Freiheit hat ein schönes Gesicht - Christoph Beranek - E-Book

Freiheit hat ein schönes Gesicht E-Book

Christoph Beranek

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Beschreibung

Ein Unfall leitet einen Wendepunkt in Christians Leben ein. Nach einem Sturz vom Fahrrad, erleidet er ein Schädel-Hirn-Trauma und wird im Krankenhaus in ein künstliches Koma versetzt. Ein Alptraum, der ihn auf einen mittelalterlichen Marktplatz führt, auf dem eine Hinrichtung stattfindet, wird er von Häschern verfolgt, die ihm nach seinem Leben trachten. Bevor sie ihn hinrichten können, erwacht er. Auch der Rückblick auf seine Indienreise, voll sinnlicher und bunter Erlebnisse, auf der er Elli, seine Frau kennenlernt, veranlasst ihn zu einem vertieften Nachdenken über sein Leben. Er erkennt nach seiner Genesung, was wichtig und tragend für ihn ist. Die berufliche Situation, seine Handlungen und Einstellungen stehen zur Disposition. Sein entwickelter Freiheitssinn wird zum Kompass seiner Veränderungen. Was daraus wird und wie er mit seinen wiederkehrenden Ängsten umgeht, erzählt der Roman in verschiedenen Facetten.

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Seitenzahl: 529

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Christoph Beranek

Freiheit hat ein schönes Gesicht

ROMAN

Impressum

Texte: © 2023 Copyright by Christoph Beranek

Lektorat: Caroline Baumer

Literarische Beratung: Gabriele Siegfahrt

Satz & Umschlag: Erik Kinting – www.buchlektorat.net

Verantwortlich für den Inhalt: Christoph Beranek

e-mail: [email protected]

Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Ich bedanke mich für die fundierte Unterstützung von Caroline Baumer und Gabriele Siegfarth.

Das Geheimnis des Glücks ist die Freiheit, und das Geheimnis der Freiheit ist der Mut.

(Perikles)

Inhalt

Freiheit hat ein schönes Gesicht

Impressum

Im Bann der Unfreiheit

Goa Express

Elli

Rückkehr in die Gegenwart

Fortschritte

Abschied aus dem Krankenhaus

Ankunft zu Hause

Laufen lernen

Ein magischer Ort

Ins Handeln kommen

Kaltes Wasser

Unwetter

Glückshormone

Familienaufstellung

Zugabe

Volles Programm

Alte Freunde und neue Herausforderungen

Verliebt

Loslassen

Sommerpläne

Ein Kapitel abschließen

Durst nach Leben

Forum

Oase

Gartenfest

Aufbruch in die Abruzzen

Familiengeschichte

In den Bergen

Heimkehr

Wandern

Der Weg der Freiheit

Grund zum Feiern

Zukunft

Frau Freiheit

Im Bann der Unfreiheit

Aus einer tiefschwarzen Dunkelheit, die wie eine Wand alles Sichtbare versperrte, zuckten grelle Blitze, die mit ihrer Kraft ein Inferno aufführten. Wie in einer Theateraufführung, die mit einem spektakulären Spiel aus Dunkelheit und Licht das Publikum auf eine Reise in eine ungewisse Welt einstimmte. Doch als die Blitze versiegten, verstummte das Licht und alles glitt in eine bewegungslose Welt ab. Einzig ein kaum hörbares Atemgeräusch, aus weiter Ferne, durchbrach das Nichts aus dunkler Masse. Die leisen Töne erinnerten an mein Ich, ich war noch da, zwar fast unmerklich, aber ich war noch da, hier, dort, wo auch immer. Und so fügte ich mich in den Rhythmus der Atmung, in den Wellengang von ein … und aus …

Aus diesem fragilen Ich-bin-noch-da entstanden Bilder, Geschichten, kurze Einblicke in mein Selbst, die mir zu einem Fixstern wurden in einer fremden und bedrohlichen Welt. Alles schien einer Gesetzmäßigkeit zu folgen, auf die ich keinen Einfluss hatte und der ich bedingungslos ausgeliefert war. Doch immer wieder wurde die Finsternis durch ein aufstrebendes Licht verdrängt und schenkte mir einen Einblick in eine Welt voller Geschichten, skurril und außerhalb jeder Norm.

Als sich die Dunkelheit wie ein schwerer Vorhang öffnete, sah ich einen strahlend blauen Himmel. Das Licht war so stark, dass meine Augen schmerzten. Ich sah eine Frau schwebend an mir vorbeiziehen. Ich wollte sie erkennen, strengte meine Augen an, konzentrierte mich, doch sie glitt nur schemenhaft in einem wallenden Umhang an mir vorbei. Wer war sie? Kannte ich sie, war sie meine Frau, eine Bekannte oder irgendjemand?

Noch einmal wollte ich mit aller Kraft eine Erkenntnis über diese Traumgestalt erhalten. Doch schon einen Wimpernschlag später stürzte mein Gedankengebäude zusammen und ich fiel zurück in ein stummes Ziffernblatt. Das Nichts hielt mich wieder fest umklammert. Eingesperrt in einem Raum, der meinen Geist fesselte. Nur Dunkelheit und Stille – alle Sinne erstickt.

Keine Sehnsucht, kein Gefühl regte sich in mir, ich war in einem Kerker aus Nichts gelandet. Und auch die Sekunden, Minuten, Stunden hatten sich verabschiedet, still und heimlich. Ich konnte sie nicht verstehen, begreifen, erleben. Zeit war mir fremd geworden, wie ein Stern, den ich sehe, aber nichts über seine Existenz, sein Wesen weiß. Das Nichts, zeitweise nur unterbrochen durch ein und aus, immer aus der Ferne kommenden, ein und aus …

Irgendwann, nach einigen Wellen, die ich nicht ermessen konnte, löste sich die Dunkelheit wie ein Wolkenschleier langsam und bedächtig auf. So, als wollte sie mich ganz behutsam an einen Strand tragen.

***

Plötzlich schwebte ich empor. Ein Aufzug hob mich aus einem feuchten, dunklen Kellergewölbe hinauf, in eine hohe Etage. Bing! Der Lift stockte, ich holte Luft. Vorsichtig trat ich aus seinem Maul. Ich machte ein paar Schritte, unter mir ein mit Steinen gepflasterter Weg. Links und rechts davon standen Häuser, die aus Bruchsteinen und hölzernem Fachwerk bestanden. Offensichtlich eine mittelalterliche Ortschaft. Es war still, kein Laut, keine Stimmen erreichten meine Ohren. Bei einer Weggabelung vor mir blieb ich stehen. Bergauf oder bergab? Ich entschied mich, den Weg nach unten zu nehmen. Dort hörte ich Stimmen, erst ein entferntes Säuseln und dann mit jedem Schritt immer deutlicher wabernde Worte.

Jetzt erreichte ich einen großen Marktplatz, auf dessen Zentrum ein hölzernes Podest stand. Eine dicht gedrängte Menschenmenge hatte sich um das Podest versammelt und johlte. Immer lauter schrien sie, bis ein Scharfrichter in einem sackartigen Mantel das Podest betrat. Mir wurde sofort klar, was das hieß: Eine Hinrichtung stand bevor. Ich wandte mich entsetzt von der Szene ab. Nur weg hier! Doch im gleichen Moment begann die Menschenmenge voller Inbrunst, meinen Namen zu skandieren: „Christian, Christian, Christian …“ Ich war erstarrt. Mein Herz klopfte, als wollte es aus dem Brustkasten springen. Warum? Warum wollten sie mich hinrichten? Was hatte ich getan? Als ich vier Männer in schwarzen Kutten mit Schweinsmasken sah, die im Gleichschritt auf mich zu rannten, löste sich meine Erstarrung. Ich setzte mich in Bewegung. Erst ein Bein, dann das andere, dann immer schneller, durch Gassen, über steinerne Treppen und immer weiter. Verzweifelt auf der Suche nach einem Ort, an dem ich mich verstecken konnte.

Aber wohin ich auch lief, ich fand keinen Platz. Immer deutlicher hörte ich das Brüllen der Häscher, die sich untereinander vor allem durch Grunzlaute verständigten. Immer näher kamen ihre Schritte, die durch die engen Gassen hallten. Vor mir erschienen schmale Stufen, die ich hektisch bestieg. Ich stockte. Fast oben angekommen, stürzte ein Schweinsmann in schwarzem Umhang auf mich zu, er zielte mit seiner Lanze auf meinen Kopf. Ohne nachzudenken, drehte ich mich um und sprang die Treppe herunter, stürzte, raffte mich wieder auf und erreichte den gepflasterten Weg, den ich schon kannte.

Als ich eine Menschenmenge sah, die sich an beiden Straßenseiten zu einem Spalier formiert hatte, holte ich Atem. Was hatten sie hier zu suchen? Waren sie gekommen, um mich zu warnen oder um mich zu verurteilen? Und warum kamen sie mir nur so bekannt vor? Ich biss mir innen auf die Wange, beschleunigte noch einmal meinen Schritt. Die Verfolger im Nacken hatte ich keine Wahl, als durch das menschliche Spalier zu rennen. Im Augenwinkel zischten Gesichter von Freunden vorbei. Ein Blitz der Hoffnung durchzuckte mich, dass sie mich retten, beschützen würden. Doch als ich sie genauer ansah, funkelten mich hassverzerrte Fratzen an. Plötzlich verstand ich auch, was sie schrien. Meinen Namen. Herr Bergmann, mein alter Deutschlehrer, Bernd, mein bester Freund aus der Schule, sie skandierten meinen Namen. Und dass ich sterben sollte.

