Friesenteetage - Sabine Rädisch - E-Book
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Friesenteetage E-Book

Sabine Rädisch

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Beschreibung

Ein Neuanfang auf Föhr Kerrin ist entnervt: Die Auftragslage der selbstständigen Bauingenieurin könnte besser sein, ihr Liebesleben ebenso und nach einer Lungenentzündung kommt sie nur schwer wieder auf den Damm. Kurz entschlossen fährt sie zu ihrer Mutter auf die Nordseeinsel Föhr, um sich von der Meeresbrise durchpusten zu lassen und sich bei Friesentee und langen Strandspaziergängen endlich auszukurieren. Auf Föhr angekommen, ist von Erholung kaum die Rede: Kerrins Mutter droht das Haus zu verlieren, in dem sie seit Jahrzehnten wohnt, und Kerrin selbst schubst einen vermeintlichen Einbrecher die Treppe runter - den attraktiven und charmanten Lian, der ausgerechnet der Sohn des Vermieters ist. Trotzdem funkt es zwischen den beiden, und Kerrin überlegt ihr Leben umzukrempeln. Doch Lian hat einen eigenen Lebenstraum, in dem für Kerrin kein Platz zu sein scheint…

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Friesenteetage

Die Autorin

Sabine Rädisch, geboren 1973, wuchs auf einem Bauernhof in Niederbayern auf. Ihre erste Geschichte konnte daher nur von einem Traktor handeln; sie erschien 1986 im Landwirtschaftlichen Wochenblatt. Seitdem hat sie das Schreiben nie mehr losgelassen. Trotzdem studierte sie Bauingenieurwesen in Regensburg und Dänemark, bevor sie sich in Wien zur Schreibpädagogin ausbilden ließ. 2016 erhielt sie ein Stipendium für das Pécs Writers Program in Südungarn, gab sich dort hemmungslos dem Kaffeehausschreiben hin und überarbeitete nebenbei zwei Romane. Sabine Rädisch liebt die Nordsee und die Donau, lebt in Regensburg und leitet Kurse für kreatives Schreiben.

Das Buch

Kerrin ist entnervt: Die Auftragslage der selbstständigen Bauingenieurin könnte besser sein, ihr Liebesleben ebenso und nach einer Lungenentzündung kommt sie nur schwer wieder auf den Damm. Kurz entschlossen fährt sie zu ihrer Mutter auf die Nordseeinsel Föhr, um sich von der Meeresbrise durchpusten zu lassen und sich bei Friesentee und langen Strandspaziergängen endlich auszukurieren. Auf Föhr angekommen, ist von Erholung kaum die Rede: Kerrins Mutter droht das Haus zu verlieren, in dem sie seit Jahrzehnten wohnt, und Kerrin selbst schubst einen vermeintlichen Einbrecher die Treppe runter - den attraktiven und charmanten Lian, der ausgerechnet der Sohn des Vermieters ist. Trotzdem funkt es zwischen den beiden, und Kerrin überlegt ihr Leben umzukrempeln. Doch Lian hat einen eigenen Lebenstraum, in dem für Kerrin kein Platz zu sein scheint…

Sabine Rädisch

Friesenteetage

Roman

Forever by Ullsteinforever.ullstein.de

Originalausgabe bei ForeverForever ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinAugust 2019 (1)

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © FinePic®Autorenfoto: © privatE-Book powered by pepyrus.com

ISBN 978-3-95818-429-9

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Regensburg

Der Morgen danach

Unterwegs

Haus am Leuchtturm

Erinnerungen

6 Inselklinik

Süderende

Spaziergang am Strand

Olof

10 Marions Geschichte

Kleine Botschaften

Haus Regenpfeifer

Nachtgedanken

Ungebetene Gäste

Amrum

Komm wie du bist

Biikebrennen

Abschied

Zu Hause

Föhr

Klönschnack mit Australien

Überraschungen

Familienbande

Die Trauer der anderen

Aufbruch

Gudruns Geschichte

Zurück auf der Insel

Planänderung

Das Vermächtnis

Ein Jetlag hat auch seine guten Seiten

Alles findet seinen Platz

Fester Boden unter den Füßen

Nachwort

Leseprobe: Bis auf weiteres für immer

Empfehlungen

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Regensburg

Regensburg

Ein Liebespaar schlenderte über das helle Kalksteinpflaster vor der neuen Gemeindehalle, einem schlichten Bau aus Holz und Glas. Auf dem Platz stand ein Baum, darunter eine Bank mit einem etwa zehnjährigen Jungen und einem gleichaltrigen Mädchen. Beide aßen Eis und lachten einander zu.

Kerrin hatte dieses Schlussbild bewusst für ihre Präsentation gewählt. Obwohl es nur eine Animation war, hörte sie in ihrer Fantasie das Kinderlachen und roch beinahe den Honigduft der blühenden Linde.

Doch das Publikum interessierte sich nicht für Kerrins Idyll. »Wir brauchen keinen geschleckten Marktplatz«, tönte es stark bayerisch gefärbt aus den hinteren Reihen. »Und erst recht keine Gemeindehalle. Gebts uns lieber ein neues Vereinsheim für die Fußball-Jugend.«

Und eine Frau ganz vorne – schweinchenrosa Wollkostüm und Perlenkette – schrie: »Wer soll denn das bezahlen?«

»Der kleine Mann mal wieder!«, rief der Mittfünfziger neben ihr, der größer war als die meisten anderen um ihn herum. Beinahe hätte Kerrin gelacht, aber das kam natürlich nicht infrage. Stattdessen setzte sie ihr Pokerface auf und suchte Augenkontakt zu der jungen Gemeindemitarbeiterin, die ihren Blick ängstlich erwiderte. Sie stand dicht an der Tür, hatte die Schultern hochgezogen und die Hände fest ineinandergekrallt. Zu Beginn der Bürgerversammlung hatten die Finger noch eine Raute geformt.

Als Kerrin auf sie zutrat, zuckte die Frau zusammen. Herrschaftszeiten, dachte Kerrin, wenn der Bürgermeister schon zu spät kommen muss, warum hat er nicht wenigstens jemanden mit Erfahrung und guten Nerven geschickt? Sie setzte ein Lächeln auf und sagte: »Frau Kagerer, fragen Sie bitte mal nach, ob sich der Herr Bürgermeister in seinem Büro gemeldet hat.«

Einmal mehr war Kerrin froh über ihr gutes Personengedächtnis, denn als die junge Frau ihren Namen hörte, kam Leben in sie. Wie ein scheues Eichhörnchen flüchtete sie aus dem mit düsterer Eiche getäfelten Sitzungsaal. Die schwere Tür wäre mit einem Rumms hinter ihr ins Schloss gefallen, hätte Kerrin nicht beherzt zugegriffen und sie leise geschlossen. Dann dimmte sie das Licht heller und trat weit in den Raum hinein, dicht vor die erste Reihe. Auge in Auge fiel es den Leuten erfahrungsgemäß schwerer, sie zu beschimpfen.

»Vielleicht ist Bürgermeister Rohrbichler ja in der Baustelle am Ortseingang stecken geblieben«, sagte Kerrin. Einige lachten, andere standen auf und drängten zum Ausgang. Manche schimpften leise vor sich hin, das Schlusslicht bildete die Frau im rosa Kostüm. Diesmal schloss sich die Tür tatsächlich mit einem Knall. Kerrin wartete in Ruhe ab, bis sich der Tumult gelegt hatte, dann sprach sie weiter. Sie konnte nichts dafür, dass die Gemeinde sich bisher die Öffentlichkeitsarbeit gespart hatte. Nun waren einige Leute sauer, weil sie nicht in die Entscheidung eingebunden worden waren. Kerrin konnte das verstehen.

