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Da gibt es diese eine Freundin, mit der du durch dick und dünn gehst. Und plötzlich, auf unerklärliche Weise, willst du mehr als nur befreundet zu sein. Aber will sie es auch? Existiert überhaupt eine Chance, dass sie deine Gefühle erwidert? Oder machst du alles kaputt, wenn du ihr offenbarst, was du empfindest? Könnt ihr mehr als Freunde sein, oder bist du schon lange in der Friendzone? Tim ist ein Teenager wie alle anderen. Doch als sein Vater stirbt und er umziehen muss, startet Tim als Außenseiter ganz von vorne. In sich gekehrt, meidet er neue Kontakte und bleibt lieber für sich. Nur ein Mädchen schenkt ihm ihre Aufmerksamkeit und beginnt, seinem Leben die Farbe zurückzugeben.
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Seitenzahl: 224
Veröffentlichungsjahr: 2017
Jannis Illgner
© 2017 Jannis Illgner
Verlag und Druck: tredition GmbH, Grindelallee 188, 20144 Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-7345-7581-5
Hardcover:
978-3-7345-7582-2
e-Book:
978-3-7345-7583-9
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Sonnenstrahlen erleuchteten das Gras. Keine Wolke war am Himmel zu sehen. Die Bäume standen in voller Pracht, Eichen, Buchen und Birken trugen ein dichtes und grünes Blättergewand. Die Pflanzen strahlten eine immense Lebensfreude und Lebenslust aus, die Blätter leuchteten fröhlich und schufen die Atmosphäre eines perfekten Sommertages. Vögel zwitscherten zwischen den Ästen: Kleine, frisch geschlüpfte Küken reckten ihre Hälse gierig nach dem Wurm, den ihre Mutter ihnen gefangen hatte. Eine leichte Brise wehte durch die grüne Idylle, brachte Blätter zum Schwingen und ließ das Gras am Fuß des Baumes wogen. Dann erklang schallend laut der Klang einer Glocke. Vögel flogen auf, aufgeschreckt von dem plötzlichen Geräusch. Eine kleine Maus steckte den Kopf aus der Erde, zog ihn jedoch direkt wieder zurück, als der durchdringende Ton ertönte. Insgesamt sieben Mal schwang der Schlägel gegen die metallene Glocke. Das Geräusch kam aus einem kleinen Turm oberhalb einer Kapelle. Als der siebte Schlag verklungen war, öffnete sich eine Tür unterhalb der Glockenkammer und zwei Männer im Anzug erschienen. Sie trugen schlichte schwarze Sakkos, weiße Hemden und polierte Lackschuhe. Mit knackenden Lauten traten ihre Sohlen auf die kleinen Steinchen auf dem Boden. Inmitten dieses grünen, idyllischen Ortes störten sie und wirkten fehl am Platz. Zwei weitere Herren, genauso gekleidet wie die ersten beiden, folgten ihnen durch die Tür. Zusammen trugen die vier eine große Bahre auf den Schultern. Zwei schlichte Metallstangen lagen auf den breiten Schultern der vier Träger und verteilten so das Gewicht gleichmäßig auf alle Beteiligten. Auf der Bahre stand ein einfacher, großer und hölzerner Sarg. Der Deckel war bereits fest verschlossen und wurde nur von einem einzigen Kranz aus weißen Rosen dekoriert.
