren waren Vater und Sohn nach ihrer Rückkehr von den anderen Verwandten stets mit Fragen überhäuft worden. Wie es Ava ginge, wie sie aussah, unter welchen Umständen sie lebte, ob sie an eine zweite Ehe dächte … Aber die Fragen waren von Jahr zu Jahr oberflächlicher und seltener geworden und schließlich ganz ausgeblieben. Tante Ava war für die Familie gestorben.

Das Gartentor quietschte, als Arne es öffnete, es hing schief in den rostigen Angeln. Der kurze Weg zur Haustür war voller Stolperfallen, herausgebrochene Steine, Bodensenken, die sich unbemerkt oder unbeachtet immer tiefer eingegraben hatten.

Arne suchte vergeblich nach einer Klingel oder einem Klopfer. Er pochte an die Tür, einmal, zweimal, dann endlich wurde er gehört, Schritte kamen auf die Tür zu. Als er Tante Ava gegenüberstand, fiel ihm ein, was er als Vierzehnjähriger schon empfunden, aber nicht in Worte hatte kleiden können. Erstaunlich, dass eine so leidenschaftslose Frau wie Ava Düseler für eine Leidenschaft auf Komfort und Bequemlichkeit verzichtet hatte.

Sie begrüßte ihn wie einen Nachbarn, den sie täglich sah, oder den Briefträger, der die Post an der Tür abgab, weil in ihrem Briefkasten wegen seltener Benutzung ein Schwalbenpaar nistete. »Komm rein.« Sie streckte ihm die Hand hin und wischte sie anschließend an ihrer Schürze ab, als hätte sie vergessen, es vorher zu tun und wollte es nachholen. »Gut siehst du aus.«

Arne sah an sich herab. Ava Düseler konnte vermutlich erkennen, wie teuer seine Jacke und wie edel das Leder seiner Schuhe war. Hoffentlich fiel das den anderen Kellnern im Miramar nicht auf.

Sie war klein und dünn, hatte schütteres graues Haar, das sie im Nacken zu einem mageren Knoten geschlungen hatte. Alles an ihr war farblos, die Haut, ihre Augen, die Kleidung und ihre Haare. Sogar ihr Lächeln war fahl. Aber mit einem Mal stieg so etwas wie Herzlichkeit in ihre Züge. Sie wuschelte seine kurzen blonden Haare und lächelte. »Ein hübscher Kerl bist du geworden. Bestimmt liegen dir die Frauen zu Füßen. Hast du eine Freundin?«

Er schüttelte den Kopf. »Nichts Festes.«

»Auf Sylt hast du die große Auswahl. Guck dich im Miramar um, da hast du die gute Gesellschaft vor Augen.«

»Ich arbeite dort als Page, Tante Ava, nicht in der Geschäftsführung.«

Sie ging vor ihm die Treppe hinauf in eine winzige Kammer, in der ein Bett, ein kleiner Tisch und ein Stuhl standen. Für einen Schrank war kein Platz mehr gewesen. Tante Ava zeigte auf ein Stück Tau, das sie von einer Zimmerecke zur nächsten gespannt hatte. »Ich hoffe, das reicht für deine Kledage. Du wirst ja wohl keinen Frack dabeihaben.« Sie ging zur Tür und sah sich noch einmal um. »Wenn du dich eingerichtet hast, kannst du runterkommen. Ich koche uns einen Tee.«

Juni 1959, Riekenbüren

Hasso half ihr dabei, den Schlafsack zusammenzurollen und ihn auf den Rucksack zu schnallen. »Pass auf dich auf, Kleine. Auf Sylt soll richtig was los sein. Reiche Kerle mit dicken Autos. Und überall Hasch und Sex.«

Brit legte ihm die flache Hand auf den Mund. »Halt die Klappe. Sonst lässt Papa mich doch nicht mitfahren.«

Hasso lachte. »Eure Lehrer werden schon gut auf euch aufpassen.«

Der Abend, an dem Brit auf das Geheimnis ihres Bruders gekommen war, hatte viel verändert. Bisher schienen die drei Jahre, die sie trennten, unüberbrückbar zu sein. Hasso wusste alles besser, er war seiner kleinen Schwester haushoch überlegen, schien die Geheimnisse des Lebens zu kennen, nach denen Brit noch vorsichtig tastete, und lachte sie aus, wenn ihr dabei etwas in die Finger kam, was er längst beiseitegeschoben hatte und Mädchenkram nannte. Seit sie wusste, was hinter dem Teich geschehen war, hatte Hasso sie als Verbündete akzeptiert. Es war das erste Mal, dass er auf Augenhöhe mit ihr sprach.

