Friesische Inselmorde - Nina Ohlandt - E-Book

Friesische Inselmorde E-Book

Nina Ohlandt

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Beschreibung

Die Nordsee - zum Sterben schön!

Dieser Band enthält die Krimis NUN SCHWEIGST AUCH DU und STÜRMISCH DIE NACHT - Spannung im Doppelpack!

Nun schweigst auch du:

Die alte Gertrud Bense liegt erschlagen in ihrem Friesenhaus auf Föhr. Für ihren Sohn steht die Mörderin fest: Gabi Tammen - die Nachbarin lag im Dauerstreit mit der Toten. Doch Kommissar John Benthien glaubt nicht an ihre Schuld. Denn es gibt weitere Verdächtige, die ein Motiv hatten, die herrische Frau zu töten.

Stürmisch die Nacht:

Ein Sturm schneidet Sylt von der Außenwelt ab! Im Hafen von List finden mehrere Fischkutter Zuflucht. Doch dann treibt Kapitän Thore Hansen leblos im Hafenbecken. John Benthien will auf seiner Heimatinsel eigentlich Überstunden abfeiern, doch stattdessen übernimmt er mit seinem Team - und mit Hilfe seines Vaters - die Ermittlungen.

eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung!

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Seitenzahl: 405

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalt

CoverGrußwort des VerlagsÜber dieses BuchTitelNun schweigst auch duHinweis für die LeserAnfang OktoberZehn Tage zuvorDie alte BenseDie NachbarinAlte GeschichtenFrühstück mit ThyraAm Schauplatz des MordesGeplatzte TräumeIm FriesendomNachdenken am StrandEin begabter KünstlerWeitere WahrheitenIn der Polizeistation Tod am StrandGedankenspielereienBlut und FasernNeue ErkenntnisseNächtlicher Schrecken Am BaggerseeVerdachtFragen und ErkenntnisseDie Schlinge zieht sich zuKrokodilstränen?Auftritt einer ZeuginDie ganze WahrheitStürmisch die NachtHinweis für die LeserEin Toter in der NachtUnter SeeleutenDas LogbuchZeit der EntdeckungenAberglaube und DiebeDie Sturmfahrt der Adama MaritDie MeutereiMister XC₁₀H₁₂N₂OIn tiefer NachtDie FrachtMord an BordEin seltsamer GastDie Wahrheit ist ein scheues TierDie einzige ZeuginAuf hoher SeeFrohes FestÜber die AutorenLeseprobeImpressum

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Über dieses Buch

Die Nordsee - zum Sterben schön!

Dieser Band enthält die Krimis NUN SCHWEIGST AUCH DU und STÜRMISCH DIE NACHT - Spannung im Doppelpack!

Nun schweigst auch du:

Die alte Gertrud Bense liegt erschlagen in ihrem Friesenhaus auf Föhr. Für ihren Sohn steht die Mörderin fest: Gabi Tammen - die Nachbarin lag im Dauerstreit mit der Toten. Doch Kommissar John Benthien glaubt nicht an ihre Schuld. Denn es gibt weitere Verdächtige, die ein Motiv hatten, die herrische Frau zu töten.

Stürmisch die Nacht:

Ein Sturm schneidet Sylt von der Außenwelt ab! Im Hafen von List finden mehrere Fischkutter Zuflucht. Doch dann treibt Kapitän Thore Hansen leblos im Hafenbecken. John Benthien will auf seiner Heimatinsel eigentlich Überstunden abfeiern, doch stattdessen übernimmt er mit seinem Team - und mit Hilfe seines Vaters - die Ermittlungen.

eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung!

NINA OHLANDT

NUN SCHWEIGST AUCH DU

NORDSEE-KRIMI

Hinweis für die Leser:Dieser Kurzroman um John Benthien und sein Team ist zeitlich vor den Romanen angesiedelt.

Anfang Oktober

Möwen am Baggersee

Er war tief, dieser Baggersee, doch in seinem klaren Wasser spiegelten sich der Himmel, weiße Wolken, herbstmilde Bläue, Sonnenglitzern. Die kreisenden Möwen, die neugierig das Ding tief unten im See beäugten, waren sich nicht schlüssig, ob es eine Bedrohung war oder etwas Leckeres zu fressen. So schrien sie zur Vorsicht und hielten Abstand.

Das Ding war erschreckend groß, wie es da im Wasser schwebte. Haare umwaberten es wie lange, dünne Fäden, Laichkraut und Wasserpest hielten es an dem alten, abgebrochenen Baumstamm gefangen, der seit Jahren in dem renaturierten See lag, besiedelt von wirbellosen Tieren, ein wunderbares Versteck für kleine Fische.

Offenbar auch für seinen Gefangenen, der mit Handschellen an einen Ast fixiert war. Doch inzwischen hatte er Auftrieb bekommen, und nur die Fesseln verhinderten ein Aufsteigen aus dieser tiefen Zone, die kaum jemals das Sonnenlicht sah. Ein Hecht schien sich einen Spaß daraus zu machen, mit den Beinen des Toten Fangen zu spielen. Ab und zu schnappte er auch nach einem der ausgestreckten Finger.

Eine Sektflasche platschte ins Wasser und erschreckte die Möwen. Sie kreischten noch lauter und flohen gen Himmel. Das Ding bewegte sich heftig mit den entstehenden Wasserwirbeln, als ein junger Mann von einem nahegelegenen Steinquader, der am Steilufer ein Stück aus dem See herausragte, ins Wasser sprang, um für seine Freundin den kostbaren Sekt zu retten. Er streifte verschrumpelte weiße Haut, die dabei war, sich abzulösen, und einen Fuß, der seinen Schuh verloren hatte. Er wollte schreien, schluckte Wasser, geriet in Panik, würgte und schaffte es endlich mit letzter Kraft an die Oberfläche.

Der Schrei, der aus ihm herausbrach, war wild und archaisch und erschreckte die wenigen Badegäste, die an diesem schönen Oktobertag an den See gekommen waren, um einen der letzten Sommertage zu genießen. »Ruft die Polizei«, keuchte er mit letzter Kraft, als er das Ufer erreichte, dann brach er zusammen, hustete krampfhaft und spuckte Wasser.

Zehn Tage zuvor

Wattwürmer

Nele Tammen freute sich. Kaum hatte die Schule begonnen, war sie auch schon wieder zu Ende, jedenfalls für diese Woche. Mumps hatte ihre Klasse und die Parallelklasse lahmgelegt, sogar der Hausmeister und einige Lehrer hatten Mumps. Wie schön war das denn? Nele war sofort nach Hause gerannt und hatte sich in ein spannendes Buch vertieft, das sie am Vortag angefangen hatte zu lesen. Niemand störte sie, ihre Mutter war, wie erwartet, nicht da; sie putzte mal wieder Ferienwohnungen bei Frau Hansen.

Doch am späten Vormittag, als die Sonne herauskam, hielt Nele nichts mehr im Haus.

»Mumps, Mumps, Mumps … Mumps hat einen Bums!«, sang Nele vor sich hin, während sie die Holztreppe hinunterhüpfte und sofort auf dem Strand landete, denn ihr Haus stand auf einer Düne direkt am Meer. Der Tag war warm und sonnig, der Strand hier an dieser Stelle, ein Stück entfernt vom Wyker Hauptstrand, menschenleer bis auf ein paar wenige Wanderer und Sandbuddler. Es war Ebbe, vor Nele lag eine riesige, glänzende, verheißungsvolle Wattfläche voller Muscheln, Wattwurmsandhäufchen und Vogelspuren, die aussah, als reichten sie geradewegs bis nach Langeneß hinüber, sodass man trockenen Fußes – jedenfalls, ohne im Meer zu ersaufen – zur Hallig gelangen könnte.