Aus der Tür trat eine kleine Schar Menschen, alle komplett in schwarz gehüllt. Sie folgte den vier Sargträgern und bewegte sich einen engen Pfad zwischen den Bäumen entlang, vorbei an hohen Hecken und an einem bewucherten Pavillon, bis sie zu einer Stelle kam, an der das Gras verschwunden und ein Loch gegraben worden war. Das Grab lag am Ende einer Wiese. Sie war nicht gepflegt, weder gemäht noch gejätet. Wild wucherndes Unkraut leckte sich bereits die Finger, um das neue Grab in Besitz zu nehmen. Die Grube war unter einer großen Eiche ausgehoben worden und das dichte Blätterdach spendete Schatten für die wenigen versammelten Menschen, sodass einige sich fröstelnd die Arme rieben. Die vier Männer stellten die Trage ab und banden Seile an die Griffe des Sarges. Dieser wurde angehoben, während sich die Träger um die Grube herum verteilten und anschließend den Sarg hinabließen. Mit dem Herabsenken setzte ein Bläserquartett an und begann, eine tragende Melodie zu spielen. Stück für Stück wurde der Sarg weiter abgelassen, immer darauf bedacht, dass der Rosenkranz nicht herunter fiel oder irgendwo aneckte. Zwei Minuten dauerte es, bis das Holz den Boden berührte. Anschließend verstummten die Bläser. Ein Mann in schwarzer Robe trat vor die Trauergemeinde und erhob die Stimme:
„Liebe Angehörige, liebe Freunde. Wir haben uns heute hier versammelt um einem geliebten Menschen die letzte Ehre zu erweisen. Ich selbst kannte diesen Mann nur flüchtig, doch das, was ich von ihm kannte, war gut. Er war ein guter Mensch und jemand, der Wert darauf legte, ehrlich zu anderen zu sein. Trotz seiner Krankheit, die ihm viel Leid und Schmerzen bereitete, legte er stets Wert darauf, seine Familie und Freunde in allen Situationen zu unterstützen und sie seine Liebe spüren zu lassen… Ein geliebter Freund und Vater ist von uns gegangen, viel zu früh wurde ihm das Leben entrissen. Es muss Gottes Wille gewesen sein, der ihn zu sich rief. Gott wollte ihn von seinem Leiden erlösen, welches er tagtäglich erdulden musste. Seinem Sohn wurde der Vater genommen, ehe die Zeit gekommen war. Seinen Freunden wurde ein Mensch gestohlen, ein anständiger und liebenswerter Mann.
Lasst euch allen trotz des plötzlichen und schmerzlichen Verlustes gesagt sein, dass dieser Mann, egal ob Vater oder Freund, für immer in euch, in euren Herzen, aber auch in euern Taten weiterleben kann und wird, wenn ihr es nur zulasst. Behaltet ihn so in Erinnerung wie er war: Als ehrlichen und liebenswerten Mann, als guten Freund und verantwortungsvollen Vater.“ Nach dem Ende der kurzen Rede herrschte ein betretenes Schweigen. Einzelne Schluchzer waren zu hören, weiße Tücher wurden gezogen, um die Tränen zu trocknen. Erneut begannen die Bläser zu spielen, eine Melodie, noch trauriger als die Vorherige. Einzeln trat jeder der Anwesenden vor das Grab und richtete ein paar letzte Worte an den Verstorbenen.
Dann trat ein Jugendlicher aus den Reihen hervor und blieb an der Kante des Grabes stehen. Stumm rannen die Tränen seine Wangen hinab und tropften von seinem Kinn auf die Erde. In den Händen hielt er ein Foto von sich selbst. Langsam ging er in die Knie, hockte sich auf die Fersen und verharrte einige Zeit in dieser Haltung. Wie versteinert betrachtete er den hölzernen Kasten in der Grube. Er legte das Foto hinab auf den Sarg, stand wieder auf und senkte den Kopf. In seinen verquollenen Augen lag ein flehender, hoffnungsloser Ausdruck. Jedem, der diesen Blick zu spüren bekam vermittelte er eine stumme Frage. Warum? Einen letzten Blick auf den Sarg und das Grab richtend, wandte sich der Junge ab und stellte sich abseits von den anderen Trauergästen. Still rannen die glitzernden Tropfen das Gesicht hinab. Alleine blieb er dort, verlassen von allen. Warum hatte man ihm das angetan? Warum gerade er? Warum hatte man ihm seinen Vater genommen?
„Steig in das Auto! Komm, beeil dich, ich habe nicht ewig Zeit!“, fuhr ihn seine Mutter an, als er langsam die Haustür hinter sich zuzog. Sie war weiß und die Anfangsbuchstaben aller Familienmitglieder grüßten ein letztes Mal von einem kleinen Schild am Türrahmen. Ein letzter Blick auf das Heim in dem er aufgewachsen war. Einladend, heimatlich, zuhause. Die Augen schweiften über die große Fensterfront im ersten Stock, wanderten hinauf in die zweite Etage, blieben an den Scheiben hängen, hinter der sich sein Zimmer verbarg. Dort hatte er die letzten sechzehn Jahre seines Lebens verbracht. Das Wohnzimmer, in dem er früher mit seinem Vater herumgetollt hatte, der Partykeller, wo die beiden oft zusammen Tischtennis oder Billard gespielt hatten. All das würde jetzt für immer aufgegeben werden. Für immer zurückgelassen. Erinnerungen verloren. Trauer.
