Frieda von Richthofen - Annabel Abbs - E-Book

Frieda von Richthofen E-Book

Annabel Abbs

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Beschreibung

Die spektakuläre Geschichte der Frieda von Richthofen: »Eine kühne und starke Frau.« (Stylist).

Deutschland, 1907: Frieda von Richthofen, in Nottingham mit dem britischen Professor Ernest Weekley verheiratet und Mutter dreier Kinder, besucht ihre Schwestern in München. Sie taucht ein in die Schwabinger Bohème, in die Welt der Künstler, Freigeister und freien Liebe. Sie beginnt eine leidenschaftliche Affäre mit dem Psychoanalytiker Otto Gross und entdeckt, dass sie mehr sein will als Mutter und Ehefrau.

England, 1912: Gefangen in ihrer Ehe, trifft Frieda den mittellosen, aber ehrgeizigen jungen Schriftsteller D. H. Lawrence. Ihre stürmische Liebe ist ein gesellschaftlicher Skandal. Und Frieda muss für ihren Mut, die Fesseln ihrer Zeit zu sprengen, einen hohen Preis zahlen.

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Zum Buch

Das bewegende Schicksal einer außergewöhnlichen Frau. Eine Liebesgeschichte, die zum Synonym der sexuellen Befreiung wurde.

Deutschland, 1907

Frieda von Richthofen, verheiratet mit einem britischen Professor und Mutter dreier Kinder, besucht ihre Schwester in München. Lebenshungrig taucht die junge Frau ein in die Schwabinger Boheme – in die Welt der Künstler, Freigeister und freien Liebe.

England, 1912

Gefangen in ihrer Ehe, trifft Frieda den mittellosen Schriftsteller D. H. Lawrence. Ihre stürmische Liebe ist ein gesellschaftlicher Skandal. Frieda muss eine mutige Entscheidung treffen.

Zur Autorin

Annabel Abbs ist Schriftstellerin und Journalistin. Ihre Romanbiografie »Frieda« wurde als »Times Book of the Year« ausgezeichnet. Frieda von Richthofen war Vorbild für »Lady Chatterley«, dem über drei Jahrzehnte verbotenen erotischen Roman von D. H. Lawrence, der heute zur Weltliteratur gezählt wird. Annabel Abbs lebt mit ihrer Familie in London und Sussex.

Annabel Abbs

FRIEDA

von RICHTHOFEN

Eine Frau sprengt die Fesseln ihrer Zeit

Aus dem Englischen von Michaela Meßner

Die englische Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »Frieda. The Original Lady Chatterley« bei Two Roads, John Murray Press, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Erstveröffentlichung August 2021 Copyright © 2018 Annabel Abbs Copyright © der deutschen Ausgabe 2021 btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Covergestaltung: semper smile, München nach einem Entwurf von Becky Glibbery unter Verwendung einer Abbildung von © The Library of Congress (Woman Diving from Pier, CA 1982) Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck Alle Rechte vorbehalten ISBN: 978-3-641-25167-3V001www.btb-verlag.dewww.facebook.com/btbverlag

Für meine Tochter Imogen, die, jetzt und immer schon, ganz und gar sie selbst ist.

»Du weißt, dass ich für Dich gestorben wäre.«

Ernest Weekley, Brief an Frieda Weekley, 1912

»Ich werde Dich lebendig lieben wie einst und mehr als einst und ob Du über Jahr und Jahr noch wieder kommst – und ob ich hoffe oder nicht mehr hoffe – Du weißt, ich bin Dein.«

Otto Gross, Brief an Frieda Weekley, 1907

»Wenn sie mich verlässt, überlebe ich das sicher keine sechs Monate … Mein Gott, wie sehr ich sie liebe, sie und die daraus rührende Qual.«

D. H. Lawrence, Brief an Edward Garnett, 1912

ERSTER TEIL

Nottingham 1907

»Nichts ist schlimmer, als wenn man in der Jugend etwas versäumt, so dass man darauf verfällt wenn man zu alt dafür ist. Nichts ist schlimmer für eine Frau, als wenn sie das Gefühl hat, vom Leben um etwas betrogen worden zu sein: vielleicht um das wichtigste […] Es ist entsetzlich, das Gefühl zu hegen, dass man sterben wird, ohne das gehabt zu haben, wofür man in gewisser Weise geboren ist.«

D. H. Lawrence, Die Erste Lady Chatterley

1

Frieda

Später, als der Skandal schon da war und die Zeitungen sie zum Paria gemacht hatten, konnte sie alles auf einen bestimmten Tag zurückführen. Einen bestimmten Augenblick. Manchmal trat ihr dieser Augenblick wie ein schwindelerregender Wirbel vor Augen, so, dass alles in einen Rahmen gepresst schien. Dreizehn Ehejahre und drei vollkommene Kinder verschmolzen zu einem einzigen Bild. Und sie staunte, wie etwas so Gewaltiges einem so ereignislosen Augenblick entspringen konnte.

Der Tag hatte aufregend begonnen. Ein rosa überhauchter Himmel, hellgrün austreibende Silberbirken, Gras und Blätter von schwerem Tau benetzt, ein gelber Schimmer, wo das erste Schöllkraut durch die schwarze Erde brach. Die Kinder waren ums Haus gerannt und hatten geschrien: »Tante Nusch kommt extra aus Berlin.« Monty war auf dem Sofa herumgesprungen, Elsa hatte sich Schnüre mit violetten Perlen über die Schultern drapiert, und selbst Barby hatte mit dem Löffel auf den Frühstückstisch gehauen und »Nusch kommt« gebrüllt.

Mrs Babbit brachte den ganzen Morgen mit Schrubben, Polieren und Abstauben zu. Monty und Barby pflückten Schlüsselblumen und Glockenblumen, die Elsa in Marmeladengläser stellte. Frieda hatte einen Apfelkuchen gebacken und stäubte üppig Zimt und Puderzucker auf das von Kratern überzogene Backwerk. Selbst Ernest, der selten sein Arbeitszimmer verließ, strich durchs Haus, stupste den Finger in den Kohlenstaub, der sich auf den Simsen abgesetzt hatte, und betastete die Wandfarbe, die von den Sockelleisten blätterte.

Am frühen Nachmittag, als Nusch ankommen sollte, schlug das Wetter um. Ein schräger Regen begann laut gegen die Scheiben zu spucken, und der Himmel war wie in zwei Hälften geteilt; in der einen hingen schwere Wolken, die andere war von einem blassen, milchigen Blau. Ernest brach auf, um Nusch vom Bahnhof abzuholen, winkte im Gehen mit seinem straff gewickelten Regenschirm und rief: »Ich warne euch, ihre Juwelen werden euch blenden!« Theatralisch hob er die Hand und legte sie sich schützend über die Augen, woraufhin alle lachten und Frieda einen leisen Stolz empfand.

Die Szene eine Stunde später sollte sich ihr für alle Zeiten einprägen. Die Röcke hoch genug gerafft, um den feinen Spitzensaum ihres Unterkleids sowie die teuren Lederstiefeletten mit den geschwungenen Absätzen und den Perlmuttknöpfen zu zeigen, stieg Nusch vom Tritt. Nachdem sie Staub und Schmutz von ihrem Reisekostüm geklopft hatte, hob sie den Blick zu dem kleinen schlichten Backsteinhaus, der engen Eingangstür, dem schmalen Garten und sagte: »Ach, du armer, armer Schatz!« Frieda machte den Mund auf, um zu protestieren, besann sich aber eines Besseren, führte sie in den Flur und plauderte fröhlich über die Pläne, die sie für Nuschs Besuch gemacht hatte: einen Spaziergang durch Sherwood Forest, eine Tour durch Newstead Abbey, einen Abstecher nach Wollaton Hall.

Während sie sich an die Wand presste, um Ernest mit Nuschs Schrankkoffer vorbeizulassen, vernahm sie etwas, das sie stutzen ließ. Es war Nusch, die mit hoch erhobener Nase übertrieben zu schnüffeln begann. Als habe sie einen Schnupfen oder eine leichte Erkältung. Dann ließ sie ein schwaches Räuspern vernehmen, griff mit behandschuhter Hand in ihren Pompadour, zog ein Taschentuch heraus und presste es sich fest auf den Mund.

»Die Kinder haben Wildblumen für dich gepflückt«, sagte Frieda. Und schon während sie es sagte, wusste sie, dass ihr Zuhause Nusch nicht gefiel, dass alle Schlüsselblumen von Nottingham den hartnäckigen Gestank von ausgekochten Knochen und Küchengas nicht vertreiben konnten. Sie führte sie ins Gesellschaftszimmer, und für den Bruchteil einer Sekunde sah sie es mit Nuschs Augen an: die mit nicht passendem Stoff verlängerten Baumwollvorhänge, die von der Wand abblätternde Farbe, den schmutzgesprenkelten matten Lampenschirm. Selbst ihre bestickten Kissendeckchen – Rosen und Lilien, zinnoberrot und elfenbeinfarben – wirkten dilettantisch und plump.

Nusch inspizierte das Zimmer, die Oberlippe zuckte, die Brauen gingen in die Höhe. Sie hob die Röcke und tastete sich durch den Raum, als könnten aus dem fadenscheinigen Teppich Nagetiere oder Flöhe gekrochen kommen. Dann nahm sie das Sofa in Augenschein und staubte es mit ihrem Taschentuch ab, bevor sie sich vorsichtig auf der Kante niederließ. Wieder irrte ihr Blick durch den Raum, fiel auf den aufsteigenden Dunst, den kargen Kamin, Ernests Diplome, die in stolzen Reihen an der Wand hingen.