Nele wusste natürlich, dass dies eine optische Illusion war. Zwischen der Insel Föhr und der Hallig befand sich die Fahrrinne, auf der gerade majestätisch die Rungholt entlangglitt, auf dem Weg nach Amrum. Aber man konnte weit ins – zur Zeit nicht vorhandene – Meer hineinlaufen, und das tat Nele jetzt. Sie beobachtete zwei Möwen auf einem Priel, die sich gegenseitig mit den Flügeln verdroschen. Fast wie das Gezänk von nebenan, dachte Nele. Wenn Frau Bense, die Nachbarin, wieder einmal auf Hardy oder ihre Mutter losging, ähnelte sie einer gehässigen Möwe. Vor dem Priel staksten zwei aufgeregt schreiende Austernfischer durch den Sand.

Ist ordentlich was los heute im Watt, dachte Nele.

Sie sammelte Muscheln für ein neues Schmuckkästchen, bis ihre Hosentaschen zum Bersten gefüllt waren, und grub nach einigen vergeblichen Versuchen mit bloßen Händen einen Wattwurm aus. Unglaublich, was der alles konnte! Alle Wattwürmer im Wattenmeer zusammen fraßen einmal im Jahr das Watt komplett bis zu zwanzig Zentimeter Tiefe, schickten den Sand durch ihren Darm und schieden ihn wieder aus, was, laut ihrem Lehrer, eine Wohltat für das Watt war, da es dadurch mit Sauerstoff angereichert wurde.

Neles Wattwurm war ungefähr zwanzig Zentimeter lang und potthässlich. Nach hinten wurde er immer dünner. Sein Darm, wusste Nele, besaß bis zu neunzig Segmente. Steckte er sein hinteres Ende alle dreißig bis vierzig Minuten zur Darmentleerung aus dem Wattboden, bestand die Gefahr, dass er von einem Seevogel herausgezogen und gefressen wurde. Deshalb konnte er einzelne Teile des Darms abwerfen, sodass der arme Vogel nur ein oder zwei Zentimeter erwischte und der Wurm sich in seine Röhre retten konnte. Allerdings wuchs der Darm nicht nach, allzu oft konnte der Wattwurm das also nicht machen.

Gerade als Nele darüber nachdachte, den Wattwurm mit nach Hause zu nehmen und ihm ein Legohaus mit viel Sand drin zu bauen, ertönten schrille Schreie – der Möwen? Oder waren es die Austernfischer? –, so durchdringend, dass sie den Wurm vor Schreck beinahe hätte fallen lassen.

Sie guckte hinüber zum Priel, doch die Vögel waren verschwunden. Aber wer hatte dann geschrien? Und wenn sie darüber nachdachte, hatte es sonderbar menschlich geklungen. Vielleicht der Jogger am Strand, der jetzt gerade aus den Dünen gelaufen kam? Oder Frau Laukat, die Mieterin der Benses, in deren nestähnlicher Frisur sich wieder eine Libelle verfangen hatte, wie neulich abends? Sie hatte draußen auf der Terrasse ein solches Theater gemacht, dass sämtliche Bewohner der beiden Häuser, sogar Neles Mutter und ihre Feriengäste, zusammengelaufen waren, um das Vieh aus Frau Laukats Haaren zu befreien.

Die alte Bense im Nachbarhaus konnte es nicht gewesen sein, denn ihre tiefe Altfrauenstimme klang eher wie wütendes Hundegebell, wenn sie Hardy anblaffte.

Als Nächstes jedoch schrie Nele. Eine Möwe war auf ihre ausgestreckte Hand niedergestoßen und hatte sich den Wurm geschnappt! Wie blöd war das denn? Und sie selbst war schuld daran, hatte sie den Wurm doch wie auf dem Präsentierteller angeboten!

Nele rannte zurück zum Dünenrand. An diesem Küstenabschnitt standen nur zwei Häuser, das von ihrer Mutter und das von Frau Bense, die ihre Vermieterin war. Nele registrierte verwundert, dass die Terrassentür des Nachbarhauses offen stand. Sie schlich sich leise heran. Was tat die alte Bense? Ihr Sohn war jetzt im Laden in Wyk, aber Frau Bense, obwohl schon über achtzig, wie sie fast täglich erzählte, war noch quietschfidel und äußerst penibel, was ihre Hausarbeit betraf. Täglich wischte sie Staub, kehrte »die Stuben« und putzte die Delfter Kacheln in der Essecke, die irgendein Kapitän von einer Fahrt mitgebracht hatte. Außerdem war sie ziemlich schwerhörig und hatte die Angewohnheit, laut vor sich hin zu reden. Nele hatte sie bereits des Öfteren dabei belauscht. Sie wusste, dass die alte Frau ihre Mutter nicht besonders mochte – warum, war ihr allerdings ein Rätsel – und ihr das Leben schwermachte. Zuletzt hatte sie damit gedroht, Nele und ihrer Mama das Haus »unterm Hintern weg« zu verkaufen. Deshalb versuchte Nele, wann immer sie konnte, ihre Selbstgespräche mitzuhören. So konnte sie vielleicht rauskriegen, was die alte Bense »im Schilde führte«, wie ihre Mutter es ausdrückte.

Leise schlich Nele durch die Terrassentür, doch im Haus war alles still. Sie hörte Frau Bense weder herumschlurfen noch sprechen. Auch aus der Küche kam kein Laut, obwohl die Tür halb offen stand.

Vorsichtig stupste Nele mit dem Fuß dagegen, um sie ganz zu öffnen, und hätte beinahe laut aufgeschrien. Sie sah zwei Füße in alten Hauspantoffeln und dazwischen eine Bratkartoffel. Das Kind stieß die Tür vollends auf, starrte auf die vor ihr liegende alte Frau, registrierte die Bratpfanne, die Kartoffeln, die Wurststückchen, die überall hingerollt waren, dazwischen das viele Blut … und wollte schreien, aber es kam kein Laut aus ihrer Kehle.

An der offen stehenden Tür zum Küchengarten huschte eine Gestalt vorbei. Nele, deren Herz wild klopfte, machte, dass sie wegkam, hinaus auf die Terrasse und hinüber ins Haus ihrer Mutter.

Die alte Bense

Die alte Frau hatte keine Chance gehabt. Sie hatte in der Küche am Herd gestanden, als jemand hereingekommen war, die gusseiserne Bratpfanne ergriffen und sie damit niedergeschlagen hatte. Nun lag die alte Frau in ihrem Blut auf dem Küchenboden inmitten von Rührei, Würstchen und Bratkartoffeln, die sie offenbar in ebenjener Pfanne gebraten hatte, als das Schicksal zuschlug. Jemand hatte beschlossen, dass die alte Frau in der geblümten Kittelschürze und der alten, verfilzten grünen Strickjacke sterben müsse, jetzt, in dieser Küche, an diesem schönen Altweibersommertag auf der Urlaubsinsel Föhr. Einundachtzig Jahre war sie alt geworden.

John Benthien, Erster Hauptkommissar bei der Kripo Flensburg, hatte schon einige blutige Tatorte gesehen, aber dieser hier kam ihm besonders bizarr vor, weil das Grauen so schrecklich banal schien, fast spießig. Da war eine Frau gestorben, während sie in ihrer ordentlichen, blitzsauberen Küche ein einfaches, solides Mittagessen zubereitet hatte. Und vorher hatte sie offenbar Brot gebacken. Ein duftender, angeschnittener Laib Brot lag auf einem Brett, in einer überdimensionierten Größe, wie Benthien es nur als Kind einmal bei Bauern gesehen hatte, daneben lagen ein Klumpen Butter und eine Salami.