Mit einem schweren Seufzer wandte sich der Junge ab, Tränen in den Augen. Nicht mal eine Woche hatte seine Mutter ihm Zeit gelassen, um das Wichtigste zusammenzupacken, seine liebsten Dinge in Kartons zu verstauen und aus dem Haus zu schaffen. Und selbst in dieser kurzen Zeit waren ihm noch Vorgaben gemacht worden: „Du darfst maximal so viele Dinge mitnehmen, wie ins Auto passen.“, hörte er sie in seinem Kopf. „Ich zahle doch kein Geld für ein Transport- oder Umzugsunternehmen, nur damit du ein paar unwichtige, ersetzbare und wertlose Sachen mehr in meiner Wohnung verstreuen kannst.“ So war ihm nichts anderes übrig geblieben, als seine Bücher, Klamotten und anderen Besitztümer möglichst platzsparend in Kartons zu verstauen. Sein früheres Leben auf zehn Kartons zu reduzieren. Doch das war noch nicht alles gewesen, was seine Mutter ihm vorgeschrieben hatte: „Ich will in meiner Wohnung kein einziges Stück sehen, das mich an deinen Vater erinnert. Wenn ich dort ein Foto oder sonst irgendetwas von ihm finde, kannst du sehen, wo du bleibst!“ Mit ihrem wutverzerrten Gesicht hatte sie keine Zweifel an der Ernsthaftigkeit ihrer Worte gelassen und daher hatte der Junge alles, was früher seinem Vater gehört hatte oder auch nur im Entferntesten mit ihm in Verbindung stand, zurücklassen müssen. Es gab vieles, was er mitnehmen wollte. Viele Stücke, an denen Erinnerungen hingen. Bilder und Fotos, die er sich niemals wieder anschauen könnte. Gegenstände, die die einstige Liebe dieses Ortes zurückbrachten. Doch ganz wollte der Junge seinen Vater nicht aus seinem Leben verbannen. Er wollte es nicht, und er konnte es nicht. Auf Handy, iPod und Laptop häuften sich Fotos der gesamten, ehemals intakten Familie.
„Wenn du nicht einsteigst, fahre ich ohne dich!“ Das Gezeter aus dem Auto riss den Jungen aus seinen Gedanken. Wie hatte sich diese Frau in so kurzer Zeit bloß so schnell verändern können? Wie konnte aus einem gefühlvollen und mitfühlenden Menschen so eine Furie hervorbrechen? Er hatte keine Chance zu bleiben und musste seiner Mutter folgen, so wie es der Richter beschlossen hatte. Gleich am Tag nachdem sein Vater verunglückt war, hatte der Richter den Antrag auf das Sorgerecht erhalten und diesem stattgegeben. Dem Jungen blieb keine Wahl. Er hatte sich dem Urteil fügen müssen.
Er fasste den schwarzen Griff der dunklen Autotür, öffnete diese und ließ sich auf die Rückbank sinken. Kaum war die Tür ins Schloss gefallen, heulte der Motor auf und das Auto brauste mit hoher Geschwindigkeit davon.
Als sie aus der Siedlung herausfuhren, wollte der Junge einen letzten Blick auf sein altes Haus, seine alte Nachbarschaft, auf sein gesamtes altes Leben werfen, ein letztes Bild in seinem Gedächtnis anlegen, bevor es für immer verloren gehen konnte. Doch seine Mutter fuhr zu schnell, und verhinderte damit jeden klaren Blick auf das, was der Junge bis vor fünf Minuten noch Zuhause nennen konnte. In stiller Trauer schloss der Junge die Augen. Langsam wurde sein Atem ruhiger, sein Puls beruhigte sich. Tränen trocknen, Schmerz betäubt, doch die Leere bleibt. Eine Lücke, die nicht gefüllt werden kann.
