Brot und Bitterschokolade - Sabine Rädisch - E-Book

Brot und Bitterschokolade E-Book

Sabine Rädisch

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Beschreibung

Vollbremsung für die Liebe


Gina liebt es, mit ihrem Rad durch die Regensburger Altstadt zu brausen, den Wind im Haar und den Kopf voller Ideen für ihre Schreibworkshops - bis ihr Marvin in die Quere kommt, der attraktive Hundetrainer mit dem schokobraunen Labrador. Gina legt eine Vollbremsung hin, und ihr Herz gerät aus dem Takt: Sie verliebt sich in Marvin, doch als die Beziehung enger wird, stößt sie ihn vor den Kopf. Kurz darauf verschwindet Marvin aus der Stadt, und Gina beginnt, sich ihre widersprüchlichen Gefühle von der Seele zu schreiben. Wort für Wort holt sie sich die Erinnerungen an ihre Kindheit zurück – und den Mut, ihr Glück selbst in die Hand zu nehmen. Bald findet sie heraus, wo Marvin steckt…

Eine Liebesgeschichte aus dem zauberhaften Regensburg, duftend wie frisches Brot und bittersüß wie dunkle Schokolade.

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Inhalt

Gina

Marvin

Josefine

Catharina

Im Buch-Asyl

Schnupperkurs

Phantomklingeln

Am anderen Ende der Leitung

Brief an die Vergangenheit

Knapp verpasst

Ausgebootet

Wünsche ans Universum

Dinner für zwei

Bonnie und Oscar

Frisches Brot

Perspektiven

Auf und davon

Vertrauensvorschuss

Barcelona

Auf der Flucht

Ein rettendes Angebot

Gegen die Hausordnung

Verabredungen

Ungebetene Ratschläge

Die schöne Steuerberaterin

Begegnungen

Auf Beates Hof

In der Bredouille

Sterne, Herzen, Tannenbäume

Winternacht

Es ist kompliziert

Abgetaucht

Tränen und Espresso

Niemand zu Hause

Funkstille

Im Kokon

Eine heiße Spur

Familienanschluss

Zahnweh oder Sehnsucht

Erinnerungen

Zukunftsaussichten

Wieder gut

Empfehlung aus Mexiko

Wiedersehen vor Gericht

Gute Neuigkeiten

Frühlingsbeginn

Klar zum Abflug

Über die Autorin

Impressum

 

 

 

 

Sabine Rädisch

Brot und

Bitterschokolade

Roman

 

 

 

Gina

Der Tag, an dem erst Ginas Fahrrad und dann ihr Leben ins Wanken geriet, begann beschwingt: Auf zischenden Reifen radelte sie durch den Oktoberregen, die Kapuze ihrer neongrünen Regenjacke ins Gesicht gezogen. Es war Viertel nach acht, und sie hatte bereits eine Stunde am Schreibtisch gesessen. Jetzt wollte sie den Herbst einatmen, den Geruch von Erde, Laub und Melancholie. Sie liebte das Rot und Gold der Ahornblätter auf der Straße, sie genoss sogar das Gefühl beim Bremsen, wenn die Reifen blockierten und noch ein Stück auf dem Blätterteppich weiterrutschten.

Sie flog nur so dahin, die Allee war menschenleer. Bis der Mann mit dem Hund auf den Weg hinaustrat, keine zehn Meter von ihr entfernt. Die Bremsen kreischten, und während Gina sich bereits auf der Straße liegen sah, kam sie schließlich doch noch zum Stehen. Direkt vor dem riesigen braunen Hund, der ein erschrockenes „Wuff!“ ausstieß.

Sein Besitzer beugte sich zu ihm hinunter und tätschelte ihm beruhigend den Hals.

„Du Depp!“, schrie Gina, und der Mann richtete sich wieder auf. Er war kaum größer als Gina, aber breit in den Schultern. Und mindestens so kraftstrotzend wie der Labrador zu seinen Füßen. Der Regen schien den beiden ebenso wenig auszumachen wie ihr.

„Das war brandgefährlich!“, schnaubte sie.

Der Mann lächelte nur. „Finde ich auch“, sagte er. „Vor allem, da Radfahren in der Allee nicht erlaubt ist, oder täusche ich mich?“

„Neuerdings schon!“, sagte Gina. Warum hatte sie dann trotzdem das Gefühl, im Unrecht zu sein? Ihre Arme zitterten. Sie schob das Fahrrad um Mann und Hund herum und stieg vorsichtig wieder auf.

„Tut mir leid“, murmelte sie schließlich, bevor sie langsam weiterradelte. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie noch, dass der Mann ihr nachsah. Im Grunde konnte sie froh sein, dass der Hund sie nicht angefallen hatte und dass sein Besitzer die Sache mit Humor nahm. Nichtsdestotrotz musste sie rechtzeitig in der Volkshochschule sein.

Fünf Minuten später stellte sie ihr Rad im Scheugäßchen ab und joggte, beflügelt vom Adrenalin, die Treppen zum obersten Stockwerk hinauf.

Noch bevor sie ihre Sachen ablegte, durchquerte sie den Raum und öffnete kurz die Fenster zum Innenhof, der auf der anderen Seite von den rückwärtigen Altstadtfassaden begrenzt wurde. Ein verschwiegener Winkel, in den sich Touristen eher selten verirrten. Spielgeräte und Sandkasten lagen verlassen im Regen. Gina genoss die Wärme, die von den Heizkörpern ausging, und atmete die feuchte Luft ein, bis sich ihr Atem beruhigte und ihre Knie zu zittern aufhörten. Dann schloss sie energisch die Fenster, hängte ihre nasse Jacke an die Garderobe und schlüpfte aus der Regenhose.

Anschließend schob sie die Tische zu einer großen Arbeitsfläche zusammen und stellte sich wieder einmal der Herausforderung, den tristen Gruppenraum in eine gemütliche Schreibhöhle zu verwandeln. Die Accessoires dazu holte sie aus ihrer geräumigen Dozententasche: ein buntes Tuch in die Mitte des Arbeitstisches, eine Kerze unter das Neonlicht. Und zuletzt ihre Matrjoschka, ohne die sie keine Schreibwerkstatt begann: jene liebevoll bemalte russische Holzpuppe, die weitere, immer kleiner werdende Figuren in sich barg. So, wie sich in jedem ihrer Kursteilnehmer immer neue Facetten ihrer Persönlichkeit offenbarten. Acht Männer und Frauen über sechzig, neugierig und hellwach, manchmal auch skeptisch oder störrisch. Ginas Aufgabe war es, ihre Geschichten und Erinnerungen freilegen zu helfen. Und dabei sollten sie sich wohl und sicher fühlen.

Unten ging die schwere Tür; dann hörte sie flotte Schritte im Treppenhaus. Sie konnten nur zu Hans-Peter gehören, dem pensionierten Arzt. Er begrüßte sie wie immer mit seinem ruhigen Lächeln.

„Hallo, Regine.“

Regine Seitz, so stand es im Kursprogramm. Privat stellte sie sich lieber als Gina vor. Doch das war schon länger nicht mehr vorgekommen. Als erfahrene Dozentin für Spanisch und Biografisches Schreiben konnte Gina gut mit Menschen umgehen und ermöglichte ihren Gruppen „neue Lernerfahrungen in entspannter Atmosphäre“, wie es letztes Semester in der Mittelbayerischen Zeitung gestanden hatte. Als Privatmensch hatte sie gern mal ihre Ruhe.

Hans-Peter begann zu plaudern, während er sich aus seinen Regensachen wickelte. Auch er war immer mit dem Fahrrad unterwegs, und er kam grundsätzlich zehn Minuten vor Kursbeginn. Heute wirkte er nahezu enthusiastisch.

„Jetzt habe ich schon fünfunddreißig Seiten! Ich glaube, diesmal wird es wirklich was.“

Gina nickte und lächelte. Wie oft hatte Hans-Peter schon angesetzt, seine Lebensgeschichte aufzuschreiben. Doch jetzt schien er endlich eine heiße Spur zu verfolgen. Zu Semesterbeginn hatte er seine neuen Ideen im Kurs vorgestellt und viel Zuspruch erhalten.

„Das freut mich. Es war eine gute Idee, deine Biografie nach Orten zu strukturieren.“

„Das glaube ich auch. Außer in Nordamerika habe ich auf allen Kontinenten gelebt und gearbeitet, kannst du dir das vorstellen? Ich würde gern nachher noch mit dir darüber sprechen.“

Gina zögerte und beugte sich wieder zu ihrer Tasche hinunter, obwohl eigentlich nichts mehr herauszuholen war. Mehr als einmal hatte Hans-Peter sie nach der Stunde in Beschlag genommen, und sie opferte des Öfteren ihre Mittagspause, um mit ihm zu reden. Doch jetzt hatte sie ihn schon zweimal vertröstet. Bei dem Gedanken daran wurde ihr heiß, ihr frisches T-Shirt unter dem Pullover fühlte sich durchgeschwitzt an. Das musste von ihrem Beinahe-Unfall kommen, denn Lampenfieber verspürte sie schon lange nicht mehr. Nicht bei dieser Gruppe, die sich seit Jahren in nahezu unveränderter Zusammensetzung immer wieder traf. Helene, die jetzt zur Tür hereinkam, war von Anfang an dabei gewesen: eine kleine, energische Person von bald achtzig Jahren. Mit wenigen Schritten durchquerte sie den Raum und umarmte Gina herzlich.

„Schön, dass du da bist!“, sagte Gina und meinte es auch so. Nicht nur, weil Helenes Auftauchen es ihr ersparte, Hans-Peter eine Antwort zu geben, sondern auch, weil sie Helene wirklich gerne mochte. Nie würde sie Ginas Zeit so sehr beanspruchen wie Hans-Peter. Nach und nach trafen die restlichen Teilnehmer ein, und schließlich drehten fünf Frauen und drei Männer ihr erwartungsvoll die Gesichter zu. Gina verschob ihre Thermoskanne auf dem Tisch, um alle im Blick zu haben.

