Gemeinsam sind wir tot - Sabine Schumacher - E-Book

Gemeinsam sind wir tot E-Book

Sabine Schumacher

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Beschreibung

'Bald, ganz bald, würde wieder ein Teil von ihr zu ihm zurückkommen. Er zwang sich, sein Schritttempo beizubehalten. Die Zeit war genau berechnet. Er durfte nicht rennen, keine Fehler machen.' München. Unvermittelt wird Kriminalhauptkommissar Franz Branntwein in den Strudel einer makabren Mordserie gerissen. Gemein haben die Opfer zunächst nur, dass ihnen Gliedmaßen mit einer Knochensäge kunstfertig abgetrennt wurden. Die Suche nach dem Täter und dessen Motiven gerät für den koffeinsüchtigen Bayern und sein buntes Ermittlerteam zu einem Wettlauf gegen die Zeit. Der Täter kommt immer näher. Und er ist noch nicht fertig. "Spannend und unterhaltsam geschrieben, mit viel Lokalkolorit aus München."

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Seitenzahl: 409

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Inhaltsverzeichnis

Montag

Dienstag

Mittwoch

Donnerstag

Freitag

Samstag

Im Tod liegt die wahre Probe

Prolog

Montag

MONTAG

Hiltrud Wahrenstein genoss die Einsamkeit, die so früh am Morgen über dem Luitpoldpark lag. Es gehörte zu ihren täglichen Gewohnheiten, ein paar Schritte spazieren zu gehen, solange sie die Wege noch fast für sich allein hatte; selbst an einem Tag wie heute, wenn die Vögel in den Büschen Schutz vor dem Regen suchten und vereinzelte Böen die dichten Kronen der Laubbäume schwanken ließen. Struktur war wichtig im Leben, davon war sie überzeugt. Gerade im Alter. „Von so ein bisschen Schietwedder lässt sich eine Hamburger Deern nicht aufhalten!“, dachte sie entschlossen und schritt beherzt um die nächste Ecke.

Was sie dort sah, erfasste ihr Verstand erst auf den zweiten Blick: Zunächst war sie unbeirrt ein paar Schritte weitergegangen, blieb dann jedoch abrupt stehen und schaute erschrocken zurück. Zwischen den nassen Gräsern und Blumen zu ihrer Linken lag etwas in der Wiese. „Eine Frau!“, dachte sie ungläubig. „Da liegt eine Frau!“ Der Schirm entglitt ihrer Hand, als sie zögernd nähertrat. Er wurde vom Wind erfasst und davongetragen. Sie merkte es nicht. „Hallo?“, flüsterte sie ängstlich, erhielt jedoch keine Antwort. Reflexartig griff sie in die Tasche ihrer Regenjacke und tastete mit zitternden Fingern nach dem großen Notfallknopf auf der Rückseite ihres Senioren-Handys. Während sie ihn drückte, rief sie mit gellender Stimme nach Matjes.

Rund eine halbe Stunde später stand Kriminalhauptkommissar Franz Branntwein vor der Leiche, die wie selbstverständlich inmitten des nassen Grüns lag. Der Regen hatte ihr Kleid und die Sandalen durchtränkt. Dicke Tropfen perlten auf der blassen Haut und liefen in kleinen Rinnsalen über die nackten Arme und Beine. Der Wind hatte das halblange, dunkle Haar quer übers Gesicht geweht, nur eines der offenstehenden Augen und ein Teil der Wange waren zu sehen. Dort, wo eigentlich die Hände hätten sein müssen, blitzen die Unterarmknochen hell aus dem umliegenden Gewebe hervor.

Branntwein schätzte die Frau auf Mitte zwanzig. Trotz der Gewalt, die ihr offensichtlich angetan worden war, meinte er eine tiefe Aura des Friedens wahrzunehmen, die ihn gleichermaßen berührte wie irritierte.

Die Kollegen der Spurensicherung zerstörten diesen mystischen Moment. Mit ihrem Eintreffen herrschte hektisches Treiben. Um den Regen abzuhalten, sollte möglichst schnell ein Zelt-Pavillon über dem Fundort aufgebaut werden. Das war offenbar nicht so einfach. Flüche wurden laut, Stangen fielen zu Boden. Ein Mitarbeiter stellte lautstark die Intelligenz des anderen in Frage: „Jetzt pass‘ halt auf, du Depp!“

Branntwein, der sich tief über die Leiche gebeugt hatte, gab den Versuch auf, das Tohuwabohu um ihn herum auszublenden. „Können Sie schon etwas sagen?“, fragte er und richtete sich ächzend auf.

Die Rechtsmedizinerin Dr. Elisabeth Schneider kniete neben dem Gesicht der Toten auf der matschigen Wiese. Eingehüllt in einen weißen Overall der KTU und mit schwarzen Gummistiefeln an den Füßen, taxierte sie seine ungelenken Bewegungen mit spöttischem Blick.

Branntwein ignorierte ihren wortlosen Kommentar. Um sieben Uhr in der Früh, also eigentlich noch vor dem Aufstehen, hatte er keine Ambitionen, sich mit Anspielungen auf seine körperliche Fitness auseinanderzusetzen. Und schon gar nicht, wenn diese von einer mindestens zehn Jahre Jüngeren kamen, die wahrscheinlich jeden Morgen fünf Kilometer joggte, bevor sie auf die Toilette ging.

Tatsächlich wusste der Kommissar über Elisabeth Schneider nur, dass sie ursprünglich aus Düsseldorf stammte, noch nicht lange in der bayerischen Landeshauptstadt wohnte und angeblich ein zurückgezogenes Leben führte. Im Kollegenkreis galt sie als umweltbewusst und sportlich. Branntwein bildete sich gerade sein eigenes Urteil. Auf den Punkt gebracht lautete es: „Schnepfe!“

„Keine äußerlichen Verletzungen, auf den ersten Blick, bis auf die postmortale Amputation beider Hände“, begann Schneider mit ihrer Begutachtung der Leiche. Sie lupfte kurz das Kleid der Toten und spähte darunter. „Vollständig bekleidet.“

„Sie war also schon tot, als ihr die Hände entfernt wurden?“

„Ja.“ Schneider wischte sich mit dem Ärmel ihres Schutzanzuges Regentropfen aus dem Gesicht.

„Wissen wir, wer sie ist?“

„Irene Schmalgassner, achtundzwanzig Jahre alt. Gemeldet ist sie in der Karl-Theodor-Straße. Ihr Portemonnaie mit Ausweis, Schlüssel, Handy und so weiter lagen dort drüben in der Handtasche.“ Sie zeigte auf ein gelbes Markierungsfähnchen der Spurensicherung, das circa einen Meter entfernt im nassen Boden steckte.

„Dann hat sie ja gleich um die Ecke gewohnt!“ Branntwein wandte den Kopf automatisch in die entsprechende Richtung. „Vielleicht war sie auf dem Heimweg und ist dabei hier durch den Park gegangen.“

„Das herauszufinden, ist Ihre Sache, Herr Kommissar.“

Branntwein seufzte. „Natürlich. Haben Sie mitbekommen, wer die Leiche gefunden hat?“, fragte er und blickte sich suchend um.

„Nein. Vermutlich ein Jogger oder eine Joggerin“, mutmaßte Schneider. „Aber falls Sie Ihre Assistentin vermissen – die wird wohl mit dem Zeugen oder der Zeugin im Polizeibus sitzen. Da ist es nämlich trocken.“ Wieder dieser herablassende Blick.

„Bei dem Wetter joggen!? Das ist doch Schwachsinn!“, blaffte Branntwein, dem die Arroganz der Rechtsmedizinerin zunehmend auf die Nerven ging.

„Nein, Sie…“ – „Dummerchen“ lag Schneider auf der Zunge, doch sie beherrschte sich – „…liegen falsch“, vervollständigte sie den Satz und zog den Reißverschluss ihres Schutzanzuges ein Stück herunter. Zum Vorschein kam ein modernes Sportshirt. „Ich war ebenfalls gerade Laufen, als mich der Anruf zum Fund der Leiche erreichte. „Das ist Funktionskleidung. Extra für Schmuddelwetter. Der Regen perlt einfach daran ab“, belehrte sie ihn.

