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„Das Juwel Tyalas“ ist die sehnsüchtig erwartete Fortsetzung der Chroniken Fanurs. Dieses Buch führt die Geschichte von „Die Herren Vobors“ nahtlos fort und lässt euch noch tiefer in die Geheimnisse des Kontinents Fanur eintauchen. Euch erwarten Nervenkitzel, neue Bekanntschaften, Intrigen, unbekannte Völker und Kulturen, sowie jede Menge Abenteuer, während ihr hautnah miterlebt wie Anín, Joseylée, Tandril, Naris, Sindacu und Jebae ihrem Schicksal ein Stückchen näher kommen.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Inhaltsverzeichnis
Prolog
Klingenklänge
Tínmars Schmach
Alte Feinde
Das Opfer der Schlange
Im Angesicht des Feindes
Küste des Grauens
Die Gesellschaft des Händlers
Tyala
Du bist bereit
Vergessene Welt
Shar Razul
Fareeds Gabe
Almana
Im Bann der Tänzerinnen
Kaktusbrand
Schwaden der Erinnerung
Weißes Gold
Die Last der Prinzessin
Der Pfad zur Macht
Auf der Suche nach der Wahrheit
Muscheltrümmer
Meister des Krieges
Kraft der Gefühle
Straßenkämpfe
Wan
Im Licht des Mondes
Offenbarung
Leder und Klinge
Das Weingut
Schicksalsmomente
Die letzte Runde
Kampf um die Ehre
Seensted
Die Geschichte des Wanderers
Meister der Klinge
Für Tyala
Ein Held Tyalas
Der Blutwall
Der Preis der Rache
Der Weg des Elben
Lichterdämmerung
Epilog
Über die Länder Fanurs
Danksagung
© 2024 Jannis Illgner
Herausgeber & Autor: Jannis Illgner
Umschlaggestaltung, Illustration & Kartendesign:
Sina Oberwinster, Jannis Illgner
Korrektorat: Rainer Krusenbaum
Verlag: Jannis Illgner, Flinger Straße 7, 40213 Düsseldorf
ISBN Paperback: 978-3-9823682-4-5
ISBN Hardcover: 978-3-9823682-5-2
ISBN e-Book: 978-3-9823682-6-9
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
www.fanurchroniken.de
„Ein wahrer Held wird nicht durch die Größe seiner Kraft bestimmt, sondern durch die Größe seines Herzens.“
(Zeus, aus dem Disney Film Hercules)
Dies ist pure Macht. Selbstbewusst schwenkte Fareed die Hand über seinem Kopf und grüßte die unzähligen Schaulustigen, die die breite Straße auf dem Weg zum Palast säumten. Jubel brandete ihm entgegen, während hinter dem Hafenmeister ein weiteres Stück auf den Trommeln und Zupfinstrumenten angestimmt wurde. Ein Dutzend Gäule brauchte es, um die schwere Plattform durch die breiten und prunkvollen Straßen Otkors zu ziehen. Sie war einem Schiff nachempfunden worden, das sich nun, wie von Zauberhand, zum Palast des Khalifen bewegte. Doch natürlich war hier keine Magie am Werk. Stattdessen drehten sich acht Paar eisenbeschlagene Räder, verborgen unter der goldverzierten Verkleidung, und erlaubten es dem Schiff somit, scheinbar mühelos durch die Stadt zu gleiten.
Beherzt griff Fareed in den Korb zu seinen Füßen und schleuderte den Inhalt weit hinaus in die jubelnde Menge. Datteln, Orangen sowie Nüsse und vereinzelte Münzen regneten auf die Menge hinab. Gierig streckten die Menschen dem vorbeifahrenden Schiff ihre Hände entgegen und versuchten, die geschenkten Wohltaten aufzufangen. Fareed ließ den Blick über das Deck seiner fahrenden Plattform schweifen. Noch war mehr als die Hälfte der Bohlen mit gefüllten Gabenkörben bedeckt.
Für einen Moment zuckten Fareeds Augen in Richtung des Palastes des Khalifen, sodass er abschätzen konnte, welche Strecke sie noch zurückzulegen hatten. Bereits jetzt erkannte er einige der schwarzen Zinnen und Türme, die sich gegen den unbedeckten, blauen Himmel reckten. Der Palast ist nicht mehr fern, überlegte Fareed und wies seine Mannschaft umgehend an, die doppelte Ladung an die erwartungsvolle Menge zu verteilen. Lobpreisende Jubelschreie waren die Folge. Erneut hob der Hafenmeister seine Hand zum Gruß. Es war ein einfaches Spiel, das er mit den Bewohnern dieser Stadt trieb. Sie waren dankbar für jeden noch so trockenen Krumen Brot, den sie geschenkt bekamen.
In gewisser Weise bewunderte er die einfachen Leute. Sie hatten sich um wenig mehr zu sorgen als darum, dass sie täglich ausreichend in den Magen bekamen. All die Intrigen, das Schmieden unzähliger Ränke und die Schwierigkeiten, die mit dem Umgang der Reichen und Mächtigen einhergingen, waren ihnen so fern wie Wasser der Wüste. Und doch würde Fareed seinen eigenen Stand nicht aufgeben wollen. Sein Blick wanderte zurück zum Hafen, aus dem sich ein goldenes Band an Tänzern, prunkvoll gestalteten Wagen und feierlicher Musik seinen Weg zum Palast bahnte – zu jenem Ort, an dem sein Aufstieg begonnen hatte.
Ein solches Spektakel bekam das einfache Volk wahrlich nicht jeden Tag zu sehen. Seit Tagen war die bevorstehende Ankunft der Delegationen aus Denay und Azura, der anderen zwei Städte des Wüstenbundes, das beherrschende Thema auf den Straßen und Märkten der Stadt gewesen. Innerlich lächelte der Hafenmeister, bildete doch eben dieses Ereignis das Herzstück seines Plans. Gerüchte über die Möglichkeit bevorstehender Kämpfe trübten die Stimmung der Stadt, doch die Aussicht auf ein Spektakel dieser Größenordnung und die Zurschaustellung von unvorstellbarem Reichtum waren etwas, was die Menschen in Ekstase versetzte und alle Probleme für kurze Zeit vergessen ließ. Und doch war die Festivität nur eine Maske, um die eigentlichen Intentionen der Herrschenden zu verbergen.
Die Fähigkeit, das noch nicht Eingetroffene vorherzusehen und für seine Zwecke zu nutzen, hatte Fareed zu dem gemacht hatte, der er heute war. Er stand gut in der Gunst des Khalifen, und Zaahir vertraute seinem Hafenmeister weit über das gesunde Maß hinaus. Zumindest verhält er sich so, machten sich die bekannten Zweifel in seinem Kopf breit. Doch solange Fareed seine Versprechen hielt und gelegentlich sogar übererfüllte, war er in seiner Position eine Bereicherung für die Stadt und den gesamten Wüstenbund. Und wenn alles nach Plan verlief, würde heute Geschichte geschrieben werden, an die sich Generationen noch in hundert Jahren stolz zurückerinnern würden.
***
„Das reicht!“ Polternd fuhr Zaahirs ringbeladene Hand auf das dunkle Holz der langen Tafel nieder. Silberware klirrte und Flüssigkeit schwappte über den Rand der kristallenen Gläser. Trauben und Datteln hüpften aus den opulent beladenen Schalen und rollten über die braun gemaserte Platte, ganz so, als versuchten sie, dieser unangenehmen Lage zu entkommen. Als der Khalif die massive Hand vom Tisch erhob, wurden Furchen im Holz dort sichtbar, wo sich das Metall seiner Ringe in den Untergrund gebohrt hatte.
Einen kurzen Moment lang kehrte Stille in dem riesigen Saal ein und alle Blicke wandten sich dem gestandenen Herrscher von Otkor zu.
Auch Fareed musterte seinen Herrscher. Noch immer war alles ganz so verlaufen, wie er es vorhergesehen hatte. Im Glanz der ausschweifenden Parade waren die Oberhäupter der anderen beiden Städte des Wüstenbundes in Otkor eingetroffen und hatten sich ihren Weg in den Palast des Khalifen gebahnt. Die staunende und jubelnde Menge hatte die Gäste der Stadt mit Wohlwollen empfangen. Den militärischen Garden, die den Einzug der Herrschenden begleitet hatten, war kaum Misstrauen entgegengebracht worden. Fareeds Plan, sie als Teil der Parade zu maskieren, war vollständig aufgegangen.
Und doch war von all der Harmonie, die sie mit ihrer gemeinsamen Parade versprüht hatten, keine einheitliche Note geblieben, sobald das Tor zu Zaahirs Palast durchschritten worden war.
„Wisst ihr, was ein solches Unterfangen kostet? Wenn es fehlschlägt, könnte es uns alle in den Ruin treiben!“ Einer der Edelleute auf der anderen Seite des Tisches hatte das Wort ergriffen. Seine Stimme bebte und der kurze Atem ließ seinen Bart tänzeln wie ein Fähnchen im Wind. Er war Teil der Delegation aus Denay, der Stadt der Schönen, auch wenn Fareed bei ihm jede Verbindung zu ebendieser Eigenschaft vermisste.
„Das sage ich ja“, ergriff ein weiterer Händler aus Denay das Wort. „Mit einem solchen Projekt setzen wir unseren Reichtum aufs Spiel – und wer garantiert uns, dass es überhaupt erfolgreich sein wird?“
Fareed rollte mit den Augen. Hatten all diese Händler in ihrem Reichtum die einfachsten Prinzipien ihres Handwerks verlernt? Es missfiel ihm, dass er als Hafenmeister die Händler in ihrer eigenen Kunst belehren musste. Doch zu viel hing davon ab, dass sie sich heute einig wurden. Zu viel für Otkor, und zu viel für ihn persönlich.