»Freunde von mir waren auch mal mit dem Zelt auf Dikjen Deel. War schön, haben sie gesagt. Ein großer Zeltplatz, und der Strand ist ganz nah.« Er begutachtete Brits Rucksack und zog alle Gurte noch einmal fest. »Was werdet ihr unternehmen? Außer am Strand liegen und euch einen Sonnenbrand holen?«

»Einen Ausflug von Hörnum nach Föhr. Auf der Wappen von Hamburg. Hoffentlich werde ich nicht seekrank.«

»Wird schon gut gehen.«

»Eine Wattwanderung ist auch geplant.«

»Super! Da hätte ich ja glatt Lust mitzufahren.«

Brit kicherte. »Die Mädchen in meiner Klasse würden überschnappen.«

Ihr Vater hatte sich ausbedungen, ihr Gepäck zu kontrollieren, damit sie nicht viel überflüssiges Zeug mitschleppte und Wichtiges vergaß. Brit schulterte ihren Rucksack und ging über den Hof auf den rückwärtigen Eingang der Schreinerei zu. Die Tür stand offen, die Stimmen der Gesellen waren zu hören und die Geräusche, mit denen Brit aufgewachsen war. Hämmern, Klopfen und das Kreischen der Säge.

Edward Heflik stand neben dem Tisch, den er sein Büro nannte. Darauf stand ein Telefon, daneben lagen irgendwelche Papiere, Lieferscheine, Stundenzettel, Briefe von Zulieferern. Alles andere brachte Edward Heflik am Abend in die Küche, wo es in eine Schublade wanderte, bis Frida Heflik sich der Sachen annahm. Sie stellte dann die Schreibmaschine auf den Küchentisch und erledigte den Schriftverkehr. Und einmal im Monat wurden die T-Konten-Blätter dazugelegt, dann wurde gebucht. An diesen Abenden ließ sich Frida Heflik nicht gern stören. Ihre Miene war dann bedeutungsvoll, man sah ihr an, wie sehr sie diese Arbeit neben all dem Kochen, Putzen und Waschen genoss.

Alfons Mersel stand dicht neben Brits Vater, damit er trotz des Lärms in der Schreinerei gehört wurde. »Die Sache mit dem Campingplatz ist eine großartige Idee«, sagte er. »Ich habe gehört, dass es demnächst viele Wohnwagen geben wird, für die Campingplätze gebraucht werden. In schöner Gegend.« Er wies zu der offenen Tür. »Hier ist eine schöne Gegend.«

Brits Vater sah ungeduldig aus. Er verlagerte das Körpergewicht auf sein gesundes Bein, es tat ihm nicht gut, lange auf einem Fleck zu stehen. »Nun sagen Sie schon, was Sie wollen.«

»Wenn Sie auf der Wiese vor unserem Haus … vor dem Haus, das Sie uns vermietet haben, einen Campingplatz einrichten wollen, könnten wir drei, meine Frau, Halina und ich, den Platz versorgen. Ich mache alle Arbeiten, die anfallen, den Platz sauber halten, auf Ruhe und Ordnung achten, die Standplätze verteilen, Reparaturen durchführen. Meine Frau würde die Toiletten und Waschräume putzen, damit alles schön sauber ist. Und Halina könnte die Kasse übernehmen. Und einen kleinen Kiosk führen, damit die Camper sich was zu essen und am Abend Getränke kaufen können.«

Edward Heflik sah so aus, als nehme er Alfons Mersel zum ersten Mal ernst. »Keine schlechte Idee«, brummte er. »Ich kümmere mich um die Genehmigungen, und Sie fragen mal nach, welche Kündigungszeiten Sie haben.«