„Das ist bestimmt wahnsinnig interessant, Frau Doktor.“ – „…nur halt nicht für mich“, fügte er in Gedanken hinzu. Ihm waren diese Sport- und Gesundheitsfanatiker suspekt. Seine Tochter war genauso, wenn auch eine liebenswerte Ausnahme, was seine Neigung zur Zuneigung für sie anging. Noch vor der ersten Tasse grünen Tees am Morgen machte sie eine halbe Stunde Yoga. Innerlich schüttelte es ihn. Wegen des Tees – und des Yogas. „Sag‘ ich doch: Schwachsinn!“, brummelte er leise vor sich hin.

Ihn hatte das Telefon durch penetrantes Dauerklingeln zunächst aus dem Tiefschlaf gerissen, dann aus dem Bett und schließlich – ohne Kaffee getrunken zu haben – aus dem Haus gescheucht. Wer ihn kannte, der wusste, dass diese Tatsache an sich schon seine gewisse Übellaunigkeit erklärte. Dazu die erfolglosen Bemühungen der Spurensicherung, den Tatort von oben trocken zu bekommen, gekoppelt mit der arroganten Art der Rechtsmedizinerin – das alles zusammen überstieg seine Toleranzgrenze exorbitant.

„Ja Zefix!“ blaffte er. „Geht denn das nicht ein bisschen schneller? Handwerkliches Geschick ist offensichtlich kein Einstellungskriterium bei der SpuSi, oder?“

Steter Regen tropfte in den Kragen seiner – für dieses Wetter nur bedingt geeigneten, aber heißgeliebten – Jeansjacke. Und er spürte genau, wo die undichten Stellen an den Sohlen seiner Turnschuhe saßen. Bald würde er bis auf die Knochen durchnässt sein. Trotz des eher lauen Regens wurde ihm kalt. Prompt traf ihn eine der Stangen am Allerwertesten. Matsch spritzte auf. Bestimmt ein Versehen.

„Das ist halt nicht so einfach bei dem Dreckswetter und wenn zwei mit Grippe zu Hause im warmen Bettchen liegen!“, gab Conrad Fleischmann, selbst langjähriger Mitarbeiter der Spurensicherung und gebürtiger Münchner obendrein, ebenso unwirsch zurück. „Ist doch wahr! Soll er‘s halt selbst machen, wenn ihm was nicht passt“, grummelte er, während er den letzten Zeltpfosten im weichen Boden versenkte, mit einer Schnur fixierte und sich schnell wieder vom unleidigen Branntwein entfernte.

Schneider hob den Kopf der Leiche an und tastete die Halswirbelsäule ab. „Kein Genickbruch“, diagnostizierte sie. „Auch keine sonstigen Verletzungen am Schädel, soweit erkennbar.“

In diesem Moment blies ein Windstoß der Toten die Haare aus dem Gesicht und legte ein großes, violettes Mal frei, das sich, bei der Stirn angefangen, fast über die komplette linke Gesichtshälfte zog und diese völlig entstellte. Das Gewebe war verdickt und mit Knötchen durchsetzt.

Branntwein zuckte zusammen. „Boah, is‘ des greislich!“ Gleich darauf schämte er sich seines Gedankens.

Schneider blieb ungerührt und schob die Haare vorsichtig noch weiter aus der Stirn der Toten. „Naevus flammeus, im Volksmund oft als ‚Feuermal‘ bezeichnet“, deklarierte sie dabei mit fester Stimme. „Meist von Geburt an vorhanden oder im frühen Kindesalter entwickelt.“

Der Kommissar brauchte etwas länger, um sich zu sammeln. Er schluckte. „So was wie bei Gorbatschow?“, fragte er nach, um Zeit zu gewinnen.

„Genau.“ Schneider runzelte die Stirn. „Aber eigentlich wollte ich Sie auf etwas anderes hinweisen.“ Sie rückte ein Stückchen nach unten und beugte sich vor, um Branntwein die schwachen Druckstellen zu zeigen, die sich gut fünf Zentimeter oberhalb der Amputationsschnitte befanden und rund um die Stümpfe führten. „Sieht aus, als hätte der Täter – oder die Täterin – die Blutzufuhr unterbunden, bevor er – oder sie – die Hände entfernte.“

„Er wollte also keine Sauerei anrichten, oder wie soll ich das verstehen?“

„Ich habe leider keine hellseherischen Fähigkeiten und kann Ihnen deshalb auch nicht beantworten, ob er – oder sie – das Blut vor der Amputation aus ästhetischen oder eher praktischen Gründen gestaut hat.“ Schneider kämpfte mit erhobener Stimme gegen den nun immer lauter auf die Plane prasselnden Regen an. „Aber möglich wäre es“, räumte sie ein. Mühelos richtete sie sich auf und blickte den Kommissar abwartend an.

Der musste kurz wegsehen. Er räusperte sich und versteckte sein Grinsen hinter der geschlossenen Faust vor dem Mund. Trotz seiner schlechten Laune und der Leiche neben sich hätte er am liebsten laut losgelacht. Die Schneiderin sah in ihrem matschbefleckten, ursprünglich weißen Overall wie Hereford-Rind aus. Die Ähnlichkeit mit jener Rasse, die bekannt ist für ihren hellen Kopf und die braunen Flecken, war frappierend. Kindheitserinnerungen wurden wach. Sein Großvater hatte ein paar davon auf dem Hof gehalten. – „Ähm… ja! Und dass das Fesselspuren sind? Was meinen Sie?“

„Nein. Die Folgen einer Fesselung wären wesentlich deutlicher zu sehen. Hier wurde kurzzeitig eine Art Gürtel oder Ähnliches angelegt.“

„Wir haben es also mit einem Täter zu tun, der sich einfach nur die Hände geschnappt und die Frau ansonsten völlig unversehrt zurückgelassen hat?“ Branntwein konnte sich das nicht so recht vorstellen. Er schüttelte den Kopf.

„Oder einer Täterin“, ergänzte Schneider. „Es könnte auch eine Frau gewesen sein.“

„Trotzdem muss sie sich doch gewehrt haben! Ich meine, wer lässt sich denn einfach so mitten im Luitpoldpark die Hände abtrennen!?“

„Während Sie vorhin Ihren – hm… ‚Platzhirschanpruch‘ gegenüber Kollege Fleischmann deutlich gemacht haben“, sie legte eine kurze Kunstpause ein, „habe ich etwas Interessantes entdeckt. Vielleicht bringt Sie das der Lösung ein wenig näher, Herr Branntwein.“ Sie zeigte auf die linke Armbeuge der Toten. „Ein Einstich. Wie von einer Insulinspritze. Jedenfalls mit einer sehr dünnen Nadel vorgenommen.“

Branntwein entschied, auch den „Platzhirsch“ zu überhören. Da stand er doch drüber. Was verstand eine Zugereiste aus Düsseldorf schon von einem grantigen, nassen Oberbayern auf Koffeinentzug? Eben! Nix. „Der Täter hat ihr also etwas injiziert?“ Für ihn war ein Täter ein Täter. Egal ob weiblich, männlich oder divers. „Meinen Sie, das hat sie umgebracht? Also das, was er ihr gespritzt hat?“

„Momentan kann ich keine anderen Hinweise auf die Todesursache erkennen, aber Genaueres – wie immer – erst nach der Obduktion.“ Schneider begann, ihre Sachen zusammenzupacken.

„Ja, schon klar. Wie immer.“ Diesen Satz sogen Rechtsmediziner vermutlich mit der Muttermilch auf. Branntwein betrachtete erneut die bleichen Knochenenden, die im inzwischen aufgebauten Scheinwerferlicht der Spurensicherung gespenstisch zu leuchten schienen. „Was glauben Sie, womit hat er das gemacht?“ fragte er nachdenklich. „Das sieht so… – gekonnt aus.“ Er kratzte sich am Nacken, wo immer noch einzelne Tropfen Regenwasser aus seinen Haaren in den Kragen liefen. „Erinnert mich fast ein bisschen an Ochsenschwanz beim Metzger – nur halt mit zwei Knochen statt einem.“

Schneider warf ihm einen schrägen Blick zu. „Sie sind richtig gruselig, Herr Kriminalhauptkommissar. Aber es stimmt schon, der Täter – oder die Täterin – hatte gutes Werkzeug dabei: Eine Knochensäge wäre möglich; oder ein elektrisches Messer – in beiden Fällen batteriebetrieben und mit kleinen Zacken. Für eine manuelle Entfernung sind die Wunden zu gleichmäßig. Aber Genaueres…“

„…erst nach der Obduktion“. Franz Branntwein wandte sich ab. Mittlerweile war es der SpuSi gelungen, die nähere Umgebung abzusichern. Er konnte sich also frei bewegen. Wenn er das denn wollte. Bei dem Sauwetter. Absperrbänder flatterten neben etlichen gelben Fähnchen im Wind.