Durch einen starken Ruck wurde er urplötzlich aus dem Schlaf gerissen. „Wir sind da“, grummelte es von vorne. Der Junge öffnete die Tür und stieg aus. Sofort wurde ihm bewusst, dass er sich in einer Allee befinden musste. Die Straße war nicht asphaltiert, sondern bestand aus tausenden aneinandergereihter Pflastersteine in einem dunklen grau. Rechts, links, sowie auf dem Mittelstreifen der Straße standen im Abstand von ungefähr zehn Metern große Buchen, deren dichtes Blätterwerk nur spärliches Licht hindurch ließ. Beiderseits des Bürgersteigs waren exakt gleiche Reihenhäuser gebaut worden. Soweit seine Augen es überblicken konnten, gab es keine einzige Lücke. Zwischen den Häuserfronten war es wie in einer engen Schlucht: Gepresst, beklemmend, isolierend.
Kleine Beete lagen vor den Hauseingängen, doch viele waren von einer hohen Mauer umgeben, sodass nur wenige Farbtupfer hervorstachen.
Ohne etwas zu sagen, stieg seine Mutter aus dem Auto, knallte die Tür hinter sich zu, ging zum Haus mit der höchsten Mauer und öffnete das elektronisch verriegelte Tor mit einer Tastenkombination. Es glitt auf und sie schritt hindurch, ohne auf den Jungen zu warten. Kurz vor dem Hauseingang drehte sie sich, nur mit einer kleinen Handtasche über der Schulter, noch einmal zu dem völlig überrumpelten Jungen um. „Ich habe das Auto aufgelassen, du kannst deine Kartons hochtragen.“
Es begann bereits zu dämmern, als das Zimmer fertig eingeräumt war. Da die Bäume das meiste Licht von seinem Fenster fern hielten, musste der Junge schon jetzt das Licht einschalten.
Nachdem der letzte Karton entleert, zusammengefaltet und weggestellt worden war, schaltete er seine Musikanlage ein und ließ sich völlig erschöpft auf das Bett sinken. Die Matratze war weich und der Bettbezug neu und modisch, schlicht in schwarz und weiß gehalten, genauso wie der Rest des Zimmers. Es war kleiner als sein altes Zimmer, doch ohne Schrägen und mit den neuen Möbeln schien es, als habe er mehr Platz als zuvor. Doch der Raum wirkte kalt. Die Wände waren in sterilem krankenhausweiß getüncht worden, auf dem Boden lag ein hellbeiger Teppich. Nicht, dass die Farben nicht miteinander harmonieren würden, doch ohne jeglichen farblichen Akzent fehlte dem Raum etwas. Die Möbel, allesamt aus hellem Birkenholz, besaßen keine runden Ecken, jede Kante war breit und spitz.
Alleine beim Ausräumen der Kartons hatte der Junge sich schon ein dutzend blaue Flecken und einige leichte Schürfwunden zugezogen, als er die Scharfkantigkeit seiner Möbel vergessen oder unterschätzt hatte.
Jetzt war alles fertig, die Bücher präsentierten sich auf mehreren versetzten Regalen über dem Kopfende des Bettes, die Schullektüren lagen ordentlich sortiert auf einem kleineren Regal über dem großen Schreibtisch. Darauf standen ein Bildschirm, eine Tastatur, Maus und ein Drucker. Sein Laptop stand in einer Tasche unter der Arbeitsfläche.
Mit schlurfenden Schritten ging der Junge zum Bücherregal und zog ein kleines Buch hervor. Der Buchrücken war mit schwarzem Leder bespannt, nur auf dem Buchdeckel waren in weiß zwei Wörter eingestickt worden.
Würde seine Mutter dieses Buch finden, säße er schneller vor der Tür, als er Dad sagen konnte. Es war ein Geschenk von seinem Vater zum letzten Geburtstag gewesen. Eingestickt stand dort auf dem Buchrücken in großen und schwungvollen Buchstaben:
Ein lächelnder Mann Mitte vierzig blickte ihm vom Cover entgegen. Neben seinem Portrait waren ein paar kurze Zeilen abgedruckt. Mit dem Finger fuhr der Junge jedes einzelne Wort nach und wollte sich überzeugen, dass sie wirklich da waren und konnte doch nicht glauben, dass alles so treffend über ihn hereingebrochen war.