„Brüche“, setzte sie dann an, „darum geht es heute.“

Fragende Blicke durchleuchteten den Raum, doch niemand sagte etwas. Sie verlassen sich auf mich, dachte Gina. Sie vertrauen darauf, dass ich sie auch diesmal wieder sicher auf den Pfad der Erinnerungen führe.

„Denkt einmal darüber nach“, forderte sie die Gruppe auf, „habt ihr euch schon mal einen Knochenbruch zugezogen? Welche Umbrüche habt ihr erlebt, zum Beispiel zwischen zwei Lebensabschnitten? War die Veränderung gewollt oder erzwungen, und wie seid ihr damit umgegangen? Vielleicht habt ihr auch schon mal jemandem das Herz gebrochen.“

Hans-Peter schmunzelte und nickte, Helene fing sofort zu schreiben an. Eine Minute später saßen alle über ihre Blätter, Notizbücher oder Laptops gebeugt. Fünfundvierzig Minuten hatte Gina für diese Schreibphase eingeplant, aber alle waren so in ihre Texte vertieft, dass Gina sie erst nach einer knappen Stunde zum Vorlesen aufforderte.

Helene hatte über den Dreivierteltakt geschrieben und darüber, wie sie ihren Mann beim Walzertanzen kennengelernt hatte. Ihr Text erzählte im Zeitraffer die Geschichte ihrer glücklichen Ehe und endete mit dem Tod des Mannes im vergangenen Frühjahr. Nachdem sie zu Ende gelesen hatte, herrschte lange Stille. Dann räusperte sich Roman. Bei dem ehemaligen Ingenieur ging es um Sollbruchstellen – in der Technik wie auch im Leben. Und Hans-Peter schrieb über die Zeit nach seiner Pensionierung, als er für zwei Jahre in einem Krankenhaus in Eritrea gearbeitet hatte.

Gina war fasziniert. Obwohl sie nun schon fast zehn Jahre lang Schreibwerkstätten anbot, überraschten sie die Texte immer wieder. Der anschließende Austausch in der Gruppe lief wie von selbst. Sie musste fast nichts moderieren und entspannte sich – bis Helene ihr eine Frage stellte: „Warum schreibst du eigentlich nicht mit, Regine? Früher hast du das doch manchmal gemacht!“

Die Frage traf Gina völlig unvorbereitet. Für einen Moment wusste sie nicht, was sie antworten sollte. Helene war eine der wenigen, die Ginas Texte kannte. Sie fuhr sich durch das glatte Haar und blickte in die Runde. Hans-Peters Blick beschäftigte sich besonders aufmerksam mit ihr, oder bildete sie sich das nur ein?

„Ich kümmere mich lieber um das Kursgeschehen“, sagte sie schließlich. „Damit ihr euch wohl fühlt.“

Roman rettete sie: „Gib es zu, du bist einfach zu gut geworden und willst uns Hobbyschreiberlinge nicht frustrieren!“

Alle lachten, und Gina war erleichtert, dass das Thema vom Tisch zu sein schien. Nur Helene sah sie nachdenklich an. Die nächste Schreibanregung erklärte Gina wie auf Autopilot. Sie hörte sich selber sprechen, ohne kontrollieren zu können, was sie sagte. Es musste trotzdem Sinn ergeben haben, denn plötzlich schrieben alle. Niemand schien eine zusätzliche Information zu benötigen oder irgendetwas seltsam zu finden. Gina atmete auf. Sie hakte die Namen auf ihrer Teilnehmenden-Liste ab. Niemand fehlte. Gina hatte das Thema Brüche intuitiv gewählt. Erst durch Helenes Frage war ihr klar geworden, dass sie selbst etwas dazu zu sagen hatte. Doch sie konnte nicht, jedenfalls nicht auf dem Papier.

Sie hatte geschrieben, seit sie schreiben konnte. An jedem Tag, in jeder Lebenslage, seit ihre Mutter ihr das erste Tagebuch geschenkt hatte. Als ob sie eine Vorahnung gehabt hätte, dass Gina allein zurückbleiben würde – allein mit dem Vater, der sie zwar körperlich versorgte, aber ansonsten stumm blieb. Ohne das Tagebuch wäre Gina ebenfalls verstummt. Sie hatte geschrieben, als es ihr schlecht ging, und sie hatte geschrieben, als die Freude in ihr Leben zurückkehrte. Sie schrieb sich aus dem Elternhaus hinaus, über ihre kaufmännische Lehre hinweg, schreibend machte sie sich Mut, das Abitur nachzuholen und zu studieren. Im Studium freundete sie sich mit Catharina an und schmiedete Pläne für die gemeinsame Sprachschule. Sie schrieb alles mit klopfendem Herzen nieder. Die Zukunft hatte vor ihr gelegen wie unbeschriebene Blätter, die nur darauf warteten, mit aufregenden Geschichten gefüllt zu werden. Doch Glück ließ sich nun einmal nicht konservieren, und sie hatte schließlich den Spaß am Schreiben verloren. Wenn sie heute ihr Tagebuch öffnete, sprangen ihr die weißen Seiten anklagend ins Gesicht. Wann war das geschehen? Und vor allem, warum? Verschämt holte sie ein kleines flaches Heft aus Recyclingpapier aus der Tasche und schlug es auf. Der letzte Eintrag datierte vom vergangenen Jahr, aber wenn sie ehrlich zu sich war, hatten die Probleme schon früher angefangen. Etwa um die Zeit herum, als sie ihre kleine Wohnung kaufte.

Sie arbeitete hart, um die monatlichen Raten aufzubringen. Vielleicht war da für absichtslose Betrachtungen einfach kein Platz mehr. Sie zwang sich, mit dem Kugelschreiber in dem Heft herumzukritzeln: Bruch, gebrochen, Brechdurchfall ... Was für eine Gedankenkette! Sie reichte nicht, um einen Text zu entzünden, nicht mal einen Satz. Als Roman zu ihr hinsah, schlug sie das Heft zu wie ertappt. Wie lange würde sie noch die heilsame Kraft des Schreibens preisen können, diese Kraft, die sie selbst längst verlassen hatte? In ihr waren keine Geschichten mehr, weder wahre noch erfundene. Ihr Leben hatte keine erzählenswerte Handlung. Sie lebte nur durch die Geschichten und Bedürfnisse der anderen. Die Erkenntnis durchzuckte sie wie ein Stromschlag, doch sie erlaubte sich nicht, darüber nachzudenken. Stattdessen räusperte sie sich und holte sich und ihre Stimme zurück ins Jetzt.

„Wer möchte vorlesen?“, fragte sie in die Runde, und die Zeit eilte wieder zuverlässig voran. Lesen und zuhören, lachen oder schweigen, miteinander reden, Fragen beantworten.

Am Ende des Kurses legte Gina die Rückmeldeliste für das nächste Semester aus. Zwei Teilnehmerinnen trugen sich sofort ein.

Helene zögerte. „Ich weiß noch nicht“, sagte sie lustlos und schob die Liste weiter an Hans-Peter. Gina packte ihre Sachen; einer nach dem anderen verließ den Raum. Helene spazierte mit langsamen, aber festen Schritten hinaus, eine zierliche Dame mit sorgfältig gelegtem weißem Haar über dem eleganten grauen Mantelkragen. Hans-Peter sah ihr fasziniert hinterher, während Gina sich schmerzlich bewusst wurde, dass Helene sich nicht wie sonst mit einem Lächeln von ihr verabschiedet hatte.

Nun war sie mit Hans-Peter allein. Er hielt einen Stapel bedruckter Blätter in der Hand. Zweifellos der Anfang seiner Biografie.

„Würdest du das einmal lesen?“

Ginas bunter Webschal schien mit einem Mal zu eng zu sitzen, und ihre Nackenmuskeln versteiften sich. Die rechte Hand hingegen führte ein Eigenleben, streckte sich willig dem Papier entgegen. Schon fühlte sie das glatte Papier zwischen ihren Fingern.

„Sicher“, sagte sie leise.

Hans-Peter lächelte. „Danke, das ist nett von dir. Darf ich dich dafür zum Essen einladen? Dann kannst du mir gleich erzählen, was du davon hältst. Hast du nächste Woche Zeit?“

Sie legte die Blätter achtlos auf den Tisch und nahm wieder Zuflucht zu ihrer Tasche, die jetzt auf dem Boden stand. Sie beugte sich tief hinunter, schob und drückte und ordnete, wo nichts zu ordnen war. Ihre Finger glitten über den Taschenkalender von Amnesty International, der gelb zwischen den übrigen Sachen herausleuchtete.

„Ich habe heute meinen Terminplaner nicht dabei“, log sie. „Wir können ja nächstes Mal was ausmachen.“

Ihr Herz hämmerte gegen den Pullover, und als sie sich aufrichtete, zitterten ihre Knie. Am liebsten wäre sie aus dem Zimmer gelaufen, doch zwischen ihr und dem Ausgang stand Hans-Peter. Ihre Knie gaben nach, und sie lehnte sich gegen die Tischkante. Hans-Peters Augen schienen auf sie scharfzustellen, hellwach und leicht zusammengekniffen.

„Ich glaube, du willst dich gar nicht mit meinem Text befassen. Von Mal zu Mal vertröstest du mich. Dabei ist mir deine Meinung wirklich wichtig.“

„Tut mir leid. Es ist mir im Moment einfach zu viel.“ Gina wunderte sich, wie normal ihre Stimme klang.