Da fiel ihm noch etwas ein: „Was denken Sie, wie lange die Tote da schon liegt?“ rief er Schneider hinterher, die sich mit ihrem Koffer bereits auf dem Weg zu ihrem Elektroauto gemacht hatte.

Sie drehte sich um. „So sieben bis zehn Stunden ungefähr!“ Gen…“

„Sag’s nicht“, murmelte Branntwein.

„…aueres erst nach der Obduktion!“

Der Kommissar atmete tief durch, hob grüßend die Hand und verließ das schützende Zeltdach. Er strebte in Richtung Polizeibus, wo er sich ein trockenes Plätzchen, seine Assistentin und eine hilfreiche Zeugin erhoffte. Auf dem Weg dorthin traf er Conrad Fleischmann.

„Was ist damit?“, fragte Branntwein und deutete auf einen zusammengeklappten Schirm, den Fleischmann in der Hand hielt.

„Könnte vom Opfer sein, ’s regnet ja schon die halbe Nacht, und bis jetzt haben wir keine Jacke oder so in der Nähe des Tatorts gefunden.“

„Gib mal her.“

Fleischmann zögerte. „Du, Franz, das ist ein Beweisstück…“

Branntwein hielt ihm weiterhin die ausgestreckte Hand entgegen und knurrte ungeduldig. „Ich werd‘ nass bis auf die Knochen – und ich hatte heut‘ noch keinen Kaffee.“

Der Kollege gab sich geschlagen. „Na gut – aber ich weiß von nix, wenn mich einer fragt. Den Mist kannst‘ dann allein auslöffeln.“

„Is‘ scho‘ recht.“ Branntwein spannte den Schirm auf. „Und – habt’s was Brauchbares gefunden?“ Er blickte den etwa Gleichaltrigen fragend an. Sie hatten etliche Einsätze zusammen erlebt. Dass der Ton zwischen ihnen manchmal ein wenig ruppig werden konnte, vor allem in den frühen Morgenstunden, war nichts Neues. „Die Hände zum Beispiel?“ ergänzte er hoffnungsvoll.

„Nö, keine Hände. Die wurden wohl mitgenommen. Aber jede Menge anderer Spuren...“

Branntwein horchte interessiert auf.

„…hätten wir finden können, wenn’s nicht so pissen würde“, feixte Fleischmann und grinste.

„Depp!“ Branntwein knuffte den anderen leicht auf den Oberarm, was – gemeinsam mit der Wortwahl – einem Friedensangebot gleichkam.

Conrad Fleischmann fasste das auch so auf. „Also, ein bisschen was haben wir schon entdeckt, aber halt nichts Gescheites: Ein paar unterschiedliche Fußspuren, größtenteils schon sehr verwaschen, ein paar gebrauchte Gummis, also Kondome, aber die schaun‘ schon älter aus. Zwei rostige Fahrräder, einen Frauenschuh, der gehört aber nicht der Leiche, die hat ihre ja noch an. Jede Menge Hundescheiße und Zigarettenkippen… Wie immer, überhaupt halt viel Müll.“ Er zuckte die Schultern. „Ist alles schon so gut wie auf dem Weg ins Labor. Ich muss dann auch mal weiter, Franz.“ Er wandte sich zum Gehen, blieb jedoch abermals stehen. „Eins noch: Neben der Leiche, also direkt daneben, war in der Wiese trotz des Mistwetters ein rechteckiger Abdruck zu erkennen. Irgendwas hat da eine Weile gestanden.“ Fleischmann deutete mit den Händen vage eine Fläche von circa einhundertzwanzig auf einhundert Zentimeter an. „Die Fotos hast du in spätestens zwei Stunden.“ Mit einem „Gott zum Gruße, Franz!“ verabschiedete er sich endgültig.

„Servus, Conni. Und danke“, antwortete Branntwein. Gleich darauf musste er herzhaft niesen. Na, großartig! Hoffentlich würde er nicht krank werden. Höchste Zeit, in den warmen Bus zu kommen. Er schüttelte, so gut er konnte, das Wasser aus seinen Haaren, zog den hochgestellten Kragen seiner Jeansjacke gerade, was er zuletzt als Teenager getan hatte, und eilte endlich trockeneren Gefilden entgegen.

Kurz vor dem Polizeiauto kam ihm Susanne Nowak entgegen. Seine neue Assistentin bildete in ihrem gelben Regenmantel, unter dem ein bunt gestreifter Strickpullover hervorlugte, und den rosa Gummistiefeln einen willkommenen Kontrast zur Tristesse der Umgebung. Branntwein fiel auf, dass scheinbar jeder passende Kleidung trug – nur er nicht. Seine letzten Gummistiefel hatte er als kleiner Bub besessen.

„Hallo, guten Morgen Chef!“ Susi trat zu ihm unter den Regenschirm und streifte die Kapuze ab. „Ist das nicht aufregend? Meine erste Leiche!“, sagte sie mit funkelnden Augen.

Branntwein gefiel dieser Eifer. Aber noch besser gefiel ihm, was seine Assistentin in der Hand hielt. „Dir auch einen guten Morgen, Susi“, grüßte er zurück und schielte auf den Pappbecher. „Ist der für mich?“, fügte er optimistisch hinzu. „Kaffee?“

Sie grinste. „Ein Informant, der nicht genannt werden möchte“, – sie blinzelte verschwörerisch und zeigte in Richtung des Fahrzeugs der Spurensicherung – „hat mir verraten, dass man Ihnen lieber nicht zu nahekommt, solange Sie nicht ein wenig Koffein im Blut haben.“ Sie reichte ihm den Becher. „Also war ich kurz am Kiosk beim Scheidplatz und habe Ihnen einen geholt. Mit viel Milch und viel Zucker.“

Branntwein grunzte erfreut und trank einen großen Schluck der mittlerweile lauwarmen U-Bahnhofs-Plörre. „Danke, Susi, das war echt lieb von dir!“ Sie gingen gemeinsam die letzten Meter zum Polizeibus. „Bei Gelegenheit geb‘ ich mal einen aus.“

„Reiner Selbsterhaltungstrieb, Chef“, konterte sie.

Er überlegte kurz, was Conni Susi eigentlich genau über ihn erzählt haben mochte, schüttelte den Gedanken jedoch schnell wieder ab. Jetzt galt es, einen Mord aufzuklären. Noch dazu einen mit besonders viel Gewaltbereitschaft. „Hast du schon die Personalien von dem Jogger aufgenommen?“

„Von welchem Jogger?“ Susi sah ihn erschrocken an. „Mir hat niemand etwas von einem Jogger gesagt, Chef!“

„Was? – Dann war‘s halt eine Joggerin!“

„Ich versteh‘ nicht...“

„Das Wesen, das die Tote gefunden hat!“

„Ach so! Puh! Jetzt! Eine Frau. Aber die war nicht joggen, die war spazieren. Also ‚Gassi‘ eigentlich. Und ja: Die Personalien habe ich aufgenommen.“ Sie zückte ihr Smartphone und las vor: „Frau Hiltrud Wahrenstein, geboren am 13. April 1938 in Hamburg, wohnhaft in München in der Rümannstraße.“ Sie sah auf. „Gleich gegenüber also. Telefonnummer habe ich auch.“ Sie scrollte auf dem Display ein wenig nach unten. „Gefunden hat sie die Leiche um circa sechs Uhr, hat sie gesagt, und dann gleich die Polizei verständigt.“

„Und? Hat sie was gesehen?“

„Mit der eigentlichen Befragung wollte ich lieber auf Sie warten, Chef. Ich hoffe, das war in Ordnung.“

„Ja klar.“ Er reichte ihr lächelnd den Becher, klappte den Schirm zusammen und öffnete die Tür des Mannschaftswagens. „Jetzt aber nichts wie rein ins Trockene“, sagte er und ließ seiner Assistentin höflich den Vortritt.

Unvermittelt wurden sie von einer Dunstwolke umhüllt, bestehend aus Körperpuder und einem Duft, den der Kommissar auf die Schnelle nicht zuordnen konnte. Zudem war es extrem dampfig im Bus. Er entschied, die Schiebetür offen zu lassen. Der Regen hatte inzwischen etwas nachgelassen.