»Du hättest niemals jemanden heiraten dürfen, der so tief unter uns steht. Dieser Mann ist so unverfroren …«

Frieda wollte Ernest schon verteidigen, als sie plötzlich über dem Kamin ihr Spiegelbild erblickte: das Haar straff zu einem Dutt frisiert, ein Zimtfleck auf der Stirn, ungeschminkte Wangen, die ihre jugendlichen Konturen verloren hatten, der Mund zu einem angespannten Lächeln verzogen. Warum nur hatte sie sich nicht noch einmal das Gesicht abgewischt? Warum hatte sie sich das Haar nicht elegant hochgesteckt, mit den kleinen bemalten Kämmen, die Ernest ihr zur Hochzeit gekauft hatte? Und das karierte Kleid mit dem Kragen, der wie eine Schlinge um ihren Hals lag – zu eng nach drei Kindern, zu altmodisch, der formlose Rock ohne jeden Schwung. Sie hätte weniger Zeit aufs Backen und mehr auf ihre Erscheinung verwenden sollen.

Erleichtert wandte sie sich zur Tür um, als die Kinder hereinstürmten und Regentropfen von den Hüten und aus den vollgesogenen Säumen ihrer Kleider schüttelten.

»Zieht eure Mäntel aus und trocknet euch die Haare. Tante Nusch will nicht von euch nassgespritzt werden«, sagte sie leichthin und scheuchte sie mit einer nachlässigen Bewegung aus dem Handgelenk fort. »Sie sind so aufgeregt, dass du uns endlich besuchen kommst, liebste Nusch. Sie haben hundert Fragen zu ihrer kleinen Cousine. Hättest du sie doch nur mitgebracht.«

Nusch lachte kurz auf. »Reisen und Kinder sind eine fatale Kombination. Man sollte sie immer auseinanderhalten.« Sie lehnte sich vor und sprach ein wenig leiser. »Seit ich von Bord gegangen bin, habe ich keinen einzigen bewundernden Blick auf mich gezogen. Was stimmt nicht mit den Engländern?«

»Sie sind zurückhaltend, und du bist viel zu sehr an Militärs gewöhnt. Aber ich habe etwas viel Schöneres für dich: einen selbst gebackenen Kuchen.« Frieda wünschte, Mrs Babbit würde sich ein wenig mit dem Tee beeilen. Ein schönes, großes Stück Kuchen würde ihr die nötige Kraft geben, die Sticheleien ihrer Schwester zu überhören, hoffte sie, während ihr das Wasser im Mund zusammenlief.

»Die Kinder sehen reizend aus, auch mit den nassen Haaren. Viel zu reizend, um Sprösslinge von Ernest zu sein.« Nusch stand auf und strich sich über die Röcke, und es störte Frieda, dass die Röcke ihrer Schwester so rüschig waren und so gut passten. Das makellose Reisekleid war viel zu neu, die Knöpfe viel zu glänzend, die Silberreiherfedern viel zu prächtig. Nichts davon passte so recht in ihr schäbiges kleines Haus.

Später dann, als Ida die Kinder fortgebracht und Mrs Babbit den Tee serviert und den Raum verlassen hatte, räusperte sich Nusch. »Alle modernen Damen in Berlin und München haben Affären.« Sie senkte den Blick geheimnistuerisch in ihre Teetasse. »Ich weiß, wir sind Freiinnen, aber wir müssen verführerisch aussehen, sonst sind wir ein Nichts. Und ich habe nicht die Absicht, ein Nichts zu sein.«

»Aber du bist nicht nichts. Und du hast alles«, erwiderte Frieda verdutzt.

»Ach, ich denke doch nicht an mich. Wie dem auch sei, wir Richthofens sind für ein langweiliges Leben nicht geschaffen. Es passt einfach nicht zu uns.«

Frieda spürte inwendig einen Schmerz, als schnüre ein metallener Ring ihr die Brust zusammen. »Mein Leben ist nicht langweilig«, sagte sie mit einer ausholenden Geste zum Fenster hin, wobei sich ihr Arm plötzlich steif und schwer anfühlte. Die Kinder spielten im Garten, und sie wollte Nusch wissen lassen, wie glücklich sie sie machten, aber ein dünnes kleines Stimmchen war in ihren Kopf gekrochen und das ungeduldige Brummen lenkte sie ab: langweilig, langweilig, langweilig. Ein Nichts, ein Nichts, ein Nichts.

»Du solltest einmal Elisabeth in München besuchen. Die Cafés sind voller Anarchisten und Künstler, die über die freie Liebe reden, und sie ist mitten im Geschehen. Ich umgebe mich lieber mit Militärs, aber dir könnte es dort gefallen. Du warst doch schon immer eine kleine Radikale.« Nusch machte eine Pause und sah angelegentlich auf die vielen Ringe an ihren Fingern. »Erinnerst du dich, wie du damals die Birnbäume in Vaters Obstgarten angepinkelt hast? Du hast wie ein Hund das Bein gehoben. Schamlos!«

Frieda schob sich mit der Gabel eine große Portion Kuchen in den Mund und dachte über eine passende Erwiderung nach. Aber Nusch hatte es sich in den Kissen bequem gemacht und blieb bei der Vergangenheit. »Ich habe nie verstanden, warum du nicht gestorben bist, als Vater dich in diesen See geworfen hat. Erinnerst du dich? Er ist immer mit dir von dieser wackligen Brücke gesprungen, und du hast dich wie ein Äffchen an ihn geklammert … Wenn ich an all die nackten Soldaten denke, die dort gebadet haben!« Ihre gemalten Brauen hüpften auf und nieder. »Mutter hat es ihm immer wieder verboten, aber das hat ihn nicht gekümmert. Mochtest du das eigentlich? Oder hast du es nur dem alten Schlawiner zuliebe gemacht?«

»Ach, hör doch auf! Ich war noch ein Kind.«

»Er war so unglücklich, dass du kein Junge warst. Ich bin mir sicher, er dachte, er könnte dich in einen verwandeln, der alte Narr!« Nusch griff nach der Serviette in ihrem Schoß und warf sie auf den Tisch. »Und jetzt bist du hier. Eine glückliche kleine Ehefrau in England!«

Sie streckte sich und gähnte. Frieda schob den Apfelkuchen auf ihrem Teller herum und sah zu, wie er zu einer Masse aus gelben Streuseln und Apfelstückchen zusammenfiel. Als das Schweigen vom scharfen Klicken der Türklinke zerschnitten wurde und Ernest auftauchte – dem im Verbeugen eine dünne blasse Haarsträhne über die Augen fiel –, war sie erstaunlich erleichtert.

»Nusch hat mir gerade vorgeschlagen, Elisabeth in München zu besuchen.«

»Ehe sie durch ihr Mutterdasein noch ganz und gar langweilig wird«. Nusch ließ kokett die Schultern erbeben, und die Diamanttropfen an ihren Ohren schickten flirrende Lichter über den Tisch.

Ernest nickte bedächtig. »Warum nicht? Mrs Babbit und ich kommen zurecht, und Ida kann nach den Kindern sehen.«

»Willst du mich denn nicht begleiten, mein Schatz?« Frieda griff nach Ernests Hand, die sich kalt und papieren anfühlte, und wünschte, er würde Mrs Babbit bitten, ihm im Arbeitszimmer Feuer zu machen. Er war so genügsam, so hart mit sich selbst. »Wir könnten zu einem von Elisabeths Salons gehen und uns in München ein paar Theateraufführungen anschauen. Seit ich dich kenne, hast du noch nie Urlaub gemacht.«

Er schüttelte energisch den Kopf. »Ich habe viel zu viel zu tun. Fahr du nur allein.«

»Allein?« Sie spürte kurz eine ängstliche Aufgeregtheit. Bisher hatte sie ihre Kinder noch nie allein gelassen, aber Monty war jetzt sieben, Elsa fünf und Barby drei. Konnte sie das? Sie sah kurz zu ihrer Schwester hinüber. Nusch, den Kopf stolz erhoben, blickte sie gelassen an wie eine Katze, die eine Maus beobachtet.

»Ja, Frieda. Komm zu uns zurück, bevor es zu spät ist.«

»Die etymologischen Eigenschaften des Wortes ›lateness‹ … überaus faszinierend.« Ernest hielt inne und strich sich mit dem Daumen über den Schnurrbart. »Es ist umstritten, ob das Wort ursprünglich vom Lateinischen lassus stammt, was müde oder erschöpft bedeutet, ober ob es vom Germanischen oder sogar Mitteldänischen herrührt, laat, was faul und träge bedeutet. Und dann ist da natürlich noch das griechische Wort ledein.«

»Ich denke, faul und träge dürften vorerst genügen.« Nusch prustete los, ihre Finger betasteten die elfenbeinernen Kämme, die ihr glänzendes goldenes Haar zusammenhielten.

»Es ist nicht so einfach, wenn man drei Kinder hat. Du hast nur eins, du kannst das nicht wissen.« Frieda wandte beleidigt den Kopf. Von den Fensterscheiben tönte das nervtötende Geprassel herüber, mit dem die Regenpfeile gegen das Glas schossen. »Aber vielleicht fahre ich ja allein nach München.« Während sie dies sagte, spürte sie Trotz in sich auflodern, kaum merklich und doch unverkennbar. »Ja, vielleicht tue ich das …«

2

Frieda

Am folgenden Tag verkündete Nusch, sie werde schnell nach Berlin zurückkehren. Sie liefen gerade über die Felder, Friedas Lieblingsweg, denn im Frühjahr blühten dort amethystfarbene Orchideen. Nusch mochte keinen Schlamm, sie sorgte sich um ihre Ziegenlederstiefel und Seidenstrümpfe. Und statt die Orchideen zu bewundern, hielt sie den Blick starr auf den Horizont gerichtet, eine dunkle, düstere Linie aus Rauch und Dampf und Industrieabgasen.