„Du sollst es ja nicht umsonst machen. Wie hoch ist dein Honorar?“

In diesem Moment machte der Tisch unter Ginas Gewicht einen Satz nach hinten, und Hans-Peters Hand schnellte vor, um Gina Halt zu geben. Sie riss ebenfalls den Arm hoch; dabei schlug sie Hans-Peter aufs Handgelenk. Sie rang nach Luft.

„Entschuldige. Ich habe mich erschreckt“, keuchte sie.

Hans-Peter starrte sie an. „Das sehe ich.“ Dann trat er langsam einen Schritt zurück, als hätte er eine gefährliche Verrückte vor sich. Sie hob die Hand vor das Gesicht.

„Ich glaube, es ist besser, wenn du mich von der Rückmeldeliste nimmst“, sagte er. Dann schulterte er seine Tasche, rupfte seine Regenkleidung vom Garderobenhaken und ging. Gina ließ sich zitternd auf den Stuhl sinken, nahm etwas kalten Tee und zwang sich zu schlucken. Dann griff sie nach dem Rückmeldebogen und strich Hans-Peters Namen von der Liste.

Es war fast Mittag. Gina radelte zur Suppenbar. Dort kannte sie viele Menschen vom Sehen. Manchmal traf sie auchehemalige Schüler oder Kolleginnen. Mit den meisten anderen hatte sie noch nie ein Wort gewechselt, aber vielleicht ergab sich das ja noch eines Tages. Eine Plauderei über das Wetter, eine Essensempfehlung. Die Hauptsache war, dass niemand hier Ansprüche an sie stellte.

Sie zog sich einen Hocker an die schmale Theke und studierte die Wochenkarte. Sollte sie die Oberpfälzer Kartoffelsuppe nehmen oder doch das teurere Tagesgericht, die Gemüselasagne mit Salat? Für den Fall, dass ihre Schreibkurse zusammenbrachen, sollte sie vielleicht jetzt schon zu sparen anfangen. Doch solange Gina tagsüber unterwegs war, würde sie sich hier ein warmes Mittagessen gönnen.

Schließlich bestellte sie eine kleine Portion Kartoffelsuppe. Erschöpft wie nach einem Marathonlauf saß sie da und löffelte Schluck um Schluck die Wärme in sich hinein. Auch wenn es ein Versehen war: Sie hatte Hans-Peter geschlagen. Sie konnte von Glück sagen, wenn er sich nicht über sie beschwerte. Was war nur mit ihr los? Hatte sie Angst, mit ihm zusammen an seiner Biografie zu arbeiten, weil sie dann ihre eigene Unfähigkeit zu schreiben offenbaren müsste? Die war rätselhaft genug. Und warum zitterten ihre Beine immer noch? Ob sie ein Virus aufgeschnappt hatte? Sie dachte an ihren Kolumbienaufenthalt vor vielen Jahren. Viele der anderen Ausländer, die sie dort traf, erwischte früher oder später ein Fieber oder eine Durchfallerkrankung. Nur Gina warf so leicht nichts um – damals. Und jetzt? Vielleicht arbeitete sie zu viel. Die Schreibwerkstätten, der Spanischunterricht und dazu Übersetzungsaufträge – an manchen Tagen war sie mehr als zehn Stunden unterwegs. Dazu kamen die Stunden am Schreibtisch. Gina nahm sich vor, am Wochenende auszuspannen, und bestellte noch einen Espresso. Auf diesen kleinen Luxus wollte sie nicht verzichten. Wofür hatte sie schließlich beim Essen gespart? Außerdem verdiente sie das meiste Geld mit der Sprachschule, die sie mit ihrer Studienkollegin Catharina betrieb. Die Schule ging gut, und Gina war froh über dieses Sicherheitspolster; es deckte die Raten für die Krankenversicherung und ihre winzige Wohnung im äußeren Westen ab. Die Sprachschule lag kaum zehn Minuten von der Suppenbar entfernt; in Regensburg waren alle Wege kurz.

Gina radelte wieder los und war mit den Gedanken schon bei Marco, einem Ingenieur, der bald beruflich nach Mexiko gehen würde. Sie kam rechtzeitig an, um sich im Kursraum einzurichten; ein kleines Zimmer, mit zwei Tischen und einem Flipchart. Da steckte Catharina den Kopf zur Tür herein.

„Kommst du nachher ins Büro? Ich habe neue Schüler für dich. Im Moment wollen alle nur Spanisch lernen.“ Catharina zog eine ihrer dunklen Augenbrauen hoch, als könne sie es gar nicht glauben. Sie selbst unterrichtete Französisch und Italienisch und war ebenfalls sehr gefragt. Trotzdem hatte Gina den Verdacht, dass Catharina ihr den Erfolg neidete. Erst recht, da immer mehr Schüler Einzelunterricht bei Gina nehmen wollten – und zwar nur bei ihr.

„Bis nachher“, nickte Gina, und Catharinas Lockenkopf verschwand aus dem Türrahmen. Gina stellte eine Flasche Wasser auf den Tisch und zwei Gläser dazu, und dann war Marco auch schon da: Ein ernster Mann um die dreißig, der mit Pullover und Polokragen beinahe bieder wirkte. Gina streckte ihm die Hand entgegen und begrüßte ihn auf Spanisch. Von ihm kam nur ein schüchternes „hola“ zurück. Während er es sich auf seinem Platz bequem machte, ging Gina zur Tür. Für einen Moment lag die Klinke kalt in ihrer Hand, dann verstummten die Geräusche auf dem Flur. Auch die Fenster schlossen dicht, sogar der Boden und die Wände schluckten Schall. Ein Gefühl wie unter Wasser.

Gina stolperte auf dem Weg zurück zum Stuhl. Warf der Teppichboden Wellen? Ihr Kopf stand unter Druck, doch wenigstens wusste sie, dass die Migräne erst nach dem Kurs zum Ausbruch kommen würde, wenn die Anspannung nachließ. Der Unterricht forderte ihre volle Konzentration, wenn auch auf andere Art als die Schreibwerkstatt. Marco war in den letzten Wochen gut vorangekommen. Er nahm alles sehr genau, lernte strukturiert und verlangte nach Hausaufgaben. Doch er hatte keinen Funken Phantasie. Gina versuchte trotzdem, so etwas wie Small Talk mit ihm anzufangen. Viel lieber würde sie sich jetzt unter dem Tisch verstecken und über ihr Erlebnis mit Hans-Peter nachdenken. Oder zu Hause in eine Decke gewickelt auf dem Sofa sitzen und mit beiden Händen ihre Teetasse umklammern.

„Was machen Ihre Reisevorbereitungen für Mexiko?“, fragte sie stattdessen. „Wissen Sie schon, wo Sie wohnen werden?“

Er antwortete in kurzen, flüssigen Sätzen, doch dann fiel ihm das Wort für „mieten“ nicht ein. Gina stand auf und trat ans Flipchart. Sie nahm den schwarzen Marker von der Ablage, er rutschte jedoch immer wieder durch ihre feuchten Finger. Endlich gelang es ihr, die Kappe abzuziehen. Sie schrieb „alquilar“ auf das Papier. Und weiter? Das Netz aus dünnen blauen Linien verschwamm, während Marcos Blick sie von hinten umklammerte. Gina hielt sich am Textmarker fest und atmete flach über ihr schnelles, aufgeregtes Herz hinweg. Sie hörte sein lautes Klopfen, das zu einem Rauschen anschwoll und schließlich den ganzen Raum ausfüllte.

Plötzlich saß Gina auf dem blauen Sessel in ihrem und Catharinas Büro. In dem blauen Sessel, auf dem sie immer saß, wenn es etwas zu besprechen gab. Doch sie konnte sich nicht erinnern, wie sie hierhergekommen war. Ihre Arme hingen kraftlos rechts und links herab, und Gina sah, wie Catharina die Lippen bewegte. Hören konnte sie nichts. Fühlte sich so ein Hörsturz an? Wahrscheinlich hatte ihr der eigene Herzschlag das Trommelfell gesprengt. Und auch das Herz war verschwunden, jedenfalls konnte sie nicht ausmachen, ob es noch schlug. Alles war taub, außen wie innen. Sie kniff sich mit der Hand in den Oberschenkel und fühlte ein leichtes Ziepen. Gottseidank.

„Wo ist Marco?“, fragte sie in die lautlosen Lippenbewegungen hinein. Endlich brach der Bann. Geräusche und Gerüche drangen zu ihr vor: Die Kaffeemaschine brodelte, der Lüfter des Rechners auf Catharinas Schreibtisch blies Staub in die verbrauchte Luft. Ginas Kollegin lehnte sich weit in ihrem Bürostuhl zurück und raufte sich durch das Lockengestrüpp.

„Gegangen, was denkst du denn? Nachdem du einfach weggelaufen bist und die Tür hinter dir zugeknallt hast, dass der Putz von den Wänden rieselte.“

„Hab ich?“ Gina kramte in ihrem Gedächtnis. Sie fühlte sich schwach, schwächer noch als am Morgen, nachdem Hans-Peter gegangen war. Und wiederum erleichtert. Aber sie musste das erklären. Irgendwie. War sie über die Welle im Teppich gestürzt und hatte eine Gehirnerschütterung? Das würde die Gedächtnislücke erklären. Allerdings wüsste Marco davon und damit auch Catharina.