„Erfolg ohne Risiko ist wie ein Stück Fleisch ohne Salz“, setzte Fareed an. „Allenfalls mittelmäßig, aber niemals außergewöhnlich”. Viele Köpfe wandten sich ihm zu, einige runzelten die Stirn. „Wer von euch hat sein Geschäft nicht von euren Vätern vererbt bekommen, sondern mit eigenen Händen zu dem gemacht, was es heute ist?“
Missbilligendes Gemurmel wurde laut, und Fareed sah, dass die Stimmung gegen ihn zu schwenken drohte. Auch wenn es am Ende die Khalifen und Herrscher des Wüstenbundes waren, die eine endgültige Entscheidung fällten, so wusste der Hafenmeister doch, dass sich die meisten auf die Einschätzung ihrer engen Berater stützten – welche zum Großteil ebenjene Händler und reichen Edelmänner waren, die er soeben vor den Kopf gestoßen hatte. Und doch wusste er, dass er ebendieses Risiko eingehen musste, wollte er die auf Sicherheit bedachten Händler von seiner Vision überzeugen.
„Elben lieben die Perlen aus Denay.“ Die Stimme war nicht laut, und doch sprach aus ihr eine Kraft, die Fareed dazu bewegte, die Herkunft dieser Aussage zu ergründen. Auf der Suche nach demjenigen, der diese Worte von sich gegeben hatte, ließ der Hafenmeister seine Augen durch den mit Teppichen behängten Raum schweifen. Die Gewebe zeigten unterschiedliche Szenen aus dem Entstehungsmythos der Stadt, dem Handel mit der Schlange. Darunter platziert saßen auf einfachen Stühlen weitere Delegierte, die an der zentralen Tafel keinen Platz bekommen hatten. Vor einem dieser Stühle stand ein hochgewachsener junger Mann, eingewickelt in ein an Perlglanz erinnerndes, leicht bläulich schillerndes Gewand. Seine schulterlangen, offen getragenen Haare und das glatt rasierte Kinn standen in einem starken Gegensatz zu all den Kaufmännern um ihn herum, die ihren Bart als Symbol von Macht, Männlichkeit und Ansehen verstanden.
„Ich war der Erste, der den Handel mit diesen Schätzen des Meeres zu den Elben nach Viani brachte. Rückblickend muss ich gestehen, dass dieses Unterfangen mehr als töricht war.“ Er blickte in die Runde. Ein Großteil der anwesenden Händler warf ihm missbilligende Blicke zu. Sie schätzten es nicht, wenn ihre ausgetretenen und doch seit Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten bewährten Wege in Frage gestellt wurden. Doch der junge Händler ließ sich nicht beirren und fuhr nun mit belustigter Stimme fort: „Die Reaktion der Elben auf meine erste Ankunft in ihrem Hafen war noch schlimmer als der Ausdruck auf all euren Gesichtern.“ Er fuhr sich mit den langen Fingern durch die dunklen Haare, ganz so, als sonnte er sich in der Aufmerksamkeit der Runde. „Ich wusste, was für ein großes Wagnis es war, den Kontakt mit dem Volk der Spitzohren zu suchen – nicht umsonst halten sich die Gerüchte über ihre Grausamkeit seit Ewigkeiten. Und doch folgte ich der Eingebung, dass die schönen Perlen den Geschmack der Elben treffen würden. Letztendlich zahlte sich das Wagnis mehr als aus“, schloss er mit einem zufriedenen Grinsen.
Auch wenn der Händler nicht zum innersten Kreis der Berater gehörte und dementsprechend wohl wenig Einfluss auf die Khalifen haben dürfte, so kamen dem Hafenmeister seine Ausführungen doch gelegen. „Meine Freunde, da seht ihr, was Wagemut und ein gewitzter Geist bewegen können.“ Mit einladender Geste deutete Fareed in die Runde. „Lasst uns nicht vergessen, dass unser aller Geschäfte so oder in ähnlicher Weise ihren Anfang nahmen. Wir alle blicken Stolz auf die Entstehung unserer Handelsimperien zurück, und doch begannen sie alle mit einem ersten Wagnis. Dem riskanten Schritt, der den Erfolg für Generationen legte.“
Fareed machte eine kurze Pause. Zustimmendes Gemurmel hatte eingesetzt, und nur noch vereinzelt wurden Zweifel ohne große Überzeugung in die Bärte der Anwesenden genuschelt. Genau dieser Erfolg war es nun, der am Rande des Abgrunds stand. Denn auch, wenn ein jeder Händler den Tausch mit den wertvollen Gütern seiner Heimatstädte als Grundlage seines Wohlstandes sah, so wusste Fareed doch, dass all ihr Wohlstand auf einer weiteren Säule fußte: Der Haltung von Sklaven und dem florierenden Handel mit Tírien, den nördlichen Stadtstaaten Corvéras und den Küstenstädten Manadas.
Auf dem gesamten Kontinent gab es nur eine Handvoll Staaten und Städte, die dieser in Fareeds Augen so profitablen Praxis abgeschworen hatten: Die beiden mächtigen Staaten im Norden, Hemland und Fyi, vertraten die Ansicht, dass alle Menschen frei seien und sich niemandem zu unterwerfen hatten. Ein heuchlerisches Tun, fuhr es dem Hafenmeister durch den Kopf. Denn insbesondere Hemland hatte nicht nur einen Großkönig, sondern auch mehrere ihm treu ergebene weitere Könige, die ihrerseits die Loyalität ihrer Landsmänner voraussetzten. Fareeds Meinung nach war dies nichts als Sklaverei, die in Zuckerteig verpackt worden war. Doch neben einigen wenigen weiteren Städten im Osten der Edenlande vertrat eine große Mehrheit auf dem Kontinent die Ansicht, dass Sklavenhaltung und die Nutzung dieser sehr kostengünstigen Ressourcen mehr als gerechtfertigt waren.
Und genau diese Auffassung wurde nun durch unzählige, willkürlich scheinende Angriffe auf die Händler des Wüstenbundes in Frage gestellt. Doch Fareed wusste, dass sich mehr als bloßer Zufall hinter diesen Angriffen versteckte. Die Erlöser Tyalas, wie sie im Mund der Unfreien bereits genannt wurden, hatten ihre Anstrengungen in den letzten Jahren deutlich verschärft. Unzählige Schiffe waren den Angriffen der Entlaufenen zum Opfer gefallen, Güter in unvorstellbarer Höhe gestohlen und Sklaven aus den Ketten ihrer Herren befreit worden. Da Fareed als Hafenmeister einen kleinen Teil jedes in Otkor vor Anker gehenden Schiffes einbehielt, war ihm ein unbeschwerter und florierender Handel mindestens genauso wichtig wie den Kaufmännern, die sich heute als Teil der Delegationen des Wüstenbundes eingefunden hatten.
„Es ist Zeit, dass wir den Angriffen auf unsere Händler ein Ende setzen!“ Harte Entschlossenheit zeigte sich in Fareeds Stimme. „Wenn wir nicht bald handeln, werden wir die Angriffe auf unsere Händler in Zukunft nicht mehr unter Kontrolle bekommen können. Und dann ist der Verlust von Gütern unser kleinstes Problem…“
„Was kümmern uns die paar Schiffe und Waren, die wir an diese Entlaufenen verlieren?“ Der Khalif aus Denay hatte sich vom Ende der Tafel aus seinem ausufernden Kissenbett erhoben. „Die Kosten, die mit dem Aufstellen einer Streitmacht einhergehen, um diese Rebellen in den Bergen endgültig zu vernichten, werden wir niemals durch die Plünderung ihrer sogenannten Stadt ausgleichen können.“
„Die Gefahr liegt nicht im Verlust der Schiffe.“ Endlich hatte sich Zaahir dazu entschieden, wieder in die hitzigen Gespräche einzusteigen. Auch wenn er dieselben Ansichten wie Fareed vertrat und sie sich bereits im Vorfeld auf eine gemeinsame Position geeinigt hatten, so war es doch sein Auftreten und sein Rang als Herrscher der mächtigsten Stadt des Wüstenbundes, der seinen Worten eine Macht verlieh, die Fareed ebenfalls gerne besessen hätte.
„Schon jetzt verbreitet sich das Wort über die Plünderungen und Angriffe unter den Unfreien. Sie schöpfen Hoffnung.“ Zaahir machte eine bedeutungsvolle Pause. Viele der anwesenden Händler schienen zu wissen, worauf der Khalif von Otkor anspielte. Unbewusst fuhr Fareeds Hand über den seidenen Stoff seines Gewandes. Selbst durch den Stoff spürte er das vernarbte Gewebe, das sich quer über seine Brust zog. Die Erinnerung an jenen Tag schien ihm nun wie ein Traum aus ferner Vergangenheit, doch die Gefühle waren so klar wie damals, als sie unter seiner Führung den Aufstand der Sklaven niedergeschlagen hatten. Auch wenn die Stelle schon lange verheilt war und nicht mehr schmerzte, so glaubte Fareed in manchen Momenten doch, abermals die schartige Klinge in den Eingeweiden zu spüren. Neben den Schmerzen, der Aufregung und der Angst, die sich in ihm ausgebreitet hatte, als das Metall seine Haut durchschnitt, gesellte sich noch ein weiteres Gefühl hinzu: Scham.