»Aber du bist doch gerade erst angekommen«, sagte Frieda, empört und verwirrt zugleich. »Ich habe Unternehmungen geplant. England ist so wunderschön im Frühling, die Blüten und das frische Gras und die Lämmchen.«

»Ja schon, aber mein Schatz möchte, dass ich zurückkomme. Wir halten es zurzeit kaum ohne einander aus.« Nusch grinste und griff sich züchtig an die Kehle. Frieda nahm den wahren Grund für Nuschs Besuch mit Entsetzen zur Kenntnis. Ihre Schwester hatte nicht sie sehen wollen. Oder die Kinder. Sie wollte bloß mit ihrem Liebhaber angeben.

»Wir treffen uns jeden Nachmittag in seiner Kutsche, die einen Vorhang hat, und fahren Unter den Linden auf und ab, bis wir nicht mehr können. Er ist so leidenschaftlich, so verliebt in mich. Ich bin sicher, ganz Berlin hat unsere Lustschreie gehört.« Nusch schüttelte den Kopf, dann senkte sie die Stimme und setzte hinzu: »Er mag es, wenn ich oben bin.«

Frieda dachte an Ernest in dem spartanischen Schlafzimmer, in dem er steif im engen Gästebett lag, mit seiner ärmlichen Matratze und der Bibel neben dem Kopfkissen. Wie einfach, wie leise hatte er sich davongestohlen. Sie wälze sich zu viel umher, sie atme zu laut, ihr Gewicht drücke die Matratze nieder. Und jetzt, da er so viele Mäuler zu stopfen habe, brauche er seinen Schlaf. Daher hatte er sich aus dem Staub gemacht, um allein zu schlafen. Aber das würde sie Nusch nicht erzählen. Auch nicht, dass sie noch nie auf ihm gewesen war. Nein, diese Genugtuung würde sie ihrer kleinen Schwester nicht bieten.

Außerdem liebte sie es, wenn die Kinder am frühen Morgen ins Zimmer gestürmt kamen, auf dem Bett herumhüpften, unter die Bettdecke krochen und sie um eine Geschichte oder eine Kissenschlacht anbettelten. Was sie nicht tun würden, läge Ernest dort im Bett.

Plötzlich wurde sie von Neugierde gepackt. »Aber Elisabeth hat ja wohl keine Liebhaber.«

»Aber sicher doch. Ach, du armes Ding. Du hast keine Ahnung, nicht wahr? Sie hat einen ganz außerordentlichen Liebhaber, er ist in München offenbar stadtbekannt. Sie praktizieren die freie Liebe. Keine Vorhänge an der Kutsche!«

»Was?« Frieda spürte, wie ihr die Kinnlade herunterfiel. Elisabeth, eine der ersten Frauen in Deutschland, die zur Universität gegangen waren, die ihren Doktor gemacht und einen Männerberuf ergriffen hatte, mittlerweile verheiratet mit dem nüchternen, bebrillten Edgar. Nein, das war zu viel. Nusch flunkerte ihr etwas vor.

»München ist eine Hochburg der freien Liebe. Und Elisabeth ist deren glühende Anhängerin.«

»Und was tun diese Anhängerinnen?« Frieda spürte, wie sie rot anlief, so schockiert war sie, und die Röte kroch ihr die Kehle hinunter bis ins Kleid hinein, sodass jeder Zentimeter ihres Körpers sich heiß und rosig anfühlte.

»Sie teilen sich ihre Liebhaber. Und zwar ohne jede Heimlichtuerei. Alles ganz offen, mit jedem, den sie wollen! Ich persönlich ziehe den besonderen Kitzel von etwas Verbotenem vor.« Nusch blickte Frieda mit großem Wimpernaufschlag an. »Reizt dich das nicht? Ernest ist so ein langweiliger alter Knochen.«

»Ich dachte, Elisabeth wäre mit ihren Suffragetten, ihren beiden Häusern und ihren Salons beschäftigt und hätte alle Hände voll damit zu tun, Edgars Berge von Geld auszugeben«, sagte Frieda entrüstet. Plötzlich wollte sie von freier Liebe oder den Liebhabern ihrer Schwestern nichts mehr hören.

»Ja, sie arbeitet viel für den Bund deutscher Frauenvereine, aber trotzdem hat sie Zeit fürs Vergnügen. Wenn du nach München fährst, wirst du ihren Liebhaber kennenlernen. Ihn zu sehen ist an sich schon eine lohnende Sache.« Sie hielt inne und schnüffelte in derselben übertriebenen Art wie schon in Friedas Flur. »Was ist das für ein garstiger Gestank?«

»Der Wind weht heute von den Fabriken herüber. Es könnte Ammoniak oder Schwefel sein, oder es kommt von den Aschegruben oder vielleicht vom Viehmarkt. Aber sieh dir die Bäume an«, Frieda blickte hinauf zu den staubigen Weidenkätzchen und den kleinen Blättchen, die sich wie winzige grüne Sonnenschirme entfalteten. »Sind sie nicht wundervoll?«

Nusch hielt sich das Taschentuch vor die Nase und fächelte sich mit den Fingern Luft zu. »Elisabeth versteht nicht, warum du keinen Salon abhältst. Sie hält jede Woche einen ab, entweder in München oder in Heidelberg. Letzte Woche war ich dort, Max und Alfred Weber haben gesprochen, und es herrschte ein solcher Trubel, dass ich kaum meinen eigenen Gedanken folgen konnte. Es hätte dir sehr gefallen.« Sie ließ das Taschentuch sinken und schnüffelte vorsichtig. »Hat sie dir schon von den Brüdern Weber geschrieben? Max ist ein Genie, er hat jetzt schon eine große Gefolgschaft. Elisabeth sagt, seine Ideen werden einmal die Welt verändern. Sie sagt, die aufregendsten Ideen kämen gerade aus München oder Heidelberg. England ist offenbar eher das Schlusslicht.«

Frieda versuchte, ihre Gedanken zu bändigen, indem sie die Veilchen und Löwenmäulchen betrachtete, die am Wegesrand sprossen, die festen weißen Knospen im Schlehdorn, die Vögel, die mit akrobatischen Kreisen den Himmel durchschnitten. Nur so konnte sie es ertragen: indem sie sich auf die Schönheit um sie herum konzentrierte und das Gerede ihrer Schwester an sich abperlen ließ. Trotzdem sah sie die ganze Zeit Nusch in ihrer Kutsche mit den vorgezogenen Vorhängen, die Samtröcke bis zur Hüfte geschürzt. Oder Elisabeth in ihrem vor Menschen wimmelnden Salon, wie sie bei den angeregten Gesprächen großer Männer den Vorsitz führte.

»Ja, sie schreibt oft von Max Weber und seinen Büchern und Essays«, sagte sie ausdruckslos. Aber nie von der freien Liebe, dachte sie.

»Sein Bruder Albert und er haben mich die ganze Nacht wach gehalten, sie sprachen über die Verbindung des Intellektuellen mit dem Erotischen. Ich habe kein Wort verstanden, aber sie beugen sich Elisabeth in allem. Sie behauptet, ihre Salons würden ein neues Zeitalter der Freiheit erschaffen.« Nusch hustete laut und schlug um sich, um die verpestete Luft zu vertreiben. »Könntest du es nicht mit einem Salon versuchen?«

»Es gibt niemanden, den ich einladen könnte. Wir haben in Nottingham keine Philosophen oder Dichter«, erwiderte Frieda. »Wir führen hier ein sehr ruhiges Leben.« Zu ruhig, dachte sie bei sich. Und die gestrigen Worte ihrer Schwester hallten in ihr wider: langweilig … nichts … ehe es zu spät ist.

»Wenn sie nicht bei ihrem Liebhaber ist, reden Elisabeth und Edgar abends über Tolstois Werke. Anscheinend arbeiten sie sich durch sein Gesamtwerk. Könntet ihr nicht auch so etwas tun, Ernest und du? Mit seinen Studenten muss er doch auch Bücher besprechen, warum dann nicht mit dir?«

Frieda seufzte. Das hatte sie natürlich versucht. Sie hatte versucht, mit ihm über Shakespeare und Stendhal und all die anderen Schriftsteller zu reden, die sie an ihren einsamen Abenden gelesen hatte. Sie hatte versucht, ihn an ihrer Faszination für die Figuren teilhaben zu lassen, für deren Gefühle und Verstrickungen. Ernest aber hatte ihr entweder Vorträge über literarische Formen gehalten oder ihre Grammatik verbessert. Irgendwann hatte er es abgebrochen und war stattdessen in sein Arbeitszimmer verschwunden, und sie war erleichtert gewesen.

»Er ist viel zu beschäftigt mit der Arbeit an seinem wegweisenden Buch über Etymologie«, erwiderte sie, den Blick zu Boden gerichtet.