„Tut mir leid. Mir ist plötzlich schlecht geworden.“

„Du hättest dich zumindest kurz entschuldigen können.“

„Ich brauchte dringend frische Luft. Mir ist schon den ganzen Tag schwindlig. Vielleicht bekomme ich eine Grippe.“

Das Telefon klingelte, und Catharina griff zum Hörer. Sie hörte eine Weile zu. Dann sagte sie: „Das ist sehr nett von Ihnen, danke für die Nachfrage. Sie geht gleich nach Hause. – Ja, die Grippesaison. – Die Unterrichtsstunde stellen wir natürlich nicht in Rechnung. – Danke für Ihr Verständnis.“

Catharina legte auf, beugte sich nach vorne und verschränkte die Unterarme auf dem Schreibtisch. Ihre Augenbraue wanderte wieder in die Höhe. „Das war dein Sprachschüler. Er wollte wissen, wie es dir geht.“

„Das ist nett“, flüsterte Gina.

Catharina seufzte. „Er war verständnisvoller, als wir erwarten können, und ich hoffe, er hängt es in seiner Firma nicht an die große Glocke. Wenn du dich wieder mal krank fühlst, sag den Termin lieber ab. Sonst verlieren wir Kunden.“

Gina stemmte sich aus dem Sessel hoch. „Okay“, sagte sie reumütig. „Es tut mir wirklich leid.“

„Schon gut. Falls du morgen auch nicht kommen kannst, ruf mich bitte gleich in der Früh an, ja? Aber jetzt geh erst mal nach Hause und ruh dich aus. Ich bestelle dir ein Taxi.“

Gina hob abwehrend die Hände und schüttelte den Kopf. Sie wollte nicht nach Hause. Sie wollte nachdenken. Früher hätte sie sich in ein Café gesetzt, um zu schreiben, und sich danach besser gefühlt, aber das ging jetzt nicht mehr. Sie holte ihre Tasche aus dem Kursraum, zog die Jacke über und ging hinaus zu ihrem Fahrrad. Der dunkelblaue Stahlrahmen glänzte vertrauenerweckend in der Sonne. Fahrradfahren war die zweitbeste Art nachzudenken. Sie stieg auf und trat in die Pedale. Es war mitten am Nachmittag, der Himmel war aufgerissen und hing frech und blau über der Stadt.

Sie fuhr Richtung Westen und bog, nicht weit von ihrer Wohnung entfernt, zur Donau ab. Im Sommer herrschte hier Hochbetrieb, doch an diesem Nachmittag mitten im Oktober hatte sie freie Fahrt. Sie musste nur hin und wieder den Pfützen ausweichen, die der Regen hinterlassen hatte. Die Sonne brachte die träge dahinfließende Donau zum Glitzern, und die Winzerer Höhen auf der anderen Seite leuchteten in allen Herbstfarben. Der Hochnebel, der oft wochenlang über Regensburg hing und alles grau in grau erscheinen ließ, hatte heute Pause. Ein roter Gleitschirm startete von der Anhöhe. Gina schaute ihm neidvoll hinterher. Fliegen müsste man können! Im Moment musste es genügen, auf dem Fahrrad dahinzurollen. Der Fahrtwind spielte mit ihrem Haar, und die frische Luft tat ihrem Kopf gut.

So rollte Gina eine Weile an der Donau entlang, bog dann auf den Weg ein, der durch die abgeernteten Felder führte, und passierte schließlich die Gärtnerei und den Fußballplatz. Am liebsten wäre sie immer weitergefahren, doch es sah so aus, als würde es bald wieder regnen.

Vielleicht sollte sie umkehren und auf kürzestem Weg zurückradeln, aber ihr Bewegungsdrang war noch nicht erschöpft. Sie beschloss, die Mariaorter Brücke zu nehmen. Sie schaltete in den kleinsten Gang und fuhr mühelos die schmale Rampe hinauf, was eigentlich verboten war. Die Fußgängerspur parallel zu den Gleisen war nicht für Radfahrer gedacht, aber niemand kümmerte sich darum. Manchmal knatterten sogar Mopeds über die schmale Spur. Mitten auf der Brücke blieb Gina stehen und lehnte ihr Rad ans Geländer, um den Blick ins Donautal zu genießen.

Die wenigen Spaziergänger auf dem Uferweg wirkten wie Figuren in einer Modelleisenbahnlandschaft, und sanfte Hügel zeichneten sich herbstbunt gegen den Himmel ab. Das gab ihr das Gefühl von Abstand, das sie jetzt brauchte.

Manchmal war Regensburg wie eine bequeme, doch für die Jahreszeit zu dicke Jacke. Gina atmete tief ein. Sie wollte nicht an die unangenehmen Vorfälle denken und auch nicht an Catharinas vorwurfsvollen Blick. Sie wollte die Weite in sich spüren. Es gab immer noch gute Tage. Die, an denen alles lief wie geschmiert. Tage voller positiver Überraschungen und herzerwärmender Begegnungen. Und Tage wie heute, an denen unerklärliche Dinge passierten; Tage, an denen sie sich fühlte wie ausgespuckt. Es hatte keinen Zweck, sich dagegen aufzulehnen. Am besten ließ sie das Unheil über sich hinwegrollen und brachte den Tag so gut es ging zu Ende.

Sie schaute hinunter auf die ruhig dahinfließende, graugrüne Donau. Sie mochte die Brücke und das Kribbeln in den Armen, das sie befiel, sobald sie den Blick in die Tiefe richtete. Manchmal stellte sie sich vor, wie es wäre zu springen. Nach dem sanften Eintauchen in die Donau würde das Wasser ihren Körper streicheln und sie in eine Meerjungfrau verwandeln, die unter Wasser atmen konnte. So würde sie dann zum Schwarzen Meer schwimmen.

Plötzlich stupste etwas an ihr Hosenbein. Mit einem heiseren Schrei fuhr sie herum. Zu ihren Füßen stand ein Hund. Er wedelte mit dem Schwanz und schaute neugierig zu ihr auf. Er reichte ihr bis über das Knie, und bevor Gina nachdenken konnte, legte sie die Hand auf seinen Kopf und tätschelte ihn.

„Das ist ja ein Ding“, sagte eine dunkle feste Stimme. Gina schreckte auf. Ihr Blick wischte über braune Trekkingstiefel, ausgebleichte Jeans und eine dunkelblaue Jacke. Dann wurde er von einem ansehnlichen Fünftagebart eingefangen und schließlich von den strahlendsten Augen, die sie je gesehen hatte. Sie gehörten dem Mann, den sie heute Morgen als Deppen tituliert hatte. Und sie waren blaugrau, mit vielen kleinen Lachfältchen drum herum. Es war, als würde Gina sich in einer weiten Wasserfläche verlieren, eintauchen wie nach ihrem imaginären Sprung von der Brücke. Doch natürlich war sie nicht gesprungen. Stattdessen hüpfte etwas in ihr, etwas, das hell und schön und leicht war. Dieses Lächeln! Fast schon unverschämt, vor allem wenn man bedachte, dass sie noch immer vor Peinlichkeit über ihren Beinahe-Unfall verging. Wie gut, dass der Hund zwischen ihnen war. Sein Hund. Der sie zu mögen schien, denn nun schmiegte er seinen kantigen Körper an ihr Bein. Kräftige Muskeln spielten unter dem Fell, das die Farbe von Bitterschokolade hatte. Der Mann lächelte, als wäre ihr letztes Zusammentreffen das reinste Vergnügen gewesen. „Diesmal sind Sie brav abgestiegen.“

„Schöner Hund“, antwortete Gina. Wieder lachte er.

„Ein bildschöner Kerl, um genau zu sein.“ Er beugte sich hinunter und tätschelte dem Tier die Flanke. Dabei kam er Gina beunruhigend nahe. Selbst die dicke Jacke konnte seine ausgeprägten Muskeln nicht verbergen. Gina schätzte ihn auf Anfang vierzig, höchstens ein oder zwei Jahre älter als sie selbst. Wahrscheinlich waren sie viel zusammen draußen, Mann und Hund. Ein eingespieltes Team, das sich unbemerkt an sie herangepirscht hatte.

„Das ist ein Labrador, nicht? Haben Sie ihn schon länger?“, fragte Gina, während sie versuchte, sich ihren inneren Aufruhr nicht anmerken zu lassen. Er nickte.

„Ich habe ihn vor fünf Jahren als Welpe gekauft. Ein Leben ohne Hund kann ich mir gar nicht vorstellen. Und Sie?“

„Als Kind hätte ich gerne einen Hund gehabt, aber mein Vater erlaubte es nicht.“

„Und Ihre Mutter?“

„Sie ist gestorben, als ich zehn war.“

Gina drehte sich zur Seite, damit er ihr Gesicht nicht sehen konnte. Sie hatte schon Jahre nicht mehr über ihre Mutter gesprochen, und ausgerechnet heute fragte ein Wildfremder nach ihr. Jetzt schwieg er. Wahrscheinlich hatte er nicht damit gerechnet, ein so persönliches Bekenntnis auszulösen. Sie spürte, dass er sie ansah und war unfähig, sich zu bewegen.

„Das tut mir leid“, sagte er schließlich, doch erst seine nächste Bemerkung befreite sie aus ihrer Erstarrung: „Dann hätten Sie erst recht einen Hund haben sollen.“

„Meinen Sie?“, fragte sie überrascht. Aber im Grunde brauchte sie nur den Labrador zu ihren Füßen anzusehen. Obwohl seine schiere Größe und sein Gewicht ihr Respekt einflößten, fühlte sie sich von ihm getröstet und beschützt.

Endlich schaute sie dem Fremden wieder in die Augen, und plötzlich wusste sie, dass auch er einiges durchgemacht hatte. Beruhigend, denn allzu perfekte Menschen mit perfektem Leben waren ihr suspekt.