Um ihn herum bewegten sich Claudia Matthis und ihre Leute von der Spurensicherung in den weißen Tyvek-Anzügen, sein Freund und Kollege Tommy Fitzen stand vor dem Haus und hielt offenbar einen Klönschnack mit dem Inselpolizisten, und Lilly Velasco hörte er durch die oberen Räume laufen. Es galt, nachzusehen, ob sich noch jemand im Haus aufhielt, aber offenbar war es leer. Selbst die Laukats, ein Ehepaar aus Hamburg, das die Dachgeschosswohnung den Sommer über gemietet hatte, waren an diesem schönen Spätsommertag unterwegs.

Kurz darauf trafen der Doc aus Niebüll und der Leichenwagen ein.

Benthien begrüßte den Arzt, den er flüchtig kannte, weil er öfter für die Polizei arbeitete, überließ ihn seiner Tätigkeit und ging hinaus zu Fitzen und dem Inselpolizisten Holm Ingwersen.

»So muss man nun auch nicht gerade sterben, mit der Bratpfanne im Gesicht«, sagte Ingwersen, ein junger Mann mit Glatze und langen Koteletten, die in einen rötlichen Bart übergingen, tiefsinnig zu Benthien und trat seine Zigarette aus. »Obwohl sie ja’n büschen schwierig war, die alte Bense.«

»Inwiefern schwierig?«, erkundigte sich Benthien.

»Haare auf den Zähnen und ein lockeres Mundwerk. Die hat sich von niemandem was sagen lassen. Hardy hatte es nicht leicht mit ihr.«

»Hardy?«

»Hartmut Bense, ihr Sohn«, antwortete Tommy Fitzen, der sich offenbar schon bei dem ihm bisher unbekannten Kollegen kundig gemacht hatte. Fitzen brauchte höchstens fünf Minuten, dann behandelten ihn selbst Fremde wie einen, mit dem sie nach dem Pferdestehlen schon so manchen Köm geschluckt hatten.

»Er hat ein Ladengeschäft in Wyk«, erklärte Ingwersen, »Haus- und Tischwäsche, Bettwäsche und Frottierware. Mein Kollege bringt ihn gerade her. Armer Kerl. Er wird außer sich sein, wenn er hört, dass Gertrud tot ist. Er stand total unter ihrer Fuchtel. Außer ihr hatte er praktisch keinen anderen Menschen.«

»Was genau muss ich mir darunter vorstellen?«, fragte Benthien.

»Na ja, die alte Bense bestimmte, wo’s langging. Hardy hatte da nicht viel zu sagen. Sie hat seine Freundinnen begutachtet – ich meine, die wenigen, die sich mit ihm abgegeben haben –, und die meisten von ihnen vergrault. Deshalb hat er wohl auch nie geheiratet. Hardy gehört nicht mal seine Seele ganz allein.«

Lilly trat aus dem Haus, und Benthien betrachtete sie mit Wohlgefallen. Sie war noch leicht gebräunt vom Urlaub, und ihre Bernsteinaugen leuchteten fast so golden wie ihr Haar, in das die Sonne kleine Leuchtkringel malte. Ihr Gesichtsausdruck wirkte jedoch leicht verstört.

»Sie haben im selben Zimmer, im selben Bett geschlafen, Frau Bense und ihr Sohn«, verkündete sie irritiert.

»Sag’ ich doch«, meinte Ingwersen gleichmütig und fuhr sich über den glänzenden Schädel, »dem armen Kerl gehört nicht mal seine Seele. So couragiert sie tagsüber auch war, nachts hatte die alte Dame Angst vor Einbrechern. Deshalb musste Hardy bei ihr im Bett schlafen.«

»Gibt’s irgendwas, was du von deinen Wyker Schäfchen nicht weißt?«, fragte Fitzen amüsiert.

Ingwersen schmunzelte. »Nur wenig.«

»Die Zimmer oben sind in Ordnung«, fuhr Lilly fort. »Schränke und Schubladen stehen nicht offen, und nichts scheint durchwühlt zu sein. Alles sehr ordentlich und sauber. Aber die Techniker werden sich das natürlich noch genauer ansehen.«

»Vielleicht kam ihm die alte Frau bereits in der Küche in die Quere, er hat sie erschlagen und dann schnell das Weite gesucht«, überlegte Fitzen.

»Wer hat sie gefunden?«, fragte Benthien.

»Die Nachbarin, Gabi Tammen.« Ingwersen nickte zu dem sonnengelb gestrichenen Haus hinüber, das wie das Haus der Benses in den 1930er Jahren im Fachwerkstil erbaut worden war. »Hat sie ziemlich mitgenommen. Ah, da kommt sie ja.«

Benthien beobachtete, wie eine Frau Anfang vierzig, in Jeans und T-Shirt, zu ihnen rüberkam. Ihr blondes Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden. Ihr Gang war schwungvoll, offenbar hatte sie sich von dem Schreck bereits erholt.

»Sie wollen mich sicher sprechen«, sagte sie zu Lilly, als sie bei dem Vierergrüppchen angelangt war. »Ich muss gleich zur Fähre, Gäste abholen, deshalb machen wir das am besten jetzt sofort …«

Die drei Flensburger stellten sich vor, dann wanderten sie mit Gabi Tammen um das Haus herum zur Strandterrasse, während Ingwersen weiter auf die Ankunft seines Kollegen wartete, der Frau Benses Sohn herfahren wollte.

Sie setzten sich auf Holzbänke an einen urigen Tisch, von dem aus man einen Blick aufs Meer hatte. Gabi schielte ängstlich zur Terrassentür, aber die war zu und spiegelte, sodass man Gertrud Bense in der Küche nicht ausmachen konnte.

»Mir fiel auf, als ich gegen halb eins zurückkam, dass bei Gertrud alle Türen offen standen, die Tür zur Terrasse und die, die von der Küche in den Garten führt«, begann die junge Frau ihren Bericht, wobei sie nervös die Hände wrang. »Dadurch gab es einen Durchzug, die Gardinen blähten sich, und der Wind fegte Sand und Blätter ins Zimmer. Das fand ich komisch, besonders, weil Gertrud immer so penibel sauber war und nie die Türen offen stehen ließ, sogar die Fenster öffnete sie nur selten. Es könnte ja Staub hereinkommen! Ich habe nach ihr gerufen, aber keine Antwort erhalten. Das war erst recht seltsam, weil Gertrud eigentlich immer zu Hause ist, deshalb bin ich reingegangen und habe sie … es war schrecklich, wie sie so dalag in ihrem Blut …«

Sie begann zu zittern und legte die Arme um ihren Oberkörper.

»Haben Sie jemanden gesehen?«, fragte Fitzen. »Fremde, Nachbarn, Gäste?«

»Nein, es war ganz ruhig, fast totenstill, bis auf den Wind. Ich habe Angst gekriegt und bin zu mir nach Hause gelaufen und habe Holm Ingwersen angerufen, der dann auch gleich kam.« Sie fröstelte. »Ich wusste ja nicht, ob der Mörder nicht noch im Haus war. Ich habe sofort alle Türen bei mir abgeschlossen.«

»Waren Sie allein zu Hause?«, fragte Lilly.

»Nur Nele war noch da, meine Tochter. Unsere Gäste, die Meisners, ein junges Paar aus Düsseldorf, das für zehn Tage die obere Wohnung gemietet hat, war schon früh nach Niebüll gefahren, sie wollten einen Ausflug nach Sylt machen. Die werden wohl erst gegen Abend zurück sein. Mein Hauptverdienst sind die Feriengäste, nebenbei putze ich Ferienwohnungen. Aber jetzt muss ich gleich zum Anleger, um zwei ältere Damen abzuholen.«

»Wo waren Sie heute Vormittag?«, fragte Benthien.

»Wie gesagt, ich putze Ferienwohnungen. Ich bin kurz vor neun aus dem Haus gegangen und gegen halb eins zurückgekehrt. Da habe ich sie dann gefunden.«

Benthien fand, dass Gabi Tammen nervös wirkte. Sie öffnete ihren eigentlich perfekt sitzenden Pferdeschwanz, fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und band ihn wieder neu. Offenbar hatte sie es eilig, wegzukommen.