Hinter mir hallten die Klauen der Häscher. Sie kamen immer näher, sodass ich mich zwingen musste, mich nicht umzudrehen. Bloß nicht nach hinten sehen! Nicht stehen bleiben, weiter, weiter! Ich konnte kaum mehr meine Beine fühlen, da tauchte am Ende der Straße eine Barrikade aus aufgetürmten Steinen auf. Vor meinen Augen verschwamm alles. Ich war gefangen.

Ich blickte nach oben in die Sonne und ergab mich meinem Schicksal. Allmählich entfernten sich alle Gedanken und Gefühle in langsamen Schritten von mir, die Stimmen flüsterten nur noch – bis sie schließlich vollständig verhallten. Nun wurde das Licht schwächer, bald erkannte ich nur noch Blautöne, die nach kurzer Zeit der Dunkelheit den Vorzug gaben. Ich spürte, wie ich in die Dunkelheit abglitt und mit dem Eintauchen sich alle Gedanken und Gefühle verloren. Nur noch ein leises, entferntes Atmen, ein … und aus …, durchbrach das Nichts.

***

In den nächsten Tagen erlebte ich immer wieder Episoden wie diese. Jedes noch so kurzfristige Auftauchen aus dem Nichts war mit der Angst verbunden, in eine bedrohliche Welt geworfen zu werden. Ich war nicht mehr der Regisseur meiner Gedanken und Empfindungen, wurde wie in einem reißenden Fluss hin und her geschleudert, den Launen der gewaltigen Strömungen hilflos ausgeliefert.

Nur ab und zu löste ein aufregendes Kribbeln die furchterregenden Traumbilder ab, das aber schnell wieder von der Gravitation der dunklen Mächte absorbiert wurde. Mein Geist kämpfte erfolglos dagegen an, dass sich meine Existenz immer wieder dem Tod zuwandte. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit verabschiedete sich das dunkle Verlies langsam. Lichte Farben schlichen sich in seine Ritzen und menschliche Stimmen tanzten vor mir. Erst verschwommen, doch allmählich schärften sich die Konturen.

***

Ich lag auf einer gepolsterten Pritsche, vor mir eine Kapsel mit einer geöffneten, runden Klappe. Um mich herum wimmelten Menschen in weißen Overalls und beglückwünschten mich: „Es ist uns eine große Ehre, mit dem Tombola-Gewinner zu sprechen. Sie wurden ausgewählt, um in dieser Röhre eine Reise zum Mond anzutreten.“ Ich nickte eifrig. Schon als Kind hatte ich mit meinem Freund Bernd Fluggeräte und Raumkapseln aus Karton gebaut, um mich auf eine Raumfahrt zu den Planeten unseres Universums zu begeben. „Schnallen Sie sich gut an und machen Sie ein Kreuzzeichen!“ Bevor ich mich den Erinnerungen aus meiner Kindheit hingeben konnte, wurde ich mit Instruktionen versorgt, die ich nicht verstand.

Als ich die Kapsel bestieg und die Luke sich schloss, hörte ich mein Herz kräftig schlagen. Meine Muskeln spannten sich an, ich fühlte mich lebendig – glücklich, endlich der Gravitation der Erde, allen anhaftenden Zwängen zu entfliehen und mich bis ins Tiefste meiner Existenz zu spüren, Freiheit in einer ganz neuen Dimension zu erleben. Mit der gigantischen Kraft der Triebwerke hob die Kapsel ab. In meiner gläsernen Kanzel wurde ich in meinen Sessel gedrückt und durch die Schubkraft festgehalten. Bis der Druck nachließ. Jeder Nerv in mir entspannte sich, Gedanken, Muskeln, Vergangenes, alles löste sich auf und ich gab mich den Bildern meiner Netzhaut hin. Ich schwebte. Bald glotzte mich die Erde als blaue Kugel an, als treue Gefährtin, daneben drehte der Mond mit seinem pockenartigen Antlitz seine Runde. Schwerelos flogen Bilder an mir vorbei, Sterne schienen mir zuzulächeln. Bedächtig zog ich an einem Steuerhebel, um mich in einem kontrollierten Zustand zu halten.

Nach einer Weile spürte ich einen Stoß, eine Erschütterung, die meine schwerelose Welt durchbrach. Ich landete mit sanfter Anziehung auf einem Plateau und erblickte eine Landschaft aus steinigem Geröll und Sand, soweit mein Blick reichte. Langsam steuerte ich die Kapsel in die unbekannte Welt, wo mich große und kleine Steine umgaben. Sandtöne in verschiedenen Abstufungen bestimmten die Oberfläche. Ein monochromes Farbenmeer, das durch vielfältige Strukturen, Höhen, Tiefen, Schluchten, Gräben gezeichnet war. Nach kurzer Zeit zogen sich die Farben zurück, verblassten und alles verdunkelte sich. Die Dunkelheit gewährte mir nun neue, einzigartige Einblicke. Ich betrachtete Sterne, Planeten, entdeckte Kometen mit strahlendem Schweif. Die fremde Welt legte sich wie eine Decke um mich. Ein Refrain aus Glücksgefühlen sang in meinem Körper. Könnte ich diese Welt doch konservieren und mitnehmen! Hier schien es keine Begrenzungen zu geben, nur einen allumfassenden, endlosen Raum. Meine winzige Existenz in der Unendlichkeit, mein Ich, verband sich mit dem Ganzen, Allumfassenden, ohne seine eigene Präsenz aufzugeben.

Gedanken nahmen diese Welt direkt und ohne innere Begrenzungen wahr. Alles ergänzte sich, war ineinander verwoben, wirkte zusammen. Wie ein Orchester, das im Zusammenspiel etwas Neues, Einmaliges hervorbrachte. Töne, die im Akkord erklangen, sich in der Weite ausbreiteten und nun mein Gehör durchdrangen. Fanfaren preschten wie Speerspitzen nach vorn und erfüllten den Raum, wo sie anschwollen und wieder abebbten. Mit dem Verhallen dieser Töne übernahm eine Gruppe von Streichinstrumenten, begleitet von hintergründigen, sanften Trommelschlägen, das Konzert. Ich lehnte mich in meinem Flugsessel zurück und gab mich den Klängen hin, die den unendlich wirkenden Raum erfüllten. Doch bald zogen mich vertrautere Planeten wie ein Magnet wieder in ihre Umlaufbahn und die Kapsel näherte sich langsam, aber stetig der Heimat. Ich genoss die Sicht in das grenzenlose Universum, bis die Erde mich rief. Sie strahlte wie ein Saphir, der sich mir ruhig und selbstbewusst in seiner einzigartigen Schönheit zeigte. Immer noch befand ich mich in einem Zustand der Schwere- und Sorglosigkeit.

Je näher ich kam, desto lauter meldete sich eine grelle Stimme in mir. Würde die Kapsel den Atmosphäreneintritt unbeschadet überstehen? Statt einer klingenden Symphonie hörte ich auf einmal nur noch meinen Verstand, der Antworten verlangte. Konnte die gläserne Spitze der Kapsel der enormen Hitze standhalten? Musste das Glas beim Eintritt in die Erdatmosphäre nicht schmelzen, ja verglühen, und mit der Spitze die gesamte Kapsel? Die Vorstellung, mit der Kapsel zu verbrennen, ließ mein Herz rasen, ich schnappte nach Luft. Panisch suchte ich nach einem Ausweg. Doch mein Kopf und alle Synapsen darin schienen bereits jetzt zu verglühen. Mantraartig wiederholte ich den Satz: „Alles wird gut enden, alles wird sich fügen.“

Nach und nach spürte ich, wie mein Herz langsamer schlug, ich bekam wieder Luft. Und mit dem Sauerstoff sog ich auch wieder die Hoffnung in mich. Meine Kapsel war keine Teekanne. Die Spitze bestand aus einem robusten Glas, vielleicht aus einer speziellen Legierung, die für diese Hitze ausgelegt war. Ja, ich war mir jetzt sicher, dass …

Noch bevor ich den Gedanken zu Ende denken konnte, hörte ich ein dumpfes Krachen und alles um mich herum verdunkelte sich. Abrupt nahm das Nichts wieder Besitz von mir und ich driftete ab in den bekannten leeren Raum.

***

Mein Wachsein floss mit meinem Schlaf zusammen. Beide Welten verloren ihre eigene Präsenz, klebten zusammen, waren verbunden wie siamesische Zwillinge. Doch die Zeit offenbarte sich als Wächter jeder Phase und trug mich immer wieder zuverlässig ins Licht. An diesem einen Tag, der sich bis heute bei mir eingebrannt hat, kam sie in Gestalt einer weiblichen Stimme, die zu mir sprach, die mir vertraut war und die ein wohliges Gefühl in mir auslöste. Ich konzentrierte mich auf ihren Klang und nahm eine Berührung an meiner Hand wahr, sanft und zart, aber dennoch klar und präsent. Euphorie durchströmte mich, als ich erkannte, dass es meine Frau Elli war. Sie sprach in langsamen Intervallen, von denen ich immer wieder Fetzen verstand. „Christian, weißt du noch …? Stell dir vor … Zum Glück brauchen sie die Betten, da beeilen sie sich wenigstens, dich gesund zu machen …“ Sie sagte mir in melodischen Sätzen, die wir früher – von Lachanfällen geschüttelt – erfunden hatten, dass ich bald nach Hause kommen konnte. Bald! Die medizinischen Prognosen seien sehr vielversprechend. Ihr Lachen in der Stimme beruhigte mich, entspannte mich und ein vertrautes Gefühl breitete sich in mir aus. Erst in diesem Moment wurde mir bewusst, dass ich im Krankenhaus lag, auch wenn ich immer noch keine Vorstellung hatte warum.