»Den Beschluss über die Ortserneuerung haben Ihre Gemeinderäte nach einer Vorlage der Verwaltung gefasst. Sobald der Bürgermeister da ist, können Sie alles mit ihm diskutieren. Ich präsentiere heute nur die Planung.«

»Wer weiß, wie die an den Auftrag gekommen ist«, murmelte jemand, und Kerrin sagte: »Die Gemeinde hat sich für mich entschieden, weil ich auf Infrastruktur spezialisiert bin.«

»Infrastruktur!«, schnauzte der große kleine Mann aus der ersten Reihe. »Straßen und Kanalrohre, das könnte die Firma Grumpl-Bau auch ohne Expertin. Warum planen Sie kein Glasfaserkabel! Wir warten schon lang genug auf schnelles Internet.«

Kerrin ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, schließlich war das nicht ihre erste Bürgerversammlung – nur die erste, die sie ohne Unterstützung eines oder einer Gemeindeverantwortlichen bestritt. Außerdem hatte sie eine langwierige Lungenentzündung hinter sich. Laut ihrer Ärztin sollte Kerrin jetzt auf Kur an der Nordsee sein, statt in diesem zugigen Saal zu stehen. Doch als Freiberuflerin konnte sie es sich nicht leisten, noch länger auszufallen. Ihre Freundin und Büropartnerin Sofia war in den letzten Monaten oft genug für Kerrin eingesprungen. Heute konnte sie sich dafür revanchieren: Sofia hatte ihre Tochter mit einer Gehirnerschütterung vom Schulsport abholen müssen und wollte den Rest des Tages bei ihr bleiben.

Sofia hatte das neue Ortszentrum geplant und die Gemeindehalle entworfen. Kerrin kümmerte sich um Straßen, Plätze und alles, was unsichtbar darunterlag. Sie atmete tief durch und sagte sich, dass alles in Ordnung war. Wie immer bei öffentlichen Veranstaltungen trug sie ihr dickes, rotblondes Haar in einem beeindruckend strengen Knoten und hatte einen taillierten Hosenanzug an. Heute in Blau mit weißer Bluse und Manschettenknöpfen, die ihrer Oma gehört hatten. Nur die Armbanduhr ihres Opas hatte sie anzulegen vergessen. Ohne das vertraute Gewicht am Handgelenk fühlte Kerrin sich unsicher, und die gewohnte Routine wollte sich einfach nicht einstellen. Dabei war die Präsentation bisher sehr gut gelaufen. Den schwierigeren Teil über Sofias Planung hatte sie schon gemeistert. Jetzt musste sie nur noch die Zeit bis zum Eintreffen des Bürgermeisters Rohrbichler überbrücken.

»Danke für das Stichwort«, sagte sie und klickte auf einen Übersichtsplan, der in verschiedenen Farben den Verlauf von Ver- und Entsorgungsleitungen zeigte. »Die Gemeinde fährt hier ganz klar eine Mehrspartenstrategie und nutzt die Synergieeffekte, die sich bei der Sanierung …«

Endlich ging die Tür auf, und Rohrbichler kam herein, hinter ihm Frau Kagerer. Der Bürgermeister entschuldigte sein Zuspätkommen damit, dass er auf der Versammlung des örtlichen Tourismusverbandes aufgehalten worden sei.

»Da wurden Weichen gestellt für die Zukunft unserer Gemeinde und die Arbeitsplätze in der Region«, sagte er. Rohrbichlers Gesichtsfarbe ließ vermuten, dass diese Weichenstellung an einem Ort mit Bierausschank stattgefunden hatte. Trotzdem wirkte er vollkommen präsent und nickte ihr freundlich zu. »Wie ich sehe, hat Frau Würschinger die Zeit gut genutzt.«

Rohrbichler dankte für Kerrins Vortrag und lobte die gute Zusammenarbeit. Sie lächelte zustimmend und setzte sich in die erste Reihe neben Frau Kagerer. Gemeinsam hörten sie Rohrbichler zu, der nun frei über die Kosten sprach. Nur hin und wieder notierte er ein paar Zahlen und Stichworte auf das Flipchart, und das Wunder geschah: Die Anwesenden gaben ihm zehn Minuten Gnadenfrist, bevor sie ihn mit Fragen bombardierten.

»Die Dame vom Ingenieurbüro hat gesagt, es ginge schon im Sommer los mit den Arbeiten?« Der junge Mann in der dritten Reihe wirkte offen und interessiert, während hinter ihm Gemurmel aufkam. Er saß neben einer gleichaltrigen Frau und hatte ein Kleinkind auf dem Schoß. Im Gegensatz zu den Erwachsenen war das Kind bisher erstaunlich ruhig geblieben. Es saß mit dem Rücken an seinen Vater gekuschelt und blickte aus großen Augen nach vorne. Vielleicht spürte es die Vibrationen, während der Mann sprach: Er hatte eine ruhige, volltönende Stimme, in der kein Hauch von Vorwurf lag.

»Ja, das war der Plan«, sagte Rohrbichler und schaute zu Kerrin hin. »Leider sind die beantragten Fördergelder noch nicht bewilligt. Wie es aussieht, können wir erst im Herbst ausschreiben, Baubeginn wäre dann erst nächstes Jahr im Frühling.« Das Gemurmel wurde lauter, aber niemand schimpfte. Die Tatsache, dass es erst in einem Jahr losgehen würde, gab den Leuten Gelegenheit, sich darauf einzustellen. Für Kerrin war der neue Zeitplan eine Überraschung. Sie hatte den Ausschreibungstext schon auf ihrer Festplatte, aber nun würde sich alles in die Länge ziehen. Die Zeit, die Kerrin eigentlich für die Bauüberwachung eingeplant hatte, wurde nun frei. Der Teil von ihr, der sich nach der Krankheit noch schwach und überfordert fühlte, war erleichtert. Ihre innere Finanzministerin schlug Alarm: Sie hatte fest mit dem Honorar für den Auftrag gerechnet. Sie musste sich etwas einfallen lassen, um das auszugleichen.

Als Kerrin gegen zehn nach Hause zurückkam und die zugehörigen Büroräume im Erdgeschoss betrat, sah sie Jan in seinem Zimmer am Schreibtisch sitzen. Sie erkannte Zeichnungen von Bodenprofilen auf dem einen Bildschirm und Text auf dem anderen, den er auf Hochformat gestellt hatte. Sie blieb einen Moment an seiner Schwelle stehen, während er fertig tippte, und betrachtete die vertraute Linie seines Nackens. Schließlich schwang er auf seinem Bürostuhl zu ihr herum, nahm seine markante Brille ab und schaute sie überrascht an. Es wirkte, als tauchte er aus tiefster Konzentration auf.

»Kerrin«, sagte er, und sie konnte sehen, dass er sich freute. Ihr wurde warm ums Herz, aber auch ein bisschen bang. Letzten Sommer hatte sie ihn aus einer Laune heraus nach oben in ihre Wohnung eingeladen. Von da an war er mindestens einmal pro Woche über Nacht geblieben. Kerrin fragte sich manchmal, ob er nicht vor allem aus praktischen Gründen gern bei ihr übernachtete, denn er wohnte zwanzig Kilometer außerhalb von Regensburg, und das Pendeln kostete ihn viel Zeit und Nerven. Dagegen sprach, wie aufmerksam er sich während ihrer Lungenentzündung um sie gekümmert hatte. In dieser Zeit war ihr Sexleben auf der Strecke geblieben.