Benthiens scharfe blaue Augen entdeckten in einem Sanddorngebüsch, das die Grenze zwischen den beiden Grundstücken bildete, ein Kind von etwa elf Jahren, das zu ihnen herüberspähte.

»Ist das Ihre Tochter?«

Gabi Tammen folgte seinem Blick und nickte. »Ja, das ist Nele. Sie hat frei, weil in der Schule Mumps ausgebrochen ist. Aber ich will nicht, dass sie Frau Bense …«

»Natürlich nicht«, beruhigte sie Lilly. »Weiß sie Bescheid?«

Frau Tammen nickte, und Benthien nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit mit Nele zu sprechen. Sie wirkte aufgeweckt und neugierig und konnte gut etwas gesehen haben, dessen Bedeutung ihr vielleicht gar nicht klar war.

»Sie kannten Frau Bense wahrscheinlich sehr gut?«, fragte Fitzen, auf die enge Nachbarschaft anspielend.

Die junge Frau lächelte. »Seit ich ein Kind war. Gertruds Schwiegereltern wohnten hier, und als der Sohn heiratete, ist er ins Nachbarhaus gezogen, in dem seine Großmutter gewohnt hatte. Er ist früh gestorben und seine Eltern auch. Gertrud hat erst meinen Eltern das Haus vermietet und später mir, für meine Familie. Aber …«

Vor dem Haus, auf der anderen Seite, ertönte Geschrei, das schnell laut und bedrohlich wurde. Ein Mann schoss um die Ecke und stürzte auf die Terrasse. Er ging sofort auf Gabi Tammen los, zerrte sie, mit der Faust im Nacken, an ihrem T-Shirt aus der Bank, noch ehe jemand eingreifen konnte, und schüttelte sie wie einen jungen Hund.

»Was hast du mit ihr gemacht? Was hast du meiner Mutter angetan?«

Fitzen sprang hinzu und nahm den Mann in den Schwitzkasten.

»Loslassen!«, donnerte er. »Sind Sie wahnsinnig geworden?«

Benthien, der anders als Fitzen zunächst immer erst auf Deeskalation als auf Gewalt setzte, sagte ruhig: »Setzen Sie sich. Sie sind Hartmut Bense? Mein herzliches Beileid!«

Benthiens Worte besänftigten den Mann, denn er ließ sich kraftlos, als wäre plötzlich jedes Leben aus ihm gewichen, auf die Bank fallen. Auch Gabi Tammen setzte sich wieder. Sie wirkte nicht einmal verärgert.

»Hardy«, sagte sie leise und ergriff seine Hand, die auf dem Tisch lag, »es tut mir sehr, sehr leid um deine Mutter. Und glaube mir, ich habe ihr nichts angetan. Ich mochte sie, trotz allem. Wir kannten uns doch schon so lange. Wenn ich …«

Sie unterbrach sich, als Hardy Bense abrupt seine Hand wegzog. Benthien beobachtete, wie sich seine Züge verhärteten, und machte sich bereit, erneut einzugreifen, doch da kam zum Glück Holm Ingwersen und fragte, ob Hardy seine Mutter im Sarg noch einmal sehen wollte. Der Mann nickte und verschwand ohne ein weiteres Wort.

Die junge Frau sah die drei Beamten bittend an. »Ich habe Gertrud nichts angetan, glauben Sie mir«, sagte sie feierlich. »Hardy ist von dem Gedanken besessen, dass ich seine Mutter hasse und ihr Übles will, aber dem ist nicht so. Ich habe …«

»Warum glaubt er das?«, fragte Fitzen.

Gabi fuhr sich müde übers Gesicht. »Das ist eine lange Geschichte. Aber können wir nicht später darüber sprechen? Ich muss nun wirklich zur Fähre!«

Benthien nickte. »Wir kommen nachher noch einmal zu Ihnen.«

Ihre Tochter Nele war verschwunden, aber nun wollte er sich auch erst einmal Hardy Bense vorknöpfen. Was war nur in den Mann gefahren? War es der Schock? Jeder reagierte anders auf den Tod eines geliebten Menschen, und John hatte in dieser Hinsicht schon allerlei erlebt. Oder steckte etwas anderes dahinter? Gab es einen Grund für seine Beschuldigung?

Ingwersen erschien und fragte, ob Hardy Bense mitfahren dürfe, er wolle den Leichnam seiner Mutter bis zum Flugplatz begleiten, von wo er dann in die Gerichtsmedizin geflogen werden sollte. Doch Benthien war dagegen. Er wollte Bense so schnell wie möglich sprechen.

Die Nachbarin

Lilly zog ihre Sandalen aus und grub die Füße in den warmen, feinen Nordseesand. Erinnerungen an Sardinien kamen in ihr hoch, wo sie vor sechs Wochen noch entspannt am Strand gelegen hatte. Sie wandte das Gesicht der Sonne zu und genoss die spätsommerlichen Strahlen, den Blick auf das weiße Schiff, das still am Horizont vorüberzog, den sanften Wind, der in ihren Haaren spielte. Die Benses hatten sich schon ein hübsches Fleckchen der Insel Föhr ausgesucht, das musste sie zugeben. Ob man da mal eine Wohnung mieten könnte? Sie hörte, wie John ihren Namen rief, und streifte die Sandalen über, um dann über die Terrasse das Haus zu betreten und nach vorne durchzugehen. Lange hatte Hardy Bense weinend am offenen Sarg seiner Mutter gekniet. Erst als der Bestatter sanft zum Aufbruch drängte, war er aufgesprungen, um für die Beerdigung – die allerdings noch in weiter Ferne lag, zunächst stand die Obduktion an – ihr Festtagskleid zu holen, das er dann feierlich überreicht hatte.

Nun sah er regungslos dem Leichenwagen hinterher, der hinter immer noch grünem Laub verschwand.

Fitzen und Benthien nahmen vier Terrassenstühle mit nach unten an den Strand und stellten sie an den Fuß der alten Holztreppe – vielleicht, dachte Lilly, um Bense den Anblick des Hauses zu ersparen, in dem immer noch die Leute von der Spurensicherung in einer Art elegischem Tanz zugange waren. Ab und zu konnte man verwischte weiße Farbtupfer in den Scheiben spiegeln sehen.

Bense saß auf dem Stuhl wie ein nasser Sack, als hätte er jeden Halt verloren. Er war ein gutmütig wirkender Mann mit rundem Gesicht, ein wenig übergewichtig, mit einem schlaffen Händedruck. Ein Kranz von dunklen Locken umgab den Kopf, der oben, wie eine Tonsur, völlig kahl war und unterhalb des Lockenrunds geschoren; irgendwie erinnerte er sie ein bisschen an Martin Luther in seinen mittleren Jahren.

Sein Schmerz schien echt zu sein. Er starrte zu Boden und malte mit der Schuhspitze Kreise in den Sand. Lilly versuchte, sich vorzustellen, wie sie sich fühlen würde, wenn ihr Lebensmittelpunkt immer nur ihre Mutter gewesen wäre und sie sie eines Tages in der heimischen Küche erschlagen vorgefunden hätte. Offenbar hatten die beiden ja in einer engen Symbiose gelebt, ob vonseiten des Sohnes freiwillig, blieb dahingestellt. Dass Hartmut Bense von dem Schock noch ganz benommen war, konnte sie sich gut vorstellen.

»Haben Sie irgendeine Erklärung für das, was hier passiert ist?«, fragte Benthien, wobei er Lilly einen Blick zuwarf. »Wer könnte das Ihrer Mutter angetan haben?«

»Sie natürlich!«, sagte Bense kraftlos, wobei er mit dem Kopf zum Nachbarhaus wies. »Gabi. Sie hat ihr keine Ruhe gelassen. Immer wieder hat sie meine Mutter beschimpft und ihr gedroht.«

»Warum? Womit?«, fragte Fitzen, doch Bense antwortete nicht.

