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Denn jede Seele verdient es, beschützt zu werden. Zur Not auch vor sich selbst ... München Hauptbahnhof: Eine Frau wird mit voller Absicht vor die U-Bahn gestoßen. Der Täter, ein gerade erst aus der Psychiatrie entlassener Ex-Häftling, stürzt ebenfalls in den Tod. Kriminalhauptkommissar Franz Branntwein und sein buntes Team werden auf der Suche nach dem Motiv mit erschreckenden Wahrheiten und verleumderischen Lügen konfrontiert. Doch außer dem gemeinsamen Sterben scheint die beiden Toten nichts zu verbinden. Noch während die Nachforschungen auf Hochtouren laufen, schockiert eine weitere Bluttat die bayerische Landeshauptstadt. Wieder überlebt auch der Mörder nicht. Die Ermittlungen werden zu einer zwischenmenschlichen Zerreißprobe, denn die emotionale Differenzierung gibt Rätsel auf: Wer ist Opfer? Wer Täter? Und: Können weitere »Freimorde« verhindert werden?
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Seitenzahl: 312
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Franz Branntweins sechster Fall
Die Krimireihe »Franz Branntwein ermittelt« in chronologischer Reihenfolge:
Gemeinsam sind wir tot (Psychokrimi)
Im Tod liegt die Wahrheit (Psychokrimi)
Ein Herz für Tote (Psychokrimi)
Chefsache Mord (Kriminalroman)
Der Tod wird dich finden (Kriminalroman)
Freimord – Stirb nicht allein (Psychokrimi)
»Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehen, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird.«
(Friedrich Nietzsche)
MONTAG
DIENSTAG
MITTWOCH
DONNERSTAG
FREITAG
ÜBER DIE AUTORIN
NICHTS MEHR VERPASSEN
Die Frau stürzte als erste ins Gleisbett. Nur Sekundenbruchteile später fiel auch der Mann samt seines Rollstuhls ins Leere. Die U-Bahn erfasste das wirre Knäuel aus menschlichen Körpern und metallenen Streben mit einer Geschwindigkeit von gut 45 km/h.
»Nochmal von vorne,« verlangte Kriminalhauptkommissar Franz Branntwein.
Der Sicherheitsmitarbeiter am Schreibtisch im Überwachungszentrum nickte wenig begeistert. Die Bilder waren nur schwer erträglich.
»Bitte wieder ab da, wo der andere Mann ins Bild kommt«, fügte Susanne Nowak hinzu. Die Kriminalassistentin stand neben ihrem Chef. Ihre große Umhängetasche hielt sie fest vor die Brust gepresst.
Drei Augenpaare starrten angespannt auf den Bildschirm, auf dem nun erneut die Aufzeichnung des … ja, des was? Unglücks? Unfalls? Mordes? … abgespielt wurde, die eine gute Stunde zuvor aufgenommen worden war.
Die Kamera war so angebracht, dass die Gesamtlänge eines einfahrenden Zuges eingefangen werden konnte. Momentan waren die Gleise leer, doch das war nur eine Frage der Zeit, wie die Betrachter wussten.
Die meisten der wartenden Fahrgäste an der unterirdisch gelegenen U-Bahn-Station des Münchner Hauptbahnhofs hoben mäßig interessiert bis ungeduldig den Kopf und schauten in Richtung des ankommenden Zuges, als die U2 mit Zielbahnhof Feldmoching in die Haltestelle einfuhr. Manche beschäftigten sich auch weiterhin mit ihren Smartphones; nur wenige führten ein Gespräch.
Der Mann im Rollstuhl hielt sich im ersten Drittel des Bahnsteigs auf, gut eineinhalb Meter hinter dem schraffierten Leitstreifen, der den Sicherheitsabstand zum Gleis markierte. Die Frau, die er gleich mit in den Tod reißen würde, stand schräg rechts von ihm. Die beiden schienen sich nicht zu kennen. Weder sprachen sie miteinander, noch sahen sie sich an.
Für Münchner Verhältnisse herrschte wenig Betrieb auf dem Bahnsteig, sogar einige der hart und unbequem wirkenden Gittersitze für Wartende waren unbesetzt.
Nun trat ein weiterer Mann ins Blickfeld. Er musste vom Zwischengeschoss her über die Treppe nach unten gekommen sein. Die Kameraeinstellung zeigte ihn nur von hinten. Er war durchgängig dunkel gekleidet: schwarze Schuhe, schwarze Hose, schwarzer Hoodie. Die Kapuze hatte er über den Kopf gezogen. Kein Aufdruck auf dem Pullover und auch keine sichtbaren Markenlogos an den Schuhen oder an der Hose.
Völlig unauffällig.
»Und dabei hat die Münchner Verkehrsgesellschaft ein Schweinegeld in Farbbildkameras investiert.« Der Sicherheitsmitarbeiter schien ähnliche Gedanken zu verfolgen wie die beiden Ermittler der Kriminalpolizei.
Auf dem Bildschirm war zu sehen, wie der Schwarzgekleidete zielstrebig auf den Mann im Rollstuhl zuging und ihm die Hand auf die Schulter legte.
Die Szene wirkte neutral. Nicht freundlich, schon gar nicht herzlich, aber offensichtlich waren die beiden miteinander bekannt. Der Neuankömmling zog einen rechteckigen Zettel, vielleicht ein Foto hervor, vermutlich aus der Kängurutasche seines Hoodies. Er beugte sich zu dem Sitzenden hinab und zeigte ihm das Papier, ohne es ihm zu geben. Vielleicht sagte er auch ein paar Worte, das war nicht zu erkennen. Der Rollstuhlfahrer betrachtete das Blatt, sah wieder hoch und …
»Stopp!«, rief Branntwein.
Der Sicherheitsmann zuckte zusammen und klickte reflexartig aufs Pausensymbol.
»Und jetzt maximal heranzoomen.« Der Kommissar beugte sich so weit nach vorne, dass seine Nase den Bildschirm fast berührte. Der Mitarbeiter der U-Bahn-Überwachung rückte mit dem Bürostuhl ein wenig zur Seite.
»Na bitte! Siehst du das, Susi? Siehst du, wie der guckt?« Branntwein richtete sich auf und tippte mit dem Finger auf den Monitor.
Die Kriminalassistentin nickte. »Ich weiß schon, was du meinst, Chef. Der guckt so … so irgendwie gar nicht.«
»Genau. Sein Blick ist völlig leer. Wie der eines Politikers, den du ein Jahr nach den Wahlen an seine nicht gehaltenen Versprechen erinnerst. – Aber jetzt schau mal, wie sich das gleich ändert!« Er nickte dem Mann mit der Maus auffordernd zu. »Langsam bitte.«
Der Film lief ausschnittvergrößert und in Zeitlupe weiter.