„Jetzt sind Sie aber schon groß“, sagte er, und Gina fragte sich, ob er ihr zuzwinkerte oder einfach nur blinzeln musste. Der Wind wirbelte Staub und Blätter aus dem Gleisbett durch die Gegend, doch er schien dem bärtigen Typen nicht wirklich etwas anhaben zu können. Mit einem feinen Lächeln sagte er: „Sie können tun und lassen, was Sie wollen.“

„Das tue ich auch“, sagte sie. „Aber einen Hund kann ich nicht wirklich brauchen. Ich bin froh, wenn meine Zimmerpflanzen überleben.“

„Jedenfalls scheinen Sie Hunde anzuziehen, sonst würde er hier nicht so seelenruhig stehenbleiben. Bis vor kurzem hatte er Angst vor Brücken.“

„Warum hauen Sie dann nicht so schnell wie möglich mit ihm ab?“

Gina wurde bewusst, wie unfreundlich das geklungen haben musste. Der Mann lachte nur amüsiert, während er sich aufrichtete. Ihre Blicke begegneten sich auf gleicher Höhe. Klein waren sie beide nicht, doch seine Schultern standen beinahe doppelt so weit auseinander wie ihre eigenen. Was nicht verwunderte, denn Gina war sehr schmal gebaut. Erst seit ein paar Jahren sammelten sich vorteilhafte Polster um ihre spitzen Knochen. Gina musste nicht gegen ihr Gewicht ankämpfen, im Gegenteil, jedes Kilo tat ihr gut. Was für breite Schultern dieser Mann hatte! Imposant und hinderlich stand er im Weg. Sie hätte viel darum gegeben, ein bisschen von dieser geballten Lebenskraft anzapfen zu können. Wie sollte sie an ihm vorbeikommen?

„Normalerweise gehe ich mit ihm rüber, ohne anzuhalten. Aber heute sind Sie da.“

Als ob er sich nicht an ihr und dem Fahrrad vorbeischlängeln könnte, fit und beweglich wie er war. Doch eigentlich war sie es, die schleunigst abhauen sollte. Schnell legte Gina ihre Hände an die Lenkergriffe.

„Entschuldigung, ich bin gleich weg.“

Ihre Arme fühlten sich schlaff an. Schieben würde sie doch wohl können? Aber die beiden schienen es nicht eilig zu haben. Im Gegenteil, jetzt machte es sich der Hund auch noch auf ihren Füßen bequem. Gina konnte sich nicht vorstellen, dass dieses in sich ruhende Muskelpaket überhaupt wusste, was Angst war.

„Nein, so meine ich das nicht. Es ist ein gutes Training für ihn, wenn ich einfach mal stehenbleibe und mich unterhalte. Stehenbleiben ist das Normalste der Welt“, sagte er im Plauderton in Richtung Hund. Dann lächelte er Gina wieder zu. „Sonst könnte er auf die Idee kommen, dass es auf der Brücke doch irgendwie gefährlich ist. Außerdem will er offenbar noch ein wenig bei Ihnen bleiben.“

Gina lächelte hilflos. Mit einem Hund auf den Füßen konnte man schlecht flüchten, und ihr war schon wieder schwindlig. Vielleicht fiel sie bloß deshalb nicht um, weil der Hund sie stabilisierte wie der Betonfuß einen Sonnenschirm.

„Lassen Sie immer den Hund entscheiden?“

„Meistens sind wir einer Meinung.“

Wieder verlor Gina sich in diesem blaugrauen Blick, der Himmel und Wasser spiegelte und dessen Intensität ihr Angst machte. Wäre sie ein Hund gewesen, würde sie jetzt zubeißen. Stattdessen schoss ihr Blick hektisch in die Ferne, und sie spürte schon wieder den Impuls, über das Brückengeländer zu springen. Weg von ihm.

„Interessante Aussicht hier.“ Seine Augen ruhten weiter auf ihr. Offenbar gefiel ihm, was er sah: Der Wind hatte lange, blonde Haarsträhnen aus ihrem Pferdeschwanzgefängnis befreit und wehte sie Gina in die Augen. Sie wusste, dass sie in der taillierten grünen Outdoorjacke eine gute Figur machte. Nur deshalb hatte sie sie neulich spontan gekauft, obwohl sie gar keine Jacke brauchte.

Jetzt wich der Mann ein Stück zurück. Spürte er ihre Bedrängnis? Im nächsten Moment stand der Hund ruckartig auf, und dann hörte Gina auch schon das Summen der Gleise. Ein Geräusch, das langsam zu einem Zischen anschwoll, während der Zug heranrollte. Der Hund tänzelte unruhig hin und her. Sein Herrchen nahm die Leine fest in die Hand.

„Jetzt sollten wir tatsächlich gehen. Züge sind Hardcore für ihn.“

Geschickt schlüpfte er an Gina vorbei. Seine Schulter streifte die ihre genau in dem Moment, als der Zug vorbeidonnerte, und ihre Knie wurden weich. Haltsuchend griff sie nach dem Brückengeländer. Normalerweise liebte sie das Vibrieren der Brücke, wenn ein Zug darüberbrauste. Die geballte Kraft der Maschinen, die Druckwelle der Waggons und das Geräusch von Stahl auf Stahl. Doch diesmal ließ es ihre Beine schlottern, ihr Herz noch schneller rasen. Sie stützte sich auf das Geländer, bis die Rücklichter der Regionalbahn verschwunden waren und nur noch ein leeres Sirren über den Gleisen lag. Dann endlich schob sie ihr Fahrrad weiter, froh, sich am Lenker festhalten zu können.

Am Ende der Brücke drehte sie sich noch einmal um. Der Hund war mit seinem Herrchen auf der anderen Seite angekommen, wurde getätschelt und für seine Tapferkeit gelobt. Er hatte es gut! Sein Herrchen hatte seine Angst erkannt und mit ihm trainiert. Gina wusste nicht, wie sie ihre Gefühle benennen sollte. Heute Morgen hatte sie überreagiert, und sie hatte keine Ahnung, was in der Unterrichtsstunde mit Marco geschehen war. Die Vorstellung, einen Blackout gehabt zu haben, machte ihr Angst. Falls sie jetzt nochmal einen Aussetzer hatte, würde sie womöglich wirklich von der Brücke springen. Sie musste dringend nach Hause. In Sicherheit.

Gina schob das Fahrrad von der Brückenrampe und wandte sich nach rechts in Richtung Naab. Aufzusteigen war zu gefährlich, durch ihren Tränenvorhang sah sie schlecht. Dazu kamen frische Regentropfen. Als sie die neue Brücke bei Mariaort überquerte, dämmerte es bereits; die Naab tauchte dunkel in die Donau. Normalerweise mochte Gina die weite Wasserlandschaft, doch heute hatte sie keinen Blick dafür. Vor dem verwaisten Biergarten des Gasthofs Krieger blieb sie stehen und putzte sich im Schutz der mächtigen Kastanie die Nase. Dann stieg sie auf ihr Fahrrad. Im Dunkeln kam sie vor ihrer Haustür an und wühlte mit klammen Fingern den Schlüssel aus der durchweichten Tasche. Einen Teil des Kursmaterials würde sie nicht mehr gebrauchen können, aber das war jetzt egal. Sie wollte sich nur noch verkriechen, in ihrem Schneckenhaus im vierten Stock. Und mit einer Tasse Tee auf dem Sofa sitzen.

Doch erst einmal musste sie durch das Treppenhaus – vorbei an der Wohnung von Boris und Marion. Gina hatte versprochen, sich um die Blumen zu kümmern, so lange die beiden im Urlaub waren. Doch das würde warten müssen. Warum machte sie das überhaupt? Hatten die beiden keine Freunde, die sie um so etwas bitten konnten? Falls sie Gina als Freundin betrachteten, beruhte das nicht auf Gegenseitigkeit. Sie konnte die beiden nicht einmal besonders leiden.

Vor ihrer eigenen Wohnungstür begegnete sie der Nachbarin, die sich für den Abend schick gemacht hatte. Eine kleine, kompakte Person in hohen Lederstiefeln und einem kunterbunten Strickmantel, über den ein rotblonder Zopf fiel. Sie sah wie eine Hexe aus, hatte ein rundes Gesicht mit ausgeprägten Bäckchen und einen kleinen, rot geschminkten Mund. Josefine hieß sie, das hatte Gina immerhin behalten. Sonst wusste sie nichts von ihrer Nachbarin, wollte auch gar nichts von ihr wissen.

„Oh je, du bist ja tropfnass!“, rief Josefine. Gottseidank, dachte Gina. So musste auch die Nachbarin einsehen, dass sie jetzt keinen Sinn für Smalltalk hatte.

„Ja, nimm einen Schirm mit, wenn du rausgehst“, sagte Gina, dann schlüpfte sie schnell in ihre Wohnung. Dort ließ sie die Tasche fallen und drückte sich erleichtert von innen gegen die Eingangstür, als hätte sie soeben einen gefährlichen Verfolger abgeschüttelt. Sie atmete ein paar Mal durch, bevor sie ins Bad ging, um zu duschen. Danach setzte sie Teewasser auf und packte ihre Tasche aus. Vor allem das Spanischbuch hatte arg gelitten; sie würde es auf der Heizung trocknen müssen und später versuchen, die welligen Seiten vorsichtig zu bügeln.

Dann saß sie endlich mit ihrem Tee auf dem kleinen Sofa, eingehüllt in ihren alten Frotteeschlafanzug und eine dicke Decke. Dennoch fröstelte sie. Erst jetzt spürte sie, wie stark ihre Kopfschmerzen waren. Vor ihren Augen tanzten weiße Punkte. Der Schmerz pochte gegen ihre Stirn, und ihr war flau im Magen. Am besten legte sie sich gleich hin. Vorsichtig glitt sie vom Sofa und kniete sich auf die honigfarbenen Dielen des Podests, auf dem es stand. Darunter war ihr Bett. Sie rollte es heraus und kroch in das kühle Bettzeug; das Daunenkissen fühlte sich unerträglich hart an. Hoffentlich ließ der Schmerz bald nach. Alles drehte sich, während der Tee auf dem Boden vor dem Sofa auskühlte. Egal. Sie wollte nur schlafen und an nichts mehr denken. Tatsächlich sank sie sanft in einen Traum hinüber, in dem blaugraue Augen sie freundlich und forschend ansahen. Zum ersten Mal an diesem Tag fühlte Gina sich sicher und geborgen.