Sie hielt meine Hand wie einen Anker und erzählte mir von unserer Tochter Anna, die frisch ausgezogen war und im Herbst mit ihrem Studium beginnen würde. Ich strengte mich an, die Nebelschwaden vor meinen Augen zu vertreiben. Je öfter ich blinzelte, desto klarer wurde das Bild vor mir. Ihre grünen Augen, ihr kastanienbraunes Haar, das ihre Schulter bedeckte. Sie gab mir einen Kuss auf die Stirn. „Morgen, Christian, gleiche Stelle, gleiche Zeit, nach der Arbeit. Du und ich.“ Nachdem sie das Zimmer verlassen hatte, grub ich meinen Kopf tief ins Kopfkissen. Bald war ich frei, bald konnte ich das Gefängnis verlassen, bald mein altes Leben sehen und etwas Neues gestalten.

Bereits damals ahnte ich, dass die Freiheit die Hauptrolle in meinem zukünftigen Leben spielen sollte. Die Erfahrung, wie eine Welt jenseits der Selbstbestimmung einen ersticken konnte, hatte mich geprägt. Ich schwor mir, alles dafür zu tun, dass nicht mehr andere Mächte für mich die Segel setzten und das Steuerruder bedienten. Und so schrieb ich meine innere Headline. Groß und fett sollte mein Leben zukünftig den Titel tragen: Ein Leben in Freiheit. Mein Leben in Freiheit.

Als ersten Schritt dorthin versuchte ich wieder Vertrauen zu meinen Wahrnehmungen zu gewinnen. Ich musste lernen, Realität von Traum zu unterscheiden und die Welt um mich herum zu ordnen. Später kam es mir vor, als hätte dieser feste Entschluss mehr zu meiner Genesung beigetragen als so manche Tablette. Schritt für Schritt erkämpfte ich mir wieder die Regie über mein Leben, so wie man einen Turm mit einer langen Wendeltreppe besteigt, um einen Rundblick über eine Stadt oder eine Landschaft zu erhalten.

Wenige Tage später befand ich mich in einem wachen, bewussten Zustand, der nur durch ein erhöhtes Schlafbedürfnis unterbrochen wurde. Vieles erschöpfte mich. Sprechen, denken, den Erinnerungen nachspüren, meine Arme bewegen – alles strengte mich an. Es enttäuschte mich, wie schnell die Energie verbraucht war. Meine Vorstellung wollte so vieles, aber mein Kopf und mein Körper folgten mir nicht im gleichen Tempo.

An nächsten Morgen erwachte ich aus meinem Schlaf und nahm erstmals die umfangreichen Verkabelungen an meinem Körper wahr. Ich verfolgte den Verlauf der Kabel und entdeckte einen Oszillografen, der im rhythmischen Auf und Ab meine Herzfrequenz aufzeichnete. Diese Aufzeichnung, die sich wie die Arbeit eines präzisen Uhrwerks darstellte, stimmte mich zuversichtlich. Sie bewies, dass ich noch da war, dass mein Herz gleichmäßig schlug.

Ich lächelte noch in mich hinein, da öffnete sich die Tür und ein großer, hagerer Mann in einem weißen Kittel betrat das Zimmer. Ich hatte ihn bisher noch nicht gesehen, noch nie von ihm gehört. Er trat an mein Bett, stelle sich als mein zuständiger Arzt vor, nannte seinen Namen, den ich kaum verstand. Nur ein Umlaut stach hervor. Er erklärte mir, dass ich vom Fahrrad gestürzt bin und mir eine Kopfverletzung zugezogen hatte. Es wurde ein Schädel-Hirn-Trauma diagnostiziert und ich hatte 5 Tage im Koma gelegen. Am Leben gehalten nur von Infusionen und der künstlichen Beatmung. Ich starrte ihn an, während er mir erklärte, dass in den nächsten Tagen einige neurologische Untersuchungen notwendig seien, um den weiteren therapeutischen Verlauf zu planen. Dann beugte er sich über mich. Ich sah sein Gesicht ganz nah vor mir, seine blauen Augen fixierten mich. „Haben Sie das verstanden?“ – „Ja, ja, ich habe alles klar verstanden.“ Obwohl mir vieles nebulös erschien, machte ich diese Aussage, um unangenehmen Nachfragen zu entgehen. Herr Umlaut wandte sich zufrieden von mir ab und murmelte: „Schön, schön, das sieht ja ganz gut aus, also dann, bis morgen …“ Dann verließ er das Zimmer.

Kurz darauf betrat eine junge Krankenpflegerin mein Zimmer und stellte sich als Hülya vor. Sie trug ein petrolfarbenen Arbeitsdress, das wahrscheinlich die gängige Klinikuniform war, und weiße Turnschuhe. Ihre dunklen, dichten Haare waren seitlich zu einem Pferdeschwanz gebunden.

„Guten Appetit, Herr Resche!“ Vor mir stand ein Plastikteller mit einem Fischfilet, Karottengemüse und Kartoffelpüree. Obwohl ich schon immer eine Aversion hatte, aus Plastikgeschirr zu essen, nahm ich den Löffel in die Hand. Ich grinste. Ich konnte schlucken, schmecken, riechen! Auch meine Motorik, die Bewegung meiner Hände, stimmte mich hoffnungsfroh. Zwar konnte ich meine Arme nur begrenzt bewegen, aber meine Finger zuckten schon wie Regenwürmer. Auch meine Beine erwachten langsam wieder zum Leben. Ich wackelte mit den Zehen und wäre am liebsten direkt losgelaufen. Nach einer Weile blickte ich auf und stellte fest, dass Hülya das Zimmer bereits verlassen hatte.

Erst zögerlich, dann immer entschlossener probierte ich Wörter aus, erst kurze, dann immer längere. Dabei merkte ich, dass ich mit der Silbenbildung Probleme hatte. Einige klangen verzerrt, verschwommen. Wahllos sprach ich immer mehr Wörter laut aus und akzentuierte, so deutlich ich konnte. Besonders die Wörter mit einem Umlaut faszinierten mich bei meiner Zungengymnastik und so fing ich an zu dichten, völlig sinnlos, irgendwie auch witzig und auf keinen Fall für andere Ohren gedacht:

Lügen fühlen sich bei Tageslicht meist übel.

Bei Eiseskälte schmeckt der Glühwein hüben wie drüben.

Hölderlin zum Denken führt.

Wände wollen Wünsche übermitteln.

Äbtissinnen büßen, um im Jenseits zu überleben.

Fächer schützen sich vor üblen Rächern.

Büßerinnen sündigen gern im Tüllgewand.

Gedanken können uns beflügeln.

Die Spielereien mit den Umlauten gefielen mir so sehr, dass ich kaum damit aufhören konnte. Plötzlich wirkte das Sinnlose sinnstiftend, weil es aus dem Kerker befreit wurde. In mir wuchs der Wunsch, mein Leben wieder in die Hand zu nehmen. Ohne Kompromisse, ohne Ängste. Alles, was mir dabei helfen konnte, wollte ich nutzen, und sei es noch so absurd. Alles der Freiheit unterordnen, nicht den Bildern von anderen.

***

Am nächsten Morgen weckten mich Sonnenstrahlen. Elli, meine Frau, betrat das Zimmer. Sie hatte ihr Haar zu einem Zopf gebunden und trug eine leichte, safranfarbene Hose und eine weiße Bluse. Alles an ihr wirkte luftig leicht und wurde von ihrem sanften Lächeln begleitet. Ich spürte, wie sich in mir ein warmes Gefühl ausbreitete. Sie nahm meine Hand und küsste mich behutsam. „Wie geht er dir, Christian, wie fühlst du dich?“

Ich studierte ihr Gesicht, versuchte mir jede kleine Lachfalte einzuprägen. „Mir geht es besser, ich kann sehen, hören, mit den Zehen wackeln. Nur der Kopf ist noch nicht der alte und die Beine sind noch schwach.“

Elli drückte meine Hand. „Ich glaube fest daran, dass du wieder völlig gesund wirst. Wir machen das schon, du und ich, okay?“

„Danke, Elli, du und ich.“ Als ich sah, wie ihre Augen zu glitzern begannen, räusperte ich mich. „Das wird schon wieder. Erzähl mir lieber von dir. Wie geht es in der Schule?“

Sie presste ihre Lippen aufeinander. „Seit ein paar Tagen sind zwei Kollegen krank und ich hab in zwei Klassen Vertretung. Der tägliche Wahnsinn, du kennst das ja.“

„Denke schon.“ Meine Erinnerung hatte immer noch Lücken. Ich wusste, dass Elli meine Frau war, dass sie als Lehrerin an einem Gymnasium unterrichtete und ihre Nase sich kräuselte, wenn sie etwas störte. Über mich wusste ich, dass ich Christian hieß, Christian Resche. Ich war 56 Jahre alt, hatte eine Tochter, einen Job und reiste gerne. Besonders mochte ich es, in der Natur zu sein. Im Winter machte ich mich auch über das ein oder andere Buch her. Und ich hatte wenige, aber dafür sehr gute Freunde …

Ich seufzte. Für ein Poesie-Album reichte es also. Erschöpft blickte ich zu Elli, auf deren Stirn sich eine Sorgenfalte gebildet hatte. Ob ich versehentlich eingenickt war?

„Christian, brauchst du etwas, kann ich dir morgen etwas mitbringen?“

Ich überlegte kurz. „Ja, ein Buch, frische Erdbeeren, einen Schreibblock und meinen Kugelschreiber aus dem Büro, der so leicht über das Papier gleitet.“

Elli lächelte mich an und strich mir durchs Haar. Mit einem Kuss verabschiedete sie sich. „Bis morgen und, ach ja, auch liebe Grüße von Anna, sie wird dich morgen oder übermorgen besuchen.“ Als sie die Zimmertür schloss, ließ ich meinen Kopf auf das Bett fallen und dämmerte im Halbschaf vor mich hin.