»Er verengt die Augen zu Schlitzen«, beschrieb Susi, was sie sah. »Jetzt dreht er den Kopf und starrt direkt zu der Frau hinüber. Und sie scheint das irgendwie zu spüren, jedenfalls dreht sie sich kurz um. Aber ich entdecke immer noch keinerlei Gefühle in seinem Gesicht. Nichts. Kein Erkennen, keinen Hass …; eine Maske der Gleichgültigkeit. Und die Frau beachtet ihn auch nicht weiter«, fügte sie hinzu.
»Aber da blitzt doch was auf in seinen Augen«, widersprach Branntwein. »So ein Funkeln. Ich seh's ganz deutlich! Ein blitzendes Funkeln.«
Susi wiegte den Kopf. »Hm, kann schon sein. Vielleicht. Möglich wär's«, räumte sie zögernd ein. »Aber eher nicht.«
Ihr Chef grunzte gereizt. »Hmpf! – Na gut, also weiter«, wandte er sich wieder an den Sicherheitsbeauftragten. »Bitte normale Geschwindigkeit und komplette Ansicht.«
Dass die Anwesenden die folgenden Sequenzen schon kannten, machte es nicht leichter.
Während der schwarzgekleidete Mann den Bahnsteig zügig aber ohne Hast in Fahrtrichtung weiterging, legte der Rollstuhlfahrer die Hände an die Räder seines Gefährts. Das Zusammentreffen der beiden Männer hatte nur ein paar Sekunden gedauert. Die Frau war ein wenig näher ans Gleisbett getreten. Sie stand nun direkt an der Sicherheitslinie und blickte dem einfahrenden Zug entgegen. Sie sah den Tod nicht kommen. Die Knie des vermutlich Gelähmten bohrten sich in ihre Kniekehlen, sie verlor das Gleichgewicht und saß ihrem Mörder halb auf dem Schoß, als der sie über die Bahnsteigkante schob, um gleich darauf selbst hinabzustürzen.
Die drei Beobachter im Überwachungsraum waren dankbar, dass keine Audiospur zu den Vorgängen auf dem Bildschirm existierte. Die erst verwirrte und dann in Panik umschlagende Mimik des weiblichen Opfers, ihre rudernden Arme und der weit aufgerissene Mund ließen erahnen, wie unsagbar entsetzlich diese letzten Sekunden ihres Lebens gewesen sein mussten. Mit Sicherheit hatte ihr Schrei das Dröhnen der U-Bahn übertönt. Ob der Aufprall der Körper über das Knirschen und Kreischen des Metalls auf Stahl hinweg ebenfalls zu hören gewesen war?
Während die Menschen am Bahnsteig – je nach Fasson – die Hände vors Gesicht schlugen, kopflos losrannten oder einfach wie paralysiert das schreckliche Geschehen verfolgten, erklomm der schwarz gekleidete Mann ruhigen Schrittes die Treppe des gegenüberliegenden U-Bahn-Aufstiegs. Er blickte nicht zurück.
»Puh! Ganz schön harter Tobak.« Susanne Nowak merkte erst jetzt, wie sehr sich ihre Finger um den Tragegurt der Umhängetasche verkrampft hatten. »Dieses ganze Blut und was weiß ich, was da noch alles herumgespritzt ist und vom Fahrtwind verteilt wurde …« Sie öffnete und schloss ein paarmal die Hände. »Am meisten tut mir der Fahrer leid.«
»Ja. Armer Kerl.« Branntwein räusperte sich. »Mir geht das auch an die Nieren. Normalerweise kommen wir ja erst, wenn die Leute schon tot sind. Also, ja klar, das sind sie jetzt auch, aber ihnen so beim Sterben zuzuschauen, ist schon noch mal 'ne andere Hausnummer. Ich brauch' jetzt jedenfalls erst einmal einen Kaffee.«
»Und ich einen Schnaps«, rutschte dem Sicherheitsmann heraus. »Wenn Sie mich nicht mehr brauchen, meine ich. Und nicht verraten.«
»Ich hab' nichts gehört«, versicherte der Kriminalhauptkommissar. »Zumindest nicht, wenn's bei einem Stamperl bleibt und Sie heute schon gut gegessen haben.«
»Schicken Sie doch bitte vorher noch die Aufnahmen der Überwachungskameras an diese E-Mail-Adresse.« Susi legte eine Visitenkarte auf den Schreibtisch. »Die ist nicht von mir. Joachim Mayer ist unser IT-Experte«, erklärte sie auf den fragenden Blick hin.
»Ich nehme an, Sie möchten auch die Videos von den Aufgängen, oder? Auf denen vielleicht der 'Schwarze Mann' zu sehen ist.«
»Gut mitgedacht«, lobte Branntwein. »Genauso ist es.«
»Okay. Gerne. Mach' ich sofort.«
Schon auf dem Weg zur Tür drehte sich Susi noch einmal um: »Ach! Und falls Sie Hilfe brauchen, um das Ganze zu verarbeiten, … oder jemanden zum Reden – es gibt Beratungsstellen und psychologische Dienste speziell für Unfallzeugen. Scheuen Sie sich nicht, Hilfe in Anspruch zu nehmen. So eine posttraumatische Belastungsstörung kommt schneller als man denkt.« Sie lächelte freundlich.
»Das war heute mein siebter Selbstmörder«, kam die lakonische Antwort. »Man gewöhnt sich zwar nicht wirklich dran, aber es wird leichter.« Er wandte den beiden Ermittlern den Rücken zu und öffnete sein Mail-Programm.
»Sieben Selbstmörder! In welchem Zeitraum wohl?« Die Kriminalassistentin bemühte sich, mit ihrem koffeinsüchtigen Chef Schritt zu halten, der immer schneller wurde, je näher sie dem zu erwartenden Heißgetränk kamen.
»Hättest ihn ja fragen können«, antwortete Branntwein, während er seine Jeansjacke nach Kleingeld absuchte und einer Gruppe Japaner auswich, die zwischen dem mannigfaltigen Wirrwarr aus Hinweisschildern, Absperrungen, Aufgängen, Abgängen, Bauzäunen und Verkaufsangeboten hilflos umherirrte und sich dabei selbst filmte.