„Guten Morgen, Frau Wahrenstein, ich bin Kriminalhauptkommissar Franz Branntwein. Meine Assistentin Frau Nowak kennen Sie ja schon.“ Er setzte sich der Zeugin gegenüber, Susi nahm neben ihm Platz. Sie zückte ihr Smartphone, was ihn leicht irritierte. Er selbst hielt sich normalerweise an sein gutes altes Notizbuch, das er nun aber stecken ließ.

„Moin-Moin, Herr Hauptkommissar.“ Die ältere Dame, machte einen netten und gepflegten Eindruck. Sie blickte ihn erfreut an. „Ah! Sie bringen mir meinen Schirm zurück! Das ist schön.“

„Äh – ja! Bitte sehr!“ Branntwein errötete leicht.

Hiltrud Wahrenstein wirkte trotz des Leichenfundes gefasst. Ein kleiner weißer Hund lag friedlich stinkend zu ihren Füßen. Leider stellte sich schnell heraus, dass die Zeugin zur Lösung des morgendlichen Rätsels nur wenig, bis gar nichts beitragen konnte. „Wissen Sie, Herr Kommissar, der Matjes und ich, wir gehen in der Früh immer nur ein kleines Stückchen spazieren. Von gegenüber, wo ich wohne, über die Straße und dann im Park den Weg entlang, bis zur Abzweigung, wo die dichten Hecken hinter der Wiese wachsen. Ich kann mich nicht mehr so gut bücken, und…“ Sie zögerte.

Branntwein, der ahnte, was nun kommen sollte, nickte ihr aufmunternd zu. „Wir sind von der Kripo, Frau Wahrenstein. Hundekotbeutel interessieren uns nicht.“

Sie schien erleichtert. „Ja also, der Matjes geht dort immer zwischen die Büsche und dann drehen wir auch schon wieder um. Wir sind keiner Menschenseele begegnet. Draußen auf der Straße schon, aber nicht hier im Park. Es ist ja auch ein Schietwedder heute, wie wir zu Hause immer gesagt haben. Nachmittags gehen wir länger. Auch wenn dann meistens viele Leute unterwegs sind, was uns eigentlich gar nicht so recht ist. Aber es ist ja so schön, einen Park gleich gegenüber zu haben. Sonst hätte ich gar keinen Hund. In der Stadt einen Hund zu halten, ohne Garten oder Park, das finde ich nicht gut. Dann doch lieber einen Wellensittich oder einen Kanarienvogel. Meine Schwester hatte mal einen Hamster, aber der hat nicht lange gelebt. Dann hat sie…“

„Äh… ja! Frau Wahrenstein“, unterbrach Branntwein, „wir hätten da einen Mord aufzuklären – und ein paar Fragen dazu.“

Die ältere Dame sah ihn mit erhobenen Augenbrauen an und schien leicht pikiert über den schnöden Stopp ihres Redeschwalls.

„Ich hatte auch mal einen Hamster, der leider nicht alt geworden ist“, warf Susi ein und zog so die Aufmerksamkeit auf sich. Sie machte eine kurze Pause. „Die Frau, die Sie gefunden haben, war ebenfalls noch sehr jung.“

Hiltrud Wahrenstein nickte betrübt. „Eine schreckliche Geschichte. Eine ganz schreckliche Geschichte.“ Sie blicke zu Branntwein. „Wie kann ich Ihnen helfen, Herr Oberhauptkommissar?“

Der räusperte sich ausgiebig vor seiner nächsten Frage: „Haben Sie irgendetwas am Tatort angefasst oder verändert? Zum Beispiel das Kleid der Toten heruntergezogen?“

Die alte Dame griff sich erschrocken an die Brust und schüttelte sich leicht. „Aber nein, natürlich nicht!“

„Oder vielleicht Ihr Hund? Also, hat der Matjes die Leiche irgendwie berührt?“

„Nein, auch nicht. Der ist bestimmt einen Meter an ihr vorbeigelaufen. Er riecht nicht mehr so gut, wissen Sie, und sehen kann er auch fast nichts mehr. Die Ohren funktionieren aber einwandfrei. Bei meiner Großtante väterlicherseits war das genau andersrum, die konnte…“

Branntwein sprang auf. „Gut. Vielen Dank für Ihre Hilfe, Frau Wahrenstein. Falls wir noch Fragen haben, melden wir uns bei Ihnen. Wenn Sie möchten, kann Sie Frau Nowak nach Hause begleiten.“

Die nickte zustimmend. „Gerne. Und anschließend zur Dienststelle?“

„Ja.“ Er wollte sich schon abwenden, als ihm doch noch etwas einfiel. „Frau Wahrenstein, haben Sie vielleicht einen rechteckigen Gegenstand neben der Leiche abgestellt, gut einen Meter groß?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Habe ich nicht. Was sollte das denn sein?“

„Genau das frage ich mich auch“, murmelte der Kommissar nachdenklich, bevor er endgültig aus dem Bus stieg. „Genau das frage ich mich auch.“

***

Die Tür war gut versteckt und zusätzlich mit einem elektronischen Schloss gesichert. Die Tafel, über die der sechsstellige Code eingegeben werden musste, befand sich rechts daneben. Flink tippte er den PIN ein. Die Tür öffnete sich automatisch und nahezu geräuschlos.

Dahinter herrschte undurchdringliche Schwärze. Ein kühler Luftzug streifte seine Wangen. Es roch nach Essigreiniger und Silikon. Er tastete nach dem Lichtschalter. Als er ihn fand, wurde der vierundzwanzig Quadratmeter große Raum in helles Licht getaucht. Er trat ein. Gleich hinter der Tür befand sich ein roter Knopf an der Wand. Nachdem er ihn gedrückt hatte, schloss sich die Türe wieder. Ein leises Klicken verriet, dass sie sich verriegelt hatte. Die Welt war ausgesperrt. Niemand ahnte etwas von diesem Versteck. Keiner wusste, wo er sich befand. Bis auf ein stetes Brummen war nur sein eigener Atem zu hören. Sämtliche Geräusche von außen wurden vom Erdreich um ihn herum verschluckt. Stolz fiel sein Blick auf den großen Tisch, der frei in der Mitte stand. An der Wand gegenüber war eine circa einen Meter lange Waschwanne mit Handbrause befestigt. Ein Hocker und ein Rollcontainer mit abnehmbarem Tablett und mehreren Schubladen rundeten die funktionale Einrichtung aus poliertem Edelstahl ab.

Er hatte lange an diesem Geheimversteck gearbeitet, sich mühsam und möglichst unauffällig Stück für Stück gekauft und das Mobiliar hierhergeschafft. Auch das Waschbecken und die Lüftungsanlage hatte er selbst installiert. Nur die Kühlanlage mit den Glasschiebetüren, die eine halbe Wandbreite einnahmen, hatte er sich liefern und einbauen lassen. Eine Maßanfertigung, von der ein fünfzig mal fünfzig Zentimeter großer Bereich mit Innenbeleuchtung und Gefrierfunktion ausgestattet war. Allerdings war dies schon vor langer Zeit geschehen; bevor er sich der restlichen Fertigstellung gewidmet und ein Handwerker hätte erahnen können, wozu dieser Raum einmal dienen würde. Nicht einmal er selbst hatte es gewusst. Damals hatte eine kleine Gefriertruhe noch ausgereicht.

Die Wände waren, ebenso wie der Boden, komplett gefliest. Aufgrund eines leichten Gefälles konnte das gesamte Versteck bei Bedarf mit dem Schlauch der Waschwanne gesäubert werden. Der Ablauf befand sich unter dem Tisch. Es gab keine Fenster. Die an der tiefhängenden Decke angebrachten Neonröhren tauchten die Szenerie in grelles Licht.

Nur ein kleiner Bereich war von der sterilen Atmosphäre ausgenommen und stand in krassem Gegensatz zur sonstigen Einrichtung: Hinter einem Paravent aus Akazienholz, der mit dem Fotodruck einer blühenden Sommerwiese bespannt war, standen verborgen ein Zweisitzer-Sofa und ein antiker, runder Beistelltisch, der aus demselben Holz wie der Raumteiler gearbeitet war. Auf einem passenden Sideboard war eine kleine Stereoanlage aufgebaut. Die kunstvoll geschmiedete Stehlampe mit dem großen Schirm, die in der Ecke stand, komplettierte das Bild. Teppich und Tapete fehlten auch hier. Als hätte ein Kind das Badezimmer einer Puppenstube mit den Einrichtungsgegenständen des Wohnzimmers bestückt.