Obwohl Fareed bis heute kein anderer Weg eingefallen war, wie er den Hafen sonst hätte halten können, so blieb doch bei jedem Gedanken daran ein fahler Beigeschmack in seinem Mund und ein mulmiges Gefühl in der Magengegend hängen. Selbst Zaahir kannte nur einen Teil der Wahrheit.
„Lassen wir die Unfreien aus Tyala weiterhin ungehindert plündern, wird es in all unseren Städten Aufstände geben.“ So nüchtern, wie Zaahir diese offensichtliche Tatsache ausgesprochen hatte, so schwer wogen seine Worte. Einem dicken Teppich gleich legte sich eine bedrückende Stille über alle Anwesenden. Langsam schien ihnen der Ernst der Lage bewusst zu werden. Innerlich lächelte Fareed. Zeit, den letzten Nagel zu versenken und seine Vision einer einheitlichen Streitmacht Wirklichkeit werden zu lassen. Mit der rechten Hand griff der Hafenmeister nach seinem bisher noch unangetasteten Glas Wein und genehmigte sich einen tiefen Schluck des schweren roten Weins aus Tírien.
Aus den Augenwinkeln sah Fareed, wie sich einer der Diener unauffällig aus dem Raum entfernte – sein Zeichen war verstanden worden. Ein weiterer Schluck folgte, und das fast leere Glas wanderte zurück an seinen ursprünglichen Platz. Auch wenn er selbst nicht viel von Religion und Götterverehrung hielt, so konnte man den Priesterkriegern doch nicht absprechen, dass sie ihr Land mit eiserner Faust regierten und ihre Unfreien besser im Griff hielten als die Städte des Wüstenbundes. Wenn es nach Fareed gehen würde, so sollte auch Otkor ein deutlich strengeres Regime führen. Unfreie waren in seinen Augen gerade einmal die Nahrung wert, die es brauchte, um sie am Leben zu halten.
Ein hartes Pochen durchbrach die Stille. Augenblicklich wandten sich alle Köpfe in Richtung des großen hölzernen Portals. Die mit dem Rücken davor postierten Wachmänner wandten sich um, lösten die hölzerne Verriegelung und drückten die schweren Türen nach außen auf. Ein einzelner Wachmann eilte hindurch und verbeugte sich vor dem Khalifen Otkors. Die geflüsterten Worte waren für alle, die weiter als einen Platz entfernt saßen, nicht zu verstehen. Doch Fareed saß nahe genug, um ihren Inhalt zu entziffern. „… wurde überfallen. Sie haben ihn zusammengeschlagen und seinem Schicksal in den Straßen überlassen. Er ist an seinen Wunden verendet. Die Angreifer trugen das Zeichen der Rebellen, die gesprengten Ketten Tyalas.“ Mitfühlend schloss Zaahir seine Augen. „Bring ihn herein“, lautete seine Anweisung. Die Augen des Wachmanns wurden weit. „Aber Herr, …“, begann der Wachmann, doch Zaahirs Blick zeigte pure Entschlossenheit.
„Natürlich!“ Mit einer Verbeugung wandte er sich um und eilte aus dem Raum. Ein beunruhigtes Gemurmel hatte die Stille abgelöst. Einige empörte Stimmen erhoben sich.
„Eine solche Unterbrechung ist eine Unverschämtheit!“
„Was ist so wichtig, dass unsere Sitzung dafür unterbrochen werden muss? Hattet ihr nicht darauf gedrängt, noch heute zu einer Übereinkunft zu kommen?“
Zaahir warf Fareed einen kurzen Blick zu. Es war Zeit, Tyalas Untergang zu besiegeln. Dann erhob sich der Khalif und das Gemurmel erstarb. „Der Kampf mit Tyala hat uns schneller erreicht als wir alle erwarteten. Ob wir weiterhin wegschauen oder endlich handeln - der Konflikt hat uns bereits erreicht. Meine Wachen berichteten mir soeben, dass die Rebellen während der Parade einen Überfall begingen. Ein Händler hat den Angriff nicht überlebt.“
Wütendes Gemurmel wurde laut. Welche Wunder ein gemeinsamer Feind schaffen kann, frohlockte Fareed. Ein Großteil der Anwesenden traute dem Wort des Khalifen.
„Dieser Überfall kommt euch mehr als gelegen.“ Misstrauisch erhob sich der Khalif von Denay. Genau an jenem Tag, wo wir alle hier zusammenkommen. Dein Wort allein scheint einem Großteil der hier Anwesenden bereits zu reichen. Aber wo ist der Beweis, dass es tatsächlich die Rebellen aus Tyala waren, die diesen Angriff begangen haben?“
In diesem Moment ertönte metallenes Scheppern von außerhalb des Saales. Wieder wandten sich alle Köpfe dem ansteigenden Geräusch zu. Mehrere Gerüstete erschienen in zwei Reihen im Türrahmen, zwischen sich eine Bahre tragend. Entsetzt sprangen einige Kaufleute am Kopf der langen Tafel auf und machten Platz, sodass die Soldaten die Bahre auf das dunkle Holz legen konnten. Auf der hölzernen Bahre lag ein völlig entstellter Körper. An mehreren Stellen war das Gewand des Toten aufgerissen. Die Haut darunter war unnatürlich verfärbt, tiefrote und dunkelblaue Striemen zogen sich schlangengleich über die aufgeplatzte Haut des toten Kaufmanns. Auch das Gesicht war grausam entstellt, die Nase mehrfach gebrochen und der Kopf erinnerte an eine überreife Pflaume. Mit einem rasselnden Geräusch warf der Hauptmann eine eiserne Kette neben die Leiche. „Mit diesen Ketten wurde er zu Tode geprügelt“, sprach er bedrückt. Fareed hatte nicht geahnt, dass der Anblick des Toten so verstörend sein würde. Seine Häscher hatten ganze Arbeit geleistet. Sollte der heutige Tag erfolgreich verlaufen, werde ich ihnen eine zusätzliche Belohnung zukommen lassen, überlegte Fareed.
Sein Blick fixierte den feisten Herrn von Denay. Auch ihm stand das Entsetzen ins Gesicht geschrieben. „Glaubst du noch immer, dass wir es selbst waren, die einen der Unseren so zurichten würden?“, fragte Fareed ihn geradeheraus.
„Natürlich nicht“, keuchte dieser. „Eine solche Unterstellung würde ich niemals wagen.“ Er atmete einmal kurz durch und blickte zu Zaahir. „Die Stadt der Schönheit schließt sich eurem Kriegszug gegen die Aufständischen an.“ Gemeinsam werden unsere Heere Tod und Verderben über alle Aufständischen bringen.“
Innerlich jubilierte Fareed, doch äußerlich neigte er nur dankend den Kopf. „Denays Unterstützung ist uns mehr als willkommen.“ Fareed lächelte dankend. „Und wenn ihr es erlaubt, würde ich später gerne mit Euch über eine Gelegenheit sprechen, wie ihr Euch ebenfalls von all dem Unrat befreien könnt, der in euren Kerkern verrottet.“ Der Khalif von Denay lachte. „Eine solche Gelegenheit lasse ich mir natürlich nicht entgehen. Sucht mich später gerne in meiner Kammer auf.“
Wieder nickte Fareed. Nun waren die Würfel gefallen. Nach und nach sicherten nun auch die Kaufmänner ihre Unterstützung in Waren, Gold oder Schiffen zu. Viele versuchten sich sogar gegenseitig zu überbieten, um in den Augen ihrer Herren besonders tatkräftig zu wirken. Auch der General Azuras sicherte die Unterstützung seiner Stadt zu. Nun war ihnen die Unterstützung der beiden Schwesterstädte sicher. Der Wüstenbund würde sich gemeinsam erheben. Fareed konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wer sich dieser vereinten Streitmacht entgegenstellen würde. Wie eine Sturmflut werden wir über die Unfreien hereinbrechen, dachte der Hafenmeister zufrieden. Sein Traum, die Rebellen ein für alle Mal auszulöschen, war zum Greifen nah. Dabei war die Unterbindung möglicher Aufstände nur die offensichtliche Seite jener Münze, die alle Anwesenden in den Krieg geführt hatte. Zusätzlich hegte der Hafenmeister einen weiteren Verdacht: Denn immer häufiger trugen jene Spitzel, die seine treu ergebenen Soldaten in den Gassen der Stadt fassten, teure Schmuckstücke aus Gold und edlen Steinen, wie Fareed sie nur aus den Geschichten über Zwerge und Elben kannte. Irgendwo musste es eine Verbindung zwischen den Rebellen und jenen mystischen Wesen geben, um die sich so viele der alten Legenden rankten. Besser, diese Brut ein für alle Mal auszulöschen und ihren Reichtum abzugreifen, bevor ihnen eine neu emporstrebende Stadt echte Schwierigkeiten bereiten könnte.