Alfons Mersel war direkt nach seiner Flucht aus der Sowjetunion in der Zigarettenfabrik angestellt worden, in der viele Riekenbürener beschäftigt waren, die weder in der Landwirtschaft noch in den ortsansässigen Handwerksbetrieben Arbeit finden wollten oder konnten. Die Zigarettenfabrik zahlte besser, und sie bot Aufstiegschancen, von denen ein Landarbeiter oder Handwerksgeselle nur träumen konnte. Außerdem hatten dort viele Kriegsversehrte Arbeit bekommen, die am Fließband noch zu gebrauchen waren, aber auf einem Bauernhof oder in einem Handwerksbetrieb nicht mehr einzusetzen waren. Doch alle, die dort arbeiteten, stöhnten über den weiten Weg, den sie am frühen Morgen, auch bei Eis und Kälte, mit dem Fahrrad zurücklegen mussten, über die ungünstigen Arbeitszeiten, sodass sie oft erst spät, bei Dunkelheit, zurückkehrten. Fein raus waren nur die jungen ledigen Männer, die sich ein Auto leisteten, und wenn es nur ein Messerschmitt-Kabinenroller war. Sie kamen jedenfalls warm und trocken in der Fabrik an und waren durchaus geneigt, einen Kollegen gegen entsprechende Beteiligung am Sprit mitzunehmen.

»Drei Monate«, kam es wie aus der Pistole geschossen zurück. »Meine Kündigungsfrist beträgt drei Monate. Ich würde gern selbstständiger arbeiten. In der Zigarettenfabrik ist es immer dasselbe, Tag für Tag, und um mich herum nur Kriegsveteranen, die von der russischen Gefangenschaft reden.« Alfons Mersel zog sich zur Tür zurück und suchte nach einem eleganten Abgang, um einerseits Dankbarkeit zu zeigen, dass seine Bitte nicht abgeschlagen worden war, und andererseits durch eine aufrechte Haltung zu beweisen, dass er für eine selbstständige Tätigkeit genau der Richtige war. »Neben mir arbeitet sogar ein Kriegsblinder, daran sieht man, wie anspruchslos die Arbeit ist.« Er warf einen Blick zu dem dünnen, lahmen Bein Edward Hefliks, das unter der weiten Zimmermannshose kaum zu sehen war. »Seien Sie froh, dass Sie nicht in den Krieg mussten. Wer weiß, ob Sie noch lebten.«

Das war genau der falsche Satz. Brit wusste, dass Alfons Mersel sich damit um viele Chancen gebracht hatte. Edward Heflik auf die Folgen der Kinderlähmung anzusprechen war absolut fahrlässig. Ihm einzureden, er habe Glück im Unglück gehabt, war für die Beziehung zu ihm tödlich. Edward Heflik hatte nichts lieber gewollt, als in den Krieg zu ziehen, hatte gelitten wie ein Hund, als seine Freunde in den Zug stiegen und siegessicher zurückwinkten, hatte auch bei keiner Todesnachricht Dankbarkeit verspürt, und nicht einmal, als sein bester Freund in den letzten Kriegstagen fiel, war er froh gewesen, weil ihm ein solches Schicksal erspart geblieben war. Und der Kriegsveteran aus dem Nachbardorf, der in Frankreich ein Bein verloren hatte, war nie wieder zum Bier eingeladen worden, nachdem er seine Behinderung lachend mit Edward Hefliks verglichen hatte. »Wir humpeln nun beide durchs Leben. Aber dir ist wenigstens erspart geblieben, im Lazarett ohne Betäubung amputiert zu werden.«

Brit schob sich schnell vor Alfons Mersel, bevor Edward etwas erwidern konnte, legte ihren Rucksack auf den Tisch und bat ihren Vater, seinen Inhalt zu kontrollieren. Aber sie wusste natürlich, dass es zu spät war. Alfons Mersels Worte waren nicht mehr aus der Welt zu schaffen.