Mein lieber Sohn, was auch immer passiert,Ich werde stets bei dir sein.
Denk immer daran, dass dein Vater dich nie verlassen wird.
Ich bin immer für dich da!
Ein feuchter Tropfen traf sanft auf die Seite und durchweichte die Stelle, an der er aufgekommen war. Der Junge versuchte seine Gefühle zurückzuhalten, doch es war ihm nicht möglich. Das alles war noch viel zu frisch, der Verlust, ein Abschied, den er nie hatte nehmen können.
Um halb sieben klingelte der Wecker und riss den Jungen aus dem Schlaf. Müde wälzte dieser sich herum und suchte den Knopf, um das nervende Geräusch abzustellen. Er schlug die Augen auf und blickte sich um. Der Junge suchte nach dem vertrauten Licht, das ihn jeden Morgen begrüßte. Horchte nach dem Hahn des Nachbarn, der stets sein Aufwachen begleitete.
Im ersten Moment war ihm nicht bewusst, wo er sich befand. Er fand weder Licht noch hörte er ein Tier. Das einzige, was seine Ohren wahrnahmen, war das gelegentliche Rattern eines Autos oder LKWs.
Erst jetzt dämmerte ihm die Erkenntnis und die Erlebnisse der vergangenen Tage bahnten sich ihren Weg zurück in seinen Verstand. Seit mittlerweile einer Woche lebte er bei seiner Mutter, doch kam es ihm vor, als sei schon eine halbe Ewigkeit vergangen. Hier war jeder Tag gleich, grau, monoton und langweilig. Ausweglos.
Seine eigene Mutter bekam er nur selten zu Gesicht, von morgens bis spät abends musste sie arbeiten, und wenn sie dann nachts nach Hause kam, hatte sie weder Lust noch Laune sich mit ihrem Sohn zu beschäftigen. So hatte er sich die letzten Tage in seinem Zimmer verkrochen und hatte es, nur wenn es wirklich nötig gewesen war, verlassen. Er saß hier fest, kannte sich nicht aus und hatte auch noch keine Bekanntschaften gemacht. Wie auch, da er in dieser Stadt sowieso noch keine Menschenseele kannte.
Der Schmerz über den Verlust war allgegenwärtig, begleitete seine Gedanken in jeder Sekunde des Denkens und isolierte ihn vom Rest der Welt.
Doch heute war ein besonderer Tag. Zum ersten Mal würde er das Haus für einige Stunden verlassen, denn heute begann das neue Schuljahr.
Der Junge schlug die Beine über die Bettkante, stand auf und bewegte sich in Richtung Bad. Die eiskalte Dusche machte ihn schlagartig hellwach. Für einen minimalen Moment übertönte der frostige Schock sogar seinen Schmerz, doch dann gewöhnte sich sein Körper an das kalte Wasser und die üblichen Gedanken waren wieder da.
Nach der Morgenwäsche, vor dem Kleiderschrank stehend, fragte er sich, was sich heute wohl am besten tragen ließ.
Die Wetteraussichten waren schlecht, das Internet sagte, es solle den ganzen Tag regnen oder bewölkt sein. Der Junge entschied sich für ein schlichtes, schwarzes T-Shirt. Dazu wählte er eine dunkle Hose, nicht schwarz, aber in einem sehr dunklen grau gehalten.
Ohne Frühstück verließ er das Haus, zog die Tür hinter sich zu und machte sich auf den Weg zur Schule.
Unterwegs wurde ihm klar, dass man diese Straße ohne seine Sorgen als angenehmen Wohnbereich bezeichnen könnte. Doch der stete Strom von Fahrzeugen, die pausenlos vorüberfuhren und mit ihren Abgasen das Atmen schwer machten, ließen das Angenehme hinter einem stinkenden Dunstschleier verschwinden.