Er passierte den Paravent unbeachtet, ging zielstrebig zum großen Stahltisch und stellte eine große Kühlbox darauf ab, die er mitgebracht hatte. Seine Regenjacke hängte er an einen dafür vorgesehenen Haken an der Wand und atmete tief ein und aus. Er entnahm dem Rollcontainer ein Hackbeil, ein Päckchen Nahtmaterial, eine kleine Glasflasche mit siebzigprozentigem Alkohol, ein Skalpell und eine Pinzette. Er legte alles rechts neben sich auf die Edelstahlfläche. Dann stand er ganz still und hielt die Augen geschlossen. Machte sich die Einzigartigkeit dieses Augenblickes bewusst. Ein Ruck ging durch seinen Körper.

Er öffnete den isolierten Koffer und legte dessen Inhalt behutsam vor sich auf den Tisch. Voller Zärtlichkeit strich er über die kalte, feuchte Haut. Er liebkoste und küsste sanft jedes einzelne Glied. Als er zuletzt beim kleinen Finger der rechten Hand ankam, zögerte er nur kurz. Blind griff er nach dem Beil. Mit einem schnellen, kräftigen Hieb, dessen Echo die Stille jäh zerriss, hackte er die Fingerspitze samt Fingernagel am Endgelenk ab. Er trat einen Schritt zurück, um sich von der Perfektion der Verstümmelung zu überzeugen. Während er die amputierte Fingerspitze mit der Pinzette aufnahm und in die Alkohollösung legte, lief eine einzelne Träne über seine Wange. Er war so glücklich!

Bedächtig legte er beide Hände auf das Tablett und trug sie zur Waschwanne. Äußerst sorgfältig entfernte er die letzten Blutreste an den Amputationsstellen und ging dabei so achtsam vor, als handle es sich nicht um Leichenteile, sondern um durchblutetes Gewebe, das Schmerz empfinden konnte. Wieder schloss er die Augen und spürte der Wärme des Wassers nach, die sein Gefühl, etwas Lebendiges zu berühren, noch verstärkte. „Endlich beginnt es. Du kommst wahrhaftig zu mir zurück“, flüsterte er. „Ich habe dich so schrecklich vermisst.“

„Und bald wirst du bei mir sein“, wisperte die Stimme in seinem Kopf.

Voller Glück drückte er eine der beiden Hände an seine Wange. Es war die rechte, die mit dem abgetrennten Fingerglied. Ergriffen führte er sie an seinen Mund, um den gesäuberten Stumpf zu liebkosen, ihn mit der Zunge zu umschmeicheln, wie er es in seiner Erinnerung schon so oft getan hatte. Mit einem Lächeln im Gesicht trug er die Hand zurück zur Arbeitsfläche und ließ sich auf dem Hocker nieder. Der stechende Schmerz, der ihm dabei in den Rücken fuhr, erinnerte ihn daran, dass er nicht mehr viel Zeit hatte, um sein Ziel zu erreichen.

Doch die Stimme in seinem Kopf sprach ihm Mut zu: „Du bist die Liebe meines Lebens. Zeige mir, dass ich auch die deine bin.“

„Gewiss, Liebste.“ Er nahm das Skalpell und das Päckchen mit dem Nahtmaterial. Mit geschickten Fingern verschloss er den kleinen Querschnitt. Mühsam stand er wieder auf, um die andere Hand zu holen und legte beide nebeneinander. Sie waren perfekt. Aus der Innentasche seiner Regenjacke zog er die herzförmige Schmuckschachtel hervor, in der er den schlichten, goldenen Ring schon so lange aufbewahrt hatte. Für genau diesen Moment, wie es ihm schien. Er selbst trug das passende Gegenstück. „Wir werden vereint sein, du und ich“. Er streifte den Reif über den Ringfinger der verstümmelten Hand: „Bis dass der Tod uns scheidet.“

***

„Wenigstens regnet es nicht mehr“, dachte Kriminalhauptkommissar Franz Branntwein erleichtert, während er auf die Kurzwahltaste seines Handys drückte. Mittlerweile war es fast acht Uhr, und die Chancen standen gut, dass sein Anruf angenommen werden würde. Tatsächlich hatte er schon nach dem zweiten Läuten Erfolg. „Guten Morgen, Mausi, ich bin’s!“ meldete er sich. „Gut geschlafen?“ Die Antwort war ein leises Knurren. Im Hintergrund konnte er eine Tastatur klappern hören.

„Frag mich das, wenn ich wach bin. Ich sitz‘ schon seit einer halben Stunde hier rum und krieg‘ die Augen nicht auf.“

„Skatabend?“, fragte Branntwein mitfühlend. Wieder nur ein Knurren. Diesmal ein zustimmendes.

„Au weh zwick! Aber ich brauch trotzdem deine Hilfe, Mausi. Ich steh hier klatschnass im Luitpoldpark. Bevor ich heimfahre und mich umziehe, musst du für mich bitte eine Person überprüfen. Die liegt hier nämlich und ist tot.“ Branntwein spürte sogar durchs Handy, wie „Mausi“, der eigentlich Joachim Mayer hieß, sich zusammenriss.

„Schieß los!“

„Irene Schmalgassner, achtundzwanzig Jahre alt, wohnhaft in der Karl-Theodor-Straße. Hausnummer hab‘ ich leider nicht.“

„Scheiße! So jung noch!“

„Ja, ist schon tragisch.“ Branntwein blickte gen Himmel, wo inzwischen ein wenig Blau durch die Wolken lugte. „Man hat ihr die Hände abgetrennt.“

„Oh Mann, dabei war‘s so schön ruhig die letzten Tage.“ Der Computerfachmann seufzte. „Ich schau‘ gleich, was ich rausfinden kann. Soll ich‘s dir dann aufs Handy schicken?“ Damit meinte er einen sicheren Ordner, den jeder Mitarbeiter des Teams auf dem Mobilfunkgerät installiert hatte. Sämtliche Informationen, die im Laufe eines Falles zusammenkamen, wurden verschlüsselt an diesen Speicherplatz geschickt. Im Idealfall war jeder immer auf dem neuesten Stand. Die Realität war allerdings nicht immer ideal.

„Ja, Mausi, mach‘ das bitte“, bestätigte Branntwein. „Und leg‘ doch auch gleich die neue Fallakte im PC an. Ich fahr‘ jetzt erstmal heim. Sorg‘ dafür, dass noch nichts an die Presse geht, bevor wir die Angehörigen verständigt haben. Und das mit den Händen halten wir auf jeden Fall zurück!“

„Eh klar, Franz. Also bis später dann.“

Sie beendeten das Gespräch. Auf Mayer war Verlass, das wusste Branntwein. Daran änderte auch der bescheuerte Spitzname nichts. Mausi war eine Koryphäe, ein begnadeter Internetspezialist und immens akribisch und einfallsreich, was seine Recherchen anging. Bis auf den monatlichen Skatabend und gelegentliche Feierabendbiere mit dem Team im „Bullentreff“ – einer Kneipe, nur ein paar Häuser vom Kommissariat entfernt – beschäftigte er sich ausschließlich mit dem Computer. Beruflich wie privat.

Auf einer Weihnachtsfeier vor einigen Jahren hatte ihm dies – analog zum steigenden Alkoholpegel – den Spott einiger Kollegen anderer Abteilungen eingebracht. Von „Du bist ja mit deinem Computer verheiratet“ über „Für echte Frauen gibt‘s keine Updates, da hat der Mayer Schiss“ gipfelte die Lästerei in der höhnischen Bemerkung: „Die Chinesen erfinden bestimmt bald die Cyberpartnerschaft, mit Computer-Ehefrauen und virtuellem Sex. Dann kann der Mayer endlich auch mal bumsen!“

Des Gelächters über seine Person endgültig überdrüssig geworden, hatte es Mayer – selbst von einigen Weißbieren, etlichen Obstlern und dem ungewohnten Genuss der Weihnachtsbowle angestachelt – nach mehreren Anläufen geschafft, auf seinen Stuhl zu steigen. Lauthals, wenn auch etwas undeutlich, hatte er seinen Kollegen zugerufen: „Ich hab‘ auch ‘ne Maus – aber die betrügt mich nicht oder will ständig Geld ausgeben! Und meinem Computer muss ich keine Blumen schenken oder an den Hochzeitstag denken!“ Er hatte mit ausgestrecktem Zeigefinger in der Luft herumgefuchtelt, sich mit der anderen Hand in den Schritt gefasst und pathetisch verkündet: „Und außerdem kann ich ihn hochfahren, so oft ich will!“ Damit hatte er die Lacher auf seiner Seite und den Spitznamen weg.