»Wenn ich mir dein Leben ansehe, überläuft es mich eiskalt, du armes Ding.« Nusch schüttelte sich ostentativ, dann stieß sie ein erleichtertes Lachen aus. »Gott sei Dank bin ich am Wochenende wieder in Berlin!«

Später am Abend schlüpfte Frieda zu Monty ins Bett, schlang die Arme um ihn und sog seinen Geruch ein. Er roch nach nassen Knospen und Seife. Sie starrte in die Dunkelheit und fragte sich, wie es sich anfühlen mochte, in München die bewunderte Gastgeberin eines Salons zu sein. Sie schloss die Augen und stellte sich vor, sie wäre dort. Das Stimmengewirr und Gelächter. Das Gedränge der Leiber. Das Klirren und Tönen von Gläsern. Die Kristallschüsseln mit dem Fruchtpunsch. Die hellen Lichter der vielen Lampen, die bis tief in die Nacht hinein brannten. Und sie selbst in einem umwerfenden Seidenkleid und mit scharlachroten Mohnblumen im Haar, im Epizentrum einer leidenschaftlichen Debatte über die Zukunft der Literatur. Ihr lief ein Schauder den Rücken hinauf.

Am Morgen nach Nuschs Abreise stieß Frieda alle Fenster und Türen auf, riss die Vorhänge auf, so weit es nur ging, und stapelte Bücher vor die Türen, um sie offen zu halten. Licht fiel ins Zimmer, und die schneidende Aprilluft fegte durchs Haus, blies Hüte von der Ablage, fuhr in Ernests Papiere und ließ sie den Flur hinuntersegeln. Als Elsa fragte, was sie da tue, antwortete Frieda: »Ich möchte spüren, wie der Frühling durch dieses Haus weht. Ich habe vergessen, wie sich das anfühlt.«

»Aber das ist schmutzig!«, protestierte Elsa.

Und Frieda, die Ernests Papieren hinterherjagte, erwiderte: »Dann erzähl Papa nichts davon!«

3

Monty

Mama, was ist ein Hunne?«, fragte Monty mit Flüsterstimme. Er wollte nicht, dass jemand zuhörte, und im Mikado-Café ging es hoch her; an jedem Tisch saßen ein paar Damen und Herren, und die Kellnerinnen und Kellner eilten mit Kuchenständern und Silbertabletts voller Tee- oder Kaffeegeschirr hin und her.

»Ein was, mein kleiner Schatz?« Seine Mutter hob den Blick von ihrem Buch. Seit Tante Nusch vor einer Woche wieder abgereist war, las sie viel.

»Ein Hunne. Ist das so etwas wie eine Nonne?« Monty griff nach einem weiteren Scone und fing an, die Erdbeerstückchen aus dem Marmeladentopf herauszupicken und fein säuberlich auf seinem Scone zu verteilen.

»Die Hunnen waren ein kriegerischer Volksstamm. Sehr stolz und sehr hässlich. Und Hunne ist ein Schimpfwort für einen Deutschen.«

»Heißt Barby Barby, weil sie eine Bar-Barbarin ist?« Nun schob er die Erdbeerstückchen zu einer engen Spirale zusammen und griff nach der Schüssel mit Clotted Cream.

»Barby ist die Abkürzung von Barbara und hat mit den Barbaren nichts zu tun. Zieht euch in der Schule jemand auf?«

Monty schüttelte vehement den Kopf. Er wollte ihr nicht von den großen Jungen erzählen, die ihn einen Hunnen schimpften, wie sie ihn herumgeschubst, ihm den Ranzen abgenommen und so hoch in die Luft geworfen hatten, dass er aufgegangen war und alle Bücher und Papiere wie trockenes Laub vom Himmel geflattert waren.

»Du solltest stolz darauf sein, ein halber Deutscher zu sein. Das Land hat einige der besten Denker dieser Welt hervorgebracht.« Sie zeigte ihm den Einband ihres Buches. Es war eine Geschichte über einen Mann namens Zarathustra. Aber es gab keine Bilder darin, und es sah sehr langweilig aus.

»Warum starren die Leute uns an, wenn wir deutsch reden?«

»Ach, mein kleiner Schatz«. Sie ließ ihr Buch sinken und schenkte sich aus der silbernen Kaffeekanne mit dem verschnörkelten Deckel noch eine Tasse ein. »Deutschland möchte jetzt ein Reich werden. Aber die Engländer meinen, nur sie selbst dürfen ein Empire haben. Sie finden, dass wir Deutschen zu groß, zu bedeutend werden. Engländer mögen nur sich selbst.« Sie ließ ein Stück Würfelzucker in ihren Kaffee fallen und rührte bedächtig um.

Monty kaute vor sich hin, runzelte die Stirn und versuchte, die Worte seiner Mutter zu verstehen. »Ist das der Grund, warum du keine Freunde hast?«

Sie sah ihn an, sagte aber nichts. Monty wünschte, sie würde lachen. Er mochte es, wenn sie so herzhaft lachte, dass es ihr die Haarnadeln aus den Locken schüttelte und die goldenen Flecken in ihren grünen Augen funkelten.

Stattdessen tätschelte sie den Buchdeckel und sagte: »Mr Nietzsche ist mein Freund, Monty.«

»Kommt er demnächst zum Tee?«

Seine Mutter antwortete lange nicht, also schluckte Monty geräuschvoll die Krümel hinunter, die an seinem Gaumen und am Wangeninneren klebten. Er fragte sich, ob ihr die Worte im Mund stecken geblieben waren wie ihm die Scones-Krümel. Zu ihrer Ermunterung schluckte er noch einmal.

Aber dann schoss die Antwort in einem Rutsch aus ihrem Mund. »Du bist jetzt sieben, da kann ich es dir erzählen, Monty. Aber du darfst es niemandem weitersagen. Das bleibt unser Geheimnis.«

Monty nickte und wischte sich mit dem Handrücken die Cream vom Mund.

»Ich habe gemerkt, dass in mir etwas ist, das herauskommen möchte. Ich nenne es das Was-ich-sein-könnte. Es ist schwer zu erklären, mein Liebling.«

Montys Blick wanderte geschwind zu ihrem Bauch hinunter. Er nickte sehr langsam. Eine weitere Schwester wollte er nicht, aber ein Bruder wäre schon in Ordnung.

»Es fühlt sich an wie ein geheimes Feuer.« Sie hielt inne und legte sich die Hand erst auf die Brust und dann auf den Bauch. »Ich habe Angst, ich könnte sterben, bevor ich gelebt habe.«

Monty nickte mitfühlend. Er wusste, dass manche Frauen starben, wenn sie Kinder bekamen. »Ich werde für dich beten«, sagte er, nahm sich noch einen Scone und bestrich ihn mit Butter.

»Mein Freund, Mr Nietzsche, hilft mir.« Sie griff wieder nach ihrem Buch. »Und du auch, Monty. Du und Elsa und Barby.«

Er langte über den Tisch und tätschelte ihr leicht die Hand, wie sein Vater es manchmal tat. Es beunruhigte ihn, dass ihr einziger Freund in einem Buch gefangen war. Wie konnte jemand in einem Buch ihr dabei helfen, ein Baby auf die Welt zu bringen? »Weiß Papa davon?«

»Wovon, mein Schatz?« Sie sah von ihrem Buch auf und blickte ihn zerstreut an, als habe sie gerade etwas sehr Schwieriges gelesen und sei von ihm in ihrer Konzentration gestört worden.

»Von dem Ding, das in dir wächst«. Er nickte in Richtung ihres Bauches. Der definitiv größer geworden war, und weicher.

»Das soll unser Geheimnis bleiben, Monty. Ich hätte dir gar nichts sagen sollen, aber ich habe sonst niemanden, mit dem ich reden kann.«

»Wann kommt denn dein Freund zum Tee?«

Sie lächelte und strich ihm mit dem Daumen über die Wange. »Mr Nietzsche ist tot, mein Schatz.«

Monty blinzelte heftig und kaute auf seinem Scone herum. Sie las nicht mehr. Sie starrte mit einem entrückten Ausdruck auf dem Gesicht an die Decke. Monty dachte, da müsse etwas sein, da an der Decke, denn sie saß eine ganze Weile da und starrte hinauf. Aber als er nach oben blickte, war da nichts – nicht einmal Spinnweben.

4

Ernest

Ernest beschloss, zu Fuß von der Universität nach Hause zu gehen. Der Wind war beißend kalt, und ein feiner Nieselregen hatte die Kieselsteine dunkel und rutschig werden lassen, aber er brauchte Zeit zum Nachdenken. Nuschs abgebrochener Besuch hatte Frieda sichtlich aus dem Gleichgewicht gebracht, und er wollte den Schaden wiedergutmachen. Wenn er zum Marktplatz ging, konnte er ihr ein paar Blumen kaufen. Vielleicht gab es am Floristenstand noch ein paar Tulpen. Oder frühe Nelken, cremefarben und blassrosa. Er wollte ihr zeigen, dass sie sich jetzt echte Blumen leisten konnten, Zierpflanzen, die andere Menschen angebaut und gepflückt hatten. Frieda bestand darauf, dass sie Wiesenkerbel und Geißblatt von den Hecken pflückten. Sie pflückte sogar das Kreuzkraut auf den Feldern, obwohl es ihm vor einem Unkraut, von dem jeder – zumindest jeder englische Bauer – wusste, dass es das Vieh vergiftet, graute. »Aber wir sind ja kein Vieh, mein Schatz«, hatte sie lachend gesagt, »und sie sehen so schön bunt und fröhlich aus.«

Und jetzt machten die Kinder es ihr nach. Sie füllten das Haus mit welken, schlaff in den Vasen hängenden Stängeln. Wahllos wurden Krüge voll trübem Wasser auf ihren besten Mahagonitischen abgestellt. Überall auf dem Boden lagen verdorrte Blütenblätter herum. Seine ganze Zeitung war voller Pollen. Wenigstens hatten sie Mrs Babbit, die alles abstaubte.