Ein Poltern in der Nachbarwohnung weckte sie. Augenblicklich war Gina in Alarmbereitschaft. Einbrecher? Sie lauschte. Doch ein Dieb würde nicht kichern. Wahrscheinlich war Josefine nur etwas heruntergefallen. Gina richtete sich auf und schaute auf den Radiowecker: kurz nach Mitternacht. Dann streckte der Kopfschmerz sie wieder auf das Kissen. Nebenan wurde jetzt lebhaft geredet. Sie hörte ein erdiges Lachen, das nur zu Josefine gehören konnte. Und eine Männerstimme, leise und zärtlich. Eine Weile blieb es ruhig, dann erklang wieder Josefines Lachen. Ein Lachen, das irgendwann in Stöhnen überging. Fehlte nur noch, dass die Bettfedern quietschten! Aber es quietschte nichts. Josefine hatte bestimmt einen Futon und Sex knapp über dem Fußboden. Ihr Schlafzimmer musste unmittelbar neben Ginas liegen. Es klang, als ob die beiden auf der anderen Seite Gina ihre Lust direkt ins Ohr schrien.

Irgendwann war es still, und Gina fiel zurück in ihren blaugrauen Traum. Der Mann mit dem Dreitagebart machte jetzt ein ernstes Gesicht. Er wandte sich ab und ging davon.

„Komm zurück!“, wollte sie am liebsten schreien. Dann wachte sie auf.

Ihr Körper schmerzte vor Sehnsucht. Nach einem Mann, den sie kaum kannte? Nach irgendeinem Mann? Gina lebte enthaltsam. Seit dem, was sie rückblickend ihre kolumbianische Affäre nannte, hatte sie die Nase voll von der Liebe. Sie führte auch ohne Mann ein erfülltes Leben. Sie engagierte sich bei Amnesty International, und sie hatte ihre Arbeit. Die Schreibwerkstätten, Übersetzungsarbeiten und den Spanischunterricht. Im Halbschlaf fiel ihr wieder ein, dass die Werkstatt heute alles andere als gut gelaufen war. Ohne ihre treuen Teilnehmer würde es vielleicht keinen nächsten Kurs geben. Und ob sie noch einmal Einzelunterricht geben konnte, stand in den Sternen. Catharina würde wenig begeistert davon sein, wenn sie nur noch Gruppen unterrichtete, vor allem jetzt, wo sich die Anfragen für Einzelstunden häuften. Ihre Kollegin mochte vielleicht neidisch sein, dass Gina als Lehrerin so beliebt war. Doch sie war immer schon die bessere Geschäftsfrau gewesen – viele Leute wussten gar nicht, dass Gina gleichberechtigte Partnerin war. Ihre gegenseitigen Rechte und Pflichten waren vertraglich geregelt. Falls Gina ihren Teil nicht mehr erfüllen konnte, würde Catharina Forderungen stellen und Gina ihre Haupteinnahmequelle verlieren. Was sollte dann aus ihr werden? Es wäre eine Katastrophe, wenn sie die Wohnung nicht halten könnte. Sie war ihr Zuhause, ihr sicherer Ort. Sie hatte sie nach dem Tod ihres Vaters gekauft. Ein symbolischer Akt. Gina war in der Überzeugung aufgewachsen, zu den kleinen Leuten zu gehören, die es nie zu etwas brachten. Ihr Vater wohnte Zeit seines Lebens zur Miete und zahlte Schulden ab, die im Zusammenhang mit den dubiosen Geschäften eines Onkels standen. Genaueres wusste Gina nicht, nur dass ihr Vater für seine Eltern aufkam, weil der Onkel offenbar deren Vermögen verjubelt hatte. Bis zuletzt hielt er sich für ein Opfer der Verhältnisse. In der Grundschule gehörte Gina zu den Besten ihrer Klasse, sie hätte spielend auf das Gymnasium wechseln können. Doch das, was andere Eltern überglücklich gemacht hätte, schien Ginas Vater zu ängstigen, und er setzte sich gegen die Mutter durch. Gina sollte nicht Akademikerin werden, sie sollte einen ordentlichen Beruf lernen. Immerhin durfte sie dann auf die Realschule, anschließend wurde sie Bürokauffrau. Als Gina sich für einen Fernkurs zur Abiturvorbereitung einschrieb, sagte ihr Vater nichts dazu. Er sprach ohnehin kaum mehr mit ihr, seit ihre Mutter nicht mehr da war. Abitur, Studium, Auslandsreisen, der Start in die Selbstständigkeit: Je weiter Gina sich entwickelte, umso fremder wurden sie einander. Inzwischen hatte sie sich daran gewöhnt, sich zu nehmen, was ihr zustand, doch sie empfand ihr Leben immer noch als luxuriös: Sie gönnte sich gutes Essen, Bücher, Theater-und Konzertbesuche, und sie hatte ein kleines, aber eigenes Refugium. Das Einzimmerappartement zementierte die Entscheidung für ein Leben allein. Sie würde keine Familie haben, auch nicht mit jemandem zusammenleben. Sie hatte ein Darlehen aufgenommen, um die Wohnung zu finanzieren. Das Erbe ihres Vaters hatte wenig mehr als die Notarkosten gedeckt. Inzwischen waren die Immobilienpreise in Regensburg so nach oben geschossen, dass die Miete kaum billiger gewesen wäre als die Kreditraten, die sie vielleicht bald nicht mehr würde zahlen können. Und der Monatsbeitrag für die Krankenversicherung war fast genauso hoch ...

Gina wälzte sich von einer Seite auf die andere, wobei jedes Mal eine Welle von Kopfschmerz und Übelkeit über sie hinwegbrandete. Sie war jetzt hellwach, und die Angst saß auf ihrer Bettkante. Sie hörte die Kirchturmuhr zweimal schlagen. Von da ab zählte sie die Viertelstunden. Irgendwann schlief sie dann doch noch ein.

Es wurde hell. Nicht richtig hell. Eher regengrau wie gestern früh. Gina bewegte vorsichtig den Kopf: nichts. Kein Schmerz, kein Pochen, nur eine gewisse Leere. Wenn es weiter nichts ist, dachte sie – Hauptsache, Schmerzen und Übelkeit waren weg. Zum Glück musste sie heute erst abends aus dem Haus. Zeit genug, sich noch ein bisschen zu erholen. Sie schlug die Decke zurück, schwang ihre nackten Füße auf den Boden, stemmte sich empor und setzte sich in Bewegung.

Drei Schritte weiter schlug sie beinahe hin. Irgendetwas stimmte nicht. Ihr Kopf war wie leergesaugt. Als stünde sie plötzlich oben auf einem Achttausender. Sie hielt sich am Türrahmen zum Bad fest, hangelte sich zur Toilette. Selbst im Sitzen drehte sich alles. Wahrscheinlich war sie zu schnell aufgestanden, und ihr Kreislauf spielte verrückt. Sie hatte seit gestern Mittag nichts gegessen. Immerhin war sie nun im Bad – sie musste so dringend!

Als sie fertig war, versuchte sie vorsichtig aufzustehen, doch ihre Muskeln versagten ihren Dienst. Langsam rutschte sie von der Klobrille und landete mit den Knien in dem Kleiderhaufen, den sie gestern achtlos neben die Dusche hatte fallen lassen. Dann kroch sie zurück ins Bett und versuchte, noch einmal einzuschlafen.

Als sie wieder zu sich kam, griff sie nach der Tasse vom Vorabend. Sie flößte sich den kalten Tee ein und verschluckte sich dabei. Doch aufrichten konnte sie sich nicht. Nur atmen. Sie stellte die Tasse weg. Die Panik kam in heißen Wellen. Nur weiter atmen. Ein und aus. Ein und aus.

Irgendwann tastete sie nach ihrem Handy. Aber es war noch in der Tasche, die sie zum Trocknen an die Heizung gestellt hatte und die nun so unerreichbar war wie das Festnetztelefon im Flur. Dabei musste sie dringend Catharina anrufen und ihren Termin für heute Abend absagen, Spanisch für Anfänger mit einer Minigruppe.

Inzwischen konnte Gina nicht mehr unterscheiden, ob ihr vor Durst so flau war oder ob ihr Kreislauf streikte. Sie musste schon wieder aufs Klo. Was sollte sie tun? Sich in die Hosen machen und gleichzeitig verdursten? Stattdessen döste sie ein. Als sie das nächste Mal die Augen aufschlug, hatte sie endgültig das Zeitgefühl verloren. Draußen war es gleichbleibend grau. Oder lag sie jetzt schon im Delirium? Die kleine Leselampe neben dem Sofa brannte noch immer. Aus der Nachbarwohnung kam ein schabendes Geräusch, wie ein Stuhl, der über den Boden geschoben wurde.

„Hilfe“, sagte Gina gegen die Wand.

So leise, dass es fast ein Flüstern war.

Marvin

Marvin stand neben dem Toaster und sah zu, wie die Drähte sich aufheizten. Es knisterte, dann platzten Kürbiskerne unter der Hitze auf. Das Gerät wirkte, als würde es jeden Moment den Geist aufgeben oder, schlimmer noch, einen Brand verursachen. Aber der Sprungmechanismus war immer noch tipptopp: Zwei Scheiben Vollkornbrot sprangen aus dem Gerät, eine davon fiel auf den Boden.