Susi beschloss, nicht auf diesen Kommentar einzugehen. Stattdessen bemühte sie sich, möglichst flach durch den Mund zu atmen. Oberirdisch war der Münchner Hauptbahnhof aktuell eine einzige chaotische Großbaustelle, doch das erste Untergeschoss war bereits vor gar nicht allzu langer Zeit umgestaltet worden und zu einer schillernden Einkaufs- und Fressmeile mit zeitlos künstlicher Beleuchtung mutiert. Die Aromen von Hühnchen süß-sauer, Leberkässemmel, Döner und Bratwurst konkurrierten mit denen aus Parfümerie, Schuhladen und hipper Bekleidungsboutique im Boho-Style, die offenbar auch Räucherstäbchen und Duftkegel im Angebot hatte.
»Scheiße!« Branntwein blieb abrupt stehen und hielt Susi am Ärmel ihrer Häkeljacke fest. »Hast du so 'nen Dings dabei? Du weißt schon! So 'nen Dings, 'nen Mehrwegbecher?«, fragte er hoffnungsvoll. Er hatte seiner erwachsenen Tochter versprechen müssen, den Verbrauch an Einweggeschirr auf ein Minimum zu reduzieren, was in Antonias Sprache 'null' bedeutete. »Du brauchst gar nicht so streng zu gucken«, verteidigte er sich. »Wo soll ich den denn hintun?« Er schlug die Jacke auseinander, als würde er gestohlene Uhren anbieten wollen. »Ist ja kein Platz hier drin. Im Gegensatz zu deinem Jumboshopper.«
»Das ist eine Umhängetasche. Kein Shopper«, korrigierte ihn Susi. »Und natürlich hab' ich einen Ecoffee Cup dabei. Sogar zwei. Für alle Fälle.« Sie schob den Tragegurt über ihrer Schulter zurecht und ging weiter.
»Du bist eine so wunderbare Assistentin, Susi. Hab' ich dir das eigentlich je gesagt?«, rief Branntwein und eilte hinterher. Er konnte das gelbe Schild mit der dampfenden Kaffeebohne schon sehen.
Während im ersten Untergeschoss, von den Begebenheiten eine Etage tiefer, nichts zu merken gewesen und alles seinen gewohnten Gang aus Konsum, Hektik und kulinarischen Schmankerln gegangen war, schlug der erweiterte Suizid auf dem Vorplatz zu den U-Bahn-Abgängen mit einem großen Polizeiaufgebot zu Buche, wie Franz Branntwein und Susanne Nowak schnell feststellen mussten, als sie dort ankamen. Die U2 Richtung Feldmoching teilte sich einen Bahnsteig mit den Linien U1, U7 und U8; entsprechend hoch war die Anzahl der Personen, die durch den Tod zweier Menschen in ihrem Tagesablauf gestört und nun am Abstieg zu den Gleisen gehindert wurden.
Die beiden Ermittler zeigten den uniformierten Kollegen ihre Ausweise.
»Es werden einfach nicht weniger«, stöhnte einer der Polizisten. »Im Gegenteil. Ich hab' das Gefühl, es kommen immer mehr. Vielleicht macht das alles schon im Internet die Runde.«
Branntwein ließ seinen Blick über die Menge schweifen. Ihre Hälse reckten die Menschen alle, viele hatten das Smartphone gezückt und hielten es aufnahmebereit über die Köpfe der Uniformierten. Fast jeder wollte wissen, was geschehen war. Nur die wenigen, die es tatsächlich eilig hatten, drehten kommentarlos um.
Entschlossen schob er sich durch den teils ratlosen, teils schimpfenden Pulk und machte so auch den Weg für seine Assistentin frei, die sich wie ein Blässhuhnkü-ken im Fahrwasser der Mutter vorkam.
Am Treppenabsatz angekommen, wandte sich der Kommissar der Menschenmenge zu. Dank der hervorragenden Schallqualität von Granitfliesen in Kombination mit Sichtbeton war seine Stimme weithin zu hören: »Mein Name ist Franz Branntwein, Kripo München.«
Unterdrücktes Gelächter kam auf. Eine Stimme tönte halblaut: »Und ich heiß' Rainer Zufall!«
Branntwein ignorierte den Zwischenruf. »Es kam unten an den Gleisen zu einem Personenschaden. Die nächsten paar Stunden geht hier sicher nix mehr. Also verlassen Sie bitte den Bereich.« Er wollte sich schon abwenden, überlegte es sich dann aber anders und hob beide Arme, um erneut auf sich aufmerksam zu machen. Seine Rechte hielt immer noch den Kaffeebecher. »Ach, und bevor ich's vergesse: Eine Information für alle Hobbyfilmer und Amateurfotografen – und zwar Männlein wie Weiblein: Das Filmen und Fotografieren hilfloser Personen ist strafbar. Paragraph zweihunderteins a, Strafgesetzbuch. Ihnen dürfte bekannt sein, dass wir bei einem Vorfall wie diesem sämtliche Mobilfunknummern der anwesenden Personen automatisch speichern.«
»Polizeistaat!«, rief eine junge Frau mit rosa Haaren und einem Säugling vor der Brust, während die ersten Schaulustigen an ihr vorbei in Richtung Aufgang strebten.
»Dir ist schon klar, dass man nicht lügen darf, oder?« Susi stupste ihren Chef in die Seite. Sie mussten die Stufen nach unten gehen, die Rolltreppe war abgeschaltet.
»Natürlich ist mir das klar! Aber meine Großmutter, Gott hab' sie selig, hat immer gesagt: 'Der Zweck heiligt die Mittel'.«
Der Kontrast zwischen dem neu gestalteten Konsumparadies und dem Bahnsteig, auf den die beiden nun traten, hätte größer kaum sein können. Aufbau versus Verfall. Oben bunte Lichter, unten tristes Grau. Gerahmte Werbeplakate in Hochglanzoptik gegen rissigen, nackten und verdreckten Beton. Dazu die untypische, gespenstische Leere eines gesperrten Bahnsteigs, auf dem zwei Menschen ihr Leben verloren hatten.
Über die gesamte Länge des Gleises war eine Plane als Sichtschutz zwischen den Säulen gespannt worden, die die Schienenpaare voneinander trennten. Von links nach rechts betrachtet war der Vorfall auf Gleis zwei geschehen. Auf den Gleisen drei und vier sollten möglichst zeitnah wieder Züge rollen können, ohne dass Bilder menschlicher Fleischfetzen auf Social Media für 'Like'-Rekorde sorgen würden.