Juni 1959, Hamburg

Knut Augustin war ein großer, stattlicher Mann. Das Blond seiner Haare war mittlerweile in einem schmuddeligen Grau untergegangen, nur der Kinnbart zeigte noch, dass er in jungen Jahren wie ein Wikinger dahergekommen war. Damals war er kräftig und muskulös gewesen, jetzt spannte sich seine Weste über einem Bauch, der bei Männern seines Alters neuerdings gern Wohlstandsbäuchlein genannt wurde. So etwas wäre Knut Augustin jedoch nie über die Lippen gekommen. Man prahlte nicht mit seinem Wohlstand, auch nicht mit Scherzworten, allenfalls zeigte man ihn. Die dicke Uhrkette, die zu einer eleganten Uhr in seiner Westentasche führte, bewies, dass er bereits am Wirtschaftswunder partizipierte, seine Kleidung war teuer, sein Gebaren großzügig.

Er hatte sich mit seinem alten Freund Robert König in dessen Café an der Alster getroffen. Das taten sie regelmäßig. Beide gehörten nicht zu denen, die sich gern in verräucherten Kneipen an die Theke setzten und so lange Bier und Schnaps konsumierten, bis sie nicht mehr ohne Hilfe nach Hause kamen.

Sie waren sich sehr ähnlich, Knut Augustin und Robert König, wenn Letzterer auch optisch das Gegenteil seines Freundes war. Er war klein und von schmaler Statur, trug mit Vorliebe Cordanzüge und besonders gern diejenigen, die schon uralt und ausgebeult waren. Seine Hemden und Krawatten waren jedoch vom Feinsten, und auch seinen Schuhen sah man an, dass sie sehr teuer gewesen waren. Seine Frau war ebenfalls klein und zierlich gewesen, für Robert ein großes Glück, denn er hatte schon geglaubt, unverheiratet bleiben zu müssen, weil sich keine Frau fand, die auf ihn herabblicken oder beim Tanzen seine Nase in ihrem Dekolleté haben wollte. Dennoch war seine Ehe nicht etwa eine Zweckgemeinschaft, sondern eine Liebesheirat gewesen. Auch da ähnelten sich die beiden. Knut Augustin hatte ebenfalls aus Liebe geheiratet, wenn auch oft getuschelt wurde, dass er mit seiner Ehe geschäftlich das große Los gezogen hatte. Zu dem Hotel, das seine Großeltern in Hamburg aufgebaut hatten und das den Krieg unbeschadet überstanden hatte, waren auf diese Weise zwei weitere hinzugekommen. Isa Augustin hatte eigentlich den Ehrgeiz gehabt, die beiden Hotels ihres Vaters höchstpersönlich zu leiten, denn tatsächlich hatte sie tatkräftig dabei geholfen, die beiden Häuser, die im Krieg arg gelitten hatten, wieder aufzubauen. Aber als Knut um ihre Hand anhielt, gab es niemanden, der sie in ihrem Wunsch unterstützte. Nein, ihre Eltern und auch Knut wollten, dass sie sich mit der Familienplanung und dem Haushalt beschäftigte und ihrem Mann das Geldverdienen überließ. Schließlich hatte sie klein beigegeben, getan, was von ihr erwartet wurde, hatte das Haus, das Knut kaufte, zu einem prächtigen Wohnsitz gemacht und einen Sohn zur Welt gebracht. Aber eine heimtückische Erkrankung hatte alles zunichtegemacht. Isa Augustin starb kurz vor dem zweiten Geburtstag ihres kleinen Sohnes. Für Knut eine Tragödie, die ihm damals unüberwindbar erschien.

Robert König war es ähnlich ergangen. Die beiden Freunde fanden sehr viel Trost beieinander, als Sibylle bei der Geburt der Tochter starb. Diese gemeinsame Trauer hatte ihre Freundschaft gefestigt, einer war für den anderen da, jederzeit.

»Sylt hat Zukunft«, sagte Robert König. »Man muss sich früh etablieren, ehe die Grundstückspreise explodieren.«

Knut Augustin nickte. »Das glaube ich auch. Wir müssen schnell sein.«

»Ein neues Hotel Augustin? Das vierte?«

»Klar! Und du? Willst du es wirklich mit einem zweiten Café versuchen? Noch ein Linda?«

Robert König hatte sein Café nach seiner Tochter benannt. Das Linda in Hamburg war bekannt und florierte bestens, seit die Leute wieder Freizeit hatten und Geld, um sich etwas zu leisten.