Gavin bequemte sich zwar aus seiner Ecke und schnüffelte daran, ließ sich dann aber desinteressiert wieder zu Boden plumpsen. Marvin bückte sich, hob die Scheibe vom Boden auf und legte beide auf einen Teller. Dann strich er, an der Küchenzeile stehend, Butter darauf. Brot! Er liebte frisches Brot – oder auch nicht mehr ganz so frisches, dann aber knusprig getoastetes. Als er auf der Straße gelebt hatte, war es das höchste der Gefühle gewesen, wenn ihm die nette Bäckereiverkäuferin ein Walnussbrot vom Vortag schenkte. Natürlich war damals kein Toaster greifbar. Er wusste, er sollte froh sein, dass sie so freundlich zu ihm war. Und doch sehnte er sich die ganze Zeit nach frischem Brot. Manchmal stand er unter dem Abluftschacht der Bäckerei und schnüffelte die warme, nach Frischgebackenem duftende Luft.

Jetzt, mit Hartz IV und auf der Jagd nach neuen Ideen für seine Zukunft, fühlte er sich wie ein reicher Mann. Er saß in der Gemeinschaftsküche, legte die Füße auf die Heizung unter dem Fensterbrett und schaute hinaus in die Dämmerung. Eine Zigarette wäre jetzt nett und ein Glas Merlot, aber das Rauchen hatte er sich abgewöhnt, und Alkohol war in der WG verboten. Die meisten seiner Mitbewohner hatten ein mehr oder weniger aktuelles Suchtproblem. Ein Wunder, dass Marvin auf der Straße nicht auch zum Alkoholiker geworden war; er hatte einfach Glück gehabt, dass es nur wenige Wochen gewesen waren. Doch währenddessen war es ihm endlos vorgekommen, es war Winter und er hatte keine Ahnung gehabt, dass irgendwann Beate seinen Hund auflesen und dessen Herrchen mit in ihr Tierheim nehmen würde. Eine Weile machte er sich auf ihrem alten Bauernhof nützlich, dann bekam er den Platz in der Männerwohngruppe. Ein halbes Jahr war das jetzt her. Er sollte sich endlich etwas Neues suchen. Wieder auf eigenen Beinen stehen.

„Sie gehören nicht hierher“, hatte der Sozialarbeiter gestern zu ihm gesagt. Es klang ebenso anerkennend wie bedrohlich. Dann trug er Marvin auf, seine Ziele und Wünsche aufzuschreiben. Immerhin gab er keine ungebetenen Ratschläge, sondern setzte auf die Eigeninitiative seines Schützlings. Doch Marvin fühlte sich wie ein Schuljunge, der Hausaufgaben aufbekommen hatte. Warum konnten sie nicht einfach so miteinander reden? Schon längst ging es ihm auf den Wecker, derart eng mit den vier anderen zusammenzuleben. So etwas wie Privatsphäre gab es hier nicht. Stille Abende wie jetzt waren selten und kurz.

Marvin nahm gerade den letzten Bissen Brot, als der Hund aufschreckte. Ein Schlüssel drehte sich im Schloss, und dann kam Luck in die Küche, in seiner löchrigen dünnen Jacke und mit verstrubbelten Haaren. Er warf seine Mütze auf den freien Küchenstuhl und ließ ein in Papier und Plastikfolie gewickeltes Päckchen auf die Arbeitsplatte platschen. „Magst du mitessen?“, fragte er, während er die Pfanne aus dem Küchenschrank holte. Marvin nahm die Füße vom Heizkörper, drehte sich herum und schüttelte den Kopf.

„Danke, ich hab schon.“

Luck war, abgesehen von seinem Hund Gavin, sein bester Kumpel hier. Er hatte ihm den Anfang in der WG erleichtert. Luck und Marvin waren, wenn man so wollte, die beiden Intellektuellen im Haus. Mit ihm konnte Marvin auch mal über was anderes reden als über Fußball, und wie ungerecht es war, dass man auf öffentlichen Plätzen in der Stadt keinen Alkohol trinken durfte. Luck war noch nie der Fröhlichste gewesen – sein Name kam ja auch nicht vom englischen lucky, sondern von Ludwig –, aber heute machte er einen noch mürrischeren Eindruck als sonst.

„War viel los im Laden?“, fragte Marvin. Luck arbeitete stundenweise im Buch-Asyl – einem Antiquariat, das von einer sozialen Initiative getragen wurde.

Er schüttelte den Kopf. „War gar nicht dort. Hatte keinen Bock.“

„Warum das denn?“

„Galina hat die Scheidung eingereicht.“

Marvin sagte nichts. Wenn Luck mehr erzählen wollte, würde er es schon tun. Aber Marvins Freund starrte nur in die heiße Pfanne, in der es aggressiv brutzelte. Als das Fleisch fertig war, legte er es ohne weitere Zutaten auf einen Teller und verzehrte es schweigend am Küchentisch. Dabei vertrieb er Gavin von seinem gemütlichen Liegeplatz. Der Hund ging Luck meist aus dem Weg – ausgerechnet Gavin, eine Seele von Hund. Eigentlich konnten Menschen, die sein Hund nicht mochte, nicht Marvins Freunde sein. Aber der etwas Ältere hatte von Anfang an zu Marvin gehalten, als Karle und Lothar ihn mobben wollten. Hatte ihnen den Mund gestopft, allein durch seine ruhige, fast bedrohliche Präsenz.

Manchmal sah es für Marvin fast so aus, als würde Luck gleich zuschlagen. Dann war er froh, dass Luck auf seiner Seite stand. Trotzdem wollte er nicht, dass er jemanden für ihn vermöbelte wie ein großer Bruder. Marvin konnte für sich selbst eintreten. Der Hund hielt sich von ihm fern, mit Sicherheit spürte er Lucks Aggressionen. Doch dem war es egal, dass Gavin ihn nicht mochte. Er war eben mehr ein Bücher-als ein Hundenarr.

Zu der Frau auf der Brücke hatte es Gavin sofort hingezogen. Und es war unübersehbar, dass sie ihn auch mochte. Was sie allerdings von Marvin hielt, war nicht ganz klar. Ihr Blick hatte Interesse gezeigt, doch gleichzeitig schien sie unbedingt von ihm weg zu wollen. Marvin gehörte nicht zu der Sorte Mann, die denkt, dass eine Frau erst nein sagt, wenn sie ja meint. Er hatte schlechte Erfahrungen gemacht: Sobald eine Frau erfuhr, dass er in einer betreuten Männer-WG wohnte, änderte sich alles. Entweder wollten sie ihn dann nicht mehr sehen, oder sie begannen, sich übertrieben um ihn zu kümmern. Die Mitleidstour hasste er. Er legte Wert darauf, dass man ihm den ehemaligen Obdachlosen nicht ansah. Seine Klamotten waren immer sauber. Er duschte täglich, pflegte seinen Drei-bis Fünftagebart und den Hund.

Die Radfahrerin hatte ebenfalls einen gepflegten, aber nicht verwöhnten Eindruck gemacht: Ihre Jacke hatte neu ausgesehen und war sicher teuer gewesen, aber ihre Lederboots und das Fahrrad konnten gut und gerne zehn Jahre auf dem Buckel haben. Eine wie sie passte auf ihr Zeug auf und behielt es, bis es auseinanderfiel. Das deutete auf einen verlässlichen Charakter hin. Ganz nebenbei sah sie gut aus und hatte keine Angst vor hohen Brücken. In Gedanken sah er ihr blondes Haar im Wind flattern. Sie hatte eine Tasche dabei gehabt, die nach Arbeit aussah. Sicher wohnte sie in der Gegend und war keine Fahrradtouristin.

Heute war er mit Gavin genau die gleiche Runde gegangen wie gestern, hatte sie aber nicht wiedergetroffen. Doch wenn sie auch nur das Geringste gemeinsam hatten, würden sie sich früher oder später in der Altstadt begegnen – Regensburg war ein Dorf! Ganz anders als der Ruhrpott, aus dem Marvin stammte. Da reihten sich die Städte so endlos aneinander, dass man schon einmal den Überblick verlor, in welcher man gerade war. In Regensburg konnte das nicht passieren. Marvin seufzte. Eigentlich hielt ihn nichts mehr hier, er konnte überall sein Glück versuchen. Nur wo, und vor allem: womit? Er starrte hinaus ins Dunkel. Es war sechs Uhr, und im gegenüberliegenden Häuserblock gingen nach und nach die Lichter an. Wer arbeitete, hatte auch Feierabend. Überall, so schien es ihm, wohnten glückliche Familien.

Luck stand wortlos auf und räumte Teller und Pfanne in den Geschirrspüler. Dann gingen beide in ihre Zimmer. Marvin war wieder einmal froh, dass er Gavin bei sich hatte. Er kannte niemanden, der mehr in sich selbst ruhte als dieser große Hund.

Josefine

Gina wollte nicht um Hilfe rufen. Allerdings konnte sie nach wie vor nicht aufstehen. Die Kirchturmuhr schlug sechs, und sie fürchtete sich vor der Nacht. Sobald sie den Kopf hob, drehte sich alles, und sie hatte Angst, sich übergeben zu müssen und womöglich daran zu ersticken.

„Hallo?“, rief sie. In der Wohnung nebenan rührte sich nichts. Gina hob den Arm und schlug mit der flachen Hand gegen den Putz. Formte eine Faust. Klopfte. Klopfte noch einmal. Wieder hörte sie das schleifende Geräusch. Dann klopfte es im gleichen Rhythmus zurück. Dreimal klopfte Gina, dreimal Josefine. Ein paar Mal kommunizierten sie so, dann blieben die Antwortzeichen aus. Stattdessen schloss Josefine ihre Wohnungstür auf. Das Geräusch schallte durch den Flur herüber, drang schwach durch Ginas Tür. Dann klingelte es.