Die U-Bahn stand noch genauso auf dem Gleis wie sie auch gemäß des Überwachungsvideos nach der Notbremsung zum Stehen gekommen war. Soeben machten sich Feuerwehrleute mit dem Schneidbrenner daran, die verbogenen Überreste des Rollstuhls unter dem Fahrzeug zu bergen, damit der Zug später zurücksetzen können würde. Es hatte eine Weile gedauert, bis der Strom abgestellt worden war und die Schienen betreten werden konnten.
Mehrere Kisten und Eimer unterschiedlicher Größe aus verzinktem Stahlblech dienten der Aufbewahrung und späteren Sortierung der Überreste der Verstorbenen. Auch zwei Bahren mit Deckel standen bereit. Die Mitarbeiter der Spurensicherung, erkennbar an ihren weißen Overalls, bewegten sich leise und konzentriert. Sie krochen unter die Wartebänke, durchforsteten jeden einzelnen der weinroten Müllbehälter und schritten den Boden mäanderförmig ab. Gelbe Aufsteller mit Zahlen und fast schwarze, geronnene Blutspritzer markierten die Stelle, an der die Lok die Körper erfasst hatte.
Conrad Fleischmann, der Leiter der Kriminaltechnik, unterbrach seine Beobachtung der Feuerwehrleute und kam den beiden Ermittlern entgegen. »Servus Franz, hallo Susi! Ganz schöne Schweinerei hier«, begrüßte er die beiden.
»Hallo Conni. Wir haben das Video gesehen«, antwortete Branntwein. »Kannst du uns schon was zur Identität der beiden Opfer sagen?«
»Von der Frau haben wir die Handtasche sichergestellt. Robustes Teil, muss ich schon sagen. Personalausweis war auch drin. Therese Reindl«, wusste er auswendig zu berichten, »Jahrgang neunundsechzig, wohnhaft in München.«
»Und der Mann im Rollstuhl?«, fragte Susi.
»Schaut schlecht aus bis jetzt. Wir sind aber auch noch nicht fertig. Kann gut sein, dass ihr da auf die Gesichtserkennungssoftware vertrauen müsst. Die beiden Totentragen da drüben sind meiner Meinung nach übrigens Optimismus pur.« Die Flamme des Schweißbrenners verstummte. »Das wird nämlich Knochenpuzzle mit Bröckchen«, schrie er in die plötzlich einsetzende Stille hinein.
»Also wirklich Conni! Reicht es nicht, dass sich vorhin schon jemand übergeben musste? Hilf mir lieber mal hier raus!«, mischte sich eine weibliche Stimme ein.
»Ich mach' das schon«, beeilte sich Branntwein zu versichern und drückte seiner tatsächlich etwas blass aussehenden Assistentin den leeren Kaffeebecher in die Hände. »Servus Sissi«, begrüßte er gleich darauf mit gespielt österreichischem Dialekt die Rechtsmedizinerin Dr. Elisabeth Schneider und hielt ihr seine Rechte hin.
»Servus Franz! Du willst mir aber nicht zufällig den Arm abreißen, oder?« Sie blickte fragend zu ihm hoch.
»Hoffentlich nicht«, witzelte Fleischmann, »sonst kennt sich hier bald gar keiner mehr aus.«
»Halt' die Klappe, Conni!«, rief Susi.
»Das sind bestimmt fast eineinhalb Meter, Franz. Ich bin zwar sportlich, aber kein Frosch!«, erklärte Elisabeth Schneider. »Was wir brauchen ist eine Trittleiter.«
»Wo soll ich denn jetzt eine Trittleiter herbekommen?«
»Susi hat bestimmt eine in der Tasche!« Conrad Fleischmann konnte es einfach nicht lassen.
Elisabeth seufzte. »Dann halt etwas Ääähhhn ...« 'Ähnliches', wollte sie eigentlich sagen, doch das Wort geriet eher zu einer Art überrascht-erschrockenem Aufschrei. Die beiden Feuerwehrmänner hatten beschlossen, die Diskussion zu beenden. Jeder ein Bein, an Knöchel und Wade kräftig zugepackt und angehoben, hievten sie die Rechtsmedizinerin mühelos auf Höhe der Bahnsteigkante. Branntwein reagierte schnell und reichte ihr beide Hände, so dass sie fast elegant zu stehen kam.
»Oh! Huch!« Elisabeths Wangen waren unter der weißen Kapuze tiefrot geworden. »Vielen Dank auch, Ihnen beiden! Zwei so starke Männer!« Sie kicherte verlegen und zupfte den Overall zurecht.
Die Feuerwehrleute tippten sich an die Helme und grinsten. »Immer wieder gerne, gnädige Frau.« – »Dafür sind wir doch da, um hübschen Damen zu helfen.«
Branntwein schnaubte und runzelte die Stirn.
»Wo habt ihr denn die Zeugen und den U-Bahnfahrer versteckt?«, fragte Susi schnell, um von der plötzlich emotional aufgeladenen Situation abzulenken. »Oder musste der ins Krankenhaus?«
»Nö. Die sind alle da drüben in dem Sichtschutzzelt.« Fleischmann deutete vage nach links hinten. »Ein paar von den Sanis sind auch noch da, glaube ich.« Er grinste. »Die können sich dann gleich um deinen Blutdruck kümmern, gell Franz?«
»So ein Schmarrn! Was soll denn sein mit meinem Blutdruck? Der ist völlig in Ordnung, mein Blutdruck!«, regte Branntwein sich auf und stapfte voran, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Susi schürzte schulterzuckend die Lippen, als wollte sie sagen, »Mei, so isser halt!«, wuchtete ihre Umhängetasche hoch und folgte ihrem Chef.
Sichtschutzzelte dienen vorrangig dem Zweck, den ihr Name vermuten lässt. Ein weiterer Effekt ist aber auch, dass Wände und Decken – und seien sie noch so dünn – Geborgenheit und Sicherheit vermitteln können, was gerade nach einem so traumatischen Ereignis, wie es die hier Anwesenden miterleben mussten, eine wichtige psychologische Rolle spielen kann.
Ein wenig befremdlich wirkte der Aufbau schon auf die beiden Ermittler, als sie näherkamen. Hauptkommissar Franz Branntwein fühlte sich an ein Partyzelt erinnert, während Susanne Nowak eine solche Konstruktion eher im Freien erwartet hätte.
Zwei uniformierte Kollegen standen wie eine marineblaue Ausführung der Schweizergarde vor den beiden seitlich zusammengerollten Planen, die den Eingang der Stangenkonstruktion freigaben.
»Servus Kollegen, habe die Ehre«, grüßte Branntwein und zeigte seinen Ausweis. »Das ist meine Assistentin Susanne Nowak.« Die vier nickten einander zu. »Wie ich sehe, habt ihr schon ausgemistet«, fuhr er mit gesenkter Stimme fort.