»Herr Bense«, sagte Benthien und legte dem Mann eine Hand auf den Arm, »irgendeine Begründung müssen Sie uns schon geben, warum Sie das glauben.«

»Mutter hat ihr gekündigt«, sagte Hardy Bense. »Vor über sechs Monaten. Aber sie ignoriert es einfach. Tut so, als wäre Mutter nicht ganz zurechnungsfähig. Aber nur, weil sie schon seit Ewigkeiten da wohnt, muss das doch nicht heißen, dass sie ein Recht auf dieses Haus hat!«

»Warum hat Ihre Mutter Frau Tammen gekündigt? Nach so langer Zeit?«, fragte Lilly geduldig.

»Sie hat Mietschulden. Und sie vermietet zwei Wohnungen an Feriengäste, das ist laut Mietvertrag nicht erlaubt. Aber was sie darf oder nicht, darum hat sie sich nie gekümmert.« Benses Stimme wurde immer leiser, als verließe ihn jetzt die letzte Kraft.

»Was ist mit Herrn Tammen?«, erkundigte sich Benthien. »Irgendwie klingt das, als wäre er gar nicht daran beteiligt?«

»Den gibt’s nicht mehr, der ist weg«, sagte Bense. »Sie ist geschieden.«

Irgendwie, fand Lilly, klang es gehässig. Als habe Gabi Tammen ihren Mann im Vorbeifahren auf einer Müllhalde entsorgt.

»Wie ist sie denn gestorben? Meine Mutter?«, fragte Bense leise, während Fitzen gemütlich sein Gesicht mit geschlossenen Augen in die Sonne hielt.

Lilly hatte sich schon gewundert. Als Hartmut von dem zweiten Polizisten aus seinem Wyker Ladengeschäft hierhergebracht worden war, hatte er sich um den Tatort in der Küche überhaupt nicht gekümmert, sondern war sofort auf die Terrasse gestürzt, um sich Gabi Tammen zu schnappen. Aber später, als die Tote im Sarg lag, hatte er sie nicht gehen lassen wollen.

»Jemand hat sie mit der gusseisernen Pfanne auf den Kopf geschlagen«, sagte Fitzen. »Sie war gerade dabei, Essen zu kochen: Bratkartoffeln, Ei, Würstchen.«

Bense holte ein Taschentuch aus seinen Jeans und hielt es sich an die tränenden Augen. »Das hat sie mir oft zu Mittag gemacht. Aber das sieht ihr ähnlich!«

Überraschend für alle sprang er in einem plötzlichen Anfall von Energie aus dem Stuhl und blickte zum Haus der Tammens. »Das sieht Gabi ähnlich! Meine Mutter mit einer Pfanne zu erschlagen!« Er blickte wild um sich. »Wann war das? Wann ist meine Mutter gestorben?«

Lilly wusste, dass der genaue Todeszeitpunkt noch immer unklar war. Vermutlich um die Mittagszeit herum, doch der Arzt hatte dazu nicht allzu viel sagen können. Im Haus war es durch den ständigen Luftzug, der durch die beiden geöffneten Türen kam, gerade in Bodennähe so ausgekühlt, dass die Berechnung der Körpertemperatur wenig zu den Erkenntnissen beitragen konnte. Sie hofften, durch die Obduktion Genaueres zu erfahren. Aber darauf mussten sie noch eine Weile warten.

»Wann haben Sie Ihre Mutter zuletzt gesehen?«

»Heute Morgen vor dem Frühstück. Mutter legt großen Wert auf ein gutes Frühstück, jedenfalls für mich. Sie selbst isst nur wenig: Toastbrot mit Honig. Aber für mich stellt sie sich an den Herd, brät Speck und Eier, manchmal macht sie sogar ein Bauernfrühstück mit allem Drum und Dran.« Er schlug sich auf seinen keineswegs flachen Bauch. »Was meinen Sie, wo der herkommt? Sie mästet mich wie die Hexe den Hänsel.« Er wirkte erschrocken über seinen Vergleich mit der Hexe, gleichzeitig aber auch traurig. Vielleicht, weil ihm gerade eingefallen war, dass er ab jetzt ganz allein für sein leibliches Wohl sorgen musste. Schnell fuhr er fort: »Heute Morgen hatte ich es allerdings eilig, ich hatte einen Termin bei einem Kunden. Da bin ich gar nicht zum Frühstücken gekommen. Ich habe mir unterwegs ein Brötchen gekauft. »

Lilly fand, dass er leicht desorientiert wirkte. Es war wohl besser, das Verhör am nächsten Tag fortzusetzen, wenn der Schock etwas abgeklungen war.

Benthien schien ähnlich zu denken. Er fragte Bense noch kurz, wo er den Vormittag über gewesen war. Doch der Mann hatte offenbar ein Alibi. Er war im Laden gewesen und bei zwei Kunden, war seine Antwort, die sich anhörte, als käme sie von einem Automaten. Immer noch stand Bense völlig neben sich.

Benthien erhob sich, nahm zwei der Stühle und sagte Hartmut Bense, dass sie die Befragung am nächsten Tag fortsetzen würden. Fitzen erwachte aus seinem Nickerchen und ging ebenfalls nach oben, während Bense reglos sitzen blieb, den Blick stumm zu Boden gerichtet.

Lilly nahm ihn sanft beim Arm. Er erzählte ihr, dass ihn ein Freund aus Nieblum abholen wollte. Dort könnte er für einige Tage bleiben.

Oben auf der Terrasse trafen sie ein älteres, sehr distinguiert wirkendes Ehepaar, das mit betroffener Miene auf Hartmut Bense zusteuerte. Offenbar hatten sie gerade gehört, was geschehen war. Die Frau nahm ihn kurz in den Arm, was Bense sehr steif über sich ergehen ließ. Waren das die langjährigen Sommergäste, die die Dachgeschosswohnung gemietet hatten?

»Gestatten, Laukat«, sagte der Mann höflich in die Runde. »Und das ist meine Gattin.« Er war groß und schlaksig, mit grauem Haar und einer randlosen Brille. Lilly dachte unwillkürlich, dass er wie ein kreativ arbeitender Mensch aussah, und das war er auch, nämlich Architekt, wie sie inzwischen von den Kollegen aus Flensburg wusste, allerdings seit langem arbeitslos. Seine Frau trug einen langen, unförmigen Rock und hatte die graubraunen Haare oben auf dem Kopf zu einem Dutt gesteckt. Ihre braunen Augen unter den geraden, ungezupften Brauen betrachteten Hardy Bense besorgt, als sei er ein kleines Kind, das ihr anvertraut worden war. Lilly konnte sie sich gut bei der Ausgabe der Tafel oder in der Küche beim Marmelade-Kochen vorstellen. Oder als Frau eines Pfarrers.

Als vor dem Haus eine Hupe ertönte, machte sich Bense ohne ein weiteres Wort los und ging nach vorne. Die Laukats sahen ihm verblüfft hinterher.

Überhaupt schienen sie eher überrascht zu sein als in tiefer Trauer.

»Können wir denn heute Nacht überhaupt hier schlafen?«, erkundigte sich Frau Laukat. »Weiß man schon, wer es war?«

Holm Ingwersen hatte sie offenbar über den Mord an ihrer Gastgeberin informiert.