Kerrin war nicht sicher, ob man von einer Liebesbeziehung sprechen konnte und was das möglicherweise für ihre Bürogemeinschaft bedeutete. Das Haus gehörte Kerrin, die Büroetage im Erdgeschoss teilte sie sich mit Jan und Sofia. Jan war Baugrundgutachter, Kerrin Bauingenieurin und Sofia Architektin. Jeder arbeitete auf eigene Rechnung, und manchmal wickelten sie gemeinsam Aufträge ab. Kerrin wollte nicht, dass irgendetwas dieses perfekte Arrangement durcheinanderbrachte. Doch nun hatte sich etwas Gezwungenes in ihren Umgang mit Jan geschlichen. Seit Wochen schob sie ein klärendes Gespräch hinaus.

»Na, wie ist es gelaufen?«, fragte er. Er lächelte, und obwohl Kerrin keine Lust hatte, über die Bürgerversammlung zu reden, musste sie sein Lächeln erwidern. Seine braunen, welligen Haare waren wie immer verstrubbelt. Das war bei ihm keine Frage des Stylings, sondern einfach seiner Angewohnheit geschuldet, sich beim Nachdenken weit im Stuhl zurückzulehnen und sich mit beiden Händen kreuz und quer über den Kopf zu streichen. Genauso wie sein Dreitagebart signalisierte, dass er Wichtigeres zu tun hatte als jeden Tag ans Rasieren zu denken. Auf diese Weise sah er immer ein bisschen verpeilt aus, doch das täuschte. Kerrin wusste, dass sie sich auf ihn verlassen konnte.

»Lass gut sein«, sagte Kerrin, und er verstand sofort: »Okay, es ist ja auch schon spät. Wir könnten uns was zu essen bestellen. Ich sterbe vor Hunger.«

Kerrin sparte sich die Fragen, warum er nicht längst etwas gegessen hatte und warum er immer noch hier war. Stattdessen nickte sie und sagte: »Gute Idee.«

»Schinken-Champignon?«, fragte er und griff zum Telefonhörer. Kerrin schüttelte den Kopf. »Komm, lass uns heute mal direkt in die Antica Mola gehen.« Kerrin hatte zwar nicht vorgehabt, das Haus heute noch einmal zu verlassen. Doch wenn Jan etwas beim Lieferdienst bestellte, gäbe es keinen Grund, ihn nicht in ihre Wohnung im ersten Stock zu bitten und eine Flasche Wein zu öffnen, und das wollte sie heute nicht. Sie hatte Lust auf heiße Pasta vom Teller und frischen Salat. Anschließend wollte sie schnell ins Bett, und zwar allein.

Jan unterdrückte ein Gähnen und nickte: »Gerne.«

Während er den Rechner runterfuhr und sich fertig machte, legte Kerrin die Laptoptasche in ihr eigenes Büro und joggte hoch in ihre Wohnung.

Auf dem Weg zum Bad fiel ihr Blick in das Wohnzimmer: Sie hatte es heute Morgen noch aufgeräumt. Jetzt lockte ihr Sofa mit frisch aufgeschüttelten Kissen und einer ordentlich zusammengefalteten Kuscheldecke, die nur darauf wartete, dass Kerrin sich darin einwickelte. Am besten nach einer wunderbar heißen Dusche. Ein Käsebrot mit Radiccio und ein Glas Rotwein, alleine vor dem Fernseher – das war es, was sie jetzt eigentlich brauchte. Doch es war zu spät. Unten wartete Jan auf sie, und er hatte es offensichtlich nur ihretwegen so lange im Büro ausgehalten.

Also machte sie sich frisch und tauschte den Hosenanzug gegen Jeans, T-Shirt und Pullover. Dann löste sie den strengen Knoten, bürstete ihr Haar und ging zurück nach unten. Jan wartete schon im Hausflur und lächelte sie an, was Kerrin unangenehm berührte. In diesem Moment ging das Treppenlicht aus. Jan trat an ihr vorbei und öffnete die Tür. Dabei stieg Kerrin sein frischer, mineralischer Geruch in die Nase. Jan war durch und durch ein Draußen-Mann, im Büro wirkte er stets wie eingesperrt. War das nicht das totale Klischee, ein Geologe, der nach Boden roch? Den Geruch seiner Haut hatte sie immer gemocht. Doch selbst das war keine Basis für eine langfristige Beziehung.

Fünfzehn Minuten später saßen sie mit einer Karaffe Weißwein und einer Kerze zwischen sich in der Pizzeria. Die Tische um sie herum leerten sich bereits.

»Du siehst müde aus«, sagte Jan. Seine Hand auf der Tischdecke schob sich über ihre. »Es war ja auch ein langer Tag für dich.«

Sie warf einen Blick auf ihr Smartphone. »Schon elf«, sagte sie. Dabei kratzte es tief in ihrer Lunge, sie musste husten. Jan sah sie besorgt an. »Alles in Ordnung?«

»Ja, natürlich. Ich war letzte Woche zur Nachkontrolle bei der Lungenärztin. Ich soll für einen Monat auf Kur, am besten ans Meer. Die ist lustig. Ich habe keine Ahnung, ob meine Krankenversicherung das bezahlt, vom Verdienstausfall ganz zu schweigen.«

»Du könntest dir Rezepte für ambulante Anwendungen geben lassen«, schlug Jan vor.

»Wenn ich nicht endlich wieder richtig anfange zu arbeiten, geht das Büro hops.«

»Lieber das Büro als du«, sagte er, und Kerrin schnaubte. Das hatte sie nun gar nicht hören wollen. »Ich kann es mir nicht leisten, noch länger auszufallen.«

»Sofia hält doch alles am Laufen.«

»Nur die dringenden Sachen. Der Rest bleibt liegen.« Natürlich hatte Sofia ihren Job nicht vollständig übernommen. Nicht so sehr, weil sie es nicht konnte, sondern weil ihr eigenes Büro florierte.

Sofia hatte zusammen mit Kerrin Bauingenieurwesen studiert, aber im Gegensatz zu Kerrin keinen Abschluss gemacht. Sie scheiterte an einer der letzten Prüfungen – vor allem deshalb, weil sie damals bereits ein Kind hatte und ihr Freund nach einem Jahr Zusammenleben mit Freundin und Tochter das Handtuch warf. Anstatt aufzugeben, setzte Sofia zwei Semester aus und wechselte dann zur Architektur, während Kerrin erste Berufserfahrungen als Bauingenieurin sammelte. Später starteten sie gemeinsam in die Freiberuflichkeit. Über die Jahre hatten sie einiges voneinander gelernt und sich gegenseitig vertreten, doch Kerrin war mehr als zwei Monate weg gewesen. Zu lang, um zwei Büros gleichzeitig zu führen, auch für ein Organisationstalent wie Sofia. Kerrin hatte einige Aufträge absagen müssen und sich nicht um neue kümmern können. Ihre Geldreserven schmolzen dahin. Jan oder Sofia würden ihr sicher etwas leihen, wenn sie sie darum bäte. Aber das kam nicht infrage. Lieber würde sie das Dachgeschoss vermieten, falls Marion, ihre Mutter, die Räume nicht für sich beanspruchte. Immerhin war es Marions Elternhaus, in dem Kerrin wohnte und arbeitete.

»Was würdest du tun, wenn du seit Jahrzehnten in einem Haus zur Miete wohntest und der Eigentümer plötzlich anfinge zu sanieren?«, fragte Kerrin. »Und zwar so, dass es dir das Leben schwer macht? Den Garten komplett umgraben, die befestigte Zufahrt wegreißen und in eine Schlammpiste verwandeln …«

»Bei so einer alten Hütte muss das wohl mal sein.« Er grinste sie an: »Gerade du solltest das wissen.«

»Komm, so schlecht ist mein Haus nicht beieinander.« In den letzten Jahren hatte sie das eine oder andere repariert, für eine Generalsanierung fehlte ihr das Geld.