Von oben trommelten kontinuierlich Tropfen auf seine frisch gestylten Haare und liefen ihm teilweise auch in den Nacken. Kein bisschen blau war am Himmel zu erkennen, alles verborgen von einer dicken, grauen Schicht aus Wolken. Hier war es so anders als in seiner Heimat. Die Füße trugen ihn weiter und weiter, einen in Gedanken versunkenen Jungen, in eine Richtung, in welcher die Schule liegen musste. Weil er den Blick nicht hob, bemerkte der Junge nicht, wie vor ihm ein Tor auftauchte. Erst, als er mit der Nase fast dagegen stieß, hielt er an und sah verwundert auf. Auf einem Schild stand in großen blauen Buchstaben der Name der Schule, die er in Zukunft besuchen würde. Graue Klötze in einer grauen Stadt. Zögerlich trat er durch das Tor. Niemand war hier. Er blickte auf sein Handy. Es zeigte 20 vor acht, er war also früh genug. Er schlug den Weg zum Hauptgebäude ein. Graue Wege, graue Wände, graue Treppen. Alles war grau, farblos und trostlos. Nur auf dem großen Schulhof standen Bäume, die mit Sitzbänken umgeben waren. Auf ihnen lag der Schatten der großen Bäume und verschluckte alles eventuell nicht Asphaltschwarze. Die Gebäude waren flach gehalten, umspannten jedoch den gesamten Platz. Der Junge fühlte sich eingeengt und gefangen.
Er hielt auf den größten der flachen Bauten zu und trat durch die Tür. Innendrin empfingen ihn weiße Wände und ein Geruch nach Putzmitteln. Orientierungslos sah der Junge sich um. Nirgendwo ein Bild oder ein Gemälde an der Wand, alles streng steril gehalten. Gestern Morgen lag ein Zettel auf dem Tisch, wo ihm seine Mutter eilig hinterlassen hatte, dass er sich heute am Lehrerzimmer melden sollte. Mehr war da nicht gewesen, kein Name, keine Klasse, nicht einmal ein „HDL Mama!“
„Entschuldigung, kann ich dir helfen?“ Die Stimme ließ den Jungen herumfahren. Jetzt sah er eine Frau im mittleren Alter die ihn fragend anblickte. „Lehrerzimmer“, stammelte er hervor. „Du bist neu hier“, stellte sie fest und gab ihm mit einem Wink zu verstehen, dass er ihr folgen sollte.
Am Lehrerzimmer angekommen, verschwand sie ohne ein Wort durch die Tür und ließ den Jungen alleine zurück. Ein dreifach geteilter Gong hallte durch das Gebäude. Neben der Tür zum Lehrerzimmer hing ein großes eingerahmtes Dokument an der Wand. Das erste, was er hier an einer Wand hängen sah.
„Hausordnung“ lautete die Überschrift. Halbherzig studierte der Junge diese.
Der Unterricht begann um acht Uhr, jede Stunde dauerte 45 Minuten, dazwischen waren je fünf Minuten Pause. Zwischen der zweiten und dritten, und zwischen der vierten und fünften Stunde war je eine große Pause von 25 Minuten.
Die Formalitäten waren denen seiner alten Schule recht ähnlich, damit endete aber auch schon jede Gemeinsamkeit. Besonders diese kalte unfreundliche Umgebung, wie in einem Krankenhaus, erinnerte den Jungen stärker als gewünscht an sein neues „Zuhause“.
Zum zweiten Mal erklang der Gong und mit dem Letzen Ton öffnete sich die Tür und ein älterer, weißhaariger Mann erschien im Türspalt. Er fragte nach dem Namen des Jungen und bat ihn dann freundlich mitzukommen. Unsicher folgte dieser dem Lehrer bis vor die Tür eines Klassenzimmers. Der ältere Lehrer öffnete diese, trat ein und hielt dem Jungen die Tür auf. „Warte hier in der Ecke bis ich dir Bescheid gebe!“, meinte er. Dann drehte er sich von ihm weg zur Klasse.
Gehorsam stellte sich der Junge in die Ecke, wartete ab, blickte sich um und hörte mehr oder weniger zu, was der Lehrer zu sagen hatte. Das Klassenzimmer war groß und hohe Fenster säumten die Seite, die zum Schulhof zeigte. In der Klasse saßen etwa 25 Schüler und starrten sowohl ihn als auch den Lehrer fragend und erwartungsvoll an, um zu erfahren, was es mit dem Neuling auf sich hatte. „Ich hoffe, ihr alle seid gut erholt und frisch aus den Ferien zurückgekommen“, erklang dessen tiefe Stimme. „Hoffentlich beginnt dieses Schuljahr genauso gut wie das Letzte geendet hat.