***

Als ich aufwachte, stand mein Essen neben mir. Spaghetti Bolognese, ein Gericht, das ich schon oft gekocht hatte und das die ganze Familie sehr mochte. Doch dieses Mal interessierte mich weniger der Geschmack, sondern die Kunst des Essens. Neben dem Teller lagen Gabel und Löffel, und ich war gespannt, ob es mir gelingen würde, die Spaghetti aufzurollen. Ich schloss meine Finger fest um die Gabel und begann zu drehen. Erst ein kleines Stück nur, dann immer mehr. Fast hatte ich eine ganze Umdrehung geschafft, da rutschte der Löffel ab und die Spaghetti verteilten sich wieder auf dem Teller. Ich stöhnte auf und begann von vorn. Wie ein Marathonläufer quälte ich mich Runde um Runde, bis die Nudeln auf dem Löffel blieben. Erst nach einer Weile nahm ich die Pasta auch geschmacklich wahr. Die Nudeln waren fast schon matschig und die Soße schmeckte fad, nahezu geschmacksneutral. Aber das ärgerte mich nicht. Ich freute mich viel zu sehr über meine Goldmedaille als fast pannenfreier Spaghettiwickler.

Als ich den Teller zur Seite geschoben hatte, kam Hülya zurück. „Na, hat es Ihnen geschmeckt?“

Noch immer euphorisiert von meiner sportlichen Leistung, antwortete ich: „Na ja …, der Hunger hat es reingetrieben, aber mit meiner selbst gemachten Bolognese kann die nicht mithalten. Ist da Schwein drin?“ Hülya schmunzelte. „Das glaube ich sofort, mit meiner übrigens auch nicht. Nein, wir servieren meistens kein Schweinefleisch, damit wir für Muslime kein Extragericht kochen müssen.“ Dann erzählte sie mir, dass sie gerne kocht und mit Gewürzen experimentiert. Sie pries die Vorzüge der türkischen Küche, die sie gerne mit anderen Einflüssen kombinierte. Ich nickte und erzählte ihr von meinen Reisen in die Türkei. Dort hatte ich die türkische Küche kennengelernt.

Bevor sie das Zimmer verließ, sprach ich sie noch einmal an. „Können Sie mir einen poetischen Satz auf Türkisch mitbringen? Mit möglichst vielen Umlauten, vielleicht in den nächsten Tagen?“ Als ich merkte, wie ungläubig sie mich ansah, ergänzte ich schnell: „In der türkischen Sprache wimmelt es doch nur so von Umlauten.“

„Ja, ja“, sagte sie, „das stimmt und das mache ich gerne. Aber wofür brauchen Sie die Umlaute?“

Hülya lachte laut auf, als sie meine Erklärung hörte, und versicherte mir, dass sie mir einen entsprechenden Satz mitbringen würde. Nachdem sie das Zimmer verlassen hatte, legte ich meinen Kopf auf ein erhöhtes Kopfkissen, atmete mehrfach tief durch und blickte aus dem Fenster. Der Himmel hatte sich verdunkelt. Nur ein feiner, rötlicher Streifen am Horizont sorgte noch für Licht.

***

Tags darauf erwachte ich von einem Klopfen. Meine Tochter Anna trat herein. Ich schluckte. Sie sah bezaubernd aus mit ihrem Kurzhaarschnitt, dem federnden Gang, den sie von klein an beibehalten hatte, ihrem breiten Lächeln. Als sie mich umarmte und sich einen Stuhl holte, der in der Ecke des Zimmers stand, atmete ich tief ein und aus. Dann ergriff ich das Wort. Ich wollte alles über sie wissen: Wie es ihr geht, was sie beschäftigt und plant? Da mein Erinnerungsvermögen noch brüchig war, musste ich mir vieles erst wieder vergegenwärtigen. Sie erzählte, dass sie im Herbst an der Goethe-Uni in Frankfurt Biologie studieren werde. Sie hatte schon ein kleines Appartement gefunden und freut sich auf das Studentenleben. Ich konnte nicht genug von ihrer Zukunftsfreude bekommen. Doch bevor ich weitere Fragen stellen konnte, fragte sie mich: „Wie geht es dir, Papa? Mama hat gesagt, dass du auf dem Weg der Besserung bist und bald nach Hause kannst?“

„Ja, mach dir keine Sorgen. Ein paar Untersuchungen stehen noch an und dann wollen sie einen Therapieplan erstellen. Ansonsten geht es ganz gut. Manchmal vergesse ich was und alles verschwimmt. Und dann die Albträume … Aber gleichzeitig kann ich mich ganz genau daran erinnern, wie du mit 7 Jahren die ganze Küche verwüstet hast, weil du einen Pudding kochen wolltest. Weißt du noch?“ Anna verdrehte nur die Augen. Sie hatte die alte Story schon viel zu häufig gehört. „Jedenfalls, Anna, was ich sagen will: Das Langzeitgedächtnis funktioniert. Auch mit meiner Bewegungsfähigkeit bin ich ganz zufrieden, auch wenn ich beim Laufen noch Unterstützung brauche. Bevor du es dich versiehst, bin ich wieder der Alte. Oder vielleicht doch nicht ganz der Alte, sondern eine neuere Version.“

„Was meinst du mit neuer Version? Ich war mit der alten eigentlich meistens zufrieden.“

„Na ja, wenn man 5 Tage nicht mehr und doch noch da ist, dann verändert sich die eigene Perspektive. Ich möchte das Drehbuch meines Lebens in Zukunft wieder selber schreiben, frei sein, etwas Neues anfangen.“

„Willst du jetzt auch noch mal studieren, oder wie?“ Anna kaute auf ihrer Unterlippe. „Weißt du, Papa, eigentlich finde ich das mit der Freiheit ganz interessant. Manchmal hab ich schon das Gefühl, dass alle irgendwas von mir wollen und ich immer nur Ja sagen kann.“

„Ja, das Gefühl kennt dein alter Herr auch. Vielleicht sollten wir diesen Weichspülgang aus unserem Programm streichen. Was meinst du, sollten wir uns mal mit Frau Freiheit unterhalten? Vielleicht ist es ja so, dass wir sie erst dann für uns gewinnen, wenn wir das Interesse daran verlieren, um jeden Preis einen guten Eindruck bei anderen zu machen.“

Anna nickte. „Also von mir aus können wir mit Frau Freiheit demnächst mal ein Kaffeekränzchen halten. Aber bevor ich gehe, möchte ich dir noch ein kleines Päckchen zur geistigen Stärkung übergeben.“ Sie stand auf und umarmte mich noch mal. „Viel Spaß mit Kuttel Daddeldu, alles Gute und bis bald.“

Als sie das Zimmer verlassen hatte, packte ich ihr Geschenk aus und sah mich in meiner Ahnung bestätigt. Ein kleiner, kompakt gebundener Band mit Versen von Joachim Ringelnatz. Ich legte mich entspannt zurück und begann zu lesen. Schon das erste Gedicht sprach mich an, passte es doch wie die Faust aufs Auge zu meinem neuen Lebensthema.

Rachegelüst

Wenn die Menschen dumpf sich nicht getraun,

Wenn sie feig und heuchlerisch sich fügen

Und ihr Glück auf ihre Schlauheit baun,

Redliches bedrücken und betrügen.

Wenn sie schleichen, flüstern und sich ducken,

Andrerseits aus Würde sich genieren, –

O dann müsste etwas explodieren.

Und ein Riese müsste sich erheben

Über sie und sie nicht etwa töten,

Sondern saftig, kräftig sie bespucken,

Um sie für ihr weitres Leben

Als verschleimte, fette Warzenkröten

In ein Glashaus einzusperrn.

Und ich würde durch die Scheibe gucken

Und sie grüßen: „Hochverehrte Herrn!“

J. Ringelnatz

***

Hülya brachte mir mein Abendessen, das auf einem Tablett appetitlich angerichtet war. Das Börek sah frisch aus und duftete wunderbar und ein Schälchen mit frischen Erdbeeren, garniert mit einer kleinen Sahnehaube, zauberte ein Lächeln auf mein Gesicht. Erfreut über diese köstliche Abwechslung fragte ich sie, ob das heute offiziell auf dem Speiseplan stand. Sie lächelte verlegen, schüttelte den Kopf und murmelte etwas wie „Na ja, ein paar Reste …, keine Zeit, alles zu erklären …“ Und mit rotem Kopf drückte sie sich aus der Tür.

Ich genoss das Essen und war schon bei den Erdbeeren angekommen, als mein Blick auf ein Couvert fiel, das unter dem Tablett hervorguckte. Darauf entzifferte ich den handschriftlichen Text: „Die Ü-ö-Geschichte“. Aufgeregt schob ich die Erdbeeren zur Seite und öffnete den Umschlag. „Özgürlügün güzel bir yüzü var.“ Ich las den Satz laut vor und versuchte jede Silbe, so deutlich wie möglich, zu betonen. Dann versuchte ich den Text zu übersetzen. Aber mein Urlaubstürkisch war eingerostet. Mir blieb wohl nichts anderes übrig, als auf Hülya zu warten.

Kurz nach meinem Entschluss betrat mein behandelnder Arzt, der sich nochmals als Dr. Bürgli vorstellte, das Zimmer. Er lief auf mein Bett zu, schnappte sich einen Stuhl, offensichtlich ein Kinderstuhl, und setzte sich. Seine Beine ragten in einem spitzen, fast komischen Winkel gegen die Zimmerdecke. Jetzt fehlte zu einer Slapstick-Szene nur noch, dass er sein Gleichgewicht verlor und mit rudernden Armen versuchte, die Balance wiederzufinden. Bei der Vorstellung wanderten meine Mundwinkel unwillkürlich nach oben.