Seine Gedanken schweiften zu all den neuen Bediensteten, die im Haus ein und aus gingen: die Hauswirtschafterin, das Kindermädchen, der Gehilfe, der zum Rasenmähen vorbeikam. Er hatte erfolglos versucht, die Mischung aus Verachtung und Zuneigung, mit der seine Frau diese Leute behandelte, zu imitieren. Sie legte im Umgang mit ihnen eine aristokratische Leichtigkeit an den Tag, für die er Bewunderung und zugleich Neid empfand. Seine unbeholfenen Versuche, nach außen ebenso locker zu wirken wie sie, hatten nur dazu geführt, dass er sich sonderbar unfähig fühlte. Mittlerweile überließ er ihr den Umgang mit dem Personal ganz.

Er dachte gern über seine Frau nach. Ihre Vitalität, ihren Überschwang. Es war, als besetzte sie jeden Winkel im Haus gleichzeitig. Und dann ihre Art, wie ein kleines Erdbeben die Treppe hinauf- und wieder hinunterzustürmen. Versuchte er gerade zu arbeiten, war das natürlich sehr provokant, aber wenn sie nicht da war, dachte er gern an sie.

Seit Nusch fort war, schien alle Lebendigkeit von ihr gewichen. Er hatte sich sogar kurz gefragt, ob Nuschs Zurschaustellung ihrer prächtigen Kleider und ausladenden Hüte Frieda vielleicht das Gefühl gegeben hatte, minderwertig zu sein. Nusch hatte wohl eine bessere Partie gemacht. Ihr Ehemann war so alt wie er, aber reich und von Adel, mit einer schmucken Duellnarbe quer über der linken Wange. Genau so ein Militär, wie der Freiherr von Richthofen ihn sich für jede seiner drei Töchter zum Gatten gewünscht hätte.

Er würde härter arbeiten müssen. Er würde ein paar Extrasitzungen im Prüfungsausschuss absolvieren oder einen weiteren Abendunterricht für Arbeiter anbieten müssen. Und er würde ihr gestatten, sich einen neuen Hut aus London kommen zu lassen … mit kostbaren Federn an der Krempe. Silberreiher-Federn vielleicht …

Wenn sie mit den Kindern spielte, bekam sie immer noch glänzende Augen. Erst gestern hatte sie, als er nach Hause kam, mit geschürzten Röcken auf dem Boden gelegen und mit ihren kräftigen seidenbestrumpften Beinen in der Luft herumgestrampelt. Monty hatte erklärt, sie tue nur so, als sei sie ein Fahrrad. Das war einfach unpassend und würdelos gewesen, aber es hatte ihn so erleichtert, sie lachen zu hören, dass er es nicht weiter hatte kommentieren wollen.

Wie tief ihre Muttergefühle gingen, überraschte ihn immer wieder. Sie liebte ihre Kinder mit einer unbändigen Energie, die er noch nie so ganz verstanden hatte. Darüber wurde ihm bewusst, dass er selbst eine innere Schwäche hatte, begraben unter den unzähligen Schichten von Bildung, die er sich auf seinem langen, stetigen Weg hin zur Respektabilität, zur Stellung eines Gentleman, erarbeitet hatte. Eine Schwäche, die er weder genau benennen noch lokalisieren konnte, vergleichbar einem Mückenstich unter engen Kleidern.

Eine knallrote Straßenbahn ratterte vorbei und unterbrach seinen Gedankenstrom. Vorübergehend abgelenkt durch die Erinnerung an den Anblick der üppigen Schenkel seiner Frau hastete er zum Marktplatz. Er schüttelte den Kopf. Vor allem musste er über Nusch nachdenken. Mit was hatte sie Frieda so den Wind aus den Segeln genommen? Nuschs Mischung aus beißendem Spott und aufreizender Überlegenheit hatte er noch nie besonders gemocht. Er wusste, dass sie auf ihn herabsah – selbst wenn sie mit ihm flirtete. Sie hatte etwas Unchristliches, etwas irgendwie Unmoralisches. Ihm kamen Worte aus der Bibel in den Sinn … »Und auch in meinem Hause finde ich ihre Bosheit, spricht der HERR« … Wenigstens hatte Frieda die moralische Stärke ihrer Mutter und nicht die schamlose Laxheit ihres Vaters oder ihrer Schwester.

Eine steife Brise wehte über den Markt, rüttelte an der Krempe seines Homburger und riss an dem Einstecktuch, das aus seiner Brusttasche ragte. Er packte den Griff seines Regenschirms und sah sich bei den verbliebenen Verkaufsständen um. Keine Tulpen oder Nelken. Ein Korb mit welkem Sauerampfer. Ein weiterer mit grünen Rhabarberstängeln. Ein Tisch mit Hasenkarkassen. Er blieb stehen und schaute sie sich an. Fetzen durchscheinenden Fleisches hingen noch an der Wirbelsäule.

»Karkasse«, murmelte er, »carcosium … vielleicht ursprünglich von carchesium oder auch vom persischen tarkash. Carcase heißt es in Australien, glaube ich.«

Als er den bösen Blick des Standinhabers bemerkte, ging er schnell weiter. Der Nieselregen wurde stärker, er musste nach Hause. Er wollte gerade gehen, als er eine Frau sah, die gehäkelte Spitze in einen Korb packte.

»Ich hätte gern etwas von der Spitze«, sagte er und bemühte sich, entschlossen und gleichgültig zu klingen. Die Frau schob ihm ein Quadrat mausgraue Spitze hin. »Die sind in London gerade der letzte Schrei.«

Ernest räusperte sich. Es sah aus wie ein Taschentuch, aber irgendetwas sagte ihm, dass es kein Taschentuch war. Und doch war es zu groß, um ein Platz- oder Zierdeckchen zu sein.

»Für Sessellehnen. Da, wo die fettigen Köpfchen am Polster reiben«, erklärte die Frau.

»Ich nehme vier Stück.« Ernest trat einen Schritt zurück und dachte über das Wort »vier« nach. Vom Altenglischen feower, und davor wahrscheinlich vom Germanischen fedwor. Und davor? Seine Gedanken schweiften zurück zu den linguistischen Überresten vergangener Zeiten, zum Lateinischen, Griechischen, Altnordischen, Altfriesischen.

Er dachte immer noch über die Herkunft des Wortes »vier« nach, als er zu Hause im Flur stand und Frieda das feuchte Päckchen mit der Spitze aushändigte.

Sie riss das Papier auf. Als sie die Spitzenkarrees entdeckte, wurde ihr Lächeln ein wenig starr.

»Nottinghamer Spitze ist immer noch die beste der Welt«, sagte er und spürte einen kleinen Anflug von Stolz. Es war ein Stolz – der Stolz auf England, auf das Empire, darauf, dass er selbst ein englischer Gentleman war –, den er in den Jahren ihrer Ehe genährt hatte und den er vage und dunkel bis zum Morgen seiner Hochzeit zurückverfolgen konnte, als er das Bedauern in Freiherr von Richthofens Augen gesehen hatte.

Frieda warf das Papier in den Papierkorb. »Ja, mein Lieber. Das ist sie wohl.«

Als sie sich abwandte und ging, bemerkte er an der Haltung ihrer Schultern eine gewisse Müdigkeit. Als sei sie sehr erschöpft. Ja, er würde ihr eine Fahrkarte nach München kaufen. Sie brauchte Erholung, etwas Zeit für sich. München war die Rettung.

5

Frieda

Nach Nuschs Besuch dachte Frieda immer wieder an den Tag zurück, an dem sie Ernest kennengelernt hatte. Wenn sie seinen Hut bürstete oder seine Regenschirme ordnete oder den kleinen Spiegel putzte, den er in seinem Arbeitszimmer aufgehängt hatte, schloss sie die Augen und stellte sich die Quelle vor, an der sie einander das erste Mal begegnet waren. Sie konnte sich deutlich erinnern, wie die von der Sonne getrockneten Steine und das weiche Moos sich angefühlt hatten. Und an Ernest, wie er lässig auf seinen Stock gestützt dastand und den gebogenen Wasserstrahl beobachtete. Sie hatte die keck im Mundwinkel sitzende Pfeife gemocht, die silberne Fliege, den salopp auf dem Kopf sitzenden Strohhut. Er hatte Deutsch mit ihr gesprochen, dann Französisch, dann Englisch. Auch das hatte sie gemocht – sein Talent und seine Bildung.

Sie war nach Hause zu ihren Schwestern geeilt und hatte ihnen erzählt, dass er viele Jahr studiert hatte und an vier Universitäten gewesen war, von den vielen Lehrbüchern, an denen er arbeitete, und von seiner neuen Anstellung als Universitätsprofessor für Neuere Sprachen in einer englischen Stadt mit exotisch klingendem Namen. »Er ist sogar klüger als du«, hatte sie zu Elisabeth gesagt. Allerdings hatte sie weder erzählt, wie alt er war, noch, dass an seinen Schläfen blaue Adern pulsierten und dass er sein schon recht schütteres Haar über die glänzende Glatze drapierte.