»Willst du uns rauswerfen?«, fragte er und wirkte plötzlich verunsichert.

»Quatsch. Ich bin froh, dass ich euch als Mieter habe. Eine Sanierung würde ich rechtzeitig mit euch besprechen. Vor allem mit Sofia, immerhin ist sie Architektin.«

»Um was geht es dann?«

»Das Haus meiner Mutter. Sie lebt in Wyk auf Föhr.«

»Ich weiß«, sagte Jan.

Kerrin war überrascht. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie ihm zuletzt von ihrer Mutter erzählt hatte. Zumal sie vor seiner Scheidung kaum einmal über Privates gesprochen hatten. Während seiner schwierigen Trennungsphase hatte er sich nicht Kerrin anvertraut, sondern Sofia. Sie war offener als Kerrin und gleichzeitig verschwiegen. Und sie war eine großartige Zuhörerin, während Kerrin manchmal das Gefühl hatte, dass der Beruf bereits ihr gesamtes Einfühlungsvermögen aufzehrte.

»Sie wohnt seit fünfunddreißig Jahren in dem Haus«, erklärte sie. »Aber es wurde laufend instand gehalten. Marion glaubt, dass die Eigentümerfamilie das Haus zurückhaben möchte, um es an Feriengäste zu vermieten. Sie hat ihre Keramikwerkstatt dort und verliert ihre Existenzgrundlage, falls sie ausziehen muss. Die Mieten auf Föhr sind mit den Jahren unerschwinglich geworden. Wahrscheinlich muss sie auf das Festland ausweichen.«

Außer mit Jan hatte Kerrin noch mit niemandem darüber gesprochen, nicht einmal mit Sofia. Diese war seit der Trennung alleinerziehend und hatte eine Wohnung im Haus ihrer Eltern. Ohne die Hilfe ihrer Familie hätte Sofia kein Architekturbüro aufbauen können. Inzwischen war ihre Tochter Laura dreizehn und wurde immer selbstständiger, Sofia arbeitete fast Vollzeit. Für sie war das Zusammenleben dreier Generationen unter einem Dach ideal, und sie verstand nicht, dass Kerrin so wenig Kontakt zu ihrer Mutter hatte.

»Und wohin?«, fragte Jan. »Will sie zurück nach Regensburg?«

»Keine Ahnung, aber ich fühle mich verpflichtet, Marion die Räume unterm Dach anzubieten. Meine Großmutter hat sie in der Erbfolge übergangen, indem sie mir das Haus hinterließ. Das Verhältnis zwischen den beiden war nicht das Beste.«

»Deine Mutter hatte sicher gute Gründe, Regensburg den Rücken zu kehren. Was ist mit deinem Vater? Kann der nicht helfen?«

»Ich habe keine Ahnung, wer er ist. Ich weiß nicht mal, ob er von der Insel stammt oder von hier. Marion sagt, er sei ein liebenswerter Mensch, aber leider schon verheiratet gewesen. Mehr ist aus ihr nicht herauszubekommen.«

Jan nahm seine Brille ab, legte sie auf das Tischtuch und rieb sich mit den Fingern über die Druckstellen auf dem Nasenrücken. Ohne den Filter seiner Brillengläser wirkte der Blick seiner braunen Augen ungewöhnlich intensiv und warm.

»Verrückt«, sagte er. »Vielleicht ging sie weg, weil er von hier ist und sie ihn vergessen wollte? Oder deine Mutter war einem reichen Erben versprochen, bandelte aber mit einem mittellosen Künstler an. Einem Dichter vielleicht, und es kam zu einem Duell im Morgengrauen …«

Kerrin musste schmunzeln. »Du solltest Bücher schreiben.«

»Ja, historische Romane«, sagte Jan, und beide lachten. Dann sagte sie: »Manchmal glaube ich, es ist Anton.« Anton war Kerrins Nachbar, und sie hatten einen guten Kontakt. Fast so, als gehörte er zur Familie.

Jan lachte wieder. »Den hätte ich auch gern als Vater, er ist ein feiner Kerl. Allerdings alt genug, um dein Opa zu sein. Was steht denn in deiner Geburtsurkunde?«

»Nichts. Es ist kein Vater eingetragen.«

Jan schüttelte den Kopf. »Dass es das heutzutage noch gibt.«

Jans Pizza kam, und Kerrin bat ihn anzufangen, bevor das Essen kalt wurde.

»Danke«, sagte er, und sie sah, dass er sich nur mühsam beherrschte, um nicht zu schlingen. Ihr selbst ging es kaum anders, als der Kellner ihre Gnocchi mit Radicchio und Gorgonzola brachte. Sie fühlte sich regelrecht ausgehungert.

»Es belastet dich offensichtlich, dass du nicht weißt, wer er ist«, sagte Jan zwischen zwei Bissen. »Du solltest das mit deiner Mutter klären. Erst recht, falls ihr zusammenzieht. Warum besuchst du sie nicht und spannst ein paar Tage aus? Das ist die Gelegenheit, nebenbei machst du deine Kur.«

»Ich kann mich nicht entspannen, wenn ich mich gleichzeitig um dieses heikle Thema kümmern muss. Ich habe Marion schon so oft nach meinem Vater gefragt, aber sie hat jedes Mal abgeblockt.«

»An deiner Stelle würde ich nicht lockerlassen. Stell dir einfach vor, wie gut du dich fühlen wirst, wenn du das mit ihr geklärt hast.«

Kerrin schob schweigend zwei Gnocchi in den Mund. Seit wann war Jan auf der Psycho-Schiene unterwegs? Früher hätte er nicht viel zu ihren Schilderungen gesagt, sondern sie in den Arm genommen und sie zu trösten versucht. Sie hatte wenig Hoffnung, dass ihre Mutter diesmal anders reagieren würde als sonst. Trotzdem sagte sie: »Vielleicht hast du recht. Mein jährlicher Besuch ist eh überfällig.«

»Ihr seht euch nur einmal im Jahr?«

»Unser Verhältnis ist nicht so eng. Ebenso wenig wie das zwischen Oma und ihr.«

»Warum?«

Dass Jan sie so direkt fragte, versetzte Kerrin einen Stich. »Keine Ahnung«, sagte sie. »Meine Kindheit war okay. Erst in der Pubertät wurde es schwierig.«

Jan lächelte: »Bei wem nicht. Zwischen meinen Eltern und mir flogen dauernd die Fetzen. Irgendwann legte sich das.«

»Bei mir nicht, oder meine Pubertät dauerte einfach länger als deine. Ich konnte es kaum erwarten, wegzuziehen. Oma nahm mich liebevoll auf, als hätte ihre mütterliche Seite eine Generation übersprungen. Ich habe es genossen, mich von ihr umsorgen zu lassen, ich hatte ja auch Nachholbedarf. Marion kam mir nie vor wie eine Mutter, sie behandelte mich wie eine Erwachsene. Wenn ich krank war, packte sie mich ins Bett, stellte mir eine Kanne Tee hin und ging in ihre Werkstatt. Ich konnte zwar nach ihr rufen, aber oft hörte sie mich nicht.«

Jetzt rutschte Jans Hand wieder näher an ihre. Erst stießen die Finger zusammen, dann legte er entschlossen seine lange, schmale Hand auf ihre. Die Berührung war tröstlich, aber hatte sie ein Recht darauf? Spürte Jan, dass sie sich innerlich von ihm entfernt hatte? Versuchte er, das Auseinanderdriften durch diese kleinen Gesten aufzuhalten? Oder hielt er sie ganz selbstverständlich für ein Paar? Es wäre leicht für Kerrin gewesen, einfach da weiterzumachen, wo sie vor ihrer Krankheit aufgehört hatte. Sie hätte endlich in einer festen Beziehung ankommen und das Gefühl genießen können, zu jemandem zu gehören. Zu jemandem, der klug und warmherzig war und der bereits bewiesen hatte, dass er auch in Krisenzeiten zu ihr stand. Jan war der sichere Hafen, den das Leben ihr anbot. Und nun streichelten seine Finger auch noch ihr Handgelenk. Ein zartes Beben ging durch ihren ganzen Körper.