Knut Augustin bekam mit einem Mal einen Blick, der sich in die Ferne richtete, über den Platz, darüber hinweg, ohne etwas zu sehen. »Wäre es nicht wunderbar, etwas Gemeinsames zu versuchen?« Sein Blick kehrte zurück, seine Augen wurden groß und lebhaft. »Das wär’s! Kein Augustin, kein Linda, sondern … König Augustin!«

Robert König sah für einen Moment so aus, als würde er das Opfer von akutem Kreislaufversagen. Dann ging ein Leuchten über sein Gesicht. »Das ist es! Das machen wir!«

Knut Augustin beugte sich vor. »Hotel oder Café?«

»Im Erdgeschoss Café, in den Etagen darüber Hotel.«

»Und an der Fassade ein großes Schild.« Knut malte es in die Luft: »König Augustin!«

Nun war doch ein Glas Champagner fällig, obwohl die beiden es sonst bei Kaffee und Tee beließen.

»Gut, dass Arne zurzeit auf Sylt ist«, sagte Knut Augustin, als sie sich zugeprostet und den ersten Schluck getrunken hatten. »Er soll sich schon mal in Westerland umsehen. Die Häuser dort sind weitgehend unversehrt. Bombardierungen hat es auf Sylt nicht gegeben. An der Insel ist der Krieg ja vorbeigegangen.« Knut Augustin verzog das Gesicht, als hätte er Mühe, die Erinnerungen hervorzuholen. »1939 haben die Engländer es versucht. Da waren schon zehntausend Soldaten auf der Insel stationiert. Aber die britischen Kampfflugzeuge haben nicht viel erreicht. Fünf wurden abgeschossen, wenn ich mich recht erinnere, die anderen wurden durchs Flakfeuer vertrieben.«

»Haben es die Briten nicht noch einmal versucht?«

»Stimmt. Ein paar Monate später. Mitten in der Nacht haben sie angegriffen. 120 Bomben! Aber die meisten sind ins Meer und in die Dünen gefallen. Nur eine hat getroffen. Ausgerechnet das Lazarett in der Hörnumer Kaserne.«

Robert König wischte mit einer Handbewegung die trübe Vergangenheit beiseite. »Von den siebenhundert Syltern, die eingezogen wurden, sind garantiert viele gefallen. Und die haben Familien hinterlassen, die in Häusern sitzen, die sie nur mit Mühe instand halten können, weil kein Geld für Modernisierungen da ist.«

»Die sind billig zu haben.«

»Aber wir müssen auf eine gute Lage achten.«

»Strandnähe, das ist klar.«

Die beiden Herren wurden in ihren Wunschträumen von einem Wirbelwind unterbrochen, der in das Café Linda einbrach. Eine bildhübsche junge Frau von achtzehn Jahren, strahlend, lachend, in einem knallroten Kleid, das mit weißen Tupfen übersät war. Es hatte einen weiten Rock, der durch mehrere Petticoats aufgeplustert worden war. Ein Gürtel schnürte ihre Taille so sehr zusammen, dass man Angst bekam, eine emotionale Aufwallung könnte sie zum tiefen Durchatmen zwingen. Ihr Dekolleté war trotz ihrer Jugend bereits atemberaubend. Linda König trug die Haare hoch toupiert, wie es zurzeit Mode war, und hatte sich dadurch glatt zehn Zentimeter größer gemacht, als sie eigentlich war.

»Hier gibt’s Champagner? Da bin ich dabei.«

Sie winkte nach einem dritten Glas, ehe ihr Vater sich darum kümmern konnte, gab erst ihm und dann Knut Augustin einen Kuss. »Moin, Onkel Knut. Ihr beiden seht aus, als wolltet ihr einen Plan aushecken.«

Robert König gab seinem Freund mit einem Zeichen zu verstehen, dass Linda noch nichts von ihren Plänen wissen sollte. Sie würde es glatt in ganz Hamburg herumerzählen.

»Geschäfte«, gab er kurz angebunden zurück. Dafür interessierte sich Linda kein bisschen, das wusste er.