Auf der Heimfahrt hörte Branntwein Saxofonmusik. Dabei konnte er am besten nachdenken. Heute hatte er Coleman Hawkins eingelegt; er mochte den alten Sound. „Warum nur trennt jemand einer jungen Frau die Hände ab und lässt die Leiche dann einfach so liegen?“, grübelte er. „Mitsamt Handtasche und allem. Kein Missbrauch, keine sonstige äußere Gewalteinwirkung, soweit wir bis jetzt wissen. Nur diese Einstichstelle. Außerdem: Was ist mit den Händen geschehen? Mitgenommen? Weggeworfen? Vergraben? Und wozu?“

Während er seinen alten Golf auf dem Stellplatz vor dem Mietshaus parkte, in dem er wohnte, musste er sich eingestehen, dass er keine dieser Fragen beantworten konnte. In diesem Moment piepste sein Handy. Eine Nachricht von Susi. Sie war wieder im Polizeipräsidium und wartete dort auf ihn. In der Zwischenzeit würde sie schon anfangen, den Bericht zu schreiben. Branntwein schickte lächelnd einen erhobenen Daumen zurück. Diese neue Assistentin schien Gold wert zu sein.

Als er gut eine halbe Stunde später, nach einer kurzen, heißen Dusche und in trockener Kleidung, auf dem Kommissariat eintraf, war die Mannschaft bereits vollständig versammelt. Das Ermittlerteam bestand im Kern aus fünf Leuten: Neben Susanne Nowak, die den Kommissar meistens begleiten würde, und Joachim „Mausi“ Mayer, der unter anderem als zentrale Anlaufstelle fungierte, gehörten auch Georg „Schorsch“ Hinterhuber und Daniel Baumann dazu.

„Guten Morgen!“ Branntwein nickte Schorsch und Daniel zu. „Und Hallo noch mal ihr beiden.“ Das Echo ertönte vierstimmig. Während er sich einen Kaffee einschenkte, wandte er sich an Mausi, der inzwischen deutlich wacher wirkte, als er vorhin geklungen hatte: „Sind schon Fotos vom Tatort da?“

„Leider nein.“

Wie immer zu Beginn einer neuen Ermittlung war der Kommissar bemüht, Optimismus auszustrahlen. „Ist ja auch noch ein bisschen früh. Aber sonst habt‘s ihr alles auf dem Handy, oder?“ Zustimmendes Nicken und Gemurmel. Er räusperte sich kurz. „Dann wisst ihr ja, dass Irene Schmalgassner mit einer gewissen Claudia Gärtner zusammenlebte, wie Mausi herausgefunden hat. Die Eltern sind wohl schon beide verstorben, keine nahestehenden Verwandten. Sie arbeitete als Handmodel – was unter diesen Umständen natürlich auffällig ist. Ansonsten müssen wir abwarten was die Autopsie ergibt und ob auf den Fotos was Interessantes zu sehen ist.“

„Einen Sexual- oder Raubmord können wir aber ausschließen, nicht wahr?“ Die Frage kam von Daniel.

„Soweit eigentlich schon. Ich meine, es wurde nichts gestohlen, wobei wir nicht genau wissen, was sie an Schmuck getragen hat. Aber der Geldbeutel war noch da, mit allem drin: Bankkarte, Kreditkarte, Führerschein, Bargeld…“ Branntwein zuckte mit den Schultern. „Sieht nicht nach Raubmord aus. Und was ein Sexualdelikt angeht: Sie war vollständig bekleidet, als sie gefunden wurde, inklusive Unterwäsche. Ganz sicher wissen wir das aber erst, wenn die Schneiderin sich dazu herablässt, uns ihren Obduktionsbericht zu schicken.“

„Vielleicht findet die SpuSi ja auch noch die Hände“, trug Mausi bei. „Bis jetzt nicht, aber sie suchen noch.“

Branntwein sah auf die Uhr und teilte dann das Team ein: „Daniel und Schorsch, ihr fahrt bitte zum Luitpoldpark und klingelt bei allen Wohnungen, die ihre Balkone und oder Fenster in Richtung Tatort haben. Vielleicht hat irgendjemand was beobachtet.“

Die beiden nickten zustimmend. „Alles klar, Franz“, bestätigte Schorsch.

„Mausi, du bleibst wie immer hier und findest mehr über das Umfeld unseres Opfers heraus. Beruflich wie privat. Und über diese Claudia Gärtner. Außerdem suchst du bitte nach ähnlichen Fällen, am besten bundesweit.“ Er blickte zu seiner Assistentin. „Susi und ich fahren zur Wohnung der Toten.“ Ein letzter Blick in die Runde. „Noch Fragen? Nein? Okay! Dann lasst uns anfangen, diesen Mord aufzuklären. Um sechzehn Uhr treffen wir uns wieder hier.“

Als er mit Susi vor dem gediegenen, in altrosa und weiß gehaltenen Altbau ankam, hatte der Himmel aufgerissen und es versprach, doch noch ein schöner Tag zu werden. Mit einer gewissen Schadenfreude, wie er sich selbst gegenüber beschämt eingestehen musste, fand er sich in seinen Turnschuhen und der nur noch leicht feuchten Jeansjacke, die er während seines Aufenthalts zu Hause kurz in den Trockner geworfen hatte, mittlerweile durchaus passender gekleidet als seine junge Assistentin.

„Einen Moment noch, Chef“, bat Susi und warf ihm einen entschuldigenden Blick zu. Sie wühlte in einer überdimensionalen Batik-Umhängetasche und förderte ein quietschblaues Paar Ballerinas samt passenden Söckchen zutage. Regenmantel und Gummistiefel blieben im Auto.

Branntwein musste über sich selbst schmunzeln und schalt sich einen „alten Depp“. Susi Nowak hingegen stieg weiter in seiner Achtung.

Auf den Klingelschildern waren sechs Parteien verzeichnet. Je zwei auf jeder Etage. „Gärtner/Schmalgassner“ befand sich im ersten Stock. Die Haustür war nur angelehnt. Das stuckverzierte Treppenhaus machte einen gepflegten Eindruck und war in den gleichen Farben gehalten wie die Außenfassade. Keine Fahrräder oder Kinderwagen, die herumstanden, keine achtlos auf den Boden geworfenen Wochenanzeiger oder Reklameprospekte unter den Briefkästen. Es roch nach Allzweckreiniger der Note „Frühlingsduft“. Sie stiegen die geschwungene Holztreppe hinauf und läuteten an der Tür.

Susi zückte tippbereit ihr Smartphone. Branntwein steckte sein Notizbuch, das er ebenfalls schon aus der Jackentasche gefischt hatte, wieder ein.

Sie hörten Schritte und eine Frauenstimme: „Ja bitte? Wer ist denn da?“

„Franz Branntwein, Kriminalpolizei. Bitte machen Sie auf.“ Er hielt seinen Ausweis vor den Türspion.

Nach einem kurzen Zögern wurde geöffnet. Vor ihnen stand eine große, hübsche, junge Frau, Mitte bis Ende zwanzig, mit langen Haaren und fast schon knabenhafter Figur.

„Guten Tag. Das ist meine Assistentin Frau Nowak. Sind Sie Frau Gärtner?“

„Ja, aber… Was ist denn los?“

„Wohnt hier auch Irene Schmalgassner?“

„Die Irene? Ja, aber die schläft noch. Was ist denn los?“ wiederholte sie. „Soll ich sie wecken?“

„Frau Gärtner, dürften wir wohl bitte hereinkommen?“

Augenscheinlich verwirrt trat die junge Frau einen Schritt zurück, um ihnen Platz zu machen. „Ja natürlich.“ Sie ging voran in eine geräumige, gemütlich eingerichtete Wohnküche. „Soll ich Irene jetzt holen?“

„Bitte setzen Sie sich.“ Branntwein deutete zur Eckbank, die, gemeinsam mit zwei Stühlen und einem großen Tisch, zwischen den Fenstern stand.