„Ich bin hier!“, rief Gina.

„Gina?“ Josefine klopfte energisch an die Tür. „Ist alles okay bei dir?“

„Ich kann nicht aufstehen!“, rief Gina so laut sie konnte.

„Warte, ich komme über den Balkon!“ Kurz darauf drückte sich Josefines Hexennase gegen die Scheibe, schwach beleuchtet von Ginas Leselampe.

„Was ist los?“, fragte die Nachbarin durch die gekippte Balkontür. Falls sie besorgt war, hörte man es ihrer Stimme nicht an.

„Ich weiß nicht. Ich kann nicht aufstehen“, sagte Gina. Im nächsten Moment fassten Josefines kurze Finger durch die gekippte Tür. Sie bekam den Fenstergriff zu fassen und hebelte ihn auf. Dann öffnete sich die Balkontür, und Josefine stand im Zimmer. In T-Shirt, lila Sultanhosen und Birkenstocksandalen. Gina hatte noch nie daran gedacht, dass ihre Nachbarin sie einmal besuchen könnte – erst recht nicht, während Gina bewegungsunfähig auf der Seite lag. Aus ihrer Perspektive konnte sie erkennen, dass Josefines großer Zeh frappierend ihrer Nase ähnelte.

„Bist du in Jesuslatschen übers Geländer geklettert?“, war das Einzige, was Gina dazu einfiel.

„Na und? Sag mir, was mit dir los ist!“, Josefine kniete sich neben das Bett und fühlte Ginas Puls, was diese wiederum ziemlich überflüssig fand.

„Meine Blase platzt gleich“, presste sie zwischen den Zähnen hervor, „aber mir wird schwindlig, sobald ich aufstehe.“

Irgendwie schaffte Josefine es, Gina auf ihren Bürostuhl zu packen und sie halb liegend ins Bad zu transportieren. Weit war es ja nicht. Das war der Vorteil, wenn man sich nur zweiunddreißig Quadratmeter leisten konnte.

„Lass mich mal kurz allein“, bat sie, nachdem Josefine ihr aufs Klo geholfen hatte. Im nächsten Moment übergab sie sich auch schon in die Duschwanne. Ihre Lieblingshose, die auf dem Boden lag, bekam auch gleich ein paar Spritzer ab. Viel gab ihr Magen nicht mehr her, aber danach war ihr wohler. Als sie sich aufrichtete, spürte sie Josefines Hand auf ihrem verschwitzten Rücken. Die andere hielt ein Glas Wasser vor sie hin. Während Gina sich den Mund ausspülte, holte Josefine einen warmen, feuchten Waschlappen und suchte nach einem frischen Schlafanzug. Nachdem sie Gina geholfen hatte, ihn anzuziehen, brachte sie sie ins Bett zurück und schob ihr ein Sofapolster unter den Oberkörper.

„Das könnte gehen“, murmelte Gina und griff dankbar nach der Wasserflasche, die Josefine ihr reichte. Sie nahm vorsichtige Schlucke daraus, während Josefine Tee kochte. Dann brachte sie ihr die Tasse – „Vorsicht, heiß!“ – und putzte das Bad. Als sie zurückkam, hatte sie ein Kleiderbündel unter dem Arm.

„Ist es dir recht, wenn ich deine Klamotten mitnehme? Ich wollte heute eh noch waschen.“

„Das wäre lieb von dir“, seufzte Gina. „Gott, ist mir das peinlich.“ Doch seit Josefine hereingekommen war und das Kommando übernommen hatte, wollte sie nur noch weinen vor Erleichterung. Sie trank Tee in kleinen Schlucken, aß trockene Kekse und genoss das Gefühl, gerettet worden zu sein. Kaum zu glauben, dass sie vor einer Stunde noch geglaubt hatte, sterben zu müssen. Doch plötzlich fiel ihr der Kurs wieder ein. „Oh, Scheiße“, stöhnte sie.

Josefine war mit einem Schritt neben ihr. „Was ist? Ist dir wieder schlecht?“

„Mein Telefon. Kannst du mir mal meine Tasche geben?“ Sie zeigte auf den Heizkörper, an dem ihre Tasche lehnte. „Ich habe einen wichtigen Termin verpasst. Meine Kollegin wird megasauer sein.“

„Aber krank ist krank. Soll ich mit ihr sprechen?“, erkundigte sich Josefine. Gina überlegte.

„Ja, warum nicht? Dann glaubt sie mir wenigstens, dass es mir wirklich schlecht geht.“

„Wen muss ich anrufen?“

Gina nahm das Handy und suchte die Nummer aus dem Adressbuch, dann sagte sie Josefine, worum es ging. Catharina hob sofort ab, und nachdem Josefine kurz erklärt hatte, warum sie anrief, ergoss sich ein Wortschwall über sie. Gina hörte Catharinas Stimme und war froh, dass sie den Inhalt nicht verstand.

„Aber es war wirklich knapp“, rief Josefine empört in den Hörer. „Ich habe sie gerade noch rechtzeitig gefunden.“

Gina verdrehte die Augen. Warum musste sie gleich so übertreiben? Doch Catharina schien besänftigt zu sein. Jetzt erkundigte sie sich offenbar nach ihrem Befinden.

„Ja, ich kümmere mich um sie. Ich bin ihre Heilpraktikerin.“ Dann legte sie auf. „Was für eine Furie! Du sollst sie anrufen, wenn du wieder fit bist. Sie sagt die Kurse für den Rest der Woche ab.“

Eine Gruppe hatte heute Abend schon vergeblich auf sie gewartet, aber das war nicht mehr zu ändern. Gina seufzte.

„Gut. Morgen ist eh schon Freitag“, sagte sie. Sie würde einfach ab Montag mit neuer Energie loslegen und versuchen, ihre Patzer wieder gutzumachen.

Josefine saß mit dem Telefon auf ihrer Bettkante und schaute sie nachdenklich an. „Ich bleibe heute Nacht bei dir“, entschied sie.

„Nein!“, rief Gina. „Ich meine, das ist nicht nötig. Ich kann ja wieder klopfen, wenn was ist. Außerdem ist mein Sofa viel zu kurz für dich.“

„So groß bin ich nun auch wieder nicht. Du solltest nicht alleine bleiben. Ich hole mein Bettzeug.“

„Aber was sagt dein Freund dazu?“, rutschte es Gina heraus. Josefine wurde tatsächlich rot. „Äh, der übernachtet heute nicht bei mir.“ Dann stapfte sie in ihre Wohnung, Ginas Wäsche unter den Arm geklemmt. Nachdem sie ihre Waschmaschine befüllt hatte – Gina hörte vom Bett aus leise, wie das Wasser einlief und die Trommel sich zu drehen begann – kam Josefine mit Kissen und Decke zurück. Außerdem hatte sie einen Korb mit Auberginen, Tomaten, Zwiebeln und Reis dabei. Gina beobachtete sie neugierig.

„Es müsste noch Pecorino im Kühlschrank sein“, sagte sie,und Josefine krempelte die Ärmel hoch. Gina setzte sich vorsichtig auf. Ihr Kopf fühlte sich nicht mehr so leer an wie vor ein paar Stunden. Josefine hatte ihr den Rücken zugewandt und schnitt Zwiebeln.

„Bist du wirklich Heilpraktikerin?“

„Noch nicht. Ich lerne gerade für die Prüfung.“

„Ah ja.“ Gina hatte schon so etwas vermutet, bei dem naturverbundenen Eindruck, den Josefine machte. Gina hatte nicht viel Erfahrung mit alternativen Heilmethoden, und ihr Bedürfnis danach war gering. Dass Josefine bei ihr übernachtete, machte ihr Sorge. Jetzt, wo sie sich besser fühlte, würde es doch vollauf genügen, Josefine in der Wohnung nebenan zu wissen. Sie hatte ihr Handy wieder griffbereit, und wahrscheinlich konnte sie sogar alleine aufstehen. Aber erst mal sehen, wie sie das Essen vertrug. Es duftete jedenfalls schon gut nach Olivenöl, gebratenen Zwiebeln und Knoblauch. Und ihr angegriffener Magen rebellierte nicht dagegen, vielmehr lief Gina das Wasser im Mund zusammen.

Josefine benahm sich, als wäre sie hier zu Hause. Als wäre sie meine Mama, dachte Gina und spürte, wie ihr die Tränen kamen. Sie wusste gar nicht mehr, wie es sich anfühlte, bemuttert zu werden. Normalerweise war sie es, die anderen half. Doch im Moment war sie einfach nur dankbar, dass Josefine bei ihr war und für sie kochte.

Als Gina das Risotto vor sich hatte, pickte sie erst Körnchen für Körnchen von ihrem Teller. Dann wurde sie mutiger und nahm die ganze Gabel voll. Schließlich war der Teller leer. Josefine hatte ihr für den Anfang eine kleine Portion gegeben.

„Kann ich Nachschlag haben?“, fragte Gina, und Josefine lachte.

„Wenn dein Magen das aushält?“

„Unbedingt!“

Nur der Duft des Kaffees, den Josefine für sich kochte, reizte sie überhaupt nicht.

„Dabei bin ich so eine Kaffeetante!“, bekannte sie. Josefine lachte wieder und nickte.

„Ich auch.“

Eine Stunde später lag Gina gemütlich und mit vollem Bauch im Bett, während Josefine die Wäsche in den Trockenkeller brachte. Dann kam sie zurück in Ginas Wohnung und machte es sich tatsächlich auf dem Sofa bequem. Im Schutz der Dunkelheit fragte Gina: „Wo hast du deinen Freund eigentlich kennengelernt?“

Falls Josefine nochmal rot wurde, konnte sie es nicht sehen. Die Stimme der Nachbarin klang ganz normal.