»Jawohl, Herr Kommissar!« Viel fehlte nicht, und der jüngere der beiden Männer in Blau hätte salutiert. »Es sind nur noch die tatsächlichen Augenzeugen anwesend.«
»Von den andern haben wir aber die Personalien aufgenommen«, fügte der Ältere hinzu.
»Und von den Augenzeugen nicht?«, hakte Branntwein irritiert nach.
»Doch, schon.« Er reichte dem Kommissar einige Seiten, die offensichtlich aus einem Notizbuch gerissen worden waren.
Branntwein grinste zu Susi hinüber. »Gute alte Schreibarbeit mit Stift und Papier, das lob' ich mir!«
»Nicht alles, was sich reimt, ist gut«, konterte die Assistentin und nahm ihm die Blätter aus der Hand, um sie abzufotografieren.
»Das aber schon!«, behauptete Branntwein und lugte über ihre Schulter. »Andreas Schmid. Das ist der Fahrer, oder?«, fragte er vorsichtshalber. Die Schrift war nicht leicht zu entziffern. »Muss ein zäher Bursche sein!«
»Jawohl, Herr Kommissar!«, beeilte sich der junge Uniformierte zu versichern. »Er sitzt dort drüben bei dem Sanitäter. Neben dem kleinen Tisch mit der Thermoskanne.«
»Thermoskanne!«, wiederholte Branntwein erfreut.
»Jawohl, Herr Kommissar! Soweit ich weiß, handelt es sich beim Inhalt um Kamillentee. Er soll die Zeugen beruhigen.«
»Ach so.«
Während Branntwein noch überlegte, ob er den Jungspund wohl zum Kaffeeholen abkommandieren könnte, machte sich einer der fünf verbliebenen Augenzeugen lautstark bemerkbar. Der Kommissar erkannte den pausbäckigen Halbglatzenträger im Wanderoutfit für Senioren von der Aufzeichnung der Videoüberwachung. Er hatte schräg links des Rollstuhls gestanden, in der Nähe der Wartebank, und könnte das Gesicht des schwarz gekleideten Mannes gesehen haben. »Sind Sie hier zuständig? Sind Sie das? Uns hier warten zu lassen wie Schwerverbrecher! Wie Kriminelle! Eine Unverschämtheit ist das! Eine Unverschämtheit! Ich werde mich beschweren, hören Sie? Beschweren werde ich mich!« Der Mann musste Luft holen. Vermutlich, weil er alles zweimal sagte.
Branntwein nutzte die Pause und fiel ihm ins Wort: »Herr …?«
»Paulus. Otto Paulus«, soufflierte Susi mit Blick auf ihr Smartphone.
»Herr Paulus, bitte setzen Sie sich doch erst einmal wieder hin.«
»Ich denke ja gar nicht daran! Ich will jetzt ...«
»Hinsetzen. Bitte.« Branntwein blieb hart. Er fasste den Mann am Ellbogen und nickte zu den freien Stühlen hinüber, wo auch ein Wanderrucksack stand. »Ist doch gleich viel gemütlicher«, meinte er jovial, nachdem Paulus sich, immer noch schimpfend, niedergelassen hatte. Susanne Nowak und er selbst blieben in der Mitte des Zeltes stehen. »Uns ist klar, dass Sie möglichst schnell nach Hause oder zumindest von hier wegkommen möchten«, wandte er sich an alle. »Aber Sie sind wichtige Zeugen in zwei ungeklärten Todesfällen, und von daher sind Ihre Aussagen für uns von enormer Bedeutung.« Zwei Frauen lächelten geschmeichelt. Ihre Augen glänzten vor Aufregung. »Vermutlich Mutter und Tochter«, dachte der Kommissar und fuhr fort: »Meine Assistentin und ich werden Sie nun befragen, solange die Erinnerungen noch frisch sind. Dazu bitten wir Sie, einzeln mit nach draußen zur Wartebank im hinteren Gleisbereich zu kommen, um ein Mindestmaß an Diskretion zu gewährleisten. Wir beginnen mit Herrn Schmid.« Ein scharfer Blick in Richtung Otto Paulus ließ dessen zu erwartenden Protest im Keim ersticken.
Das Polizeipräsidium München war auf einem ehemaligen Klostergelände in der Altstadt untergebracht, nicht weit vom Hauptbahnhof entfernt, weshalb Franz Branntwein seinen alten Mercedes auf dem dortigen Parkplatz stehen gelassen hatte und zusammen mit Susanne Nowak zu Fuß zum Tatort gekommen war. Nach der Zeugenbefragung besorgten die beiden auf dem Rückweg noch rasch Butterbrezen aus der Traditionsbäckerei am Stachus. Fünf Stück, um genau zu sein, für jedes Teammitglied eine.
Neben dem IT-Spezialisten Joachim Mayer, von allen nur 'Mausi' genannt, waren auch die beiden Oberkommissare Georg Hinterhuber und Daniel Baumann anwesend, als Susi und Branntwein das Amtszimmer betraten.
Der Raum war durch einen rechteckigen Bürogarten in zwei mehr oder minder gleich große Bereiche geteilt. Auf der einen Seite standen der Besprechungstisch samt großem Wand-Flatscreen, das Sideboard, auf dem sich unter anderem die Kaffeemaschine befand, und der Kühlschrank. Auf der gegenüberliegenden Seite der Yuccapalmen, die in den von Kalkresten weiß überzogenen Blähtonkugeln tapfer dem Tode trotzten, standen drei Doppelschreibtische. Einer wurde von Mausi und seiner großen Liebe in Beschlag genommen: Computer und Technik. Daniel und Schorsch, die sich auch zu Hause Tisch und Bett teilten, saßen einander am zweiten Schreibtisch gegenüber. Branntwein und Susi hingegen waren froh, sich den Arbeitsbereich miteinander statt mit ihren Liebsten zu teilen, denn der verwitwete Hauptkommissar war mit der Rechtsmedizinerin Dr. Elisabeth Schneider liiert und Susi hatte ein Auge auf deren Sektions- und Präparationsassistenten Bruno Martinez geworfen.
Während die Kriminalassistentin zunächst ihre Umhängetasche nach dem gebrauchten Mehrwegbecher durchsuchte, um ihn abzuspülen, warf Branntwein seine Jeansjacke wie immer zielsicher an der Garderobe vorbei auf den Boden hinter der Tür, um dann sogleich nach dem Füllstand der Kaffeekanne zu sehen. Zwei Drittel voll und noch heiß. Er grunzte zufrieden.