„Stellt euch vor, ihr könntet all den ungewollten Abschaum loswerden, den ihr aktuell in den Kerkern der Stadt durchfüttert. Selbst den Kriminellen, die eure Straßen des Nachts unsicher machen könnt ihr eine Gelegenheit geben, rechtmäßig zu Reichtum zu kommen. Es ist erstaunlich, zu welchen Entscheidungen die Gier uns Menschen treibt. Selbst, wenn der Tod ein mögliches Risiko ist.“
Gebannt hing der Khalif an Fareeds Lippen. Der Hafenmeister war schon immer ein gewandter Redner gewesen, und gerade der Herrscher Denays wusste eine eloquente Ausdrucksweise zu schätzen. „Leert eure Kerker, zieht die Halunken von der Straße, verschifft sie in die Wüste und bringt ihnen bei, ein Schwert soeben schwingen zu können. Eine Vorhut, die um ihr Leben kämpft, wird die Reihen der Rebellen bereits ausreichend schwächen, sodass unsere Streitmacht nur wenige Verluste beklagen wird.“ Fareed lächelte. „Und wenn sich der Staub des Krieges legt, sind nicht nur die Rebellen besiegt, sondern die Schönheit Denays wird stärker erstrahlen können als zuvor, da der Abschaum nicht länger Schatten auf sie werfen kann.“ Dass die Kerker Denays regelmäßig überliefen, war kein Geheimnis. Ein strengerer Herrscher würde es erst gar nicht so weit kommen lassen, überlegte der Hafenmeister. Doch in diesem Moment kam ihm die Lage der schönen Stadt mehr als zugute.
„Werdet ihr ebenfalls Streiter für diese Vorhut entsenden?“ Fareed hatte mit dieser Frage gerechnet. „Unsere Kerker sind kaum gefüllt – die wenigen Köpfe, die wir beitragen könnten, lohnen den logistischen Aufwand nicht.“ Fareed sah, wie sich der Khalif Denays missbilligend über das Kinn rieb. „Aber nur zu gerne stellen wir die Kommandeure, die diesem Abschaum beibringen werden, nicht beim ersten Hieb zerstampft zu werden.“
Die Züge des Khalifen entspannten sich. „Mir gefällt deine Idee, Hafenmeister. Zu Recht spricht Zaahir in den höchsten Tönen von dir. Meine Kommandeure werden sich mit dir in Verbindung setzen, um die Feinheiten abzuklären. Ich gehe davon aus, dass du bereits alles bestens geplant hast.“ Fareed nickte und wandte sich zum Gehen.
In der Tür wandte er sich nochmals zum Khalifen um. „Auch Otkor hat Schönheit zu bieten, selbst wenn man hier etwas länger danach suchen muss“, meinte er geheimnisvoll und klatschte zweimal in die Hände. Leichtes Glockenschellen ertönte, dann schoben sich drei nur mit einem Tuch bekleidete junge Tänzerinnen an ihm vorbei und begannen, den Khalifen zu umschmeicheln.
„Für einen Hafenmeister habt ihr in der Tat ein Auge für die Schönheit“, raunte der Herrscher Denays, dann verschwand sein Kopf zwischen den Beinen der ersten Schönheit.
Zufrieden schob sich Fareed ein Stück der gerösteten Haifinne in den Mund. Selbst bei seinem Reichtum war diese Delikatesse etwas, das er sich nur zu ganz besonderen Anlässen gönnte. Nachdem alle Herrscher und Kaufleute der Versammlung ihre Unterstützung zugesagt und er den Khalifen von Denay ebenfalls von seiner Idee überzeugt hatte, bereitete sich Fareed nun in seinen Gemächern auf die große Feier am Abend vor. Sie sollte dazu dienen, den Bund der Wüste zwischen Azura, Denay und Otkor zu stärken. Es war von äußerster Wichtigkeit, dass ein gemeinsamer Angriff gut koordiniert erfolgte – jeder ungeplante Alleingang barg die Gefahr, die Mission scheitern zu lassen. Einen weiteren Versuch würde es dann in den nächsten Jahren nicht geben.
Plötzlich klopfte es an der Tür zu Fareeds Gemach. Er bedeutete, eintreten zu können. Ein kleines Mädchen erschien. Sie war erst wenige Sommer alt und hielt den Kopf gesenkt, doch das lederne Band um ihren Hals war klar erkennbar. In ihrer Hand trug sie ein versiegeltes Stück Papier. Zögerlich tapste sie auf den Hafenmeister zu, hielt jedoch respektvollen Abstand.
„Bring mir den Brief, dann lass mich allein“, befahl er.
Eilig gab die Sklavin ihm die Nachricht und entfernte sich umgehend aus seiner Kammer. Als die Tür geschlossen wurde, untersuchte er den Brief genauer und betrachtete das Siegel. Als er es erkannte, brach er es freudig, faltete das Papier auseinander und begann zu lesen. Die Nachricht stammte von seinem alten Freund Teemal, der sein Kommen ankündigte. Und er versprach, Fareed eine ganz besondere Person vor zu stellen.
Mit einem rumpelnden Dröhnen traf der eisenbeschlagene vordere Teil der Zugbrücke auf die steinerne Fassung. Im Gegensatz zu ihrer Schwesterfestung im Norden machte die südliche Begrenzung beinahe einen einladenden Eindruck. Sie trennte die Hochebene von Fyi vom wilden und unberechenbaren Corvéra. Anín vermutete, dass Überfälle und gelegentliche Scharmützel hier deutlich häufiger auftraten als im Norden. Doch diese mussten am vorderen – dem Ödland zugewandten Teil der Festung geschehen. Von Fyi aus drohte der Festung keine Gefahr. Der Anín zugewandte Teil der Festung schien kaum bemannt zu sein. Nur zwei gelangweilt auf ihre Speerschäfte gestützte Soldaten schienen ein Auge auf den Eingang zu werfen.
Anín setzte einen Fuß auf den hölzernen Überweg.
Ihm kamen Zweifel. Was, wenn Lazar seine Schergen auch hierhin ausgesandt hatte? Der Bruder seiner verstorbenen Mutter, der dafür verantwortlich war, dass Anín nicht länger Prinz von Bering war. Dass sein Vater in einem Hinterhalt gemeuchelt worden und dass er selbst bei seinen neuen Freunden am äußersten Rande der Welt nicht mehr sicher gewesen war.
Mit Kjell und Oksana an seiner Seite hatte Anín sich noch einigermaßen gut verteidigen können, als Lazars Schergen in der Nacht über die Wächter hergefallen waren. Mich selbst, aber nicht Smona, schoss es ihm durch den Kopf. Die Ungewissheit, wie es um das Schicksal seiner jungen Liebe stand, begleite ihn jeden wachen Moment. Ein Schwerthieb hatte die kecke Wächterin in den Unterleib getroffen, als sie sich gegen die Angreifer verteidigt hatte. Doch als es ihnen endlich gelungen war, die Angreifer niederzustrecken, hatte es bereits schlecht um Smona gestanden. Manches Nachts plagten den verstoßenen Prinzen Träume. Hätte er verhindern können, was mit Smona geschehen war? Doch selbst wenn er es geschafft hätte – ihr Vater hatte zurecht dafür gesorgt, dass Anín die Wächter verlassen musste. Zu groß war die Gefahr, dass sie erneut von Lazars Schergen heimgesucht würden.
„Stehst du da den ganzen Tag rum, oder kommst du rein?” Die Stimme einer der Wachen riss den jungen Prinzen aus seinen düsteren Gedanken. Das Schlimmste hat Smona bestimmt bereits überstanden, versuchte er sich selbst aufzumuntern, während er das Tor zum Innern der Festung passierte, auch wenn er es nicht mit Sicherheit sagen konnte. Noch in derselben Nacht hatten die Wächter entschieden, dass Anín nicht länger bei ihnen bleiben durfte.
Anín hatte erwartet, dass zumindest hier einiges an die Burg im Norden erinnern würde. Doch von der dunklen, erdrückenden Atmosphäre der nördlichen Zwillingsfestung war hier nichts zu spüren. Stattdessen herrschte ein reges Treiben auf den Straßen. Marktstände boten bunte und zum Teil exotische Waren zum Verkauf an. Anín fiel auf, dass eine große Zahl von Händlern Felle in jeglichen Formen und Größen anboten.
„Bald kommt der Winter, deckt euch ein”, rief einer von ihnen über die Köpfe der stöbernden Menge hinweg. Anín blickte an sich hinab. Außer den Kleidern, die er in der Nacht der überstürzten Abreise aus dem Haus Wengars getragen hatte, besaß er nichts. An die kleine Geldkatze, die er in Bering stets bei sich getragen hatte, hatte der gefallene Königssohn nicht gedacht. Bei den Wächtern hatte Geld keine Rolle gespielt, sie hatten sich gut von dem ernähren können, was ihnen die Schiffe an Tribut zollten, aufgestockt mit den Vorräten, die sie aus der nördlichen Festung erhalten hatten.
Während Anín ziellos durch die Straßen schlenderte, stellte er abermals fest, dass er nicht wusste, wo er als Nächstes hingehen sollte. Bering schied selbstverständlich aus, denn Lazar schien seinen Anspruch auf den Thron mit eiserner Macht durchgesetzt zu haben. Und auch der Rest von Hemland, dem Staat, von dem Bering das nördlichste Königreich bildete, schied aktuell für Anín aus. Selbst wenn er es schaffen sollte, sich bis in die Hauptstadt Adon durchzuschlagen, so würde er doch, mittellos wie er in diesem Moment war, niemals eine Audienz beim Großkönig erhalten. Fyi war ebenso wenig eine Option, denn die schmerzlichen Ereignisse der letzten Wochen hatten klar gezeigt, dass er auch hier nicht sicher sein konnte.
Als Anín um eine Ecke bog, fiel ihm ein kleiner Stand ins Auge. Golden schimmernde Flüssigkeit glänzte in unterschiedlichen Flaschen und Phiolen. Neugierig trat er einen Schritt näher heran. Dies war kein Bier, denn neben der besonderen Farbe schien dieser Stand ebenfalls einen süßlichen Duft zu verströmen.