Claudia Gärtner blieb stehen. Ein trotziger Ausdruck war in ihr Gesicht getreten. „Sagen Sie mir jetzt bitte sofort, was los ist!“

Branntwein atmete tief durch, blickte kurz zu seiner Assistentin, die sich im Hintergrund hielt, und formulierte dann den Standardsatz, der das Leben dieser jungen Frau von jetzt auf gleich für immer verändern würde: „Frau Gärtner, wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass Ihre Mitbewohnerin, Frau Schmalgassner, heute Morgen im Luitpoldpark tot aufgefunden wurde.“

„Was?!“ Claudia Gärtner schlug mit blankem Entsetzen in den Augen die Hände vor den Mund und schwankte. Susi war sofort bei ihr, um sie zu stützen, doch sie riss sich umgehend los und stürmte zurück in den Flur. „Das kann nicht sein!“

Branntwein und Susi eilten ihr nach. Sie riss eine der weißlackierten Türen auf und blieb wie angewurzelt stehen. Das Zimmer war leer, das Bett in der Nische ordentlich gemacht und offensichtlich unberührt.

„Nur ein Kopfkissen, ein Bettbezug“, registrierte Branntwein automatisch in Gedanken. „Sie waren also kein Paar, sondern haben einfach zusammengewohnt.“

Claudia Gärtner ging langsam ein paar Schritte ins Zimmer hinein, als könne sie nicht glauben, dass ihre Mitbewohnerin tatsächlich nicht da war. Zögernd drehte sie sich zu den Ermittlern um und flüsterte: „Tot, sagen Sie?“ Und dann kamen die Tränen. Erst wenige und von keinem Laut begleitet, dann immer mehr und unter heftigem Schluchzen.

Susi führte sie zu einem Stuhl am Schreibtisch, der geradeaus vor dem Fenster stand. Nach kurzem Kramen in der Umhängetasche reichte sie Gärtner ein Taschentuch. „Sollen wir jemanden für Sie anrufen? Eine Freundin vielleicht?“, fragte sie leise und blickte zu Branntwein. Der gab mit einem kurzen Nicken sein Einverständnis.

Aber Claudia Gärtner schüttelte den Kopf. „Ich muss das selbst erst mal begreifen“, schluchzte sie mit zuckenden Schultern, das Gesicht im Taschentuch vergraben.

Während sie sich langsam zu beruhigen schien und versuchte, die Botschaft zu verarbeiten, nutzte Branntwein die Zeit, sich das Zimmer der Toten etwas genauer anzusehen. Alles war sehr ordentlich, wirkte aber nicht übertrieben sauber. Genau wie in der Küche standen auch hier Grünpflanzen in farbigen Töpfen. An der Wand hingen gerahmte Drucke bekannter Künstler. Es war ein großer Raum, der Persönlichkeit ausstrahlte. Neben dem Bett und dem Schreibtisch gab es linker Hand ein bunt gestreiftes, auf alt gemachtes Sofa, vor dem ein passender Tisch stand. „Vintage-Look“ nannte man das, wenn sich der Kommissar nicht irrte. Dieser Stil setzte sich fort beim Kleiderschrank, der Kommode und den offenen Regalen. Kein Fernseher, aber jede Menge Bücher. Rechts der Tür befand sich ein Schminktisch, auf dem reihenweise Tuben und Döschen neben kleinen Fläschchen mit transparentem Lack und ölhaltiger Pflege sowie ein Keramikbecher mit mindestens zehn verschiedenen Nagelfeilen standen.

Branntwein drehte sich um. Claudia Gärtner saß nach wie vor am Schreibtisch, auf dem ein zugeklappter Laptop lag. Die junge Frau blickte abwesend zu Boden und wirkte in sich gekehrt. Die Tränen flossen immer noch, still. Susi kauerte neben der erschütterten Frau und legte tröstend eine Hand auf ihre Schulter. „Es tut mir aufrichtig leid“, begann er einfühlsam, aber bestimmt. „Wir müssen Ihnen einige Fragen stellen.“

Sie blickte zu ihm auf, schien erst jetzt wieder wahrzunehmen, dass sie nicht allein war und wo sie sich befand. Tapfer straffte sie ihren schlanken Körper und nickte. „Aber nicht hier“, sagte sie. „Bitte folgen Sie mir in die Küche.“ Sie stand auf und ging steifen Schrittes voran.

„Bitte setzen Sie sich doch“, sagte sie.

Branntwein schielte auf den modernen Kaffeevollautomaten, der neben dem Herd auf der Arbeitsfläche stand. Prompt fing er einen strafenden Blick von Susi auf. Er zuckte kurz mit den Schultern und hob die Augenbrauen. „Ich kann nichts dafür“, sollte das heißen. Susi schüttelte leicht den Kopf.

Claudia Gärtner, die sich darauf konzentrierte, eine der Lichtnelken zu zerpflücken, die auf dem Küchentisch standen, bekam von der nonverbalen Kommunikation zwischen den Ermittlern nichts mit. „Wie ist Irene gestorben?“ fragte sie plötzlich und hob den Kopf. „Im Luitpoldpark, sagten Sie? Wurde sie überfallen?“ Übergroß blickten ihre Augen aus dem blassen Gesicht.

Susi legte eine Hand auf die ihre, doch Gärtner zog sie zurück. Offensichtlich wollte sie jetzt kein Mitgefühl. Musste stark sein. Sich zusammennehmen.

„Wir wissen über die Umstände bis jetzt nichts Genaueres“, antwortete Branntwein ausweichend und nahm ebenfalls Platz. „Aber es war offensichtlich Mord.“

„Mord! Wurde sie…? Ich meine, hat man sie…?“

„Es gibt bislang keine Anzeichen für eine Vergewaltigung. Wann haben Sie Frau Schmalgassner denn zuletzt gesehen?“

„Das war gestern Morgen. Wir haben gemeinsam gefrühstückt.“

„Und danach?“

„Ich bin in die Stadt gefahren, ein bisschen shoppen und gucken, Sie wissen schon.“ Branntwein wusste tatsächlich. Hatte er doch eine Tochter, die nur unwesentlich jünger war.

„Mit dem Auto?“

„Nein, wir fahren immer mit den Öffentlichen. Oder halt mit dem Taxi. Wir haben kein Auto. Ist auch nicht nötig. U-Bahn und Straßenbahn sind ja gleich um die Ecke.“

„Und Frau Schmalgassner? Wie sah deren Tagesablauf aus? Können Sie uns dazu etwas sagen?“

„Soweit ich mich erinnere, hatte sie gestern gegen zwanzig Uhr einen Termin. Werbefotos für eine Handcreme, glaube ich.“ Sie schluckte kurz. „Ich bin nach Mitternacht nach Hause gekommen. Erst hatte ich selbst ein Shooting, und dann war ich auf einer Party. Meine Mutter hatte Geburtstag.“ Sie sprang auf. „Denken Sie, Irene wurde ermordet, während ich fröhlich mit Champagner angestoßen und Kaviar gelöffelt habe?“, stieß sie verzweifelt hervor.

„Diese Frage kann ich Ihnen leider nicht beantworten.“ – „Aber wahrscheinlich schon“, fügte er in Gedanken hinzu. „Sie arbeiten ebenfalls als Model?“, führte Branntwein die Befragung weiter.

„Ja, so haben wir uns doch kennengelernt! Wir sind bei der gleichen Agentur.“ Sie hielt kurz inne. „Waren. Waren bei der gleichen Agentur. Irene als Handmodel und ich für Unterwäsche und Bademoden.“ Sie errötete leicht.

Branntwein hätte bei einem Model in dieser Branche „etwas mehr Holz vor der Hütt‘n“ erwartet. Aber das gehörte nicht hierher.

Ihr Blick wurde wieder traurig: „Irene hatte so schöne Hände. So wunderschöne Hände!“

„Gibt es denn da viel Konkurrenz untereinander? Also, dass ein anderes Handmodel beispielsweise eifersüchtig auf Frau Schmalgassner gewesen sein könnte, oder etwas in der Art?“

„Sie meinen, dass jemand Irene der Karriere wegen ermordet hat?“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Irene hat“ – sie schluckte – „hatte keine Konkurrenz. Die Agentur ist nur klein“, fügte sie hinzu.