»Und …?« Mausi sah von den beiden großen Monitoren auf, die seinen Schreibtisch dominierten. »Ich hab' mir inzwischen das Video vom Bahnsteig angesehen. War schlimm, oder?«
»Ja, war schon krass«, räumte Branntwein ein.
»Und dann haben auch noch zwei Feuerwehrmänner Elisabeth aus dem Gleisbett geholfen und sie eine 'hübsche Dame' genannt«, rief Susi vom Waschbecken aus über die Schulter.
»Oh, oh! Da wird er aber eifersüchtig gewesen sein, unser Chef, nicht wahr?« Daniel grinste zu Schorsch hinüber.
»Sowieso«, antwortete der.
»Eifersüchtig?! Ich?!« Branntwein wandte den Kollegen die Kehrseite zu und goss Kaffee in seinen Thermobecher. »Da träumt ihr höchstens von.« Vier Teelöffel Zucker und ein guter Schuss Milch wurden nachdrücklich verrührt.
»Schorsch und ich wollten jetzt gleich mal in die Wohnung von Therese Reindl und auch gleich die Nachbarn befragen, nicht wahr?«, sagte Daniel.
Den Becher in der Hand, lehnte sich Branntwein mit dem Gesäß ans Sideboard. »Sehr gut. Bringt am besten gleich eine Zahnbürste oder sowas von ihr mit, falls Elisabeth und Conni die DNA vom Tatort unterscheiden müssen. Was haben wir denn bis jetzt über sie? Über Therese Reindl meine ich.«.
Mausi antwortete: »Nur den Personalausweis. Ach so, und die Meldeadresse habe ich überprüft. Sie lebte allein, hat sich früher wohl mal sozial engagiert. Ansonsten bin ich noch dabei, den Täter zu identifizieren. Oder das zweite Opfer. Such's dir aus. Was ich aber schon sagen kann ist, dass der mysteriöse dritte Mann, du weißt schon, der sich da zu ihm runtergebeugt hat ...«
Branntwein nickte. »Ja, ich weiß schon.«
»... also der hatte überhaupt keine Auffälligkeiten. Kein Ring am Finger, keine sichtbare Tätowierung. Aber sehr gepflegte Nägel, vielleicht sogar manikürt. Und der Zettel, den er dem Mann im Rollstuhl gegeben hat, war auf jeden Fall ein Ausdruck auf Fotopapier. Hochglanz. Leider habe ich aber keine Spiegelung freistellen können. Jedenfalls nicht von dem Mann in Schwarz.«
»Sondern?« Branntwein war ganz Ohr.
»In den Brillengläsern des Rollstuhlfahrers ist ein sehr unscharfer Ausschnitt des Fotos zu erkennen. Wirklich sehr unscharf. Nicht mal ein genaues Motiv, um ehrlich zu sein.«
»Aber?«
»Es könnte sich um eine Aufnahme von Therese Reindl handeln. Allerdings auch von Miss Piggy. Auf jeden Fall ist es ein Porträt von jemandem, der diese Art Frisur trägt. – Schau mal hier.« Er rief die Internetseite einer Kirchengemeinde auf. »Das ist eine Aufnahme von Frau Reindl. Schon ein bisschen älter, da hat sie noch woanders gewohnt und war als Ehrenamtliche in einer Art Suppenküche tätig. Das einzige Bild, das ich in den unendlichen Weiten des Internets finden konnte. Außer dem offiziellen Passfoto aus unseren eigenen Akten.«
»Hm.« Branntwein starrte auf das verkniffen wirkende Lächeln der Toten und kratzte sich die Nase. »Das ist doch schon mal was. – Aber wir haben noch keinen Hinweis auf die Identität des Kapuzenmannes?«, vergewisserte er sich.
Mausi schüttelte den Kopf. »Bis jetzt nicht. Die Körpergröße konnte ich anhand der Aufnahmen auf einen Meter siebzig bis einen Meter fünfundachtzig eingrenzen, und laut Software entspricht das Gangbild dem eines Mannes zwischen zwanzig und fünfzig Jahren.« Er verzog bedauernd den Mund. »Haben denn die Zeugen was sagen können?«
»Nein. Oder eigentlich doch.« Branntwein seufzte. »Er trug eine Brille. Er trug keine Brille. Blaue Augen. Braune Augen. Dünne Lippen. Dicke Lippen. Bart. Glattrasiert. – Und so weiter. Du kennst das ja. Ist halt eine Ausnahmesituation.«
Mausi nickte. Das Phänomen unterschiedlichster Zeugenaussagen kannte er tatsächlich. »Also kein Phantombild. Und der Fahrer?«
Branntwein stieß sich vom Sideboard ab und schnappte sich eine der Butterbrezen aus der Tüte auf dem Besprechungstisch. »Den hätten die Kollegen eigentlich gleich gehen lassen können. Was konnte er schon gesehen haben, das wir nicht auf Video haben? Na egal, dann mal weiter im Text: Daniel und Schorsch fahren wie geplant zu Therese Reindls Meldeadresse. Mausi, du machst einfach mit dem weiter, was du eh vorhattest. Je schneller wir wissen, um wen es sich bei dem Rollstuhlfahrer handelt, desto besser. Ich selbst seh' mir die Videos von den Auf- und Abgängen an; mit ein bisschen Glück ist da das Gesicht des ominösen 'Schwarzen Mannes' zu erkennen. Und du, liebste Susi, oh du beste aller Assistentinnen.«
»Schon klar. Ich setz' mich hin und tipp' die Berichte und Zeugenaussagen. Aber nur weil ich weiß, wie sehr du das hasst.«
Die Tengstraße, in der die verstorbene Therese Reindl gemeldet war, lag im Westen Schwabings, einem dicht bebauten Münchner Stadtteil mit vielen historischen Baustrukturen und weit über 70.000 Einwohnern, von denen mehr als die Hälfte in Singlehaushalten lebte.
Für die Oberkommissare Daniel Baumann und Georg Hinterhuber bedeutete das vor allem eines: Parkplatz suchen. Besonders für den sonst so ausgeglichenen Oberbayern eine Nervenprobe. Er saß wie so oft am Steuer des zivilen BMW, während sein Partner den Beifahrersitz beanspruchte. Sie kreisten schon eine ganze Weile ums Karree, doch Daniel war mit dem Feuereifer eines Kindes an Ostern bei der Sache: »Hier drüben! Neben dem Panda!«
»Einfahrt«, knurrte Schorsch, nicht zum ersten Mal.