Dr. Bürgli schien davon nichts mitbekommen. Er sah mich mit ernstem Blick an und fragte: „Wie geht es Ihnen, wie fühlen Sie sich?“

„Ganz gut, danke, mein Gedächtnis, mein Erinnerungsvermögen, all das hat sich enorm verbessert. Ich habe den Eindruck, dass ich das Vergangene und das Gegenwärtige wieder ganz gut zusammenbringen kann. Was mir noch Probleme macht, ist meine Konzentrationsfähigkeit, die mich oft im Stich lässt. Ich merke, dass ich in Gesprächen, beim Lesen oder beim Nachdenken schon nach relativ kurzer Zeit abdriftete. Es ist, als würde einer den Stecker aus der Dose ziehen und meine Energie ist am Ende. Daneben habe ich noch Probleme mit dem Laufen. Beim Toilettengang brauche ich noch Unterstützung durch einen Pfleger. Aber ich glaube, dass ich das wieder selbstständig hinbekommen kann.“

„Absolut. Geben Sie sich noch ein bisschen Zeit. Beunruhigt Sie das, ich meine Ihre begrenzte Konzentrationsfähigkeit?“ Dr. Bürgli versuchte erfolglos, ein Bein über das andere zu schlagen, was in mir noch mehr Heiterkeit auslöste.

„Nein“, erwiderte ich. „Es löst keine Ängste in mir aus. Es ist eher ein ärgerliches, ungeduldiges Gefühl, etwas zu wollen und nicht erreichen zu können. Mein Kopf verfolgt eigene Pläne, wissen Sie …“

Dr. Bürgli nickte und rutschte unruhig auf der Sitzfläche hin und her. „Ihr Kopf und Ihre Vernunft haben sich eben verbündet und möchten Sie vor spontanen Überreaktionen bewahren. Sie brauchen noch Ruhe und sollten sich geistig nicht überanstrengen. Deshalb habe ich Ihrer Frau und auch Ihrer Tochter empfohlen, keine allzu langen Gespräche mit Ihnen zu führen.“

Er schaute mich fragend an und erwartete offensichtlich ein Zeichen der Zustimmung. Ich tat ihm den Gefallen und nickte kurz. Dr. Bürgli murmelte leise vor sich hin: „Gut …, dann kann ich Ihnen jetzt erklären, was Sie in den nächsten Tagen erwartet.“ Mittlerweile hatte er es aufgegeben, eine bequeme Sitzposition zu finden, und erhob sich vom Stuhl. Dann setzte er sich auf den Rand meines Bettes. Nun konnte ich ihn aus nächster Nähe beobachten. In seine Stirn hatten sich tiefe Falten gegraben, am Hals standen noch einige Stoppeln, die er wohl beim eiligen Rasieren vor der Schicht übersehen hatte. Er atmete tief durch und forderte mich auf nachzufragen, falls mir etwas unklar erschien. Dann begann er mit seinen Ausführungen: „Sie wurden ja bereits am Unfallort von einem Notfallarzt untersucht, der ihren neurologischen Zustand ermittelt und ihre Vitalfunktionen gesichert hat, also Atmung, Kreislauf etc. Kurz nach der Einlieferung in die Klinik wurde eine Röntgenaufnahme von Ihrem Kopf gemacht, um mögliche Frakturen der Schädelknochen zu erkennen. Diese konnten glücklicherweise nicht festgestellt werden. Nun werden wir morgen eine CT machen, um Ihr Gehirn zu begutachten.“

„Aha“, entfuhr es mir, aber Dr. Bürgli achtete nicht auf mich und hielt weiter seinen Vortrag.

„Die Untersuchung wird normalerweise sofort gemacht, um Klarheit über die neurologischen Verletzungen zu gewinnen. Bei Ihnen haben wir sie zurückgestellt, weil Sie gravierende Probleme mit der Atmung und dem Kreislauf hatten. Das war auch der Grund, warum wir Sie in ein künstliches Koma versetzt haben. Darüber hinaus werden wir ein EEG machen, um Ihre Gehirnströme zu messen und ein wenig Hirnwasser abzuzapfen, das heißt eine Liquorpunktion machen.“

Beim letzten Wort sah er mich besorgt an, so, als könnte ich die Vielzahl der Informationen nicht erfassen, und fragte mich: „Haben Sie alles verstanden, haben Sie noch Fragen?“

„Ja, ich habe alles verstanden und auch keine weiteren Fragen mehr dazu.“

Dr. Bürglis Schulterblätter sackten nach unten, als sei ihm damit eine große Last von den Schultern gefallen. „Also, Herr Resche, dann bis morgen! Sie werden zu den Untersuchungen früh morgens von einem Pfleger abgeholt.“ Er wandte sich zur Tür, drehte sich aber noch einmal um und sagte: „Ach ja, Sie müssen nüchtern zu den Untersuchungen kommen und auf das Frühstück verzichten.“

***

Nachdem er das Zimmer verlassen hatte, lehnte ich mich zurück und versuchte mich zu entspannen. Ich blickte aus dem Fenster und sah eine grau-weiß melierte Wolkendecke, aus der sich ein leichter Nieselregen entfaltete. Meine Gedanken passten sich diesem bedächtigen Bewegungsablauf an und suchten nach bewegten Bildern aus meiner Vergangenheit. Doch wo sollte ich beginnen und welche Erkenntnisse daraus ziehen? Bevor ich diesen Gedanken weiter verfolgen konnte, klopfte es an der Tür und meine Frau Elli betrat das Zimmer. Sie hielt einen Blumenstrauß in ihrer linken Armbeuge und küsste mich. Dann holte sie eine Vase, die sie im Bad mit Wasser füllte.

Ich rief ihr hinterher. „Hab ich heute etwa Geburtstag? Oder unseren Hochzeitstag vergessen?“

Aus dem Bad hörte ich sie kichern. „Wart’s ab, Christian. Das große Tralalala kommt erst noch.“ Als sie den Blumenstrauß in der Vase drapiert und ihn auf den Tisch neben dem Fenster gestellt hatte, kramte sie in ihrem Korb und holte eine Schale frische Erdbeeren, ein kleines Buch, einen Schreibblock und meinen Kugelschreiber hervor. Dann legte sie alles auf den Tisch, auf dem jetzt der Blumenstrauß stand. „Das war’s erst mal, eine kleine Ouvertüre, die dir hoffentlich gefallen hat!“

Ich schwankte zwischen Rührung und Belustigung, suchte nach Worten und sagte nach einer Weile: „Wenn das der Anfang ist, in welchem Glanz wird das wohl enden?“

Sie lachte wieder. „Wenn das Ende nicht vor dem Anfang gesetzt wird, hat das Ende die Chance, den Anfang zu überstrahlen.“

„Ja“, sagte ich nur und musste an unseren Anfang denken. Sie sah mich mit einem sanften Lächeln an, das wie eine Liebkosung meinen Körper berührte. „Wie fühlst du dich, Christian, kannst du gut schlafen, hast du noch Albträume?“

Ich hielt einen Moment inne und versuchte zu ergründen, ob und wann ich ihr von meinen Träumen erzählt hatte. Da ich zu keiner klaren Antwort kam, reagierte ich mit einer Gegenfrage. „Habe ich dir davon erzählt? Weißt du, ich habe zeitweise noch Probleme mit meiner Erinnerung.“

Elli legte ihren Kopf schief: „Nein, mir hast du das nicht erzählt, aber Anna.“

„Ja, die Träume … das waren Geschichten, die sich völlig unabhängig von meinem Einverständnis entfaltet haben und die mir gezeigt haben, dass ich nicht mehr Herr im eigenen Hause war und noch immer nicht bin. Aber seit einigen Tagen habe ich keine Träume mehr.“ Ich stockte. „Jedenfalls habe ich keine Erinnerung daran.“

Um Ellis Lippen spielte ein Lächeln und sie legt eine Hand auf meine Schulter. „Hast du noch Angst vor dem Einschlafen?“

„Nein, ich mache mir inzwischen keine Sorgen mehr. Ich habe mich lange damit beschäftigt, darüber nachgedacht …“ Ich holte Luft und machte eine kleine Pause, merkte, dass vieles in mir pulsierte. „Vielleicht hat meine Zuversicht ja damit zu tun, dass ich auf dem Gipfel der Angst nicht aufgewacht bin, sondern sich alle Wahrnehmungen langsam verflüchtigt, aufgelöst haben und ich in eine Welt aus Dunkelheit und Nichts abgedriftet bin. Seither hat die Finsternis den Schrecken für mich verloren.“

„Hmm … Ich bin mir nicht sicher, ob ich verstehe, was du durchmachst. Aber ich bin froh, dass du nicht in der Dunkelheit geblieben bist, sondern wieder hier zu uns zurückgekommen bist. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich auf unsere Zukunft freue.“ Ich strich über ihre Hand. Die Hand der Frau, die seit so vielen Jahren schon an meiner Seite war. „Aber erst mal möchte ich dir Grüße von deinen Arbeitskollegen ausrichten. Sie haben eine Karte geschickt, süß, oder?“ Sie kramte in ihrer Tasche und übergab mir eine kitschige Karte, die einen stilisierten Engel zeigte, der durch die Wolken glitt.