„Oder aus Eifersucht? Gibt es jemanden, der neidisch war? Jemanden, der ihr die schönen Hände nicht gönnte?“

„Was?!“ Offensichtlich verstand Claudia Gärtner nicht, worauf er hinauswollte. „Nein. Ich wüsste nicht, wer. Irene ist das einzige – war… Sie war das einzige Handmodel.“

„Und da gab es auch niemanden, der nachrücken wollte? Der selbst scharf auf den Job war?“

Die Trauernde schüttelte den Kopf. „Ich glaube, Sie haben da ganz falsche Vorstellungen. Irene hatte vielleicht drei, vier Shootings in der Woche. Manchmal auch weniger. Das war mehr so nebenbei.“

„Nebenbei – wovon?“, hakte Branntwein nach.

„Vom Leben!“ Ein dünnes, bitteres Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. „Oder was man halt so Leben nennt. Irene hat eigentlich nur mich so richtig nah an sich herangelassen und war die meiste Zeit allein. Allein mit ihren Büchern. Sie wurde oft verletzt, wissen Sie?“ Sie blickte ihn an. „Wegen ihrer Entstellung. Den Menschen macht Angst, was nicht der Norm entspricht.“

„Wovon hat Frau Schmalgassner denn gelebt, wenn nicht vom Modeln?“

„Wir müssen ja keine Miete zahlen, da hat das Geld, das sie verdient hat, schon gereicht. Und geerbt hatte sie auch. Die Lebensversicherung ihrer Eltern.“ Auf den fragenden Blick des Kommissars hin erklärte sie: „Sie wissen doch vermutlich, dass ihre Eltern vorletztes Jahr verunglückt sind? Und die Wohnung gehört meiner Familie. Ich mache den Job auch mehr so zum Spaß.“

Branntwein war enttäuscht. Im beruflichen Umfeld würden sie wohl kein Mordmotiv finden. Dabei hätte es förmlich auf der Hand gelegen. Natürlich würden sie trotzdem in der Agentur nachfragen. Doch sein Bauchgefühl sagte ihm, dass sie auch dort nicht mehr erfahren würden.

„Also hatte Irene auch keinen Freund?“ schaltete sich Susi in die Befragung ein.

„Nein. Irene war zwar auf so einer Singlebörse im Internet unterwegs, aber da hat sie eigentlich nur mit zwei Typen engeren Kontakt gehabt, und auch das ausschließlich per Chat. Sie wollte authentisch sein, verstehen Sie? Ihr Profilfoto – es zeigt sie so, wie sie war. Da war das Interesse der Männer nicht so groß“, fügte sie säuerlich hinzu.

„Wissen Sie die Browser-Adresse dieser Plattform?“, fragte Susi.

„Herzensmensch-gefunden.de.“

„Vielen Dank.“ Susi speicherte den Link in ihrem Smartphone ab. „Kennen Sie auch den Benutzernamen und das Passwort?“

„Der Benutzername ist ‘Feuerqualle’.“

Susi runzelte unwillkürlich die Stirn.

„Ja, ich weiß, ich fand das Pseudonym auch ziemlich schräg. Als Passwort hat sie immer die Internetadresse der Seite genommen, für die sie es gebraucht hat. Nur rückwärts und mit vorne einer neunzehn und hinten einer zweiundneunzig dran. Ihr Jahrgang.“

„Wir werden den Laptop mitnehmen müssen“, sagte Branntwein.

„Es ist so schrecklich!“ Claudia Gärtner begann wieder zu weinen. „Gerade jetzt, als sie ein neues Leben beginnen wollte!“

Der Kommissar horchte auf. „Wie meinen Sie das? Was für ein neues Leben denn?“

„Ach, sie hatte sich überlegt, das Feuermal entfernen zu lassen. Das bedeutet eine sehr schmerzhafte Laserbehandlung. Außerdem teuer und langwierig. Aber sie hatte es sich fest vorgenommen. Obwohl sie Angst hatte, dass sie vielleicht dann nicht mehr sie selbst sein würde. Auch charakterlich.“

„Zu spät“, dachte Branntwein und hatte das Bild einer sehr einsamen, jungen Frau vor sich.

„Ich bin so müde“, unterbrauch Claudia Gärtner seine Gedanken, und die bläuliche Verfärbung unter ihren Augen verdeutlichte, dass sie tatsächlich am Rande eines Zusammenbruchs stand. „Könnten Sie mich nun allein lassen? Bitte? Ich muss mich hinlegen, das alles erst tatsächlich begreifen.“

„Natürlich.“ Branntwein reichte ihr seine Visitenkarte. „Nur eines noch: Erinnern Sie sich daran, was Frau Schmalgassner gestern Morgen anhatte?“

„Als ich ging, war sie noch im Schlafanzug.“

„Hatte sie die Angewohnheit, wertvollen Schmuck zu tragen, oder eine teure Uhr vielleicht?“

„Nein. Irene wollte durch nichts die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Weder durch Schmuck noch durch ihre Kleidung oder sonst etwas. Am liebsten wäre sie unsichtbar gewesen – draußen, im richtigen Leben.“

Der Kommissar nickte. „Bitte melden Sie sich, falls Ihnen noch etwas einfällt. Und bitte lassen Sie das Zimmer von Frau Schmalgassner zunächst unverändert.“

„Ja, ist gut.“

„Auf Wiedersehen.“

„Auf Wiedersehen.“

Als sie wieder im Auto saßen und den Laptop verstaut hatten, fragte Susi: „Warum haben Sie ihr nichts von den fehlenden Händen gesagt?“

„Weil ich denke, dass diese Information nicht nötig war.“ Branntwein sah seine Assistentin erstaunt an. „Bist du vielleicht anderer Meinung?“

„Allerdings! Ich finde das feige!“ Sie sah aus dem Fenster und atmete ein paar Mal tief durch. Branntwein wartete. „Das war jetzt vielleicht ein bisschen heftig, Chef, Entschuldigung.“ Sie wandte sich ihm zu. „Ich wollte nicht respektlos sein. Aber soll sie das so nebenbei erfahren, falls sie die Leiche identifizieren muss? Oder doch aus der Zeitung, wenn jemand bei uns nicht dichthält?“

Branntwein schluckte die harsche Erwiderung herunter, die ihm auf der Zunge lag. Wenn er ein Vertrauensverhältnis zu seiner neuen Assistentin aufbauen wollte, musste er auch ehrlich sein.

„Du hast ja recht“, gab er deshalb zerknirscht zu. „Ich war auch feige. Obwohl ich nach wie vor denke…“

„Darf ich noch mal rauf und es ihr sagen? Ich hab‘ während der Ausbildung auch mehrere Kurse in Psychologie belegt.“

Er überlegte kurz. Zu seiner Zeit hatte sich keiner einen Deut um Psychologie geschert. Heute war das anders.

„Na gut“, seufzte er. „Aber mach‘ nicht zu lange.“

Branntwein nutzte die Zeit, um im Kommissariat anzurufen. „Hi Mausi, ich bin’s. Kannst du bitte ein Alibi überprüfen?“

„Ja klar, schieß los, Franz.“

„Claudia Gärtner behauptet, gestern Abend bei ihrer Mutter auf einer Geburtstagsfeier gewesen zu sein.“

„Moment!“

Branntwein hörte die Tastatur klackern.

„Hier ist es. Franziska Gärtner, Mutter von Claudia Gärtner. Geburtsdatum stimmt mit dem gestrigen Datum überein.“ Er pfiff durch die Zähne. „Scheinen gut betucht zu sein. Wohnen draußen in Starnberg. Große Villa mit Seegrundstück. Sogar mit Steg und eigener Auffahrt. Ich schau‘s mir grad von oben im Internet an.“

„Das passt zur Aussage. Danke, Mausi.“

„Soll ich die Mutter anrufen und fragen, ob die Tochter da war?“

„Nein, nicht nötig. Ich glaube nicht, dass die Gärtner was mit dem Mord zu tun hat. Aber du könntest mir bitte schnell die Adresse der Agentur raussuchen, für die die Schmalgassner gearbeitet hat. Dann fahren wir da gleich mal vorbei.“

„Die hast du im Ordner, Franz! Manchmal frag‘ ich mich echt, warum ich mir den ganzen Scheiß überhaupt antu‘!“ Joachim Mayer war für den Informationsfluss innerhalb des Teams verantwortlich und ärgerte sich durchaus zu Recht, wie Branntwein zugeben musste. „Ist doch wahr! Schaut eh keiner