Benthien ignorierte die Frage. »Darf ich fragen, wo Sie gerade herkommen? Wo waren Sie heute Vormittag?«

»Wir haben nichts zu verbergen«, antwortete Oskar Laukat steif. »Wir sind früh aus dem Haus, kurz nach acht, und haben in einem Café am Sandwall ausgiebig gefrühstückt. Danach haben wir eine Fahrradtour über die Insel gemacht, nach Utersum, Dunsum und Oevenum, wo wir zu Mittag gegessen haben. Von dort kommen wir gerade zurück. Aber eine andere Frage. Können wir überhaupt weiter hier im Haus wohnen?«

Benthien riet ihnen, sich für ein, zwei Tage ein Zimmer im Hotel zu nehmen, da die KTU noch im Haus zu tun hatte. Außerdem – aber das sagte er nicht – war es ihm lieber, das Haus leer zu wissen, da die Räume der Benses nicht alle abgeschlossen werden konnten.

Fitzen begleitete das Paar nach oben, weil er sich dort noch ein wenig umsehen wollte.

»Wir werden die ganze Nachbarschaft befragen müssen«, sagte Benthien düster zu Lilly und fuhr sich durch seine dichten braunen Haare, wie es seine Gewohnheit war. Lilly musste lächeln. Johns Haare sahen nie lange Zeit ordentlich aus, sondern lagen auch ohne Gel kreuz und quer am Kopf, umso unordentlicher, je weiter der Tag voranschritt. Manchmal musste sie sich sehr zügeln, um sie nicht zu ordnen.

Auch Fitzen war eine auffällige Erscheinung: Haare bis zum Kragen, Dreitagebart, auf jedem Finger ein kleines Tattoo, Freundschaftsbänder am Handgelenk. Er war der Typ, vor dem Eltern ihre Teenager-Töchter immer warnten. War wohl noch ein Überbleibsel aus der Zeit, als er in Hamburg undercover ermittelte. Dabei war Fitzen nicht halb so wild, wie er aussah.

»Aber wir bekommen Hilfe aus Niebüll«, sagte Benthien in ihre Gedanken hinein, und Lilly fiel ein, dass von der Nachbarschaftsbefragung die Rede gewesen war. Sie sah sich um. In der ersten Reihe der Strandhäuser stand sonst kein weiteres Haus, und die anderen Häuser entlang der Straße, die zum Strand führte, lagen so, dass man das Bense-Haus von dort aus nicht sehen konnte, zudem waren sie umgeben von dicht bewachsenen Gärten. Ob sie da überhaupt jemanden fanden, der etwas beobachtet hatte?

Im Haus polterte es, und Fitzen sprang die Treppe hinunter.

Lilly sah ihm an, dass er gleich mit einer wichtigen Nachricht herausplatzen würde.

»Frau Laukat hat gerade festgestellt, dass Teile ihres Schmucks gestohlen wurden!«, verkündete er.

Alte Geschichten

Fitzen hatte einen Block vor sich liegen und schrieb in seiner unleserlichen Krakelschrift Hieroglyphen auf die Seite: Die Laukats, konnte Lilly noch so gerade entziffern, Tammen, Verwandte?, wo war Hardy, Alibis, Putzhilfe, andere Gäste?, Todeszeitpunkt. Das letzte Wort umkringelte er mehrfach und versah es mit etlichen Fragezeichen.

Sie saßen noch immer auf der Terrasse und warteten auf Gabi Tammen, die inzwischen ihre Gäste abgeholt hatte. Esther Talley, die Kollegin im Innendienst in Flensburg, hatte ihnen drei Zimmer in einer Wyker Pension reserviert, und in der Polizeistation stand ihnen ein Raum mit Schreibtischen und Laptops zur Verfügung. Aber noch wollte Benthien hier, am Tatort, bleiben, um sich ein umfassendes Bild zu machen und mit Gabi Tammen direkt vor Ort sprechen zu können. Zudem hatten sie hier zweifellos den schönsten Blick von ganz Föhr. Bevor die Laukats sich in einem Hotel eingemietet hatten, waren sie alle nochmal durch die Räume gegangen, um herauszufinden, was vielleicht sonst noch fehlte, waren aber nicht fündig geworden. Genau konnte ihnen das wohl nur Hardy Bense sagen, mit dem sie morgen noch einmal ausführlich sprechen wollten; heute war er zu traumatisiert gewesen.

Der Schmuck von Frau Laukat war im Übrigen nicht gänzlich gestohlen worden, sondern nur eine Uhr – ein Erinnerungsstück an ihre Mutter – und ein Ring. Der Verlust hatte sich im Rahmen gehalten, insgesamt ging es um einen Betrag von viertausend Euro. Frau Laukat war dennoch außer sich gewesen und den Tränen nahe. »Mein Sohn hat mir den Ring zum Geburtstag geschenkt«, hatte sie geschluchzt, sodass Lilly sich schon gefragt hatte, ob der Sohn verstorben und es daher ein besonders schmerzhafter Verlust war. Aber dem war nicht so.

Nachdem sich Frau Laukat wieder beruhigt hatte, waren sie in ein Hotel an der Strandpromenade gezogen mit dem Versprechen, sich morgen Vormittag zur Befragung zur Verfügung zu stellen.

»Kann es sein«, fragte John jetzt, »dass hier jemand, weil die Tür offen stand, eine günstige Gelegenheit zum Einbruch gesehen hat, und dann kam ihm Frau Bense in die Quere? Und er hat einfach mit dem nächstbesten Gegenstand, der ihm unterkam, zugeschlagen?«

»Das habe ich vorhin schon Ingwersen gefragt«, sagte Fitzen und gähnte, »er sagt, auf Föhr gäbe es zurzeit keine Einbrüche. Nebenbei bemerkt, auch keine Morde. Hier ist die Welt noch heil und in Ordnung.«

»Ich glaube, Frau Bense wäre da anderer Meinung«, kommentierte Benthien trocken.

»Wir müssen herausfinden, ob der Tod von Frau Bense ein Zufall war, ein Kollateralschaden quasi, oder ob man sie persönlich gemeint hat«, warf Lilly ein.

»Dann lasst uns mal die Leute ausquetschen«, sagte Fitzen fröhlich. »Da kommt schon unser erstes Opfer.«

Gabi Tammen kam über einen Trampelpfad durch die Düne zu ihnen auf die Terrasse. Sie hatte sich umgezogen, jetzt trug sie zu ihrer Jeans ein blau-weißes Sweatshirt im Matrosenlook, das gut zu ihren blauen Augen passte. Lilly überlegte, ob da nicht mal etwas gewesen war zwischen Hardy und seiner Nachbarin, wahrscheinlich kannten sie sich ja schon seit ihrer Kindheit. Oder war gerade das ein Grund, der dagegen sprach?

Die junge Frau wirkte atemlos und aufgebracht. »Ist das zu glauben? Meine beiden Damen, die ich gerade abgeholt habe, haben sich geweigert, bei mir einzuziehen, nachdem sie von dem Mord gehört haben. Was kann ich denn dazu? Ich musste sie zu einem Hotel fahren.«

»Das ist ärgerlich«, meinte Lilly, »aber auch verständlich. Es muss ein Schock für sie gewesen sein, mit so einer Nachricht empfangen zu werden.«

»Ja, natürlich«, sagte Gabi, während sie sich setzte. »Ich bin ja auch noch immer ganz erschüttert. Ich kannte Gertrud mein Leben lang. Sie war immer so präsent, eine graue Eminenz, sowohl für meine Familie als auch natürlich für ihren Sohn. Und jetzt ist sie nicht mehr da? Das ist schwer zu fassen.«

Benthien nickte freundlich, während Fitzen sie ungeniert musterte und Strichfrauen mit Grinsegesichtern auf seinen Block malte. »Erzählen Sie uns etwas über sich«, forderte Benthien sie auf. »Kommen Sie von hier? Von der Insel? »

»Ja, ich bin sogar im Nachbarhaus aufgewachsen. Doch nach meiner Heirat«, erwiderte Gabi, »bin ich mit meinem Mann nach Madeira gezogen, wo wir eine Tauchbasis betrieben. Nele ist dort geboren worden. Irgendwann, wie das so ist, ging es mit unserer Ehe den Bach runter, und ich kam mit Nele zurück. Das war vor gut zwei Jahren. Gertrud hat mir unser altes Haus wieder überlassen, und ich durfte auch an Feriengäste vermieten, davon bekam sie einen bestimmten Prozentsatz ab. Damals waren wir noch Freunde. Da hat sie noch immer eines von ihren berühmten Sauerteigbroten für mich mit gebacken. Auf ihre Backkünste war sie sehr stolz. Aber diese Freundlichkeit war eines Tages ganz plötzlich vorbei, jedenfalls mir gegenüber.«

»Warum?«

»Ich weiß es nicht.«

»Aber Sie müssen doch eine Ahnung haben?«, fragte Fitzen.