»Der Schrägparkplatz da vorne, bei der Litfaßsäule!«
»Da steht die Litfaßsäule!«
»Ups! Mein Fehler. Aber das kann ja jedem einmal passieren, nicht wahr?«
Schorsch atmete tief durch. »Sowieso.«
Sie standen Ecke Georgenstraße an einer roten Ampel, als Daniel erneut aufschrie: »Schnell Schorsch! Da fährt einer raus!«
»Ja! Ein Mini! Wie soll ich denn da reinkommen?! In Einzelteilen?«
»Du wirst dir eben etwas Mühe geben müssen, nicht wahr?«
Die Ampel schaltete auf Grün. Schorsch fuhr an. »Oder ich stell' mich einfach mit Warnblinker in die zweite Reihe, und du bleibst im Auto und passt auf, dass sie uns nicht abschleppen. Ich lass' auch das Fenster einen Spalt weit auf.«
»Sehr lustig, Schorsch! Ha, ha, ha!« Der Schleswig-Holsteiner kreuzte beleidigt die Arme vor der Brust, riss sie jedoch gleich wieder auseinander und fuchtelte seinem Partner vor dem Gesicht herum. »Schau mal nach links, da steigt eine Familie ein. Neben der Einfahrt. Siehst du? Bestimmt wird da gleich was frei, nicht wahr? Sogar direkt vor der Tür!«, jubelte er. »Los! Gib Gas!«
Tatsächlich war ihnen das Glück diesmal hold. Nachdem der VW-Bus aus dem Längsparkplatz rangiert hatte, konnte der wartende Schorsch mit dem BMW sogar vorwärts in die Lücke am Straßenrand einfahren. Nun stand das Auto zwar entgegen der Fahrtrichtung, aber das war ihm jetzt auch schon egal. Er wollte gerade aussteigen, als ein Minivan in die Einfahrt abbog, auf den Bürgersteig fuhr und schließlich direkt neben dem zivilen Polizeifahrzeug stehenblieb.
»So geht’s natürlich auch«, dachte Schorsch, öffnete die Fahrertür und zwängte sich durch den Spalt.
Der Lenker des Caddys war ebenfalls ausgestiegen. Sein beachtlicher Bierbauch brachte die blaue Latzhose an die Grenzen ihrer Kapazität. Einige der seitlich angebrachten Knöpfe hatten den Kampf schon aufgegeben. »Seid's ihr die von der Kripo?«, fragte er und wuchtete einen metallenen Werkzeugkoffer vom Beifahrersitz. »Dann sind wir nämlich verabredet«, verkündete der Mann vom Schlüsseldienst leicht außer Atem. »Karl Greitner mein Name.«
Die Haustür des Altbaus, in dem Therese Reindl gelebt hatte, ließ sich durch einen beherzten Hüftschwung öffnen. Greitner stellte sich einfach mit dem Rücken zur Tür und krachte mit dem Hinterteil dagegen. »Funktioniert fast immer bei den alten Häusern«, kommentierte er gut gelaunt. »Müssen wir keinen Nachbarn rausläuten, gell?«
»Nein, die kommen bei dem Lärm sicher ganz von alleine, nicht wahr?«, sagte Daniel säuerlich. Er trug es dem Handwerker ein wenig nach, dass der einfach auf den Bürgersteig gefahren war, wo er selbst sich doch solche Mühe gegeben hatte, einen regulären Parkplatz zu finden.
Greitner lachte laut. »Ein Preiß! Äh 'Preuße', mein' ich. Aber weißt du was? Ich mag euch! Wo müss' ma denn jetzt hin?«
»Dritter Stock links«, antwortete Schorsch und bemühte sich, nicht zu seinem Partner zu sehen, der mit offenem Mund im Treppenhaus stand und ein Bild der Empörung abgab.
Oben angekommen, musste Greitner erst einmal ein bisschen verschnaufen und sich mit einem Lappen den Schweiß von der ziemlich hohen Stirn wischen. Der Geruch nach altem Fett und Knoblauch machte sich breit. Der Handwerker bemerkte wohl die geblähten Nasenflügel des sensiblen Schleswig-Holsteiners und setzte zu einer Erklärung an. »Ja mei, müsst's schon entschuldigen, aber ich komm' grad vom Türken, gell. Ich bin da Stammgast und die ham die Schublade von ihrem Dönerdrehgrill nicht mehr aufbekommen. Ihr wisst schon, da wo's reintropft und ...«
»Darf ich bitte erfahren, was hier los ist?« Eine etwa siebzigjährige Frau in geblümter Kittelschürze und ausgeblichenen rosa Hausschlappen stand in der Tür der Nachbarwohnung. Die Hände resolut in die Hüften gestemmt, erinnerte sie Greitner vielleicht an seine Mutter, denn er verstummte sofort, senkte den Kopf und knetete verlegen seinen Lappen.
»Aber selbstverständlich, verehrte Dame«, antwortete Daniel betont freundlich und warf Greitner einen abschätzigen Blick zu, während er seinen Ausweis aus der Hosentasche zog. »Guten Tag erst einmal. Ich bin Oberkommissar Daniel Baumann, und das ist mein Kollege Georg Hinterhuber. Wir sind von der Kriminalpolizei und müssen in die Wohnung von Frau Reindl, nicht wahr? Und Sie sind ...?«
»Über die Unruhe im Hausflur nicht erfreut«, antwortete die Nachbarin, schlurfte ein paar Schritte näher und beäugte misstrauisch die kleine blau-weiße Kunststoffkarte mit dem Dienstsiegel Bayerns, die den althergebrachten grünen Papierlappen vor einigen Jahren abgelöst hatte. »Kripo«, wiederholte sie dann. »Da müssen Sie sich aber doch zusätzlich mit der Dienstmarke ausweisen.«
»Oho, da kennt sich jemand aus, nicht wahr?« Daniel nickte anerkennend und kramte die ovale Messingscheibe mit den beiden in Versalien geschriebenen, orthographisch fälschlicherweise ohne Trennstrich untereinanderstehenden Worten
KRIMINAL
POLIZEI
hervor. Vorsichtshalber drehte er die Marke auch noch um, damit seine Dienstnummer zu lesen war.