Ich entzifferte die Genesungswünsche, registrierte einige Namen: Kevin, Thomas, Paula, Rainer und legte die Karte dann auf meinen Nachttisch. Dabei konnte ich mir ein Grinsen nicht verkneifen. „Es ist doch seltsam, dass die in all den Jahren noch nicht mitbekommen haben, dass ich mir aus Engeln nichts, aber auch gar nichts mache.“

Auch Elli musste grinsen. „Na ja, manche Menschen können oder wollen ihr eigenes Kopfkino eben nicht verlassen. Aber immerhin ist es ja gut gemeint.“

„Und genau darum fühle ich mich der Welt oft ausgeliefert.“ Ich richtete mich auf. „Hier ans Bett gefesselt zu sein, das spült Erinnerungen wieder hoch, die ich schon lange vergessen hatte. Als ich noch ein Teenager war, hat meine Oma oft mit ihrem Weihwasser-Daumen auf meiner Stirn das Kreuzzeichen gemacht. Wie du dir denken kannst, war ich davon wenig begeistert. Aber weil ich meine Großmutter nun mal mochte und wusste, wie wichtig ihr das alles war, habe ich es über mich ergehen lassen.“

„Wie heißt es so schön, Christian? Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert …“ Ihr glockenhelles Lachen breitete sich im Zimmer aus. „Ich hatte in der Grundschule einen Lehrer, Herr Tilke, der mich oft als Beispiel für alle erdenklichen Tugenden dargestellt hat. Vor der Klasse hat er meine schulischen Leistungen, meine Zuverlässigkeit gelobt, mich auf ein Podest gestellt. Wie Kinder nun mal sind, kam das bei den anderen nicht besonders gut an. Ich fühlte mich bedrängt, wurde von der Klassengemeinschaft argwöhnisch betrachtet, fühlte mich ausgeschlossen. Ich hatte keine Idee, wie ich aus dieser Kiste rauskommen könnte. Als ich es nicht mehr aushielt, in der Pause immer abseitszustehen, habe ich beschlossen, in die Klassenarbeiten Fehler einzubauen. Außerdem kam ich einmal in der Woche zu spät zum Unterricht. Es hat nicht lange gedauert, da fiel Herr Tilke nicht mehr viel Positives zu mir ein und ich war endlich wieder eine normale Mitschülerin und in die Klasse integriert.“ Ich war schon oft Zeuge von Ellis sozialer Ader und ihrer Klugheit geworden, darum erstaunte mich die Geschichte nicht. „Du bleibst außergewöhnlich, wunderbare Elli.“

Meine Frau sah mich ernst an: „Das Wichtigste ist doch jetzt, dass du wieder ganz gesund wirst und bald nach Hause kannst.“ Sie küsste mich auf die Lippen, als wären sie aus dünnem Porzellan. „So, und jetzt muss ich gehen. Schließlich muss ich sicherstellen, dass meine Schüler nicht zu so verzweifelten Maßnahmen greifen.“

***

Am nächsten Morgen wurde ich von einem Pfleger geweckt. Es ging auf große Untersuchungsreise. Ich hatte das Reisen immer geliebt, statt Pauschalurlaub radelte ich am liebsten spontan mit dem Rad los. Wenn die Beine brannten, fühlte ich mich erst richtig lebendig. Dann lernte ich Elli kennen, wir gründeten eine Familie und bevor ich es merkte, landeten das Mountainbike und mein Abenteuergeist für die meiste Zeit im Jahr in der Garage.

Ich blickte den Pfleger verschlafen an und versicherte ihm, dass ich von Dr. Bürgli umfangreich über die anstehenden Untersuchungen informiert worden war. Er nickte und forderte mich auf, mich in den Rollstuhl zu setzen. Er wollte mich zu den verschiedenen Stationen „kutschieren“, wie er das nannte. Ich bedankte mich für sein Angebot, erklärte ihm aber, dass ich mit der Hilfe meiner Krücken selbst zu den verschiedenen Stationen laufen wollte. Er murmelte etwas vor sich hin, was ich nicht verstand, aber reichte mir dann doch die Krücken neben meinem Bett. Ich erhob mich und stützte mich auf meine zwei Hilfsbeine, Schritt für Schritt folgte ich meinem Pfleger. Seine kräftige Statur vermittelte mir eine gewisse Sicherheit. Sollte ich ins Straucheln kommen, zahlten sich seine Stunden im Fitnessstudio hoffentlich aus. Während ich seine breiten Schultern betrachtete, stolperte ich fast. Wer hätte gedacht, dass Schnecken stolpern können. Ich musste mich auf das Laufen konzentrieren!

Der Pfleger, der sich als Herr Barthel vorstellte, gab mir immer wieder Anweisungen, welche Richtung ich einschlagen sollte und wie weit es noch bis zur nächsten Station war. Endlich erreichten wir unser Ziel. Als ich den Raum betrat, herrschte eine hektische Betriebsamkeit. Krankenschwestern machten sich an den Medikamentenschränken zu schaffen, andere arbeiteten am Computer, einige verließen den Raum, nur um ihn ein paar Momente später wieder zu betreten.

Nach kurzer Zeit im Nebenzimmer kam Dr. Bürgli und teilte mir mit, dass jetzt eine CT von meinem Gehirn gemacht werden sollte. „Die Untersuchung nimmt nur wenige Minuten in Anspruch. Achten Sie darauf, Herr Resche, dass Sie ruhig bleiben und sich nicht bewegen.“

Da ich den Göttern in Weiß ohnehin ausgeliefert war, nickte ich nur und legte mich auf eine Liege. Nach der kurzen Anweisung einer Krankenschwester wurde ich langsam durch ein ringförmiges Gehäuse geschoben. Danach half mir die Krankenschwester auf die Beine, wünschte mir alles Gute und übergab mich mit meinen Krücken an Herrn Barthel. Der erklärte mir umgehend, welche Untersuchungen jetzt anstanden und welchen Weg wir nun gehen mussten.

Wir verließen die Station, liefen eine kurze Strecke im Flur entlang und Herr Barthel steuerte einen Aufzug an. „Nun, Herr Resche“, sagte er grinsend, „geht es nur noch aufwärts.“ Ich fragte mich, wie oft er diesen Witz wohl schon gemacht hatte, und rang mir ein schiefes Lächeln ab. Im dritten Stock erreichten wir eine Station, in der ein EEG gemacht, der Blutdruck gemessen wurde und ich Blut und Urin abgeben musste. Danach wurde noch eine Liquorpunktion durchgeführt. Nach dem Prozedere, das von verschiedenen Krankenschwestern in einer atemberaubenden Geschwindigkeit und mit sicheren Händen durchgeführt wurde, waren die Untersuchungen beendet. Ich atmete durch. Wer hätte gedacht, dass mein kurzer Krankenhaus-Trip anstrengender sein könnte als eine Weltreise? Mein Bauch knurrte. Weil ich genug von Plastiktellern hatte, fragte ich Herrn Barthel, ob es eine Cafeteria im Krankenhaus gab und ich ihn zu einem Imbiss einladen könnte. Er blickte mich etwas überrascht an, nickte und wir fuhren mit dem Aufzug in das Erdgeschoss. Dann biss ich die Zähne zusammen und humpelte weiter. Als wir die Cafeteria betraten, steuerte ich sofort die große Terrasse an.

Es waren nur wenige Gäste da. Die Frühlingssonne ließ alles in einem freundlichen Licht erstrahlen. Wir saßen kaum, da näherte sich eine junge Frau, die uns freundlich begrüßte und unsere Bestellung aufnahm. Ich bestellte einen Espresso, ein Mineralwasser und einen Salat mit Baguette, Herr Barthel entschied sich für einen Kaffee und eine Schwarzwälder Kirschtorte. Er lehnte sich entspannt zurück und schien entschlossen, die kleine Pause zu genießen. Ich freute mich über seine Gesellschaft und erprobte meine Small-Talk-Fähigkeiten. „Arbeiten Sie schon lange in diesem Krankenhaus?“

„Ja, mittlerweile sind es schon 13 Jahre.“

„Und wie gefällt Ihnen die Arbeit, machen Sie sie gerne?“

„Ach, das kann ich so eindeutig gar nicht sagen. Es gibt Situationen, da möchte ich alles hinschmeißen, da fühle ich mich wie ein Rädchen in einem großen Getriebe, im wahrsten Sinne des Wortes getrieben eben. Aber es gibt auch andere Aspekte der Arbeit, die ich interessant und belebend finde. Die vielen Patienten, mit denen ich in Kontakt komme, von denen ich viel erfahre und denen ich auch helfen kann. Jede Begegnung ist einmalig, besonders und immer mit neuen Erfahrungen und auch Einsichten verbunden.“

Ich nickte, nicht aus Höflichkeit, sondern weil ich diese Gefühle aus meinem eigenen Berufsleben gut kannte. Und so kam in mir eine neue Frage auf: „Was müsste denn aus Ihrer Sicht passieren, dass die positiven Erfahrungen eindeutig die Oberhand gewinnen?“

Herr Barthel strich über die Stuhllehne. „Aaach …“, er zog die Silbe unendlich lang und atmete dann tief aus, „der viele Papierkram, die Zeitvorgaben, die ellenlangen Dokumentationen, die fein abgesteckten Kompetenzen mit den vielen Fallstricken, was kann ich wo und wie, wann tun und welche spezielle Vorschrift ist genau zu beachten … und dieser ganze bürokratische Kram, wenn das alles nicht wäre …“ Bevor ich antworten konnte, kam die junge Kellnerin an unseren Tisch. Kaffeeduft erfüllte unseren Platz und ich wünschte Herrn Barthel einen guten Appetit.