„Tretet näher”, empfing ihn eine warme und einladende Stimme.
Anín blickte von der Auslage auf. Ein alter Mann lächelte ihm freundlich zu. „Ihr scheint, als hättet ihr noch nie vom Nektar der Halín gekostet.” Verwirrt schüttelte Anín den Kopf. „Dachte ich mir”, meinte der alte Verkäufer und verschwand kurz unter seinem Tresen, nur um mit zwei hölzernen Bechern wieder aufzutauchen.
„Das ist nicht nötig”, versuchte Anín den Ausschank abzublocken, doch der Händler ließ sich nicht beirren. „Wer den Nektar der Halín nicht versucht, hat nur halb gelebt.”
Ein seliges Lächeln umspielte die Züge des Alten. Dann reichte er Anín den Becher.
„Das ist äußerst aufmerksam von Euch”, versuchte Anín das Angebot erneut auszuschlagen. „Aber ich kann euch nicht bezahlen.”
Schallendes Lachen ertönte. Eine solche Lautstärke hätte Anín dem Alten gar nicht zugetraut, zumindest wenn er sich an dessen Äußerem orientierte. Der Mann war klein gewachsen, dünn und lief leicht gebückt. Das weiße Haar schien einen gelblichen Stich zu haben – ob das an einem Übermaß jenes Getränks liegen mochte, der nun auch Anín angeboten wurde? Dazu trug der Mann einen kurzen, jedoch gepflegt wirkenden Bart um das Kinn herum. „Wenn ich Euer Geld gewollt hätte, hätte ich den Becher erst gefüllt, nachdem Ihr mir die Münzen überlassen hättet.” Noch immer hielt er Anín den ausgestreckten Arm entgegen. „Ihr seht aus, als könntet Ihr eine kleine Aufmunterung vertragen.” Er beugte sich zu Anín über seinen Tresen: „Und glaubt mir, es gibt nur wenig, das Euch mehr aufhellen könnte.”
Dankend nahm Anín den Becher entgegen und nippte an der goldenen Flüssigkeit. Augenblicklich flutete ein süßlicher Geschmack seinen Mund, doch schwangen dort auch würzige Noten mit. Er glaubte, Tannennadeln und die Kräuter des Waldes herauszuschmecken. In seiner Heimat Bering bestanden viele der Wälder aus Nadelgehölzen, insbesondere jene, die sich im Norden in die Flanke des Gebirges drängten. Dort war das Wetter zu rau und unbeständig für Eichen, Birken und Kastanien, denn der Wind, der von den schneebedeckten Gipfeln hinabpfiff, brachte nicht selten Eis und Frost mit sich.
Anín nahm einen weiteren Schluck. Eine angenehme Wärme breitete sich in seinem Magen aus. Er musste aufpassen, dass er nicht zu viel dieses süßen Gesöffs zu sich nahm. Denn trotz der besonderen Süße schmeckte er klar heraus, dass das Getränk einen nicht unerheblichen Teil des Stoffes enthielt, der die Männer Bier und Wein am nächsten Tag verfluchen ließ, nachdem sie in der Nacht zuvor zu tief in ihre Humpen geschaut hatten.
Laut vernehmlich grummelte sein Magen. Ein weiterer Grund, nicht übermütig zu werden. Seitdem Anín Kjell, Smona und die anderen Wächter verlassen hatte, hatte er sich nur von wenigen Beeren an kargen Sträuchern ernähren können, denn die Hochebene von Fyi gab nicht viel anderes her. Einen Tag hatte er einen Hasen erlegt, ihn gehäutet und über einem kleinen Feuer gebraten. Doch anstatt sich zu freuen und die Abwechslung zu genießen, hatte Anín den Spieß nach wenigen Bissen beiseitegelegt und nicht mehr angerührt. Zu tief saß der Schmerz, seine neu gefundene Heimat abermals verlassen zu müssen, zu schwer wog die Ungewissheit darüber, wie es Smona ergangen war.
„Ihr scheint, als trüget Ihr eine große Last mit Euch herum”, holte Anín die Stimme des Trunkhändlers zurück ins hier und jetzt. „Verzagt nicht, denn Tír wacht über uns alle.”
Erstaunt horchte Anín auf. „Ihr kommt aus Hemland”, stellte er verblüfft fest. Nur Hemland und der südlich davon liegende Priesterkriegerstaat Tírien verehrten den einen Gott, der die Menschen vor gut einem Jahrtausend nach Fanur geführt hatte. Doch während Tír beim südlichen Nachbarn für Angst, Schrecken und Verzagen stand, so war er den Nordmännern stets ein Leuchtfeuer der Hoffnung. Insbesondere in Zeiten, in denen alle Hoffnung verloren schien, mischte er sich unter die Menschen, um ihnen neue Kraft und neuen Mut zu geben, sodass sie die vor ihnen liegenden Aufgaben zu meistern vermochten. Der Händler lächelte geheimnisvoll. „Ich bin in der Welt zuhause. Ist es nicht gleich, von wo wir stammen, solange wir uns der schützenden Hand Tírs sicher sein können?“
„Ist meine Niedergeschlagenheit so offensichtlich?” Ein zerknirschter Ausdruck schlich sich auf das Gesicht des jungen Prinzen.
Der Händler lächelte. „Ob offensichtlich oder verborgen macht keinen Unterschied. Sobald ihr der Trauer Raum gebt, sich zu entfalten, wird sie mit aller Kraft in jeden freien Winkel Eures Geistes dringen.”
Nachdenklich legte Anín die Stirn in Falten.
„Dass sie Euren Geist einnimmt, ist nicht das Problem”, fuhr der Händler ungefragt fort. „Wichtig ist, dass Ihr wisst, wie Ihr Euch aus dem Strom der Trauer befreien könnt.”
Gespannt wartete Anín darauf, dass der alte Händler mit seinen Ausführungen fortfahren würde. Doch zu seiner Überraschung schüttelte dieser nur den Kopf. „Bitte verzeiht, mir scheint, dass mir mein eigener Trunk zu Kopf zu steigen droht. Ich habe Euch schon zu lange aufgehalten. Bevor Ihr geht, verratet Ihr mir noch, wohin es Euch trägt?”
Anín dachte nach. Eigentlich blieb ihm nur der Weg gen Süden, hinein in die wilde und ungebändigte Weite Corvéras. Doch wohin genau es ihn tragen würde, davon hatte der Prinz keine Vorstellung.
„Nach Süden”, antwortete Anín schließlich ausweichend und doch wahrheitsgemäß. Je mehr Abstand er zwischen sich und seinen thronräuberischen Onkel bringen konnte, desto besser.
Der alte Händler lächelte. „Wie sollen die Füße den Weg beschreiten, den die Augen nur im Nebel sehen? Es ist allein das Herz, das uns durch die Dunkelheit zu führen vermag. Fragt Euch nur: Was ist es, das ich begehre? Erst dann wird sich der Nebel zu Euren Füßen lichten.”
Erst, als die Festung am Horizont hinter Anín verschwunden war, erlaubte sich der junge Prinz die nächste Rast. Nach dem sonderbaren Gespräch mit dem Händler war er tief in Gedanken versunken gewesen. So verwirrend der Mann auch gesprochen hatte, waren seine Worte doch kraftvoll genug gewesen, um den gefallenen Königssohn zum Nachdenken zu bringen. Was wollte er nun mit seinem Leben anfangen?
Eigentlich gab es für Anín hierauf nur eine Antwort: Er wollte seinen Onkel stürzen und den Thron Berings zurückerobern. Doch wie konnte er es schaffen, Lazar zu stürzen? Allein war dies nicht möglich, so viel wusste er. Und Verbündete waren ihm in diesem Augenblick so fern wie er selbst den Städten des Wüstenbundes. In diesem Moment vermisste Anín seinen Vater schmerzlich. Thredron hätte gewusst, was zu tun wäre. Der Weg, der vor dir liegt, beginnt mit dem ersten Schritt”, kam ihm ein Satz seines Vaters in den Kopf. Was ist es, das du jetzt tun kannst, das dich deinem Ziel ein Stückchen näher bringt? Grübelnd stierte der gefallene Königssohn vor sich hin.
Ein leises, unregelmäßiges Klirren drang aus der Ferne an Aníns Ohren. Er kniff die Augen zusammen, doch in der sich anbahnenden Dunkelheit war es schwer, etwas zu erkennen. Trotzdem machte er sich auf, und schritt den Klängen vorsichtig entgegen. Schwerter, erkannte er plötzlich. Seine Schritte beschleunigten sich. Nun hörte er auch vereinzelte Schreie. Schreie nach Hilfe. Dann erkannte er ein Leuchten in der Ferne. Davor tanzten Schemen und warfen lange Schatten. Einen kurzen Moment lang zögerte Anín. Außer seinem Jagdmesser trug er nichts bei sich, mit dem er sich gegen eventuell auftauchende Feinde verteidigen konnte. Doch der Drang, den Menschen in Not zu helfen, überwog die Vorsicht. Als Prinz hatte er geschworen, die Menschen zu beschützen. Und auch, wenn sie sich nicht in Bering befanden, so fühlte sich der junge Prinz doch weiterhin an seinen Schwur gebunden.
Er beschleunigte seine Schritte und rannte auf den Kampfeslärm zu. Anín zog sein Messer.