Die Dame im Geblümten lächelte geschmeichelt. »Ja mei, man schaut halt Fernsehen, gell? Was wollen Sie denn von der Frau Reindl?«, siegte dann doch die Neugier. »Hat sie etwas angestellt? Oder ...« Sie legte eine Hand auf die Brust und senkte die Stimme, als ihr ein Beitrag aus 'Aktenzeichen XY ungelöst' vom letzten Mittwochabend einfiel. »... ist sie etwa ermordet worden?« Mit weit aufgerissenen Augen huschte ihr Blick von Daniel Baumann zu Karl Greitner, der inzwischen seinen Werkzeugkoffer geöffnet und einen kleinen Akkubohrer herausgenommen hatte. »Liegt sie … liegt sie vielleicht tot da drin?« Mit zitterndem Finger – ob vor Entsetzen oder aus Sensationsgier, war für die Ermittler nicht klar zu erkennen – wies sie auf die Eingangstür der Nachbarwohnung.
»Darüber dürfen wir Ihnen leider keine Auskunft geben, Frau …?«
»Mühlstetter. Helene Mühlstetter.«
»... Frau Mühlstetter, nicht wahr?«, antwortete Daniel.
»Ja. Mühlstetter. Das sagte ich doch!«, bestätigte sie verwirrt.
»Nein, ich meinte nur ... ich wollte lediglich ... «
Schorsch kam seinem Freund zu Hilfe: »Was mein Kollege sagen möchte, ist Folgendes: Wir dürfen zwar mit Ihnen nicht über laufende Ermittlungen sprechen, aber es wäre sehr nett, wenn Sie ein paar Fragen zu Ihrer Nachbarin beantworten könnten.«
»Ah! Ach so! Ja, natürlich. Gerne. Aber nicht hier im Treppenhaus.« Helene Mühlstetter machte eine einladende Geste in Richtung ihrer Wohnung.
Die beiden Kommissare einigten sich nonverbal über die Aufgabenverteilung. Der Schleswig-Holsteiner würde die Befragung der Nachbarin übernehmen, während Schorsch das Zuhause der Getöteten in Augenschein nahm, deren Tür Karl Greitner inzwischen geöffnet hatte. »Bis vielleicht zum nächsten Mal«, verabschiedete sich der Handwerker und polterte leise ächzend die Stufen hinunter.
Als erstes fielen Schorsch die vielen Heiligenbilder auf, die im Flur an der Wand hingen. Therese Reindl musste entweder Ikonen gesammelt haben oder sehr gläubig gewesen sein. Oder beides.
Links ging es in die Essküche. Über der Eckbank war ein klassischer Herrgottswinkel eingerichtet, samt Marienstatue, Palmzweig aus Plastik und gehäkeltem Platzdeckchen. Der Kühlschrank war mäßig gefüllt, hauptsächlich Obst und Gemüse, ein Tiefkühlfach gab es nicht. »Und auch keine Spülmaschine«, dachte Schorsch und betrachtete das ordentlich zum Trocknen abgestellte Frühstücksgeschirr für eine Person neben der blitzenden Spüle. Die offene Speisekammer enthielt ein paar Konserven und Teigwaren, die meisten Regalbretter waren aber entfernt worden, um für Wischmopp, Staubsauger und Co. Platz zu schaffen. Auf dem Hängekalender einer Apotheke waren kaum Termine eingetragen. Zahnreinigung 17h stand an einem Mittwoch des Vormonats, und nächste Woche hätte Therese Reindl einen Friseurtermin gehabt. Keine Erinnerungen an Geburtstage, keine geplanten Treffen mit Freunden. Der Restmülleimer war leer, im braunen Deckelbehälter für Biomüll lagen nur ein gebrauchter Kaffeefilter, die Schalen des Frühstückseis und ein Apfelbutzen. Das Altpapier hatte die Verstorbene in der großen Papiertüte einer Bäckereikette gesammelt. Schorsch schaute es durch, fand aber weder gebrauchte Kinokarten noch den Prospekt einer Kunstausstellung oder den eines Reisebüros.
Der Kommissar öffnete die nächste Tür und erschrak. Ein großes Kruzifix schmückte die Wand des Schlafzimmers. Der zum Gerippe abgemagerte Jesus Christus blickte leidend auf das akkurat aufgeschüttelte und mittig auf dem Einzelbett ausgerichtete Kopfkissen. »Nicht unbedingt das, was ich als erstes beim Aufwachen sehen möchte«, murmelte er halblaut vor sich hin. Als Bayer war er selbstredend im katholischen Glauben erzogen worden, aber der sterbende, von Nägeln und Lanze durchstoßene Sohn Gottes am Kreuz hatte ihn schon immer ähnlich schaudern lassen wie die ausgestopften Tierkadavertrophäen einer Treibjagd. Auch die zerlesene Bibel auf dem Nachttisch weckte eher unangenehme Erinnerungen in ihm. Der Kleiderschrank war ein zweitüriges Relikt aus den Sechzigerjahren. Therese Reindl schien praktische, schlichte Kleidung bevorzugt zu haben, was auch der Inhalt der Kommodenschubladen bestätigte: Neben einer kleinen Auswahl an Bettwäsche und Handtüchern lagen zwei weiße Nachthemden.
Auf dem Wohnzimmertisch vor dem leicht abgestoßenen Zweiersofa lag ein angefangenes Puzzle mit einem Wintermotiv von Schloss Neuschwanstein. Doch es war nicht der Anblick des Schnees, der Schorsch frösteln ließ, sondern die kühle Atmosphäre in der spartanisch eingerichteten Wohnung. Keine Pflanzen, keine persönlichen Bilder, nicht einmal ein Sofakissen. Selbst einen Fernseher oder ein Radio suchte der Kommissar vergebens.
Auch im Badezimmer standen lediglich die notwendigsten Pflegeprodukte, systematisch aufgereiht und allesamt Eigenmarken vom Discounter. Schorsch zog einen Beweismittelbeutel aus der Hosentasche und legte die Zahnbürste hinein. Im Spiegelschrank waren an Medikamenten nur Kopfschmerztabletten und ein homöopathisches Mittel gegen Wechseljahresbeschwerden zu finden.
»Aber irgendwo muss sie ja ihre Unterlagen, Fotos, Erinnerungen und so weiter aufbewahrt haben!«, dachte er und betrat den dritten Raum der Wohnung. Ein kleines Zimmer, nur circa zwei mal drei Meter groß. Typisch für Münchner Altbauwohnungen. Hier hatte Therese Reindl ihr Bügelbrett und den Wäscheständer untergebracht, beides ordentlich zusammengeklappt und an die Wand gelehnt. Eine hohe Eckkommode hatte der Verstorbenen wohl als Büroschrank gedient. Hier lagerten Schreibutensilien, Klebeband, Locher und Hefter. Zwei Ordner, die mit Versicherungen und Arbeit