Als er gerade die letzten Krümel seiner Torte verdrückte, fragte ich ihn: „Was haben Sie heute noch zu erledigen, wie lange haben Sie Pause?“

„In 20 Minuten habe ich einen Termin mit einem Patienten. Ich bin Physiotherapeut und habe täglich Therapiestunden mit meinen Patienten. Nur ab und zu bin ich wie heute im Begleitdienst. Das wollte keiner der Kollegen und Kolleginnen machen, da hab ich mich freiwillig gemeldet. Mir gefällt das ganz gut, es ist eine schöne Abwechslung, wenn man mal keine physiotherapeutische Aufgabe hat.“

„Wahrscheinlich auch entspannter, oder?“

„Ja genau, ich muss da die Menschen weniger als Patienten, mit ihren Krankheiten, Behinderungen wahrnehmen, sondern behandele sie einfach als Menschen. Auf diese Weise erfahre ich viele Geschichten, die sich hinter den Krankheiten verbergen, und merke immer wieder, dass die Menschen ganz froh sind, nicht nur durch die Brille ihrer Defizite wahrgenommen zu werden.“ Ich nickte und er belohnte das mit einem Lächeln. Wir standen auf, er begleitete mich auf mein Zimmer und bedankte sich für meine Einladung. Ich wünschte ihm viel Glück bei seinem neuen Patienten.

Mit Krücken schleppte ich mich zu meinem Bett und legte mich flach auf den Rücken. Ich versuchte mich zu entspannen. Meine Gedanken irrten ziellos durch den Raum, bis sie sich etwas beruhigten und mein Blick an der Zimmerdecke verweilte. Nach einiger Zeit erschien vor mir eine weiße Leinwand. Für einen kurzen Moment stellte ich mir vor, dass mir in Kürze eine interessante Filmvorführung mit Elli in der Hauptrolle präsentiert werden würde. Und so sah ich, wie in einem alten Kino, einen schweren, dunklen Vorhang, der sich langsam öffnete: Die Vorstellung konnte beginnen.

Goa Express

Irgendetwas stimmte nicht. Ich saß in einem Taxi und blickte mich um. Erst als ich aus dem Fenster sah, wusste ich, was mich irritierte: Wir fuhren auf der falschen Seite. Plötzlich fiel mir wieder ein, wo ich hinwollte. Das Taxi fuhr vom Airport aus in Richtung Hauptbahnhof – Victoria Station in Bombay. Im Seitenspiegel sah ich mein faltenloses, jugendliches Gesicht, die längeren Haare. Nach einer Weile nahm ich die Welt draußen immer deutlicher wahr. In einem Fluss aus tosenden Autos, knatternden Mopeds, Rikschas und Menschen, die sich in diesem Strom bewegten, kamen wir nur schleppend voran. Immer wieder musste der Taxifahrer anhalten, bis sich der Strom wieder in Bewegung setzte.

Wir passierten marode mehrstöckige Wohnhäuser, umgeben von Müll und Unrat, dazwischen einfache Wellblechhütten, deren Eingänge meist mit Jutesäcken verhangen waren. Frauen in bunten Saris transportierten Wasserkrüge auf ihren Köpfen, Kinder rollten alte, abgenutzte Autoreifen vor sich her und eine große Menschenschar verzweigte sich und bewegte sich in verschiedene Richtungen. Kleine Garküchen, die mit notdürftigen Überdachungen versehen waren, und Handwerker, die Fahrräder, Mopeds und andere Gerätschaften reparierten, säumten den Straßenrand. Alles war in Bewegung, schien einer geheimen Choreografie zu folgen.

Der Taxifahrer, ein hagerer, asketisch wirkender Mann, steuerte sein Auto mit einem unerschütterlichen Gleichmut durch dieses Chaos. Sein Gesicht ließ keine Regung erkennen, so, als wolle er mit seiner Haltung der lauten Welt um uns ihre Wirkung nehmen. Nur eine langsam wiegende Kopfbewegung von links nach rechts und wieder zurück konnte ich zeitweise beobachten. Von Ärger oder gar Wut über die dreisten Verkehrsteilnehmer um uns herum war nichts zu spüren. Vielleicht machte ihn genau diese Anpassungsstrategie zum sichersten Fahrer des Landes. In diesen Gedanken hinein, blickte ich wieder nach draußen und erkannte bald darauf den Bahnhof, der sich mir in seiner majestätischen Pracht zeigte.

Noch bevor ich das Gebäude im vollen Umfang bewundern konnte, steuerte der Taxifahrer eine Haltebucht an. Ich bezahlte den vereinbarten Preis, verabschiedete mich und er quittierte meine Verabschiedung mit einem wohlwollenden Lächeln.

Kaum hatte ich das Auto verlassen, wurde ich von einer unüberschaubaren Menschenmenge aufgesogen, die zu den Eingangsportalen des Bahnhofs strebte. Ich passte mich diesem Bewegungsstrom an und erreichte nach einer Weile die Bahnhofshalle. Hektisch suchte ich einen Platz, um mich zu sammeln und die Architektur des Bahnhofs zu erfassen. Schon der Haupteingang mit seiner hohen, achteckigen Kuppel, die von einem rippenartigen Gewölbe getragen wurde, faszinierte mich. Im Innenbereich bewunderte ich die hohen Säulen und das eng gestrickte Kreuzgewölbe, das sich durch das gesamte Gebäude zog. In einiger Entfernung spannte sich eine Stahl-Glas-Konstruktion über die gesamte Fläche der Bahnsteige und lief wahrscheinlich mehr als hundert Meter in die Tiefe. Diese enorme Raumhöhe und Weitläufigkeit, das Zusammenspiel vom einfallenden Tageslicht und den gelb leuchtenden Lampen ließ eine Atmosphäre entstehen, die mich staunend gefangen hielt.

Eine Stimme riss mich aus meiner Betrachtung: „Hello Mister, where are you come from?“ Ich blickte auf und sah einen Jungen mit abgewetzten Turnschuhen und ausgewaschener Hose. Seine rabenschwarzen Haare waren eingeölt und akkurat zu einem Seitenscheitel gekämmt. Er lächelte mich mit seinen dunkelbraunen Augen an. Ich erzählte ihm, dass ich aus Deutschland kam, eine Rundreise durch Indien vorhatte und jetzt mit der Bahn nach Goa fahren wollte. Der Junge bewies sofort seinen Geschäftssinn: „May I take the luggage, Mister? Or you want a snack? I can get you a snack and a ticket.“

Ich sagte ihm, dass ich bereits ein Ticket gekauft hatte, aber einen kleinen Snack vertragen könnte. Schließlich fuhr mein Zug erst in einer Stunde. Der Junge zeigte mir seine weiß blitzenden Zähne. „Yes, yes … I know the best snack bar, the best samosas!“ Und mit diesen Worten schlängelte er sich durch Massen, während ich ihm durch das quirlige Treiben von Menschen, die zu den Bahnsteigen strebten, folgte. Wir tauchten dabei in ein raumerfüllendes Stimmengewirr und wechselnde Gerüche ein, die aus Garküchen und Toiletten zu uns strömten.

Kaum hatten wir den Imbissstand erreicht, bestellte der Junge mir eine frittierte Teigtasche und einen schwarzen Tee. Ich fragte ihn, was er gerne essen und trinken wollte, und musste nicht lang auf seine Antwort warten: „Lemonade, Sir, Mister, thank you!“

Kaum war die Bestellung aufgegeben, hatte ich auch schon ein gut duftendes Samosa vor mir. Gierig schlang ich die vorzüglich gewürzte Teigtasche herunter. Nachdem ich meine Mahlzeit beendet hatte, erzählte mir der Junge, dass er Arjun hieß, 12 Jahre alt sei, noch zur Schule gehe und gerne die Oberschule besuchen wolle, um anschließend Mathematik und Astronomie zu studieren. Aber das sei nicht so einfach, weil er für seine Familie Geld verdienen musste. Deshalb machte er diese Arbeit hier am Bahnhof, die auch nicht so einfach war, weil er einerseits viel Konkurrenz hatte und er auch keine behördliche Lizenz besaß, um den Job auszuüben. Daher müsse er immer auf der Hut sein vor möglichen Kontrollen. Ich nickte nachdenklich.

Im nächsten Moment blickte ich auf meine Uhr und erschrak. In wenigen Minuten fuhr mein Zug. Arjun nahm rasch meinen Rucksack, der zwei Rollen hatte, und bestand darauf, den Transport ganz ohne meine Hilfe zu bewältigen. Mit einem entschlossenen Schritt, den ich bisher nur von gestressten Erwachsenen kannte, rollte er den Rucksack durch die Menschenmenge. Nach einer Weile blieb er stehen. „Yes, that’s the right platform, and the train goes to Goa in about 10 minutes.“ Ich nickte und übergab ihm das vereinbarte Honorar inklusive eines guten Trinkgelds.

Er nahm das Geld und steckte es in seine Hosentasche. Dann faltete er seine Hände und verbeugte sich. „Thank you very much, Mr. Christian, and good luck for your trip.“ Auf einmal hatte ich das Bedürfnis, ihm über den Kopf zu streichen. So wie ich es bei Anna getan hatte, als sie 12 Jahre alt war. Ich riss mich zusammen und sagte stattdessen: „Arjan, all the best to you. Hold on to your resolve to become a great astronomer and mathematician.“ Beim letzten Wort fuhr der Zug ein und Arjun bestand darauf, mein Gepäck mit seinen schmalen Armen in den Zug zu wuchten.

Ich hatte Glück. Schon im ersten Abteil fand ich einen Sitzplatz. Ich verstaute mein Gepäck unter der Sitzbank und schaute aus dem Zugfenster, das mit horizontal angebrachten Eisenstäben versperrt war. Immerhin hatte ich dennoch einen guten Blick nach draußen. Arjan stand noch am Bahnsteig und winkte mir zu, und als sich der Zug behäbig in Bewegung setzte, lief er neben ihm her und rief mir mit erstaunlich lauter Stimme zu: „Mr. Christian, take care of your belongings. On the train there are many bad people.“ Der Zug setzte sich in Bewegung, nahm Fahrt auf und bald sah ich Arjan nicht mehr aus der Ferne winken. Wir hatten den Bahnhof verlassen.