Doch bei der Vorstellung, Tag für Tag neben ihm aufzuwachen, legte sich ein schwerer, dunkler Schatten über sie. Sie hatte dieses Gefühl auch früher schon gespürt, lange vor Jan. Eigentlich immer, wenn eine Beziehung enger wurde. Es musste also an ihr liegen. Vielleicht sollte sie sich endlich einmal über dieses Gefühl hinwegsetzen, damit alles ins Lot kam.

Sie zog die Hand fort, fuhr sich nervös durch das Haar und fasste es im Nacken zusammen, aber sie hatte kein Haargummi dabei, um einen Zopf zu binden. Stattdessen legte sie die Hände in den Nacken. Dabei merkte sie, wie verspannt sie war. Jans Hand spielte jetzt mit dem Weinglas. Er schien es ihr nicht übel zu nehmen, dass sie sich ihm entzogen hatte, und kommentierte es nicht. Stattdessen sah er sie aufmerksam an und fragte: »Deine Oma war also fürsorglicher? Auch das ist ja keine Seltenheit. Omas haben mehr Freiheiten als Mütter.«

»Ich durfte oft die Ferien bei ihr verbringen und fand es herrlich. Deshalb stand für mich früh fest, dass ich zum Studieren nach Regensburg gehe. Mein Opa ist vor meiner Geburt gestorben, aber Oma erlebte noch meine ersten Berufsjahre mit. Als sie mir das Haus vererbte, hätte Marion ihr Pflichtteil einfordern können, aber sie meinte, das Haus wäre bei mir besser aufgehoben. Als wollte sie nichts mehr damit zu tun haben.«

»Das klingt plausibel, wenn sie sich mit ihren Eltern nicht gut verstand. Warum auch immer.«

»Mhm. Vielleicht sollte ich wirklich zu ihr fahren.«

»Ja, tu das. Nebenbei kurierst du dich aus.«

»Ich weiß nicht. Jetzt im Januar ist es doch eiskalt da oben.«

»Nicht mehr als hier. Der Winter an der Nordsee hat auch seinen Reiz.«

Kerrin lächelte: »Du lässt wirklich keine Ausrede gelten.«

Zum Schluss bestellte Jan sich einen Espresso. Er musste noch eine halbe Stunde Auto fahren, um nach Hause zu kommen. Zum Glück waren die Straßen trotz der Frosttemperaturen frei.

Kerrin erinnerte sich an ihren letzten Winter auf Föhr. An leuchtend klare, kalte Tage, die tief stehende Sonne und den Blick über das Wattenmeer zu den Halligen. Manchmal war mit bloßem Auge jedes einzelne Haus auf den Warften zu erkennen gewesen, an anderen Tagen war da nichts als heller Dunst am Horizont. Als schwebte die Insel in einem Niemandsland, ohne Verbindung zur Außenwelt. Diese Tage hatte sie besonders geliebt.

Kerrin winkte dem Kellner, und bevor Jan protestieren konnte, zahlte sie für beide. Gemeinsam liefen sie zurück zu Kerrins Haus. Jans verschlammter Geländewagen parkte in der Einfahrt, und er gähnte nahezu demonstrativ, als er sagte: »Na dann.«

»Komm gut heim«, sagte Kerrin. Jetzt hätte sie sich umdrehen und ins Haus gehen sollen. Stattdessen küsste sie Jan. Es fühlte sich gut an. Für Jan anscheinend auch. Warum sonst sollten seine Hände unter ihre Jacke wandern? Sie ließ es zu, dass er sie ganz nah an sich heranzog, weitere Küsse einforderte, sie sanft in Richtung Hauseingang schob.

»Wollen wir reingehen?«, fragte er leise, und es fühlte sich so endgültig an. Als wäre ihr Schicksal ein für alle Mal besiegelt, wenn sie jetzt mit ihm ins Bett ging. Der Klang seiner Stimme war dunkel, fast beschwörend, und jagte Kerrin einen heißen Schauer über den Rücken. Doch es war nicht die Vorfreude auf mehr, sondern das Gefühl, dass ihr der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Wie in einem dieser Albträume, in denen man vor etwas weglief, voller Angst und ohne Hoffnung auf Entrinnen. Und schon legte sich der Schatten wieder über sie.

Obwohl sie aufgehört hatten sich zu küssen, bekam Kerrin kaum noch Luft. Ihr Herz raste, und sie kämpfte gegen den Impuls, ohne ein weiteres Wort ins Haus zu gehen. Sie spürte, wie sie äußerlich erstarrte und Jans Arme herabsanken.

»Lieber nicht«, sagte sie.

»Verstehe.« Er trat einen Schritt zurück und vergrub die Hände in den Jackentaschen. Dann atmete er tief durch. »Das gilt nicht nur für heute Abend, nehme ich an?«

Kerrin schüttelte langsam den Kopf. »Es tut mir leid. Ich kann nicht.«

Jan sah sie an. In seinem Gesicht konnte sie lesen wie in einem offenen Buch. Er war nicht nur verletzt, sondern auch genervt. »Darf ich fragen, warum?«

Kerrins Antwort kam ganz von selbst, bevor sie darüber nachdenken konnte. »Ich habe das Gefühl, dass du mehr willst als ich«, sagte sie. »Und das kann ich nicht bieten. Im Sommer, das war magisch, aber dann …«

Kerrin brach ab. Egal was sie jetzt noch sagte, es konnte nur verletzend sein.

Jan sah sie lange an. Schließlich antwortete er: »Meine Ex-Frau hat mir vorgeworfen, ich sei unreflektiert. Hätte keine Ahnung von meinen Gefühlen. Natürlich fand ich das furchtbar ungerecht. Nach der Trennung musste ich mich dann mehr mit mir selbst beschäftigen als je zuvor. In mir war ein einziges Chaos. Als es endlich aufwärtsging, verliebte ich mich in dich. Dann hast du dich zurückgezogen. Erst dachte ich, es läge an der Lungenentzündung. Aber du hast unsere Beziehung mit Absicht versanden lassen, habe ich recht?«

»Nein, ich wollte das gar nicht. Mir wurde erst nach und nach bewusst, dass ich auf dem Rückzug bin. Anscheinend bin ich diejenige, die keine Ahnung von ihren Gefühlen hat«, sagte Kerrin und merkte selbst, wie bitter das klang. »Tatsächlich bin ich nicht bereit für eine Beziehung. Es macht mir Angst.«

»Verstehe. Ich werde dir nicht hinterherlaufen.«

»Natürlich nicht«, sagte Kerrin. Sie war erleichtert. Gleichzeitig wunderte sie sich, dass er so kampflos aufgab. Sie hatte nicht gesagt, dass sie ihn nicht liebte. Er hätte sie fragen können, wovor genau sie Angst hatte und was sie brauchte, um es zu überwinden. Doch offenbar hatte er sich schon eine Erklärung zurechtgelegt. Er atmete scharf ein, und seine Augenbrauen wanderten nach oben, bevor er sagte: »Weißt du, deine Familiengeschichte klingt arg schräg. Vielleicht solltest du das aufarbeiten, bevor du dich auf jemand Neuen einlässt.«

»Hey, du bist Baugrundgutachter, kein Psychologe!« Kerrin verstand, dass Jan verletzt war. Trotzdem empfand sie seine Bemerkung als Schlag unter die Gürtellinie.