Er hatte den Kampfplatz beinahe erreicht. In der Mitte eines kleinen Lagers brannte ein Feuer. Darum waren in einem Kreis Karren geparkt. Von außen drängte mit lautem Geheul eine Meute mit Fellen bedeckter Männer heran und versuchte, sich durch die kleinen Öffnungen zu zwängen. Bereits jetzt lagen einige von ihnen reglos im Dreck. Noch konnte Anín nicht erkennen, wer sich im Innern des Karrenkreises verbarg.
Plötzlich drehte sich einer der Fellmenschen um und entdeckte Anín. Er stieß einen lauten Schrei aus und wandte sich dem jungen Prinzen zu. Der Mann trug eine schartige Axt in seinen Händen. Blut klebte am Kopf der Waffe. Der Mann versuchte, ihn mit einem wuchtigen Schlag auszuschalten. Doch Anín hatte den Angriff kommen gesehen. Gekonnt wich er der Attacke aus, täuschte einen Ausfall nach links an, nur um dann doch nach rechts auszuscheren. Der Schlag des Angreifers ging ins Leere. Durch die Lücke, die sich kurz zwischen den fellbedeckten Schultern aufgetan hatte, war es Anín möglich gewesen, einen kurzen Blick ins Innere der Wagenburg zu erhaschen. Eine Gruppe verängstigter Männer drängte sich hinter einigen wenigen Beschützern zusammen, die versuchten, die Angreifer mit langen Speeren auf Abstand zu halten. Doch es war absehbar, dass die Männer diesen Kampf verlieren würden, wären sie auf sich allein gestellt.
Die Situation reichte dem jungen Prinzen aus, seinen Entschluss zu fassen. Diese Menschen waren in Gefahr, und es war seine Pflicht, ihnen zu helfen. Hinter sich hörte er das gefährliche Pfeifen der heransausenden Axt. Einem Instinkt folgend wich er abermals aus. Erdklumpen flogen durch die Luft, als die Axt im Boden versank. Anín wirbelte herum. Während sein Angreifer noch versuchte die Axt aus dem Boden zu ziehen, rammte ihm der einstige Thronerbe sein Messer bis zum Heft in den Hals. Blut sprudelte hervor. Augenblicklich ließ der Mann von seiner Waffe ab und griff sich an den Hals, um die Blutung zu stoppen. Dick quoll der rote Lebenssaft in pulsierenden Strömen zwischen seinen Fingern hervor. Er sank auf die Knie, dann kippte er zur Seite und blieb zuckend auf dem Boden liegen.
Anín bückte sich nach der herrenlosen Axt. Nun waren auch seine Kameraden auf den Neuankömmling aufmerksam geworden. Gleich drei von ihnen wandten sich Anín zu. Sie alle trugen mit Nägeln versetzte Kolben in den Händen. Noch bevor er seinen Gedanken ordnen konnte, stürmten sie gleichzeitig auf Anín zu. Er bewegte sich ein Stück zur Seite, so dass er nun dem Angreifer ganz links gegenüberstand. Mit einem ausholenden Schlag ließ Anín seine Axt niederfahren. Der Angreifer hatte den Angriff kommen gesehen und riss seinen Kolben zur Abwehr nach oben. Doch Anín hatte nicht auf den Kopf des Mannes gezielt. Stattdessen änderte er mit einer Drehung seines Handgelenks die Richtung seines Schlags. Das Heft seiner Waffe schnitt durch Fell, Haut und Knochen, als es beinahe ungeschützt in die Seite des Angreifers traf. Von der Wucht des Schlages mitgerissen, taumelte der Angreifer nach hinten, genau in den Weg der beiden zusätzlichen Angreifer. Sie fluchten und wichen ihrem Kameraden aus, als dieser strauchelnd zusammenbrach. Eingeweide quollen aus seinem Körper hervor.
Doch Aníns Kampf war noch nicht beendet. Mit einem weiteren wuchtig geführten Schlag ließ er seine Axt niedersausen und enthauptete einen weiteren Angreifer, noch bevor dieser seinen ersten Schlag führen konnte. Kraftlos sackte der Körper zusammen. Umherwirbelnd hatte Anín seine Waffe bereits zum nächsten Schlag erhoben, da sah er den Streitkolben bereits heransausen. Gerade so schaffte er es, seine Axt empor zu reißen, um nicht selbst als Klumpen aus Haut und Knochen in der Ebene zu verrotten. Der Aufprall jagte ihm Erschütterungen durch den gesamten Körper. Doch er hielt dem Angriff stand. Dann bemerkte er, dass sich einige Nägel des Streitkolbens in seiner Waffe verhakt hatten. Mit einem Schrei riss Anín seine Axt zur Seite. Der massige Kolben folgte der Bewegung seiner Waffe. Der Angreifer schien überrascht von Aníns Vorgehen, doch Anín ließ dem Mann keine Zeit, sich wieder zu besinnen. Mit einem Tritt schickte er sein Gegenüber in den Staub. Der Streitkolben war noch immer in Aníns Axt verkeilt – so konnte er beide Waffen nicht weiter benutzen.
Er warf das verkeilte Gemenge zur Seite und hechtete zum ersten der drei gefallenen Angreifer hinüber. Mit einem gezielten Griff zog er die Waffe aus den leblosen Fingern. Der Streitkolben war schwer und schlecht ausbalanciert. Insbesondere die Nägel, die ins vordere Ende getrieben waren, ließen den Kolben unglaublich schlecht in der Hand liegen. Hinter sich hörte er, wie der verbleibende Angreifer wieder auf die Beine kam. Ein schabendes Geräusch sagte Anín, dass sein Gegner einen Dolch gezogen hatte. Mit über dem Kopf erhobenem Kolben stürmte Anín auf den Angreifer zu. Dann ließ er den Knüppel hinabsausen. Blut spritze ihm ins Gesicht, als der Kolben sein Ziel fand. Augenblicklich erschlaffte der Körper des Mannes vor ihm.
Anín atmete schwer. Er brauchte einen Moment, um sich zu fassen. Innerhalb weniger Herzschläge hatte er das Leben von vier Menschen ausgelöscht, ohne den wirklichen Grund zu kennen, warum sie die Wagenburg angegriffen hatten.
Noch immer war der Schlachtenlärm nicht vollständig verklungen. Der junge Prinz blickte zu den verbleibenden Angreifern hinüber. Dadurch, dass er vier von ihnen abgelenkt und ausgeschaltet hatte, schien sich das Blatt langsam zugunsten der Verteidiger zu wenden. Anín sah, dass mehrere Schemen in den Schatten zwischen den Wägen reglos am Boden lagen.
Entschlossen griff er nach dem Streitkolben. Blut, Haare und eine grau-glitschige Masse klebten an den hervorstehenden Nägeln. Mit weiten Schritten lief er auf die verbleibenden Angreifer zu. Niemand sah ihn kommen. Erst, als sich sein Streitkolben seinen Weg durch die Vordersten von ihnen bahnte, bemerkten auch die anderen, dass sie nun von einer weiteren Seite angegriffen wurden. Anín nutzte die kurze Verwirrung, um einige weitere Angreifer zu Boden zu schicken. Am liebsten hätte er ihre Leben verschont.
Doch ohne eine vernünftige Klinge war die Gefahr zu groß, selbst Schaden zu erleiden, wenn er nicht mit vollem Einsatz kämpfen würde. Nachdem er bereits mehr als ein halbes Dutzend der Angreifer für immer zu ihren Göttern gesandt hatte, würden auch ihre restlichen Mitstreiter keine Gnade walten lassen.
Anín blockte einen Schlag ab, verdrehte seinen Kolben und riss seinem Gegner die Waffe aus der Hand. In hohem Bogen flog sie durch die Luft und landete mit einem dumpfen Geräusch auf dem mittlerweile blutdurchtränkten Boden. Die Augen seines Gegenübers weiteten sich. Er schien zu begreifen, dass es für sie heute nichts mehr zu gewinnen gab. Doch Anín zögerte.
Zeige Gnade im Angesicht des Sieges, hallte die Stimme Thredrons durch die Gedanken des jungen Prinzen. Einen Moment lang trafen sich ihre Blicke. Doch dann stürmte der Angreifer vor und rammte Anín seinen Kopf in die Brust. Er wurde von den Beinen gerissen. Hart schlug er auf der Erde auf. Für einen kurzen Augenblick lang verschwammen die Dinge in Aníns Blickfeld, doch dann drängte sich ein dunkler Schatten hinein. Etwas drückte auf Aníns Oberkörper.
Sein Blick klarte auf. Siegessicher kniete der Angreifer über ihm. Dem Mann fehlten mehrere Zähne. Ein fauliger Geruch drang aus seinem Mund, als er ihn irre lachend öffnete. Aus dem Ärmel zog er einen kleinen Dolch. Mit seiner freien Hand tastete Anín hektisch um sich herum. Hier musste es doch etwas geben, mit dem er sich aus dem Griff des Angreifers befreien konnte.
Endlich schlossen sich seine Finger um etwas Festes. Ohne zu zögern, riss Anín es empor. Er sah die Hand seines Gegners herabsausen. Einem Impuls folgend versuchte er nicht, den niederfahrenden Dolch abzuwehren. Stattdessen zielte er mit dem Gegenstand, den er noch immer nicht erkennen konnte, auf das Handgelenk seines Gegenübers.