Ich blickte mich im Zugabteil um. Auf den gegenüberliegenden Sitzreihen saß eine große Familie, Frauen in bunten Saris, Kinder, die vergnügt mit bunten Karten spielten, zwei ältere Männer in traditionellen Dhotis und zwei jüngere Männer in strahlend weißen Hemden. Nach einer Weile packten die Frauen Lunchpakete aus und die Familie konzentrierte sich auf das gemeinsame Essen.

Ich saß allein auf meiner Sitzbank. Dass viele Bänke im Abteil nicht besetzt waren, wunderte mich. Wo waren die Menschen vom Bahnhof geblieben? Ob sie alle 3. Klasse gebucht hatten und ein paar Wagen weiter dicht gedrängt saßen? Ich richtete meinen Blick nach draußen und sah einfache Bretterbuden, deren Dächer wie in den Slums auf dem Weg zum Bahnhof mit Wellblech gedeckt waren. Zwischen diesen Behausungen lagen kleine Gärten und Felder, die bewirtschaftet wurden. Ich erkannte ein reges Treiben von Menschen, die sich in den Gärten, auf den Wegen und auf den Feldern aufhielten und mit allerlei Aktivitäten beschäftigt waren, die ich allerdings nicht genau erkennen konnte.

So langsam verdunkelte sich das Tageslicht und ich konnte bald nur noch die Silhouetten von Häusern, Bäumen und eines weit entfernten Bergrückens sehen. Die gleichmäßigen, ratternden Geräusche des Zuges wiegten mich in einen Schlaf, der einige Stunden andauerte.

***

Als ich wieder aufwachte und noch etwas schlaftrunken aus dem Fenster blickte, erkannte ich eine schwache Aufhellung am Horizont. Ich beschloss wach zu bleiben und den Sonnenaufgang zu genießen. Nach und nach tauchte der Feuerball die Landschaft in eine rot-orange Farbenwelt. Eine fantastische Symphonie, die den Tag ankündigte und mich heiter und erwartungsvoll stimmte.

Nach einer Weile verabschiedete sich das Morgenrot und ich konnte erkennen, dass der Zug langsam und bedächtig durch einen tropischen Wald fuhr. Bäume, Sträucher, die wahrscheinlich von Schmetterlingen belagert wurden, und ein Meer aus Grüntönen verwöhnten meine Augen. Auch im Zugabteil erwachte das Leben, viele Menschen gähnten, streckten ihre Gliedmaßen, sortierten ihre Kleidung und kamen miteinander ins Gespräch. Ich lauschte den klingenden Sätzen und fühlte mich trotz aller Fremdheit heimisch. Welche Geschichten sie wohl zu erzählen hatten?

Mitten in meine Träumereien hinein quietschten die Bremsen. Die Vibration des Eisens durchdrang meinen Körper. Nun erkannte ich einen Bahnhof und sah fliegende Händler, die mit ihren Tabletts voller Köstlichkeiten auf den bremsenden Zug zurasten. Sie liefen neben den Zugfenstern her, passten sich seiner Geschwindigkeit an und priesen ihre Speisen in einem melodischen Singsang, der sich mit den Lautsprecherdurchsagen der Bahnhofsverwaltung mischte.

Kaum stand der Zug, erfasste eine massive Hektik die Passagiere, die alle auf einmal in Richtung des Zugausgangs strebten. Mit gleicher Intensität kamen ihnen die Menschen, die den Zug bestiegen, entgegen. Es entstand ein wirres Gedränge, Geschiebe, das sich aber ohne sichtbare Aggressionen abspielte. Frauen in bunten Gewändern trugen in Körben gackernde Hühner in den Zug, Männer, in Wickelröcke namens Lungis gekleidet, wuchteten schwer beladene Koffer über die Einstiegstreppen. Zwei Sikhs mit opulenten Turbanen und blütenweißen Gewändern versuchten den Zug zu besteigen, wurden aber von der herausströmenden Masse zurückgedrängt. Ich verweilte auf meinem Platz, hatte meinen Rucksack neben mir stehen und wartete, dass sich die Situation beruhigte. Erst nachdem eine ganze Karawane neben mir vorbeigezogen war, erkannte ich eine günstige Gelegenheit und verließ den Zug.

Ich war froh, endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, und suchte mir eine Ecke im Bahnhofsgebäude, um mich zu orientieren. Doch sobald ich stehen blieb, wurde ich von Taxifahrern und Maklern für Unterkünfte belagert. Ich fuchtelte mit den Armen und erklärte ihnen, dass ich bereits eine Unterkunft habe und bald von einem Taxi abgeholt werde. Das war zwar nicht die ganze Wahrheit, denn ich hatte noch kein Taxi bestellt, aber die geschäftstüchtige Ansammlung zerstreute sich bald und ich konnte in Ruhe einen Tee an einem Kiosk trinken. Während ich trank, überlegte ich mir eine Strategie, um nicht erneut von einem Tross von Taxifahrern und Wohnungsvermittlern belagert zu werden. Dann lief ich mit gesenktem Kopf in Richtung des Ausganges und verschaffte mir einen Überblick von dem Bahnhofsplatz. Mehrere Taxis und Rikschas standen hintereinander.

Ich entschied mich, ein Taxi anzusteuern, das in kurzer Entfernung vor dem Bahnhofsgebäude parkte, und lief zielgerichtet, ohne meinen Blick schweifen zu lassen, darauf zu. Der Taxifahrer registrierte mein Interesse sofort und rief mir schon aus einigen Metern Entfernung zu, wo er mich hinfahren könne. Ich lief mit großen Schritten zu ihm und übergab ihm schließlich einen Zettel mit der Adresse der Unterkunft.

Er wiegte seinen Kopf zustimmend von rechts nach links. „Yes, yes, welcome to Goa, I know this pension very well, it’s about 24 kilometres away.“

Kaum hatte er den Satz ausgesprochen, öffnete er den Kofferraum und wollte meinen Rucksack dort verstauen. Im gleichen Moment fragte ich ihn: „How much is the ride?“

Er setzte ein verschmitztes Lächeln auf. „380 Rupien.“

Darauf zog ich mein Gesicht in die Länge. „Oh, really? That’s very expensive. 270 Rupien should be enough.“

Er schaute mich verwundert an und legte seine Stirn in Falten: „No, no, Sir, that might be the price for a very simple riksha, but not for my taxi. It’s a brand new Hindustan ambassador car with excellence comfort, a good ventilation system, comfortable seats, a radio with a cassette recorder and many other features.“ Ich atmete tief durch und sagte, um einen längeren Verhandlungsmarathon zu verhindern: „All right, then 320 Rupien, okay?"

Er willigte verdächtig schnell ein und verstaute meinen Rucksack im Kofferraum. Nach ein paar Minuten erreichten wir eine schmale geteerte Straße, die von Kokospalmen gesäumt war. Mein Fahrer fragte mich, woher ich kam und was ich in Goa vorhatte. Doch noch bevor ich meine Erzählung beenden konnte, unterbrach er mich: „Oh, Germany … Mercedes Benz, the best car in the world …“ Er grinste mich an und ich stimmte ihm mit einem dezenten Kopfnicken zu. Mit einem Blick aus dem Fenster sah ich ein Dorf, das, wie er mir erklärte, typisch für diese Region in Goa war. Seitlich der Straße lagen große Kokosmatten, auf denen Chilis, Pfefferkörner und verschiedene Kräuter zum Trocknen ausgelegt waren.

Nachdem wir das Dorf durchfahren hatten, beschleunigte er das Taxi und ich hatte Zeit, ihn von der Seite zu mustern. Ich schätzte ihn auf Anfang 50, sein angespannter Kiefer stand im krassen Kontrast zur überdimensionierten Sonnenbrille und dem schreiend bunten Hemd. Ob das seine Arbeitsuniform war? Bald konnte ich in der Ferne das Meer erkennen. Der Ort von Freiheit. Die Sonne stand im Zenit und brannte erbarmungslos auf die Blechkästen unter ihr. Noch herrschte Trockenzeit und den Monsun erwartete man hier erst in 4 bis 5 Wochen, erklärte mir der Taxifahrer. Dann bog er in eine kleine Seitenstraße ein und hielt auf einem Parkstreifen an. Er öffnete den Kofferraum, holte meinen Rucksack heraus und stellte ihn mir vor die Füße.

Als das Taxi aus meinem Blickfeld war, schaute ich mich um und sah einen Mann im Jackett auf mich zukommen. Trotz der Hitze perlte kein Schweißtropfen auf seiner Stirn. Er streckte lächelnd seinen Arm aus und stellte sich als Luis vor. In einem vornehmen Englisch erzählte er, dass er schon über 60 Jahre alt war und die Pension, die er von seinem Vater geerbt hatte, seit 30 Jahren betrieb. Mittlerweile beherbergte er Gäste aus aller Welt. Dann bat er mich höflich, ihm zu folgen, damit er mir mein Zimmer zeigen konnte.

Ich lauschte währenddessen seiner geschliffenen Einweisung: „Lassen Sie mich gerne wissen, falls Sie etwas brauchen. Ich wohne mit meinem Adoptivsohn Miguel im Seitentrakt des Anwesens. Für die Gäste ist Maria zuständig, die im nahe gelegenen Dorf wohnt. Sie ist jeden Tag im Haus und kümmert sich um die Gäste, hält die Räumlichkeiten in Ordnung und kocht für Sie.“