»Ich gehe den Dingen eben gern auf den Grund. Das ändert nichts daran, dass du mit mir Schluss machst.« Seine Stimme wurde kratzig. Ihr selbst steckte auch schon ein Kloß im Hals.

»Es tut mir wirklich leid, Jan.«

»Schon gut«, sagte er, und natürlich war gar nichts gut. Er wandte ihr den Rücken zu und ging zu seinem Auto. Kerrin drehte sich ebenfalls um und schloss die Haustür auf. Im Treppenhaus ließ sie sich Zeit, bis das Licht wieder ausging. Vom ersten Stock aus konnte sie beobachten, wie Jan die Scheiben seines Autos freikratzte und schließlich einstieg. Fast hoffte sie, dass es nicht anspringen und ihr damit einen Vorwand liefern würde, nach unten zu rennen und ihn doch noch hereinzubitten. Aber der Motor startete zuverlässig, und der Wagen rollte aus der Einfahrt. Erst als die Rücklichter aus ihrem Blickfeld verschwunden waren, ging Kerrin in ihre Wohnung. Die Stille, die sie empfing, tat ihr gut. Sie war froh, jetzt allein zu sein. Trotzdem fragte sie sich, ob sie den Fehler ihres Lebens gemacht hatte. Jan war ein wunderbarer Mensch, als Freund und auch als Mann. Er hatte es nicht verdient, dass sie ihn so abservierte. Und doch war sie unglaublich erleichtert.

Dann begann sie zu frieren. Ihr war so kalt, dass ihre Zähne klapperten. Sie drehte die Heizung auf und schenkte sich ein Glas Rotwein ein, ging ins Wohnzimmer und wickelte sich in ihre Kuscheldecke. Sie war todmüde, aber sie konnte jetzt nicht ins Bett gehen. Dort wäre sie ihren Gedanken schutzlos ausgeliefert gewesen. Stattdessen schaltete sie den Fernseher ein und geriet mitten in eine Traumlandschaft: Im Hintergrund sah man steil abfallende Klippen. Hoch über dem Meer warf sich eine Blondine gerade in die Arme eines Typen mit weißem Sakko und Achtzigerjahre-Föhnfrisur, als bräuchte sie für den Rest ihrer Tage nichts anderes mehr. Dann wurde der Abspann eingeblendet. Irgendwas mit Liebe in Cornwall. Kerrin wurde wütend. Von wegen große Liebe. So ein Mist! Sie selbst konnte nicht das Produkt einer solchen Liebe sein, sonst wäre sie mit Mutter und Vater, mit einer vollständigen Familie groß geworden. Hätte womöglich Geschwister. Ja, eine kleine Schwester, über die sie schützend ihre Hände halten würde. Oder eine große, die sie jetzt um Rat fragen könnte. Doch ihre einzige Familie war Marion, ihre Mutter. Jan hatte recht, sie musste sie zur Rede stellen. Es war ein guter Zeitpunkt. Sie brauchte das Nordseeklima, um ganz gesund zu werden. Sie konnte ihren Laptop mitnehmen und von unterwegs arbeiten.

Der Morgen danach

Am nächsten Morgen wachte Kerrin um sieben auf. Sie rekelte sich ausgiebig, ging in die Küche und befüllte die Espressomaschine. Mit einem Becher Milchkaffee kehrte sie ins Schlafzimmer zurück und kuschelte sich noch einmal unter die Bettdecke. Zum Glück war Samstag, sie konnte sich ausruhen und musste Jan nicht gleich wieder unter die Augen treten. Ein bisschen Abstand würde ihnen beiden guttun.

Sie war froh, jetzt allein zu sein, aber sie spürte auch ein leichtes Ziehen in der Herzgegend, wenn sie an ihn dachte. Seit fünf Jahren teilten sie nun die Büroetage, und Kerrin wollte nicht, dass sich irgendetwas änderte. Weder durch ihre Affäre noch durch die Abfuhr, die sie ihm erteilt hatte. Sie hoffte, dass sie nach einer Weile zu ihrem normalen Alltag zurückkehren konnten, in dem sie Freunde und gute Kollegen waren. Er hatte ähnliche Vorstellungen von Ordnung und Sauberkeit wie Kerrin und Sofia, und ihre gemeinsamen Kaffeepausen hatten genau die richtige Länge. Kerrin mochte die Gespräche mit ihm und auch das Schweigen. Manchmal gingen sie mit Sofia essen, oft auch nur zu zweit. Sie brachten einander zum Lachen, wenn eine Besprechung schlecht gelaufen war oder ein Auftraggeber nervte, und Jan erzählte gern Anekdoten aus seinem Arbeitsalltag. Während Kerrins Lungenentzündung hatte er sie im Wechsel mit Sofia im Krankenhaus besucht. Als sie wieder zu Hause war und noch schwach auf den Beinen, war er für sie einkaufen gegangen. Ein paar Mal hatten er und Sofia zusammen in ihrer Wohnung gekocht.

Sie hatte sich nie dafür bedankt. Sie hatte ihn nur gestern zum Essen eingeladen und ihn anschließend aus ihrem Leben gekickt, oder zumindest aus ihrem Bett.

Kerrin nahm einen Krimi zur Hand, aber ihre Gedanken schweiften immer wieder ab. Sie dachte an die notwendige Kur, ihre Auftragsflaute und immer wieder an Jan.

Sie stellte die halb geleerte Kaffeetasse beiseite, schwang die Beine aus dem Bett und ging ins Bad. Der Raum war der einzige, den sie nach dem Tod ihrer Großmutter grundlegend renoviert hatte: Die alten, moosgrünen Fliesen waren durch eine großzügige Natursteinwand und Bodendielen ersetzt worden. Anstelle einer Badewanne hatte sie sich für eine Dusche mit Glaswänden und Massagedüsen entschieden. Sie duschte für ihr Leben gern. Umgeben von Wasserdampf, der zitronigen Note ihres Shampoos, weichem Licht und sanfter Musik fielen alle Alltagssorgen von ihr ab. Anschließend cremte sie sich ausgiebig ein, massierte sich die Füße und ruhte ein paar Minuten in dem Korbsessel, eingewickelt in ein flauschiges Handtuch. Heute kürzte sie die Zeremonie ab, um nicht ins Grübeln zu geraten.

Die übrigen Räume hatte sie mit einem Mix aus Alt und Neu eingerichtet: In der Küche stand Omas Anrichte mit dem weißen, fast gummiartigen Lack neben einem modernen Induktionsherd und der Küchenzeile aus Massivholz. Die soliden, aber nicht besonders wertvollen Wohnzimmermöbel hatte sie ablaugen lassen und selbst neu lackiert. Die Kunst dabei war, die Erbstücke so aussehen zu lassen, als wären sie nur auf alt getrimmt. So passten sie perfekt zu den Neuerwerbungen aus dem Möbelhaus. Schade, dass ihre Mutter sie noch nie besucht hatte. Sie war überhaupt nie hier gewesen, solange Kerrin sich erinnern konnte. Stattdessen war Oma nach Wyk gefahren und hatte Kerrin über die Ferien abgeholt, bis sie alt genug war, die Fahrt mit dem Zug allein zu machen. Daher hatte Kerrin keine Ahnung, ob Marion es gut fand, was sie aus ihrem Elternhaus gemacht hatte, oder ob es ihr schlicht egal war. Bei Oma hingegen war sie absolut sicher, dass diese sich über Kerrins Möbelrecycling gefreut hätte. Sie war sparsam gewesen, hätte aber bestimmt nicht gewollt, dass Kerrin in einem Museum lebte.