Als ihre Mutter sagte, Mr Weekley wolle sie heiraten und nach England mitnehmen, hatte sie von ihrem Gedichtband aufgesehen und gelächelt und sich schon als inspirierende Ehefrau gesehen, die Leichtigkeit und Freude in das Leben eines großen Gelehrten brachte. Schon damals, im Alter von achtzehn Jahren, hatte sie an Größe geglaubt. Sie hatte sich vorgestellt, wie sie, in tiefe Gespräche verstrickt – Philosophie, Poesie, Politik –, über die wallenden Hügel Englands wandern und mit Leichtigkeit von einer Sprache zur nächsten springen würden. Erst später hatte sie den Reiz des Sieges über ihre Schwestern verspürt und in die Seiten ihres Buches geflüstert: »Ich werde als Erste heiraten, werde als Erste die Bürde der Jungfräulichkeit von mir werfen!«

»Natürlich ist er nicht Unseresgleichen«, hatte die Freifrau gesagt. »Aber dass du keine Mitgift hast, ist ihm einerlei, und Bittsteller haben keine Wahl.«

Frieda hatte sich nie etwas aus Geld gemacht. Sie wollte das Leben. Abenteuer. Gespräche. Liebe. Ernest hatte ihr all das geboten. Und dazu noch das verheißungsvolle England: Schon das Wort allein steckte voller Mysterium, Glanz und Leidenschaft. Sie hatte das Land eines Shakespeare, Wordsworth und Byron rufen hören. Ein Land der Könige und Königinnen. Ein Empire, das bis ans Ende der Welt reichte. »Dies gekrönte Eiland … dies halbe Paradies … dies Kleinod, in die Silbersee gefasst.« Sie wiederholte immer und immer wieder das Wort »England« und ließ es sich auf der Zunge zergehen.

Später, nach einer Begegnung mit Ernests unterwürfigen Eltern in Dover – die fromme kleine Mutter mit ihren geflickten Handschuhen trippelnd und knicksend, der bucklige Vater tänzelnd und sich verbeugend, das Hemd vom Waschen dünn wie Papier –, war die Freifrau wütend nach Metz davongerauscht. Als Frieda wiederkam, hatten ihre Eltern ihr klargemacht, dass sie mit Ernest nicht mehr einverstanden waren. Über seine offenkundige Jungfräulichkeit war in der Familie gespottet worden, seine armen Eltern hatten als Schande gegolten, sein Mangel an Klasse als Verbrechen.

Aber Frieda hatte in Mr und Mrs Weekleys bescheidener Ehe etwas gesehen, das sie mit Hoffnung erfüllte: Die kleinen Gesten der Zuneigung und Vertrautheit, die sie einander entgegenbrachten, die Hingabe, mit der Ernests Vater für seine Frau den Ofen reinigte, die Art, wie sie ihm jeden Morgen den Bart kämmte und ihm die Falten aus der Hose strich, wenn er sich erhob. Kleine Gesten der Loyalität und der Liebe, die sie nie zuvor gesehen hatte.

Ganz zu Anfang ihrer Ehe hatte sie versucht, es genauso zu machen, hatte die Krümel aus Ernests Schnurrbart gebürstet und seinen Schlips gerade gezogen. Sie hatte Butterblümchen und Vergissmeinnicht gepflückt, sie mit etwas Grünzeug arrangiert und in Eierbechern auf seinen Schreibtisch gestellt. Zum Frühstück hatte sie den Brieföffner neben seine Post gelegt und die Ränder von seinem Toast abgeschnitten. Nach der Geburt der Kinder hatten die Dinge sich geändert. Etwas war mit Ernest geschehen, sie konnte nicht genau sagen, wie oder warum, aber sie fühlte sich zusehends an die Peripherie seines Lebens gedrängt. Verwirrt hatte sie sich gefragt, ob er sie nicht mehr liebte, ob er sie je geliebt hatte. Ihre Verwirrung war kurz in Wut umgeschlagen. Nach ein paar Wochen war der Ärger allmählich verflogen, hatte sich in ein dumpfes, zärtliches Hinnehmen seiner Person und ihres getrennten Lebens verwandelt, und sie hatte sich mit großer Begeisterung in die Mutterschaft gestürzt.

Doch gelegentlich ging dieses Hinnehmen in eine stumme Traurigkeit über. Und sie hatte stets das Gefühl, man habe ihr eine Rolle übergestülpt. Eine Rolle, die sie nicht wirklich selbst gewählt hatte. Das war etwas, das sie eher gefühlt hatte, als dass sie es wusste, etwas, das sie nicht in Worte fassen konnte. Bis Nusch gekommen war mit all ihrem Gerede von Affären und Salons. Und zum Ausdruck gebracht hatte, dass Elisabeth und sie – von denen keine auch nur ansatzweise Friedas Mut besaß – sich irgendwie ein eigenes Leben geschaffen und ihre eigene Rolle gewählt hatten. In einem uneingeschränkten und freudvollen Leben. Einem Leben, in dem sie mit genau der Leidenschaft geliebt wurden, von der Frieda immer geträumt hatte.

Ich werde nach München fahren, dachte sie, und mir anschauen, wie sie mit der Darstellung ihres übervollen Lebens übertrieben haben. Vielleicht wollten ihre Schwestern sie dafür bestrafen, dass sie so tief unter ihrem Stand geheiratet hatte. Sie legte Ernests Pfeife und Tabaksbeutel bereit, genau so, wie er es mochte, in einer Ecke seines Arbeitstisches, neben dem Messingaschenbecher und einer neuen Schachtel Streichhölzer. Dann strich sie die mausgrauen kleinen Spitzenkarrees glatt, die er ihr gekauft hatte und die jetzt alle übereinander auf der Rückenlehne seines Schaukelstuhls lagen. Und während sie das tat, kam ihr plötzlich ein anderer Gedanke. Wenn nun Nusch weder gelogen noch übertrieben hatte? Sie schüttelte den Kopf. Die gebildete, ernste Elisabeth tollte mit einem hübschen Liebhaber an der freien Luft herum? Eine lachhafte Vorstellung!

6

Monty

Es war nun eine Woche her, dass seine Mutter ihm das große Geheimnis anvertraut hatte, und es fiel ihm immer schwerer, nicht an seinen zukünftigen Bruder zu denken oder an die Möglichkeit, dass seine Mutter sterben könnte. Mit dem geheimen Feuer, das in ihr brenne, hatte sie wohl gemeint, dass sie Fieber hatte. Er dachte an sein letztes Fieber. Es hatte sich angefühlt, als verbrenne er, als sei das Blut in seinen Adern am Kochen und als leckten Flammen an seinem Innern.

Als sein Vater an diesem Abend in sein Zimmer kam, um ihn zuzudecken, brach die Frage, die die ganze Zeit an ihm genagt hatte, aus ihm heraus: »Papa, wo kommt so ein Baby eigentlich her?«

Sein Vater saß auf der Bettkante und rührte sich nicht. Schließlich sagte er: »Es ist ein Geschenk Gottes.« Und dann hustete er, als sei ihm etwas in der Kehle stecken geblieben.

»Wenn es ein Geschenk ist, wieso sterben dann so viele Frauen daran?«

»Das kommt nur selten vor. Und wenn doch – wenn … wenn …« Seinem Vater versagte die Stimme, er sprang auf und stürzte zur Tür, als müsse er plötzlich ganz eilig fort. Zurück in sein Arbeitszimmer wahrscheinlich. Zurück zu seinen Büchern.

»Würde eine Frau sterben, wenn sie ein Baby bekäme und gleichzeitig Fieber hätte, Papa?«

Sein Vater griff nach dem Türknauf. »Schlafenszeit. Gute Nacht.«

»Aber wie kommt etwas so Großes überhaupt in den Bauch einer Frau hinein?« Monty hörte das Klicken, mit dem die Tür sich schloss, und die hastigen Schritte seines Vaters auf der Treppe. Bilder von Babys und von Flammen, die aus der Haut seiner Mutter schlugen, aus ihrem Mund, aus ihrem Kopf, ihren Nasenflügeln, ihrem Bauch, gingen ihm wild im Kopf herum. Und dann Bilder von ihr als toter Frau, die Augen geschlossen, vollkommen reglos – wie sie still dalag in ihrem besten Sonntagskleid mit den samtüberzogenen Knöpfen. Wie konnte das ein Geschenk Gottes sein?

Am nächsten Tag fragte er seine Mutter beim Frühstück, wie es ihr ging. »Was ist mit deinem … Fieber?« Er deutete mit dem Kinn auf ihren Bauch und konzentrierte sich dann darauf, die Orangenmarmelade so auf seinem Toast zu verstreichen, dass die Orangenschalenstückchen auch gleichmäßig verteilt waren.

»Fieber?« Sie klang überrascht.

»Das Feuer.« Monty senkte die Stimme. Ida war mit Barby und Elsa zum Bauernhof gegangen, um ein paar Eier zu kaufen, und sein Vater war bei der Arbeit, aber Mrs Babbit war in der Küche und konnte jeden Moment hereinplatzen.

»Feuer?« Seine Mutter drehte sich zum Feuerrost um, wo ein paar Holzscheite halbherzig brannten. »Du bist immer so aufmerksam, Monty.« Sie schob ihren Stuhl zurück, ging zum Herd und warf ein kleines Scheit aufs Feuer, was einen Funkensprühregen verursachte.

»Kommt ein Baby von Gott?«

»Gewissenermaßen, ja.« Sie sah ihn neugierig an. »Aber in Wirklichkeit wird es von einem Mann hineingetan. Dann wächst es und wächst und kommt schließlich heraus.« Sie griff sich das Buttermesser, begann an der Butter zu kratzen und ließ hier und da kleine Flöckchen auf ihren Toast fallen.

Monty kaute nachdenklich. »Welcher Mann tut es da hinein?«

»Na ja, der Vater natürlich. Erinnerst du dich an den Bullen, den wir letzte Woche gesehen haben? Der auf die Kuh geklettert ist, bei der Eiche mit der Schaukel?«

Monty nickte.