»Ich weiß es wirklich nicht. Von einem auf den anderen Tag hatte sie sich verändert.«

Benthien sah sie nachdenklich an. Ihm fiel es schwer, zu glauben, dass Gabi Tammen keine Idee hatte, warum das so war.

»Sie schien eine geschäftstüchtige Frau gewesen zu sein«, warf Lilly ein.

»Das war sie, aber ich war ja einverstanden damit, eine gewisse Abgabe für die Vermietungen zu zahlen.«

»Wieso kam es dann zum Streit?«, wollte Fitzen wissen. »Sie hat Ihnen doch gekündigt?«

»Auch das weiß ich nicht«, bekannte die blonde junge Frau. »Ich habe immer gedacht, sie hätte Nele sehr gern, die beiden haben sich oft unterhalten, und Nele hat hin und wieder kleine Botengänge für sie gemacht. Aber auf einmal, vor einigen Monaten, war es vorbei, und es kam immer wieder zum Streit. Die Gäste waren zu laut, sie machten zu viele Umstände, liefen auf ihr Grundstück, verpesteten die Luft mit ihren Autos oder Zigaretten … einmal hat sie sogar behauptet, jemand hätte ihren Morgenmantel von der Wäscheleine geklaut. Ich bitte Sie! Wer stiehlt denn einen verschlissenen Frotteemantel?«

»Sie glauben also, es waren bloß Vorwände, um Ihnen schließlich zu kündigen?«

»Ich hatte es leider nicht schriftlich, dass ich an Gäste vermieten durfte. Dann behauptete Gertrud, meine Abrechnungen würden nicht stimmen. Zudem hätte sie mir nie erlaubt, an Gäste zu vermieten, sie hätte es nur geduldet, aber damit sei jetzt Schluss. So von heute auf morgen! Und kurz darauf folgte die Kündigung!« Gabi beugte sich vor. »Auf einmal war meine ganze Existenzgrundlage weg! Wo sollen wir denn hin, Nele und ich, und selbst wenn wir hier eine Wohnung finden würden, fehlen mir doch die Mieteinnahmen! Neles Vater zahlt mir gerade mal dreihundert Euro an Unterhalt für uns beide. Davon kann man doch nicht leben!«

Sie war den Tränen nahe, und Lilly fragte sich, ob es Gabi Tammen bewusst war, was für ein gutes Motiv sie ihnen gerade geliefert hatte. Vorausgesetzt, sie durfte die Hoffnung haben, dass Hardy Bense nicht auf der Kündigung bestand.

»Was sagte denn Hartmut Bense dazu?«, fragte in diesem Augenblick Benthien, fast, als hätte er ihre Gedanken erraten.

Die junge Frau zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Da müssen Sie ihn schon selbst fragen.«

»Sie haben kein gutes Verhältnis zu Hardy?«, fragte Fitzen. »War das schon immer so?«

Gabi zögerte. »Nein. Als Kinder mochten wir uns, wir haben immer am Strand miteinander gespielt. Es war der größte und schönste Abenteuerspielplatz der Welt für uns. Später …«, sie zögerte. »Später hat er sich dummerweise in mich verknallt. Ich habe das zuerst nicht so mitbekommen, für mich war er weiterhin ein guter Kumpel und Freund, mit dem man Spaß haben konnte, und dadurch habe ich vielleicht Hoffnungen in ihm geweckt. Dann kam ein Abend … das war alles so lächerlich … er hatte rote Rosen gekauft und wollte sie mir bringen, und dazu fiel ihm nichts Besseres ein, als seinen besten Anzug anzuziehen, in dem er wie verkleidet aussah, vor mir mit seinen Rosen auf die Knie zu fallen und feierlich zu fragen: ›Willst du mit mir gehen?‹ … wie in dem alten Schlager von Dahlia Lavi.« Sie lachte gequält. »Er hatte öfter solche romantischen Anwandlungen, aber diese war mit Abstand die albernste.«

»Und dann?«, fragte Fitzen gespannt.

»Ich musste ganz fürchterlich lachen, ich hatte regelrecht einen Lachkrampf. Er stand auf, warf mir die Rosen ins Gesicht und lief davon. Am nächsten Tag fuhr ich nach Husum, um dort eine Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau zu beginnen. Währenddessen wohnte ich bei Verwandten. Ich sah Hardy erst drei Jahre später wieder, und da ging er mir aus dem Weg.« Als sie die fragenden Blicke der drei Beamten sah, fügte sie hinzu: »Hardy hat Verwandte in Amerika, den Bruder seiner Mutter, der vor Jahrzehnten ausgewandert war. Er zog für drei Jahre zu ihnen nach Oregon und ging auch dort zu Schule und aufs College. Ich vermute, er wollte dadurch nicht nur mir, sondern auch seiner Mutter entkommen. Gerade in dem Alter damals, mit siebzehn, hat er sehr unter ihrer dominanten Art gelitten.«

»Ist seitdem Ihr Verhältnis so belastet?«, fragte Lilly. Wenn Bense zart besaitet gewesen war – zudem noch in der Pubertät –, hatte ihn die Reaktion seiner Angebeteten womöglich sehr verletzt. Aber konnten diese Gefühle bis in die Gegenwart reichen? Inzwischen waren doch viele Jahre vergangen.

»Nein, ich habe versucht, meinen Fehler wiedergutzumachen, habe mich entschuldigt, und da Hardy nach seiner Rückkehr anscheinend noch immer in mich verliebt war, hat er es akzeptiert. Er zog sich erst zurück, als ich meinen Mann kennenlernte und heiratete. Dann verließ ich die Insel und kam erst vor gut zwei Jahren wieder zurück.« Sie zögerte, sprach dann aber nicht weiter.

Benthien nickte ihr aufmunternd zu. »Wie hat Herr Bense auf Sie reagiert?«

»Na ja, er … also er dachte wohl, jetzt, da meine Ehe gescheitert war, hätte er wieder eine Chance. Er machte mir Avancen, lud mich zum Essen oder zu Konzerten ein, aber mir war das alles zu viel. Ich wollte sehr gern ein freundschaftliches Verhältnis zu ihm haben, aber nicht mehr. Er reagierte sehr verärgert und verletzt. Von Freundschaft konnte keine Rede mehr sein. Im Gegenteil, er traktierte mich, wo er nur konnte.« Sie ließ den Kopf hängen. »Mir tat das sehr leid. Hardy ist ein lieber Kerl. Ich habe nie verstanden, warum wir nicht Freunde sein sollten wie früher, er konnte mich doch nicht zwingen, ihn zu lieben!«

»Und was sagte Hardys Mutter dazu?«, fragte Fitzen, der inzwischen dazu übergegangen war, Pferdeköpfe zu malen.