Ich habe großen Respekt vor der Stärke eurer Klassengemeinschaft und hoffe, dass ihr auch in diesem Jahr so gut zusammen halten werdet, wie in den Jahren zuvor. Einheit ist der Weg zum Ziel. Ihr müsst zusammenhalten, wenn ihr etwas erreichen wollt. Denn als Gruppe seid ihr stärker als alleine. Zur eurer Unterstützung habe ich euch einen neuen Schüler mitgebracht. Komm nach vorne und stell dich kurz vor!“
Nachdem der Junge sich vorgestellt hatte, wies ihm der Lehrer einen Einzelplatz in der letzten Reihe zu. Dort verbrachte er den Rest der Stunde damit, sich die langwierigen Erläuterungen des Lehrers zum Schulbetrieb anzuhören, obwohl er genau wusste, dass sie fünf Minuten später schon wieder aus seinem Gedächtnis gelöscht sein würden. Während des gesamten Vortrags lag sein Blick auf dem betonierten Schulhof. Er sah die grauen Mauern der anderen Gebäude und entdeckte ein schlecht gespraytes Graffiti an einer Mauer. Es machte sie sogar noch hässlicher als die monotone Farblosigkeit es ohnehin schon tat.
Der Gong zum Stundenschluss kam überraschend. Die meisten seiner neuen Mitschüler sprangen sofort auf und stürmten aus dem Raum, nur einige wenige ließen sich etwas mehr Zeit, ihre Sachen zusammenzupacken.
Unter ihnen war ein Mädchen, welches der Junge erst jetzt bemerkte. Sie war etwas kleiner als er, trug lange blonde Haare und war modisch gut gekleidet. Als sie sich seines beobachtenden Blickes bewusst wurde, wandte er sich langsam ab, packte seine Tasche zu Ende und verließ das Klassenzimmer.
Der Weg nach Hause war schnell geschafft, doch legte er nur seine Tasche ab und begab sich direkt wieder nach draußen. Er wollte nicht noch länger eingesperrt sein, und gerade hatte es aufgehört zu regnen, also suchte er ein bisschen Freiheit, eine Erinnerung an seine frühere Heimat, die ihm schon jetzt wie ein verblassender Traum erschien.
Geistesabwesend zog er durch die Allee und gelangte in einen kleinen Park. Der Weg, komplett mit Kieselsteinen bedeckt, führte zwischen bewucherten Rasenflächen hindurch zu einem kleinen Platz in dessen Mitte ein riesiger Baum emporragte. Um den Stamm waren Bänke aufgestellt.
Der Junge ließ sich auf eine davon sinken und steckte sich seine Kopfhörer ins Ohr. Mit geschlossenen Augen lauschte er der Musik. Erinnerungen. Heimat.
Als eines der Lieblingslieder seines Vaters begann, stieg in dem Jungen ein Schmerz auf. Ein Gefühl der Einsamkeit und Verlassenheit ergriff ihn und ließ, selbst nach dem Ende des Liedes, nicht mehr los. Eine ganze Zeit lang verharrte er hier, hilflos und verlassen von der Welt. Er war eine einsame Statue, erbaut und zurückgelassen, versteinert von innen heraus.
Plötzlich berührte etwas seine Schulter. Überrasch schreckte er auf und nahm die Hände vom Gesicht. Die Kopfhörer waren ihm von den Ohren gerutscht. Dann fixierte sich sein Blick auf die fremde Hand, die dort tröstend auf seiner Schulter lag. Die Augen folgten dem Arm und blickten schließlich in ein hübsches Gesicht. Neben ihm saß das blonde Mädchen, welches ihm schon in der Schule aufgefallen war. Sie bemerkte seinen Blick und lächelte. „Hallo, ich bin Lina. Du bist neu bei uns in der Klasse, oder?“, fragte sie mit sanfter und interessierter Stimme. Ein Luftstoß spielte mit ihren blonden Haaren und ließ sie umherwirbeln. Der Junge räusperte sich. „Ja, richtig, ich bin seit letzter Woche in der Stadt.“ Wieder lächelte sie. „Darf ich dich nochmal nach deinem Namen fragen? Ich glaube ich habe heute in der Schule nicht richtig aufgepasst, als du dich vorgestellt hast. Tut mir echt leid.“ Ihre Wangen röteten sich leicht, es war deutlich zu sehen, dass es ihr unangenehm war.