Das Ding in seiner Hand traf genau dort, wohin Anín gezielt hatte. Ein lautes Knirschen erklang, dann lösten sich die Finger von der hinabfahrenden Waffe. Ziellos trudelte der Dolch durch die Luft und prallte mit dem Heft auf den Knochen unterhalb Aníns Auge. Vor Schmerz traten ihm Tränen in die Augen. Das heulende Geräusch seines Gegenübers nahm der junge Prinz kaum wahr. Jedoch spürte er, wie der Druck auf seinen Körper nachließ. Ich kann es hier und jetzt zu beenden, dachte er.
Mit der freien, rechten Hand tastete er nach dem Dolch, fand das Heft, griff danach und rammte ihn seinem Gegner in den Fuß. Vor Schmerz heulte dieser abermals auf. Doch Anín wartete nicht, sondern zog die Klinge heraus und drehte sie. In einer geraden Linie verlängerte er die Richtung der Waffe, bis sie schmatzend im Kinn des Angreifers versank. Augenblicklich erschlafften die Glieder des Mannes und er sackte in sich zusammen.
Der letzte Kampf war unbehaglich knapp ausgegangen. Für einen kurzen Moment besah er sich den Gegenstand, dem er sein Leben zu verdanken hatte. Im flackernden Licht der Flammen erkannte er einen flachen Stein, in den ungewöhnliche Muster getrieben worden waren. Auch schienen sie unvollständig, ganz so, als gehörte der Stein einst zu etwas Größerem.
Er packte das Heft des Dolches fester. Wie in Trance bewegte er sich um die verbliebenen Angreifer herum, durchschnitt Fersen und Kehlen. Niemand schaffte es mehr, ihm nahe zu kommen. Anín legte seine ganze Wut und seinen Frust in jeden neuen Schlag. Er stach, hieb und drosch auf seine Gegner ein, bis sich plötzlich der Wald aus Leibern vor ihm lichtete.
Der Rausch, in den er sich selbst hineinversetzt hatte, verblasste langsam, und der rote Schleier, der seine Sicht beherrscht hatte, löste sich auf. Statt weiterer Feinde blickte ihm nun eine ängstliche Gruppe mit Schmutz besudelter Menschen entgegen. Auch einige in lederne Wämser gekleidete Krieger schienen diesen Tross zu begleiten. Doch Anín bezweifelte, dass sie den Tross vor tatsächlichen Gefahren beschützen konnten. Vielmehr glaubte er, dass sie nur der Abschreckung dienen sollten.
Er atmete tief durch. Von diesen Menschen ging keine Gefahr aus. Mit einem kurzen Blick über die Schulter vergewisserte er sich, dass auch von den Angreifern niemand mehr in der Lage war, ihn zu überraschen und von hinten zu attackieren. Erst jetzt wurde Anín das schmerzhafte Pochen bewusst, dass sich unter seinem Auge bemerkbar machte. Mit spitzen Fingern strich er darüber und zuckte zusammen. Dabei war es weniger der Schmerz, der ihn erschreckte, sondern vielmehr das Aussehen seiner Hand. Der gesamte Unterarm war in eine Mischung aus dunklem Rot und Dreck getaucht. Im flackernden Schein des Feuers wirkte dies noch beängstigender. Wie viele Menschen hatte er in den letzten Tagen zu Tír gesandt? Anín schüttelte den Kopf. Diese Entwicklung machte ihm Angst. Er war kein Mörder – so hatte sein Vater ihn nicht aufgezogen. Und doch sprach das Blut auf seinen Armen Bände, auch wenn er nur versucht hatte, Hilflose vor dem Tod zu bewahren. Langsam wandte er sich jenen zu, die er mit seinen Taten hatte schützen wollen.
„Einen guten Abend wünsche ich euch”, rief er den verängstigen Menschen stattdessen zu. „Soweit ich sehen kann, sind alle die, die euch belästigten, entweder tot oder geflohen.” Er deutete mit einer Kopfbewegung auf das Feuer, das hinter den Menschen brannte. „Habt ihr etwas zu essen, womit ich meine Kräfte wieder auffüllen kann?”
Plötzlich kam hektisches Gewimmel auf. Kurz berieten die Menschen flüsternd, dann trat einer von ihnen hervor. Der Mann trug einen langen und zerzausten Bart, der mit seinen verfilzten Haaren zu verschmelzen schien. „Ich danke dir für deinen Mut und deinen Einsatz. Gerne teilen wir heute Nacht unser Feuer und unsere Vorräte mit dir.” Anín nickte dankend. Erschöpft ließ er sich am Feuer nieder.
Zu gern hätte Anín sich in diesem Moment erschöpft in Smonas Arme gekuschelt. Doch die junge Wächterin war nicht hier, um ihm zur Seite zu stehen. Zorn wallte in Anín empor. Es war nicht gerecht, dass er sich von ihr nicht einmal hatte verabschieden können. Und doch wusste er, dass es seine Schuld war, dass sie überhaupt in dieser gefährlichen Situation gelandet war. Ohne ihn wäre ihr Leib unversehrt, wäre sie niemals in Gefahr gekommen.
Beinahe augenblicklich bekam er einen Schlauch gereicht. Ohne zu prüfen, was sich darin befand, nahm er einen tiefen Schluck. Noch im selben Moment, als die Flüssigkeit seine Kehle hinabrann, musste Anín husten. Das Zeug brannte wie Feuer in seiner Kehle.
„So wie du kämpfst, hätte ich gedacht, dass du mehr verträgst.”
Noch immer prustend reichte Anín den Schlauch zurück. „Was ist das für ein Teufelszeug?”, fragte er, sobald er wieder zu Atem gekommen war.
„Brand”, war die fast einstimmige Antwort. Anín schüttelte sich. Wie sehr wünschte er sich den Nektar der Halín zurück, den er nur einige Stunden zuvor hatte probieren können. Jemand reichte ihm ein Stück Brot und kurz darauf einen Brocken Käse. Mit kräftigen Bissen schlang Anín das Essen herunter. Er kaute kaum, so hungrig war er. Glücklicherweise schien dies seinen neuen Begleitern nichts auszumachen, denn selbst nachdem Anín die dritte Portion vernichtet hatte, reichten sie ihm weiterhin Brot und Käse.
Schließlich spürte er, wie der Hunger nachließ. Ein weiteres Mal bekam er den Schlauch gereicht. Dieses Mal war er jedoch vorbereitet und trank nicht so gierig wie zuvor. Der Geschmack war noch immer beinahe unerträglich, aber Anín spürte, wie sich in seinem Magen eine angenehme Wärme ausbreitete. Dankend reichte er den Schlauch weiter. Dann wurde ihm bewusst, dass alle Blicke erwartungsvoll auf ihm lagen. Neugierig zog er eine Augenbraue hoch, doch noch immer schien sich niemand zu trauen, etwas zu sagen.
„Entschuldige bitte”, durchbrach die Stimme des grauhaarigen Mannes endlich die Stille. „Meine Begleiter würden gerne wissen, wer es ist, der sie vor dem sicheren Tod bewahrt hat.”
Anín nickte. „Nenn mich …Wanderer”, antwortete er, einer Eingebung folgend. Auch wenn von diesen Menschen keine Gefahr auszugehen schien, so war es doch sicherer, seinen Namen vorerst geheim zu halten. Noch immer war er sich nicht sicher, den Häschern Lazars vollständig entkommen zu sein.
„Ein Mann der Geheimnisse”, lächelte der Händler. „In diesen Landen ist es gut, wachsam zu sein”, führte er weiter aus. „Aber sei unbesorgt, von uns geht keine Gefahr aus.” Der Händler atmete schwer aus. „Wahrscheinlich haben sie uns deshalb auch als Ziel erwählt. Einmal im Jahr machen wir uns auf, um unsere besten Waren, Felle und unseren Met nach Almana zu bringen. Jedes Jahr zählen wir aufs Neue darauf, dass der Preis für unsere Güter hoch genug ist, um auch ein paar der stolzen Pferde Tíriens in unsere Heimat nach Evet bringen zu können.”
Also kamen diese Männer tatsächlich aus Corvéra. Trotz der Tatsache, dass Anín sich mittlerweile bereits einen halben Tag im Ödland des Kontinents befand, wurde ihm erst jetzt bewusst, dass er außer Smona und ihrem Vater Elias kaum jemandem begegnet war, der aus Corvéra stammte. Und selbst die beiden kamen nur aus einer Grenzstadt zu den grünen und gänzlich andersartigen Edenlanden. Zumindest stellte Anín es sich so vor, denn Geschichten, die so weit aus dem Osten kamen, waren mehr als rar und drangen nur selten bis nach Hemland vor.
„Du bist sehr geschickt mit der Klinge”, holten ihn die Worte des Händlers zurück in die Gegenwart. Anín spürte, wie sich die Schwere des Trunks auf seine Sinne auswirkte.
Als der Schlauch ein weiteres Mal an ihn gereicht wurde, lehnte er dankend ab und gab ihn umgehend weiter. „Und du schienst zu wissen, dass ein klarer Kopf gerade hier in diesen Landen den Unterschied machen kann, der Leben und Tod voneinander trennt. Wohin zieht es also einen einsamen Wanderer wie dich?”
Schon wieder diese Frage. Noch immer hatte Anín keine Antwort darauf.
Der Weg vor dir beginnt mit dem ersten Schritt. Erneut hallten die Worte seines Vaters in Aníns Gedanken wider. Was war das Ziel des jungen Prinzen? Zuallererst sollte er überleben. Den wenigen Geschichten einiger Wanderer nach war Corvéra ein unwirtlicher und gefährlicher Ort. Unzählige marodierende Banden zogen durch die Lande, insbesondere durch den westlichen Teil, da sie darauf hofften, Handelskarawanen aufzulauern und die leichte Beute für sich gewinnen zu können. Einer solchen Bande musste dieser kleine Handelszug begegnet sein.