Nachdem Kerrin sich fertig angezogen und frischen Kaffee gekocht hatte, ging sie mit ihrer Tasse ins Büro hinunter. Auch hier traf sie auf Relikte aus der Vergangenheit: Kerrins Opa war Immobilienmakler gewesen, und sein Schreibtisch stand noch immer in ihrem Zimmer. Ein dunkles Ungetüm aus Kirschbaumholz, das sie aus Bequemlichkeit behalten hatte, und ein bisschen auch aus Nostalgie. Einer Nostalgie aus zweiter Hand, da sie ihren Opa nie kennengelernt hatte. Noch so eine Fehlstelle auf der männlichen Seite der Familie. Als Kerrin das Haus übernahm, hatte sie jahrzehntealte Unterlagen in dem Büro gefunden. Kerrin hatte nur einen flüchtigen Blick hineingeworfen und sie dann entsorgen lassen. Heute wünschte sie, sie hätte die Sachen genauer angesehen. Vielleicht wüsste sie dann heute mehr über ihren Großvater.

Oma hatte selten über ihren verstorbenen Mann gesprochen, und Marion schon gar nicht. War er akribisch gewesen, oder hatte er seine Geschäfte mit leichter Hand geführt? Hatte er leutselig oder reserviert, freundlich oder streng hinter seinem Schreibtisch gesessen, an dem Kerrin nun täglich arbeitete? Kerrin wusste nur, dass ihr Opa nicht lang vor Marions Umzug nach Föhr gestorben war.

Das Geräusch des Schlüssels in der Haustür ließ sie erschrecken und jagte ihr einen heißen Schauer durch die Brust. War das Jan? Gestern hatte er besonnen reagiert, doch nun hatte er eine Nacht darüber geschlafen und wollte ihr vielleicht die Meinung sagen.

Zu Kerrins Erleichterung sah sie im nächsten Moment Sofia auf der Schwelle stehen. Sie ließ ihre Tasche fallen und schälte sich hastig aus ihrem dunkelblauen, warmen Walkmantel.

»Hier ist es ja total überheizt«, behauptete sie. Unter dem Mantel trug sie Jeans und ihren engen schwarzen Rollkragenpullover. Jedenfalls glaubte Kerrin, dass es dieser Pulli war, denn darüber trug Sofia einen voluminösen gestrickten Loopschal aus flauschiger Wolle. Es sah aus, als hätte sie sich ein exotisches Tier um den Hals geschlungen, dessen fliederfarbenes Fell Sofias kurze aschblonde Haare zu verschlucken schien. Auch ihre Gesichtsfarbe war rosig, vermutlich hatte sie die fünf Kilometer von ihrer Wohnung hierher mit dem Fahrrad zurückgelegt. Sie genoss es, am Wochenende in die Stadt zu radeln statt wie sonst mit dem Auto, das sie beruflich brauchte. Es gab wenig, das sie davon abhalten konnte. Zehn Grad unter null gehörten nicht dazu, außer es war glatt oder der Schnee verstopfte die Fahrradwege.

»Na, bist du fleißig?«, fragte sie.

»Nicht so richtig«, sagte Kerrin. »Ich will nur eine Sache von gestern abschließen.«

»Ich auch. Ich suche kurz was für einen Kunden raus, danach gehen wir frühstücken.«

Kerrins Laune besserte sich schlagartig. Sie hatte noch nichts gegessen, und bei der Aussicht, mit Sofia reden zu können, stellte sich ihr Appetit wieder ein. Außerdem fand sie es entlastend, dass Sofia sie vor vollendete Tatsachen stellte, Kerrin brauchte nur noch Ja zu sagen.

Gegen zehn saßen sie einander im Café Goldenes Kreuz gegenüber, und Kerrin sank tief in einen der altmodischen Kaffeehaus-Sessel. »Das Frühstück geht auf mich«, sagte sie. »Danke noch mal, dass du meinen Job gerettet hast, während ich krank war.«

Sofia lachte. »Ich spiele gerne Feuerwehr. Inzwischen stapeln sich bestimmt die Anfragen bei dir.«

»Leider nein.«

»Oh. Und sonst? Wie läuft’s mit Jan? Du hast in letzter Zeit gar nichts von ihm erzählt.«

»Ich habe mich gestern von ihm getrennt.«

Kerrin beobachtete, wie innerhalb einer Sekunde verschiedenste Empfindungen über Sofias Gesicht flogen. Überraschung. Missbilligung. Hoffnung? All das vermischte sich zu einem Ausdruck, den Kerrin noch nie an ihrer Freundin gesehen hatte und den sie darum nicht deuten konnte. Endlich öffnete Sofia den Mund, um etwas zu sagen. In diesem Moment wurde das Frühstück serviert, und Sofia schenkte der Kellnerin ihr gewohntes, breites Lächeln.

»Danke«, sagte sie und nahm sich sofort eine Baguettescheibe, die sie hingebungsvoll butterte. Dann türmte sie Rührei darauf und fixierte das Ganze mit einer Scheibe Käse, wie sie es immer machte.

Während Kerrin überlegte, wie viel sie noch von der Geschichte erzählen wollte, war ihr Sofia schon einen Schritt voraus. »Hast du mal wieder kalte Füße gekriegt? Der arme Jan.«

»Mir tut es ja auch leid«, sagte Kerrin. »Was soll ich machen, wenn die Liebe sich verflüchtigt?«

»Du gibst ihr ja gar keine Chance, sich zu entwickeln«, sagte Sofia. Sie hatten dieses Gespräch schon zu oft geführt. Sofia vertrat die Meinung, dass Kerrin zu anspruchsvoll sei. Dabei war das gar nicht der Punkt. Ab einem gewissen Grad der Vertrautheit wurde sie plötzlich unsicher, und dann zerbröckelte alles.

»Und wie sieht es bei dir aus?«, fragte Kerrin.

»Wenn der Richtige da draußen rumläuft, wird er mich schon finden«, sagte Sofia. »Am besten direkt nach Lauras achtzehntem Geburtstag.«

»Nur noch fünf Jahre, bis du deinen Traummann triffst«, meinte Kerrin, und beide lachten.

Dann sagte Kerrin: »Glaubst du, dass ich wegen meiner Familiengeschichte beziehungsunfähig bin?«

»Wie kommst du denn darauf?« Sofia schien so überrascht, dass Kerrin erleichtert aufatmete. Dann wiederholte sie, was Jan am Vorabend zu ihr gesagt hatte.