»Wie geht’s Arne?«, fragte sie Knut. »Ich glaube, ich habe ihn ein ganzes Jahr nicht gesehen. Sieht er immer noch so gut aus?«

»Eher noch besser«, antwortete Robert an Knuts Stelle. »Ihr beide würdet gut zusammenpassen.« Er lachte, um zu zeigen, dass er einen Scherz gemacht hatte, den Linda nicht ernst nehmen musste.

Sie ordnete ihre Petticoats, die sich, als sie sich setzte, auf ihrem Schoß aufgebauscht hatten. »Warum nicht? Wenn er attraktiv und gut fürs Geschäft ist, soll es mir recht sein.« Sie stürzte ihren Champagner hinunter, dann bekam ihr Vater einen weiteren Kuss. »Eigentlich hatte ich dir nur sagen wollen, dass es heute bei Inge eine Kellerparty gibt. Ich werde dort übernachten.«

»Wer ist Inge?« Robert König runzelte die Stirn.

»Die war doch neulich bei uns, diese kleine Brünette mit dem runden Gesicht.« Linda flatterte aus dem Café, wie sie hereingekommen war. Ein Schmetterling, der vergeblich zu fangen sein würde.

Robert König seufzte. »Ich werde nicht fertig mit ihr. Sie macht, was sie will. Am besten wäre es wirklich, sie würde bald heiraten, damit ich die Verantwortung los bin.«

Knut Augustin lachte. »Da bin ich ja richtig froh, dass ich einen Sohn habe.« Er prostete Robert noch einmal zu. »Das wär’s, alter Junge! Unsere beiden Kinder zusammen vor dem Traualtar! Ein schönes Paar gäben sie ab.«

Robert seufzte, als ginge es um einen Traum, der sich nie erfüllen würde. »Und sie könnten gemeinsam das König Augustin leiten.«

Als dieser Gedanke ausgesprochen worden war, brauchten sie glatt noch ein weiteres Glas Champagner.

Juli 1959, Sylt

So also war die Freiheit. So schmeckte sie, so roch sie, so fühlte sie sich an. Wie Kunsthonig, Leberwurst und Pfefferminztee schmeckte sie, wie Salzwasser roch sie, wie kalter Wind auf der Haut fühlte sie sich an. Niemand mahnte Brit, früh aufzustehen und statt der neumodischen Nylons die dicken Wollstrümpfe anzuziehen. Niemand verbot ihr, die Haare so hoch zu toupieren, wie es ging, niemand fahndete in ihren Taschen nach einem verbotenen Lippenstift. Es gab auch keinen Menschen, der sie zur Kirche trieb oder in die Küche zum Geschirrabtrocknen holte. Und kein einziges Mal wurde ihr vorgehalten, wie gut sie es habe, dass sie und ihre Familie von Kriegsgräueln, von Bombardements und vom Hunger verschont geblieben waren, dass sie Wohlstand genießen durften, dass sie gesund waren.

Alles war anders als zu Hause. Die beiden Lehrer, der ältere und gutmütige Herr Jürgens und das zarte Fräulein Brunner, waren erstaunlich entspannt und drückten hier und da ein Auge zu. Einige Mitschülerinnen zeigten, wie eigenständig und unabhängig man als Schlüsselkind aufwuchs und wie wenig man beachtet wurde, wenn man viele Geschwister hatte. Manche konnten sogar Twist tanzen, hatten schon von Bill Haley gehört und wussten, dass in Großstädten der Minirock in Mode gekommen war.

In Riekenbüren war das undenkbar, aber hier, auf Dikjen Deel, war mit einem Mal alles anders. Es waren auch Jungen auf dem Zeltplatz, die allerdings strenge Lehrer hatten, die im Gegensatz zu Herrn Jürgens und Fräulein Brunner genau aufpassten, was geschah, und ihre Schutzbefohlenen nie allein ließen. Wenn im Aufenthaltsraum Twist getanzt wurde, saßen die Lehrer in einer Ecke und taten so, als unterhielten sie sich miteinander, ohne auf die Jungen und Mädchen zu achten. Aber in Wirklichkeit hatten sie ihre Augen überall. Der Sohn des Platzbetreibers war für das Auflegen der Platten zuständig, und er merkte bald, was die Jungen und was vor allem die Mädchen wollten. Twist!