Anín blickte abermals zu den Menschen, die am Feuer saßen. Er zählte hier nicht mehr als ein knappes Dutzend Bewaffneter. Doch ihnen schien die Übung mit der Klinge zu fehlen. Einem weiteren Überfall wären sie hoffnungslos ausgeliefert. Da kam ihm eine Idee. Er selbst brauchte Geld, wenn er überleben und seine nächsten Schritte planen wollte. In einer Gruppe zu reisen war ebenfalls einfacherer, als dies allein zu tun.
„Also wohin bist du unterwegs?”, hakte der Händler erneut nach. Anín fixierte das wettergegerbte Gesicht. Tatsächlich schien er einen großen Teil seines Weges unter freiem Himmel verbracht zu haben.
„Das kommt ganz darauf an”, deutete der junge Prinz geheimnisvoll an. „Brauchst du eine weitere Klinge und jemanden, der deine Begleiter den Kampf mit dem Schwert lehrt?”
Die Kerzen warfen ein unstetes Licht an die glatt verputzten Wände aus schwarzem Vulkangestein. Vereinzelte Kunstwerke aus weißen, hellen und lehmig braunen Farben zierten die Wände des großen Arbeitszimmers. Im gesamten Raum waren kleine Podeste verteilt, auf denen unterschiedlichste Gegenstände drapiert waren. Wenn sie es sich recht überlegte, glich das Arbeitszimmer ihres Vaters eher einer Ausstellung. Und doch war es nur den höchsten Ehrenträgern der Vorgha gestattet, Skorzul hier aufzusuchen und um eine Audienz zu bitten.
Allein mit den Schätzen, die sich hier fanden, hätte man unten in der Stadt mehrere große Handelshäuser kaufen können. Jebae sah den gerillten Speer, von dem eine Legende besagte, dass Ghara ihn selbst geschwungen hatte, als sie gemeinsam mit ihrem Bruder ihr Volk vor dem Untergang bewahrte.
Trotz der unübersehbaren Bedeutung für den Fortbestand der Vorgha war der Speer hier eigentlich falsch aufgehoben. Denn Skorzul war zwar Mitglied des Rates der Vorgha, der höchsten Institution, die in ihrem Volk existierte und die Geschicke all jener lenkte, die würdig waren, auf dieser Insel zu leben. Doch lag sein Fokus nicht auf Waffen und Krieg. Im Rat der Vorgha hatte jeder der sechs Auserwählten ein bestimmtes Gebiet, das in seinen Zuständigkeitsbereich fiel. Jebae bezweifelte keine Sekunde lang, dass auch ihr Vater das Amt des Ratsherrn des Krieges mit Ehre erfüllt hätte, leitete er doch eine der erfolgreichsten und angesehensten Kampfschulen des Landes. Vorgha aus dem gesamten Land strömten hierher, um sich unter Skorzuls wachsamen Augen zu angesehenen Kämpfern ausbilden zu lassen. Und doch war Jebae nicht traurig, dass ihr Vater nicht das Amt des Kriegsherrn bekleidete. Jahr um Jahr hatte sie festgestellt, wie verhaftet ihr Vater den alten Idealen war. Jenen Regeln, die das göttliche Paar der Geschwister ihnen allen auferlegt hatte, bevor es für immer aus Fanur verschwand.
In den Augen vieler Familien war dies ein mindestens genauso wichtiges Argument, ihre Nachkommen in Skorzuls Obhut zu übergeben. Denn hier, in seiner Kampfschule, lernten die Jünglinge nicht nur den Umgang mit Waffen, den Kampf mit allerlei Gegnern und die Beherrschung des Geistes. Die Schule ihres Vaters zeichnete sich seit jeher dadurch aus, dass hier neben der exzellenten Kriegsausbildung auch jene alten Werte des Geschwisterpaares in den Köpfen der Nachkömmlinge verankert wurden.
Jebae blickte sich um und sah eine kleine Nachbildung der Arena, in der das jährliche Fest zu Ehren Voruns und Gharas abgehalten wurde. Seitdem die Vorgha vor einem guten Jahrtausend ihre Füße an Land dieser glorreichen Insel gesetzt hatten, waren Kampf und Waffen zu einer tragenden Säule ihrer Kultur geworden, auch wenn die Kämpfer sich für lange Zeit nur an jenen ihres eigenen Volkes gemessen hatten.
Über der Arena hing ein Gemälde, das Voruns und Gharas letztes Gefecht zeigte. Wie Mauern in der Brandung stemmten sich die beiden Geschwister gegen die heranbrandenden Feinde, schlugen die heranströmenden Wellen aus Feinden zurück. Auf den ersten Blick sah es so aus, als sei dieses grandiose Meisterwerk eine Hymne an das Götterpaar – doch Jebae wusste, dass sich hinter diesem so triumphal wirkenden Bild auch eine deutlich subtilere, wenn auch nicht weniger wichtige Botschaft verbarg.
Sie trat an das Gemälde heran. Die herumzuckenden Schatten machten es nicht leicht, die Umrisse in der Dunkelheit zu erkennen. Doch schließlich fand sie, wonach sie suchte. In der unteren Ecke erkannte sie einen dunklen Klumpen aus Leibern. Sie liefen dem Kampf davon, zogen sich feige zurück und ergriffen doch somit die einzige Chance, weiterzuleben. Nur vereinzelt war dieser Masse ein Gesicht gegeben worden. Angstverzerrte Fratzen, allesamt zur Flucht gewandt in der Hoffnung, nicht von den Schlächtern aus Elben, Menschen und Zwergen zermalmt zu werden.
Dieses Bild war beinahe ebenso alt wie ihr Volk. Es war entstanden, als die ersten Häuser in die Flanke des Vulkans getrieben worden waren. Ein Mahnmal für alle, für jeden Vorgha. Denn niemals wieder sollten sie vor einem Kampf zurückschrecken, niemals wieder panisch fliehend die Flucht ergreifen.
„Ein beeindruckendes Kunstwerk, Tinmárs Schmach.“ Skorzuls tiefe Stimme dröhnte durch den Raum und ließ Jebae einen Moment lang ein Frösteln über die Haut laufen. „Die Quellen der alten Zeit sagen, dass Tinmár selbst zugegen war. Manch eine Interpretation legt sogar nahe, dass er aus Scham seine eigenen Züge in diesem Bild verewigte.“
Jebae betrachtete das Gemälde genauer. Doch auch wenn sie einzelne Augenpaare in der Masse aus Leibern ausmachen konnte, so fehlte ihr doch die Fantasie, den Künstler Tinmár in ihnen zu erkennen. Er hatte großen Anteil daran gehabt, die Kultur der Vorgha zu formen. Seine Werke prägten die Gesellschaft bis heute, sei es das Gemälde das sie gerade betrachtete oder eine der unzähligen Statuen, die die großen Plätze Sqezhas säumten. Und doch störte Jebae, dass jemand, der vor so langer Zeit gelebt und gewirkt hatte, noch heute Einfluss auf die Geschicke ihres Volkes nahm, indem seine Worte und Taten über die Zeit hinweg dutzende Male interpretiert worden waren. Wie konnte man nach solch langer Zeit noch auf die Worte eines Künstlers vertrauen, der mit seinen Werken die Welt vor einem Jahrtausend beschrieben hatte. Die Situation heute war eine gänzlich andere.
„Was gibt es Neues aus dem Rat?“, versuchte Jebae die Frage beiläufig klingen zu lassen. Tatsächlich war dies heute der einzige Grund, warum sie ihren Fuß in das Zimmer voll Antiquitäten längst vergangener Zeiten gesetzt hatte. In den letzten Jahren hatte Jebae sich selbst ein kleines Netzwerk aus Spitzeln aufgebaut. Es konnte nie schaden, selbst im Bilde zu sein, auch wenn sie darauf vertraute, dass ihr Vater ihr jederzeit die Wahrheit ins Gesicht sagen würde.
In dieser Hinsicht kommt mir sein Festhalten an den alten Werten zugute, dachte Jebae.
Ihr Vater war ein Vorgha der alten Schule, fest verwurzelt in all jenen Traditionen und Gedanken, die ihr Volk im letzten Jahrtausend hatten erblühen lassen. Ob es seine Position im Rat war, die Skorzul so eng zu den alten Werten stehen ließ, oder ob ihr Vater gerade deshalb das Amt des Bewahrers der Kultur so gut ausfüllte, konnte sie nicht mit Sicherheit sagen. Einer dieser Werte war es, zwischen Vorgha, insbesondere aber unter Angehörigen des eigenen Blutes immer das wahre Wort zu sprechen.
Schwach blitzten Bilder jener Geschichten in ihrem Geist auf, die ebendiese alten Werte bereits an die Jünglinge vermittelten. Doch in Jebaes Augen würde auch diesen Erzählungen eine Anpassung an die neuen Zeiten guttun.
„Razul wird seinen Vorschlag erst nach dem Turnier in den Rat einbringen.“ Skorzul blickte seine Tochter durchdringend an. Sein Blick bohrte sich wie durch die Luft sirrende Pfeile in ihre eigenen Augen. Und doch hielt Jebae dem Einschüchterungsversuch ihres Vaters stand.
„Das ist ein kluger Zug“, kommentierte Jebae die Nachrichten und versuchte ihr Schmunzeln zu verbergen.