»Mann, der muss gerade reden. Was der mir in seiner Scheidungsphase alles erzählt hat … aber im Ernst: Wenn dich das so beschäftigt, dann such dir eine nette, mitfühlende Therapeutin.«

Es tat Kerrin gut, dass Sofia ihre Partei ergriff. »Klar beschäftigt es mich«, antwortete sie. »Es könnte doch sein, dass er recht hat. Ich hatte keine männlichen Bezugspersonen, und ich bin wütend auf Marion, weil sie mir meinen Vater verschweigt.«

»Jetzt machst du mir fast ein schlechtes Gewissen.«

»Das ist was anderes. Laura weiß, wer ihr Vater ist. Er hat euch verlassen, das ist nicht deine Schuld.«

»Aber sie sehen sich kaum.«

»Weil Laura sich bewusst dafür entschieden hat. Das habt ihr beide ihr ermöglicht, ohne Geheimnistuerei. Darum ist es jetzt auch keine große Sache für sie.«

»Warten wir’s ab. Ich gebe mein Bestes, wie deine Mutter bestimmt auch. Sag ihr noch mal, wie wichtig es für dich ist, die Wahrheit über deinen Vater zu wissen. Selbst wenn er ein verurteilter Mörder oder anonymer Samenspender sein sollte.«

Kerrin ließ den Atem zwischen ihren Lippen entweichen wie aus einem Luftballon. »Jetzt hör aber auf. So schlimm wird es schon nicht sein.«

»Dann rede mit ihr. Wolltest du nicht zu ihr fahren, kurz bevor du krank wurdest?«

»Das stimmt. Ich möchte sie tatsächlich besuchen. Auch wegen Jan und mir. Ein bisschen Abstand kann nicht schaden, oder? Nur das Geschäft macht mir Sorgen.«

»Nimm deinen Laptop mit und arbeite von unterwegs«, sagte Sofia. »Und lass mich noch ein bisschen länger hier die Stellung halten.«

»Das wäre super.« Bevor sie es sich anders überlegen konnte, holte Kerrin ihr Smartphone heraus und schrieb eine Nachricht an ihre Mutter.

Hallo, Marion, ich nehme ein paar Tage frei. Ist es dir recht, wenn ich zu dir komme? LG, K.

Die Antwort kam keine fünf Minuten später.

Das wäre wunderbar! Hoffe, du hast ein bisschen länger Zeit als letztes Mal. Wann kommst du?

Als Gruß hatte sie geschrieben: Deine M., was sowohl Marion als auch Mama bedeuten konnte.

»Siehst du?«, jubelte Sofia. »Sie freut sich auf dich.« Sie klang so aufgeregt wie eine Dreizehnjährige vor dem Ferienlager. Dabei fuhr sie nicht mal selber weg.

»Scheint so«, meinte Kerrin verblüfft. So überschwänglich schrieb ihre Mutter sonst nie.

Montag!, textete sie zurück. Dann fragte sie Sofia: »Ist es wirklich in Ordnung für dich, dich noch länger um mein Büro zu kümmern?«

Sofia lachte: »Klar. Sag mir nur, was ich machen muss.«

»Die Post durchsehen und weiterleiten, wenn es was Wichtiges ist.«

»Und der Abnahmetermin bei UTX? Den kann ich auch übernehmen, kein Problem.« Sofia hatte Kerrin bei einigen Terminen vertreten und kannte nicht nur die Firma, sondern auch das Projekt.

»Das ist nett von dir, aber das brauchst du nicht. Die Projektleiterin dort hat gekündigt, und der Neue muss sich erst einarbeiten.«

»Und die ausführende Firma hat sich darauf eingelassen, den Termin zu verlegen?«, wunderte sich Sofia. Denn ohne Schlussabnahme gab es vorerst kein Geld für das Bauunternehmen – und auch kein Honorar für Kerrin.

»Ja. Ehrlich gesagt bin ich erleichtert. Ich hatte mich schon gefragt, wie ich das körperlich durchstehen soll, stundenlang in der Kälte auf dem Firmengelände rumzulaufen.«

»Dann erhol dich mal gut auf Föhr.«

Kurz darauf verabschiedeten sich die Freundinnen voneinander. Sofia wollte noch einkaufen, und Kerrin ging nach Hause. Sie würde tatsächlich nach Föhr fahren! Ihre Vorfreude wuchs mit jeder Minute, und ihr wurde klar, dass sie den Tapetenwechsel dringend brauchte.

Zu Hause fuhr sie den Laptop hoch und rief die Seite der Bahn auf. Nebenbei stellte sie fest, dass ihre alte Schulkameradin Mareike online war. Sie lebte in Hamburg und hatte ihr vor ein paar Monaten über Facebook geschrieben. Seitdem waren sie wieder locker in Kontakt.

Während Kerrin versuchte, sich den Sparpreis 1. Klasse für eine nicht ganz so ideale Zugverbindung am Montag zu sichern (sie würde in Dagebüll gerade so die letzte Fähre erreichen, aber nur wenn der Zug pünktlich war), ploppte eine Nachricht von Mareike im Chat auf, und Kerrin verabredete sich spontan mit ihr. Sie konnte schon am nächsten Tag fahren und bei Mareike übernachten. Am Montag blieb ihr dann genug Zeit, um von Hamburg nach Föhr zu gelangen.

Das lief ja wunderbar!

Da entdeckte sie eine Nachricht von Jan in ihrem Postfach.

Hallo, Kerrin,

kommende Woche arbeite ich von zu Hause aus. Du verstehst sicher, dass ich dich erst mal nicht sehen möchte. Blöde Situation … aber ich komme klar. Ich hoffe, du auch.

Grüße, Jan.

Kerrin widerstand der Versuchung, sich noch einmal zu entschuldigen. Stattdessen schrieb sie, dass sie selbst in den nächsten Wochen nicht ins Büro kommen würde und er sich nicht einzuschränken brauchte.

Dann ging sie in ihre Wohnung und packte ihren kleinen Rollkoffer. Sie genoss es, einmal keine Hosenanzüge und Blusen einpacken zu müssen, und griff zu Jeans und Pullovern. Außerdem legte sie noch ein schlichtes, olivfarbenes Wollkleid dazu; sie hatte es letzten Winter gekauft, aber noch keine Gelegenheit gefunden, es zu tragen.

Am frühen Nachmittag bekam sie Hunger, öffnete ihren großen Kühlschrank und checkte den Gemüsevorrat. Sie konnte einen Eintopf aus allem machen, was noch da war. Kurz entschlossen rief sie Anton an.

»Hast du zu Mittag gegessen?«, fragte sie, und er verneinte: »Allein habe ich nicht so viel Lust, weißt du.«

Kerrin lud ihn ein, herüberzukommen. Sofort veränderte sich seine Stimme, und Kerrin konnte hören, dass er sich freute. »Ich bringe uns einen schönen Sancerre mit.«

Als ehemaliger Weinhändler hatte Anton immer einen guten Tropfen zu Hause. Seine Frau war schon vor Jahren gestorben, und die beiden Töchter lebten in München und Wien, doch er genoss den Ruhestand, so gut es ging. Mit Mitte siebzig reiste er immer noch zu Weingütern in ganz Europa, hielt Seminare und schrieb Artikel für ein Food-Blog.

Er war überrascht, dass Kerrin so spontan zu ihrer Mutter fuhr, und versprach, ein Auge auf das Haus zu haben.

»Grüß Marion von mir«, sagte er. »Ich hoffe, ihre Wohnsituation klärt sich bald.«

»Woher weißt du denn davon?«, fragte Kerrin erstaunt.

»Wir telefonieren hin und wieder. Ich finde, sie sollte nach Regensburg zurückkommen. Es ist so viel Zeit vergangen …«

»Wie meinst du das?«

Er rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her und schob sein halb volles Glas von einer Seite zur anderen.

Kerrin schaute ihn an und wartete auf weitere Erklärungen.

»Dein Großvater ist seit Jahrzehnten tot, und du wohnst jetzt hier und füllst das Haus mit neuem Leben.« Er stand auf. »Entschuldige mich.«

Er ging hinaus in den Flur, und gleich darauf hörte sie die Toilettenspülung rauschen. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass er das Gespräch absichtlich unterbrochen hatte.

»Wie geht es dir?«, fragte er, als er zurückkam.