»Er hat sein Baby in die Kuh getan. Und jetzt wird die Kuh immer fetter, und dann bekommt sie ein Kalb. Wie durch ein Wunder!«

»O«, sagte Monty verdutzt. Und erinnerte sich an den Bullen mit seinem riesigen roten Penis und wie er geächzt und sich hochgewuchtet hatte – und spürte, wie sein Gesicht heiß wurde. Er war sich noch nicht sicher, was Gott in all dem zu suchen hatte, aber er wollte nicht länger über seinen kleinen Bruder nachdenken, auch nicht über wütende Bullen oder seinen Vater, der auf seine Mutter kletterte. »Wollen wir heute nach Sherwood Forest gehen? Nur du und ich, ohne Elsa oder Barby. Könnten wir ein bisschen Pflaumenkuchen mitnehmen?«

»Du hast doch gerade erst gefrühstückt!« Sie beugte sich über den Tisch und drückte seine Hand. »Ich mag es, wenn du viel isst, Monty.«

Sie steckte sich das letzte Stückchen Toast in den Mund und erhob sich vom Tisch. Monty betrachtete ihren Bauch. Wurde er dicker? Er sah genauso aus wie vorher. Er beschloss, den Bauch von nun an jeden Tag anzuschauen. Und dann würde er es seinem Vater sagen. Jemand musste es ihm ja sagen. Auch wenn das hieß, dass er sie verpetzen musste.

7

Frieda

Während Frieda sich auf München vorbereitete – Hüte ausbessern, Schuhe neu besohlen und die Scharniere des Reiseschrankkoffers ölen ließ –, kamen weitere Briefe von ihren Schwestern an: Nusch schrieb, sie bedauere es sehr, nicht nach München kommen zu können, doch ihr Liebhaber und ihre Schneiderin beanspruchten sie täglich. Elisabeth teilte ihr mit, sie solle sofort ins Café Stefanie kommen, »ganz gleich, zu welcher Tages- oder Nachtzeit du eintriffst«, und betonte noch einmal, was für eine »intellektuelle und künstlerische Oase« München geworden sei. Frieda warf die Briefe in den Papierkorb, konnte aber nicht umhin, sich merkwürdig aufgekratzt zu fühlen. Sie schien zwischen missbilligendem Zweifel und nervöser Vorfreude hin- und hergerissen. Einmal hatte sie noch versucht, Ernest dazu zu bewegen, sie zu begleiten, aber er hatte darauf bestanden, dass ein Urlaub für ihn überhaupt nicht infrage kam.

Eines Nachts wachte sie mit staubtrockenem Mund auf und wollte Wasser trinken. Als sie nach dem Glas neben ihrem Bett griff, kehrte der Traum zurück, aus dem sie so plötzlich erwacht war. Sie runzelte die Stirn, blinzelte und nahm einen Schluck Wasser. Es war kein Traum, dachte sie. Es war eine ihr in allen Einzelheiten vor Augen stehende Erinnerung. Eine Erinnerung, die sie vor zehn Jahren gut weggepackt hatte. Sie fragte sich, ob die bevorstehende Reise nach Hause eine kleine Tür zur Vergangenheit aufgestoßen hatte. Sie von dem engen, sonnenlosen Haus forttrug und für einen Augenblick zurückverfrachtete in die Militärgarnison von Metz. Sie legte sich nieder und schloss die Augen.

Die Erinnerung kehrte wieder, so lebendig wie ihr Traum. Sie war im Gesellschaftszimmer, hörte die Schritte ihrer Mutter, die hin und her lief, und ihre hektische Stimme, die den Raum füllte. Die Freifrau schickte Nusch los, um den befehlshabenden Offizier um Geld anzubetteln, kniff ihr in die mädchenhaften Wangen, damit ihre Schönheit ihn freigebiger stimmte. Die Neuigkeiten machten allmählich die Runde. Die Dienstboten waren entlassen worden. Das Haus sollte verkauft werden. Kein Geld mehr für Mitgiften. Keine Chance mehr auf eine Heirat mit dem Hauptmann. Sie mussten sich Geld leihen, als Pfand war ihnen nur noch ihr letztes Hab und Gut geblieben. Die Spielschulden des Freiherrn waren zu groß geworden, unüberschaubar groß.

Sie steckte sich die Finger in die Ohren und wiegte sich unter den Eiderdaunen. An das, was darauf folgte, wollte sie nicht erinnert werden. Aber die Erinnerung überkam sie einfach, wie Wasser, das im Damm einen Riss gefunden hat, durch den es sich jetzt seinen Weg bahnt. Wütend fegten die Kleider der Freifrau über die Bodenbretter, die Arme, fest um die Brust geschlungen, zerquetschten die steifen Gräten ihres Korsetts. In ihrer Stimme mischte sich Scham mit Bitterkeit, während sie klagende Entschuldigungen für sein Verhalten vorbrachte … »Es ist nicht leicht, in einer Schlacht verwundet zu werden. Wenn ein Militär seine Narbe so öffentlich zur Schau tragen muss …« Ihr starrer Blick huschte von der Decke zum Boden, als könne sie es nicht ertragen, ihre Töchter anzusehen, sich selbst in ihren Augen gespiegelt zu sehen. »Er hat einen unehelichen Sohn, und wir müssen das Schweigen der Mutter kaufen … hätte er doch nur einen rechtmäßigen Sohn, dann könnte er ihm den Adelstitel vererben … Mit was für einer Enttäuschung hat er gelebt … Die vielen Austern, die sie gegessen hatte – bis sie fast krank wurde davon … die Zigeunerin, die ihm geschworen hatte, Frieda würde ein Junge werden … Deine Schuld, Frieda … Wärest du doch nur der Junge gewesen, der du hättest werden sollen …«

Frieda öffnete die Augen und stieß die Decke zurück. Die kalte Morgenluft riss sie aus dem Dämmerschlaf ihres Bewusstseins. Sie wollte nicht über die Vergangenheit nachdenken. Sie wollte sich nicht an den Umzug in die mickrige, niedrige Wohnung erinnern, daran, wie falsch sich alles angefühlt hatte – zu eng, zu neu, zu karg – oder an die endlosen Diskussionen, die nun folgten, wer sie jetzt heiraten solle, jetzt, da sie »keine Mitgift mehr« hatten. Ihr klang wieder die Stimme ihrer Mutter in den Ohren. ›Nusch wird einen reichen Ehemann finden, denn sie ist schön … Elisabeth wird zurechtkommen, denn sie ist mächtig klug … aber Frieda?‹

Geschwind setzte sie sich auf. Ich muss an den bevorstehenden Tag denken, sagte sie sich. Es gibt viel zu tun: Mrs Babbit braucht meine Anweisungen, die Zeitschriften-Abonnements für Ernest müssen verlängert werden, für Barbys Ausschlag muss eine Salbe gerührt werden, und ich muss beim Metzger meine Bestellung aufgeben.

Als sie sich später gähnend durch ihre Besorgungen kämpfte, hatte sie einen kurzen Moment der Erleuchtung.

»Ernest«, sagte sie abends bei Lammkotelett und Bratkartoffeln. »Ich möchte, dass meine Kinder in dem Wissen aufwachsen, dass Mut wichtiger ist als die äußere Erscheinung und die Intelligenz.«

Ernest hatte einen Stapel Examensarbeiten neben sich liegen und versuchte zu essen und gleichzeitig Korrekturen zu machen. »Wovon redest du eigentlich, meine Schneeblume?«

»Ich will, dass sie wissen, dass Mut wertvoller ist, als schön auszusehen oder klug zu sein.«

Er schien vollkommen perplex, und sie fragte sich, ob sie ihn daran erinnern sollte, wie mutig es von ihm gewesen war, die Freifrau um ihre Hand zu bitten. Doch dann sah er von seinen Papieren auf und antwortete ihr.

»Ich denke, Mut ist wichtig, falls Monty eine militärische Karriere einschlagen will. Ich freue mich, wenn die Mädchen so rein und schön werden wie du«. Er tätschelte ihre Hand und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.

Sie seufzte, schob den Teller von sich und wollte schon nach Mrs Babbit klingeln, als Ernest sagte: »Lies Monty die Geschichte von König Arthur vor. Darin dreht sich alles um Mut und Unerschrockenheit.«

»Und die Mädchen?«, beharrte sie. Ernest hielt inne und löste kurz den Blick von seinen Papieren. »Pflicht, Loyalität und Moral. Steht alles in der Bibel. Vielleicht steht es auch in den Märchen der Gebrüder Grimm, mit denen du ihnen immer den Kopf füllst. Würdest du Mrs Babbit bitten, mir heute Abend mein Glas Stout ins Arbeitszimmer hinaufzubringen?« Damit schob er seinen Stuhl zurück, schnappte sich den Stapel mit Aufsätzen und verließ eilig den Raum.

»Vielleicht nehme ich Monty mit nach München, dann kann er sich den deutschen Schneid in Erinnerung rufen!«, rief Frieda seiner fliehenden Gestalt zu. Aber es kam keine Antwort, es hallte nur der scharfe Knall durchs Haus, mit dem er die Tür zum Arbeitszimmer hinter sich schloss.