„Tim“, war seine Antwort. Ihr Lächeln wurde breiter. „Freut mich dich kennenzulernen. Sie reichte ihm die Hand und zwinkerte ihm zu. Er ergriff und schüttelte sie.
„Was machst du hier ihm Park?“, fragte Lina ihn.
„Hmm, ich weiß nicht. Ein bisschen den Gedanken nachhängen, denke ich“, erwiderte Tim. Lina nickte verständnisvoll, sagte aber nichts weiter. Nach einer kurzen Pause schob Tim ein „und du?“ hinterher.
„Ein bisschen rumchillen.“, fing Lina an zu erzählen. „Ich laufe öfter einfach mal durch die Gegend und gucke, wen ich so treffe. Und als ich dich grade auf der Bank gesehen habe, dachte ich mir, ich sag einfach mal hallo.“
Dann saßen Tim und Lina für ein paar Minuten nebeneinander und schauten zu, wie die dunklen, grauen Wolken über den Himmel zogen.
„Du sorry, aber ich muss leider schon wieder los“, beendete Lina das gemeinsame Schweigen mit einem Blick auf ihre Uhr. Sie wandte sich zum Gehen. Doch nach ein paar Schritten drehte sich Lina noch einmal um und rief Tim mit lebhafter Stimme „Bis morgen dann!“ zu.
Als Lina gegangen war, runzelte Tim verwundert die Stirn. Die tiefe Traurigkeit, die er empfand, kurz bevor Lina ihn getroffen hatte, war zwar nicht verschwunden, doch belastete sie ihn ein bisschen weniger als zuvor. Seine Tränen hatten aufgehört zu fließen, ohne dass er es mitbekommen hatte.
Jetzt blickte der Junge nach oben. Es dämmerte bereits und obwohl die Wolken nicht mehr tief grau waren, wurde es zunehmend dunkler. Tim war gar nicht bewusst gewesen, wie lange er hier gewesen war. Wie lange hatte Lina neben ihm gesessen?
Als er die Haustür aufschloss, hallte die Stimme seiner Mutter aus dem Wohnzimmer. „Wo hast du dich so lange herumgetrieben?“ Sie ignorierend ging Tim auf sein Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Müde und erschöpft ließ er sich auf das Bett fallen und spürte zufrieden die sanfte Umarmung der gepolsterten Matratze.
Dann griff er unter das Kopfkissen und zog das kleine schwarze Buch mit dem Ledereinband hervor. Diesmal schlug er nicht die erste, sondern die dritte Seite auf. Zum Vorschein kam ein Junge in seinem Alter. Er hatte etwas dunkleres Haar als Tim und war ein bisschen kleiner, doch vom Gesicht her glichen sich die beiden. Unter dem Foto stand in Handschrift ein kurzer Spruch: „Ich war auch mal so wie du.“
Tim starrte auf das Bild und musste die Tränen unterdrücken. Wieder kochten die Emotionen hoch und drohten ihn zu übermannen. War sein Vater wirklich so wie er gewesen?
Vom Äußeren waren sie sich zwar ähnlich, doch glich er seinem Vater auch von innen? Stets war er Tim ein Fels in der Brandung gewesen. Ein Ast, an dem man sich festhalten konnte, um nicht von der Strömung davon getrieben zu werden. Die Rettung in der Not, egal wie groß sie auch gewesen war.
Sein Vater war ihm immer ruhig und freundlich, aber gleichzeitig offen und herzlich erschienen. War Tim genauso? Er bezweifelte es und bereute außerdem, das Gespräch mit Lina nicht länger aufrechterhalten zu haben.
Der nächste Schultag begann genauso wie der Vorherige. Tim blickte aus dem Fenster auf den Schulhof und verfolgte den Lauf der Wolken am grauen Himmel. Zwischendurch machte er sich Notizen in sein Heft und schrieb etwas von der Tafel ab, jedoch war das Thema alles andere als spannend. Als der erlösende Gong die Stunde beendete, verließ Tim den Raum und setzte sich draußen auf eine der zahlreichen auf dem Schulhof stehenden Steinwälle.