»Gertrud unterstützte ihn in seinen Ausfällen gegen mich. Sie hatte ja ständig Angst, ihn an eine Frau zu verlieren, und hat alles getan, damit es nicht dazu kam.« Gabi lachte unfroh. »Mütter, die ihre Kinder fressen. Gertrud hat nie kapiert, dass ich von Hardy nichts wollte. Sie sah mich wohl als Bedrohung ihres häuslichen Friedens. Im Grunde genommen hat sie ihren Sohn immer nur benutzt und ihm sein Leben geraubt. Jede seiner wenigen Freundinnen hat sie schlechtgemacht. Vielleicht hoffte er, er käme mit mir aus dieser Nummer heraus.«

Lilly dachte, dass sich hier bereits das zweite Motiv für Gabi Tammen ergab. Wie, wenn diese Geschichte gar nicht stimmte, sondern es genau umgekehrt war? Gabi, der es finanziell nicht gut ging, schon gar nicht, wenn sie aus dem Haus rausmusste, wollte Hardy heiraten, um versorgt zu sein, aber Gertrud Bense war im Weg. Und solange Mama im Haus regierte, gab es keine Lösung, keine Heirat. Im Prinzip hätten beide, Hardy und Gabi, sogar gemeinsame Sache machen können. In dem Fall wäre Benses dick aufgetragene Abneigung gegen Gabi vielleicht nur ein Bluff gewesen.

»Sie sagten, Sie waren den ganzen Vormittag außer Haus, um Ferienwohnungen zu putzen«, sagte Lilly. »Dafür brauchen wir die Adressen. Hat Sie jemand beim Putzen gesehen?«

»Frau Hansen, ihr gehören die Wohnungen. Ich habe kurz mit ihr gesprochen, als ich ankam.«

Kein gutes Alibi, dachte Lilly. Die Adresse, die ihnen Gabi Tammen gab, befand sich ganz in der Nähe. Sie hätte ihre Putzarbeit jederzeit unterbrechen und das Haus der Benses schnell erreichen können. Zu dumm, dass sie den genauen Todeszeitpunkt erst morgen, nach der Obduktion, erfahren würden. Im Prinzip hätte sie die alte Frau auch kurz vor ihrer »Entdeckung« umbringen können, vielleicht im Streit über die Mietkündigung.

Lilly dachte gerade über ihre nächste Frage nach, als die Tochter auf die Terrasse kam, ein etwa zehnjähriges Kind mit einem langen Zopf und Sommersprossen auf der Nase. Lilly lächelte ihr zu und sagte: »Ich bin Lilly. Und du bist sicher Nele, habe ich recht? Nele, die gerade mumpsfrei hat?«

Das Mädchen erwiderte ihr Lächeln nicht. Es wirkte bedrückt. »Sind Sie die Polizei?«, fragte sie ernst.

Lilly nickte. Ihre feinen Antennen sagten ihr, dass das Kind irgendetwas zu beunruhigen schien. Als Gabi Tammen aufstand, weil sie zu ihren Gästen gehen wollte, hielt ihre Tochter sie zurück. Lilly fiel auf, dass sie zwei tiefe Kratzer am Handgelenk hatte.

»Ich muss euch was sagen.« Nele kuschelte sich dicht an ihre Mutter.

»Hast du was Schlimmes angestellt, Nele?«, fragte Fitzen mit Grabesstimme. »Müssen wir dich ins Gefängnis stecken?«

Lilly befürchtete, dass er das Kind mit diesem Unsinn erschreckt hatte, doch das Gegenteil war der Fall; Nele wurde sichtlich lockerer und kicherte.

»Nein, aber ich hab was gesehen.« Sie wandte sich an ihre Mutter. »Ich habe Frau Bense schon vor dir entdeckt, Mama, wie sie in der Küche auf dem Boden lag. Und ich hab noch was gesehen: Da war nämlich jemand. Einer mit dunklen Haaren, aber genau konnte ich ihn nicht erkennen, nur durch die Gardine. Der ist dann ganz schnell weggerannt.«

Frühstück mit Thyra

Am Abend, in ihrer gemütlichen Pension in Wyk, hatten sie noch lange in Lillys Zimmer – es war das größte und besaß die bequemste Sitzgarnitur – zusammengesessen und über den Fall diskutiert.

Und am Morgen, nach dem Frühstück, trafen sie sich wieder dort, blickten über die roten Petunien vor den Fenstern auf das dunstige Meer und beobachteten auf dem Sandwall die Touristen, die mit ihren Brötchentüten zum Bäcker gingen.

»Fassen wir mal zusammen, was wir bisher erfahren haben«, sagte Benthien und nippte an seinem Kaffee, den sie sich aufs Zimmer bestellt hatten. »Nele hat Frau Bense ungefähr zwanzig Minuten vor ihrer Mutter entdeckt, das war so gegen zehn nach zwölf. Kurz zuvor hat sie einen Jogger am Strand gesehen, der aus Richtung der Häuser kam, den sie aber nicht beschreiben kann, weil er ein schwarzes Kapuzenshirt trug. Sie weiß nur, dass er schlank war und schnell rennen konnte. Also ist er fit und sportlich. Nach ihm muss gefahndet werden; wenn er nicht der Täter ist, könnte er ein Zeuge sein. Wenig später hat sie dann am Haus einen Mann flüchtig gesehen, der wahrscheinlich dunkle Haare hatte und davonlief. Nele kann uns nicht …«

Er unterbrach sich, weil es energisch an die Türe klopfte. Lilly traute ihren Augen nicht, als Thyra Kortum, die Oberstaatsanwältin, ins Zimmer spaziert kam. Sie war krankgeschrieben, weil sie Probleme mit den Gelenken hatte, so viel wusste Lilly. Aber wie kam sie hierher?

Thyra, im feschen Kostüm, die blonden Haare wie immer perfekt frisiert, wirkte erschreckend tatendurstig. Sie lächelte die drei an. Lilly dämmerte es. »Bist du etwa hier auf Föhr in der Reha?«

Thyra zog ihre Jacke aus und ließ sich aufs Sofa plumpsen. »Ja, trifft sich das nicht gut?« Sie nahm den Tisch in Augenschein. »Habt ihr nur Kaffee? Kein Frühstück?«

Benthien grinste. »Wir haben schon unten gefrühstückt. Und du doch wohl in der Reha!«

»Ja, Knäckebrot mit Quark.« Sie griff nach der kleinen Karte und zum Telefon und bestellte ein Croissant mit Butter und Marmelade aufs Zimmer, dazu einen Kaffee mit einer Extraportion Sahne.

Fitzen räusperte sich. »Hast du uns, bevor du abfuhrst, nicht was von Diät gesagt?«

Thyra musterte ihn empört mit ihren klaren, eisblauen Augen. »Ich habe genau sieben Kilo zu viel. Wer braucht denn deswegen eine Diät? Ich doch nicht! Erzählt mir lieber was von dem Mord an der alten Frau. Was habt ihr bisher rausbekommen?«

Benthien, der Thyra schon seit Ewigkeiten kannte, denn sie war eine Freundin seiner Mutter gewesen, gab ihr einen ausführlichen Bericht, während die Oberstaatsanwältin genüsslich Butter und Marmelade auf jeden Bissen ihres Croissants strich.

»Was ist mit dem Ehepaar Laukat?«, fragte sie schließlich mit vollem Mund. »Die wohnen doch im Haus. Die müssten etwas mitbekommen haben – wenn nicht, sind sie mir bereits verdächtig.«

»Die Laukats haben wir gestern Abend noch in ihrem Hotel ausführlicher befragt«, sagte Fitzen, der wie ein hungriger Wolf auf Thyras Croissantkrümel starrte. »Sie sind kurz nach acht aus dem Haus gegangen, bis dahin war alles still, und sie haben niemanden gesehen. Das Frühstück haben sie in einem Café eingenommen – das stimmt, wir haben es überprüft – und sind dann zu einer Radtour aufgebrochen. Sie waren erst am frühen Nachmittag zurück.«

»Also haben sie im Prinzip kein Alibi«, schloss Thyra messerscharf.