8

Monty

Warum antwortest du mir immer auf Englisch?« Seine Mutter hatte die Stimme erhoben, um den Lärm im Café zu übertönen. »Möchtest du jetzt nicht lieber deutsch mit mir reden?«

Monty kaute bedächtig und sagte nichts. Die Leute starrten ihn immer an, wenn er deutsch sprach, und er wollte nicht noch einmal hässlicher Hunne genannt werden. Aber wenn sie zu Hause deutsch sprach, das mochte er gern. Er mochte es, wie die deutschen Wörter tief aus ihrer Kehle kamen, wie sie heraufstiegen und dann wie ein Gewehrfeuer aus ihrem Mund ratterten.

»Wenn wir zu Hause sind«, murmelte er nach einem langen Schweigen.

»Fein.« Sie langte über den Tisch nach einem weiteren Stück Obstkuchen. »In Deutschland schmeckt der Kuchen viel besser. Ich finde, du solltest mich nach München begleiten, Monty. Hättest du Lust dazu?«

Monty merkte, wie die Spannung von seinen Schultern abfiel und der Knoten in seinem Magen sich allmählich lockerte. »Ja, bitte. O ja, bitte!« Kuchenkrümel flogen aus seinem Mund, aber das scherte ihn nicht. Er würde nach München fahren!

»Ich fühle mich nicht ganz wohl und denke, ein kurzer Urlaub in München könnte hilfreich sein.« Sie schlug ihr Buch wieder auf, aber es sah nicht so aus, als würde sie lesen. Ihre Augen bewegten sich nicht.

Monty streckte die Hand aus und berührte vorsichtig ihren Unterarm. »Mama, hast du Bauchschmerzen?«

Sie sah auf und sagte: »Was täte ich nur ohne dich, Monty? Du bist jetzt schon ein großer Junge.« Monty wünschte, er wäre kein großer Junge. Er wollte wieder klein sein, auf ihren Schoß klettern, ihr Gesicht und ihr Haar streicheln und spüren, wie seine Haut unter der Hitze ihrer weichen Handfläche dahinschmolz. Wie Elsa und Barby.

»Oh, sieh doch, Monty!« Plötzlich war ihre Stimme hell wie Silber, und sie legte ihr Buch zurück in den Korb. »Steh auf. Schnell. Wir brauchen noch ein paar Stühle.«

Er blickte auf und sah Barbys Patenonkel Mr Dowson mit seiner Frau auf sie zukommen. Mrs Dowson deutete mit der Spitze ihres lila Sonnenschirms auf sie, und Mr Dowson hatte ein breites Lächeln im Gesicht, so breit, dass es aussah, als ginge es von einem Ohr zum anderen. Mr Dowson wohnte ein paar Straßen weiter und kam oft zu Besuch. Monty mochte seine zwinkernden Augen, die umso heller strahlten, wenn Papa nicht da war. Da kam ihm die Idee, dass vielleicht Mr Dowson ein Freund seiner Mutter war. Mit Mrs Dowson konnte man nicht viel anfangen – sie war zu sehr damit beschäftigt, Banner für ihre Komitees zu besticken.

»Wir sind gerade im Aufbruch!«, trällerte Mrs Dowson. »Ich muss zu einem Frauentreffen. Emmeline Pankhurst kommt nach Nottingham. Sie kommen doch auch, oder? Wir wollen ihr zeigen, dass Nottingham das Frauenwahlrecht ernst nimmt.«

»Du brauchst mich nicht, Helena. Ich werde Mrs Weekley bei einem Kaffee Gesellschaft leisten.« Damit drehte Mr Dowson sich zu Monty und seiner Mutter um. »Dann können Sie mir erzählen, wie es meiner Lieblingspatentochter geht.« Er zwinkerte Monty zu und quetschte sich neben seine Mutter auf das Bänkchen, obwohl da überhaupt kein Platz zu sein schien und sie extra gesagt hatte, sie bräuchten mehr Stühle.

»Wie schön, Sie zu sehen, Mr Dowson.« Montys Mutter neigte den Kopf wie ein Spatz und sah Mr Dowson fest in die Augen. Monty gefiel das. Vielleicht erzählte sie etwas über das neue Baby. Er spitzte die Ohren, damit ihm nur ja kein Wort entging.

»Ich geb mir große Mühe, keinen Unsinn anzustellen, während Helena das Haus voller aufwieglerischer Suffragetten hat«, sagte Mr Dowson und verdrehte die Augen.

»Ihre Arbeit ist wichtig, die Frauen sollten das Wahlrecht bekommen.« Sie zögerte kurz und rührte gedankenverloren in ihrem Kaffee. »Aber als ich einmal bei solch einem Suffragetten-Treffen war, hatte ich nicht den Eindruck, dort willkommen zu sein. Und jetzt schreien und marschieren sie und führen sich auf wie Männer. Ich habe da andere Vorstellungen.«

»Ach ja? Hörst du, was deine Mutter sagt, Monty?« Mr Dowson stupste ihn am Arm.

Monty nickte, und sie sprach weiter, langsam, als suche sie tastend nach den richtigen Worten. »Sie sind nicht … offen genug für alle. Das Wahlrecht allein wird uns nicht die wahre Freiheit bringen. Es ist alles viel komplizierter. Wir haben Macht, weil wir anders sind als die Männer. Wir sollten unsere Welt weiblicher machen, euch Männern helfen, die Dinge anders zu sehen.«

»Also eine weiblichere Welt, was? Wie denkst du darüber, Monty? Sollten Frauen das Wahlrecht bekommen?« Aber Mr Dowson sah immer nur seine Mutter an, sodass Monty sich nicht sicher war, ob er antworten sollte oder nicht.

»Monty und ich fahren nach München. Da ist es noch progressiver.«

»Ich hoffe, Sie kommen zurück.« Mr Dowson brach in tiefes, bellendes Gelächter aus. »Wir wissen alle, was Sie von Nottingham halten.«

»Es ist eher so, dass Nottingham mich nicht leiden kann«, protestierte sie. Monty wandte sich ab und blickte aus dem Fenster, von dem aus er genau sehen konnte, ob jemand aus der Schule hereinkam. Und da geschah es, dass seine Mutter diese eigenartigen Worte äußerte.

»… etwas in mir … wie ein verzehrendes Feuer …« Sie sprach jetzt leiser und ließ geistesabwesend die Finger über ihr Kleid wandern. »… es fühlt sich an, als … kein Sinn, kein Ziel. Eines Tages … tot!« Sie hielt inne und schlug sich mit der Hand auf den Bauch. »Und das ist alles.«

Monty zuckte zusammen. »Warum muss mein kleiner Bruder sterben?«, brach es aus ihm heraus, und ihm war bewusst, dass seine Augen weit aufgerissen waren, denn die Augenhöhlen taten ihm weh.

»Wie bitte?« Seine Mutter sah ihn an, und die Haut zwischen ihren Augen legte sich in kleine Fältchen. »Monty ist zurzeit wirklich besessen vom Tod. Jeden Morgen löchert er mich mit Fragen über den Himmel.«

Sie zuckte mit den Schultern und hielt für ein paar Sekunden die Handflächen nach oben.

Monty war plötzlich sehr müde, und der Magen tat ihm weh. »Mama, ich habe Bauchschmerzen«, sagte er.

»Das wundert mich nicht, junger Mann. Bei all dem Kuchen, den du gegessen hast.« Aber Mr Dowson sah ihn nicht an. Er starrte unverwandt seine Mutter an, als sehe er sie zum ersten Mal.

9

Frieda

Nuschs Vorschlag, Frieda und Ernest könnten sich doch über Literatur unterhalten – um Nottinghams Mangel an Salons auszugleichen –, war auf Widerhall gestoßen. Sie hatte schon einmal einen solchen Versuch unternommen, doch das war Jahre her. Damals hatte Ernest kein Interesse an den literarischen Figuren und ihren Gefühlen gezeigt, aber war es nicht einen weiteren Versuch wert?

Sie merkte, dass dieser Gedanke sie bei den unterschiedlichsten Anlässen beschäftigte. Manchmal stellte sie sich Elisabeth und Edgar vor, wie sie aufmerksam in die gemeinsame Lektüre von Krieg und Frieden vertieft waren, vielleicht neben einem knisternden Kaminfeuer oder im Licht einer leicht rauchenden Lampe. Sie sah das Bild deutlich vor sich: Elisabeth, das Kinn in die Hand gestützt, Edgar, wie er seine Brille anhob und sich nachdenklich den Nasenrücken rieb. Fast konnte sie hören, wie jeder seine Ansicht verteidigte, wie sie einander tiefgreifende Fragen stellten, einen lebhaften Ideenaustausch pflegten.

Bei anderen Gelegenheiten dachte sie zurück an die erste Zeit ihrer Ehe, als Ernest ihr jeden Tag einen Arm voller Bücher nach Hause gebracht hatte. Nachdem sie sich durch den Stapel gekämpft hatte – ihr Englisch war damals noch nicht so gut gewesen –, hatte er anerkennend gelächelt, sie seitlich auf den Kopf geküsst und die Bücher wieder eingesammelt, um sie zur Bücherei zurückzubringen. Als Monty geboren wurde, hatte Ernest begonnen, wie besessen zu arbeiten, jede Minute, tagein, tagaus, damit seine wachsende Familie niemals Hunger leiden musste. Er hatte aufgehört, Frieda viele Bücher mitzubringen, als halte er Lesen und Mutterschaft für unvereinbar.

Nur verdiente er jetzt viel mehr Geld, die Kinder waren älter, und ihr Englisch hatte sich deutlich gebessert. Vielleicht hatte Nusch recht, und ein wenig literarischer Austausch vertrieb das wachsende Gefühl, dass ihr Leben zu langweilig und leer war, dass sie das wahre Leben