Als Brit am ersten Abend den Hüftschwung gelernt hatte, der der älteren Generation die Sorgenfalten auf die Stirn trieb, ihren Rock mit Sicherheitsnadeln zwanzig Zentimeter kürzer gesteckt hatte und sich vorstellte, so ihren Eltern unter die Augen zu treten, da setzte dieses Gefühl von Freiheit ein. Etwas tun, was ihre Eltern nicht billigen würden, und vor Entdeckung und Strafe sicher sein! Ein herrliches Gefühl! Bisher war der Trotz, den sie in sich gespürt hatte, immer in hilflosen Zugeständnissen und letztlich in Kapitulation untergegangen. Ihre Eltern waren stärker gewesen. Hier aber war sie ihnen endlich einmal überlegen. Sie machte einfach, was sie wollte, etwas, was ihre Eltern nicht wollten. Sie hatte nicht geahnt, wie wunderbar dieses Gefühl, dieses Siegen über die Verbote war. Brit nahm sich vor, es in Riekenbüren auch einmal auszuprobieren: darauf bestehen, etwas zu tun, auch wenn die Eltern dagegen waren …

Bald sprach sich herum, dass man auf Sylt sogar nackt baden durfte. Es war nicht nur erlaubt, es wurde sogar empfohlen. Angeblich war der Wellenschlag auf der Haut sehr gesund. Ein Sylter Arzt hatte es vor vielen Jahren herausgefunden, und es gab auf der Insel immer noch Ärzte, die es ihren Patienten empfahlen. Sylt war großartig. Wenn sie abends in ihren Zelten lagen, miteinander tuschelten und sich die Zukunft ausmalten, nahmen sich alle vor, in ein paar Jahren noch einmal nach Sylt zu kommen und dann die Sache mit dem Nacktbaden auszuprobieren. Am besten zusammen mit einem Ehemann, der aussehen würde wie Karlheinz Böhm und sie wahnsinnig lieben würde, weil sie dann natürlich alle so schön geworden waren wie Romy Schneider.

In der Nähe von Dikjen Deel, auf der Süderstraße, gab es ein kleines Haus, das schon ziemlich baufällig aussah. Dennoch erfreute es sich großen Zuspruchs. Am Abend standen viele Fahrräder vor der Tür, gelegentlich auch ein Motorroller oder eine Isetta. Über der Tür stand Herzog Ernst, daneben hing eine Speisekarte, die nichts zu bieten hatte, was es nicht auch in anderen Gaststätten auf Sylt gab: Matjesbrötchen, Scholle mit Kartoffelsalat oder Frikadelle auf Brot. Aber der Wirt lockte mit einer Attraktion, die es woanders nicht gab und die ihre Wirkung erzielte: ein Fernsehapparat. Leider sorgte er dafür, dass am Abend die Gardinen zugezogen wurden, sodass niemand vor den Fenstern stehen und das Programm verfolgen konnte, ohne etwas bei ihm zu konsumieren.

Rosemarie, die sich, seit sie die Sissi-Filme gesehen hatte, nur noch Romy nennen ließ, war das mutigste Mädchen, das Brit je kennengelernt hatte. Und das, obwohl sie es wirklich nicht leicht hatte. Sie war die Tochter einer Frau, die sich Kriegerwitwe nannte. Aber in Riekenbüren hatte sich schnell herumgesprochen, dass ihr erster Mann nicht gefallen, sondern als Spätheimkehrer bei ihr aufgetaucht und sein Platz besetzt gewesen war. Romys Mutter hatte nicht mehr mit der Rückkehr ihres Mannes gerechnet, war an einem Abend, als ihr jemand erzählt hatte, dass nun Schluss sei mit den schlechten Zeiten, dass Deutschland auf dem Weg nach oben sei, mit einem Mann ins Bett gegangen und prompt schwanger geworden. Der Amerikaner, den sie kurz danach kennengelernt hatte, störte sich nicht daran, sorgte für eine weitere Schwangerschaft und kündigte an, mit ihr in die USA