Friesische Wintermorde - Nina Ohlandt - E-Book

Friesische Wintermorde E-Book

Nina Ohlandt

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  • Herausgeber: beTHRILLED
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

In Schlaf in tödlicher Ruh nimmt Lilly Velasco die Einladung einer Freundin an, die Feiertage mit Freunden und Familie auf ihrem Hof im Elisenkoog zu erleben. Doch die Stimmung unter den Anwesenden ist von Anfang an äußerst angespannt. Am nächsten Morgen liegen drei der Gäste tot in der Sauna, und bald stellt sich heraus, dass jeder auf dem Hof etwas zu verbergen hat ...

In Ist so kalt der Winter möchte Hauptkommissar John Benthien die Weihnachtstage mit seinem Vater entspannt im Kapitänshaus auf Sylt verbringen. Aber dann wird bei der neuen Nachbarin eingebrochen, und wenig später erschüttern zwei grauenvolle Morde die Insel ...




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Seitenzahl: 326

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumSchlaf in tödlicher RuhHinweis für die LeserNotrufNebelFieberGeisterstundeIm HexenhausEin MysteriumTod in den DünenÄngsteEin neuer GastSpieleNeuigkeitenErinnerungenFrostAm KliffEin WinterabendLetzte VorbereitungenHeiligabendAlbträumeHäusliche GeschäfteDie Heilige NachtWeihnachtsmorgenIst so kalt der WinterHinweis für die LeserPersonenliste18. Dezember25. Dezember26. DezemberZwei Wochen zuvor24. Dezember, Heiligabend25. Dezember, erster Weihnachtsfeiertag25. Dezember, erster Weihnachtsfeiertag, abends26. Dezember, zweiter Weihnachtsfeiertag27. Dezember28. Dezember29. Dezember31. Dezember

Über dieses Buch

In Schlaf in tödlicher Ruh nimmt Lilly Velasco die Einladung einer Freundin an, die Feiertage mit Freunden und Familie auf ihrem Hof im Elisenkoog zu erleben. Doch die Stimmung unter den Anwesenden ist von Anfang an äußerst angespannt. Am nächsten Morgen liegen drei der Gäste tot in der Sauna, und bald stellt sich heraus, dass jeder auf dem Hof etwas zu verbergen hat …

In Ist so kalt der Winter möchte Hauptkommissar John Benthien die Weihnachtstage mit seinem Vater entspannt im Kapitänshaus auf Sylt verbringen. Aber dann wird bei der neuen Nachbarin eingebrochen, und wenig später erschüttern zwei grauenvolle Morde die Insel …

Über die Autorin

Nina Ohlandt wurde in Wuppertal geboren und machte in Paris eine Ausbildung zur Sprachlehrerin. Später war sie als Übersetzerin, Sprachlehrerin und Marktforscherin tätig, bis sie zu ihrer wahren Berufung zurückfand: dem Krimischreiben im Land zwischen den Meeren, dem Land ihrer Vorfahren. Nina Ohlandt starb 2020. Ihre Krimireihe wird von JAN F. WIELPÜTZ fortgesetzt.

Nina Ohlandt

FriesischeWintermorde

Zwei Fälle für John Benthien in einem Band

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Copyright © der digitalen Originalausgaben 2017by »be« – das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Copyright © dieser Ausgabe 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln

Titelillustration: © Pawel Kazmierczak/shutterstock; mahey/shutterstock; MemoryMan/shutterstock; yevgeniy11/shutterstock

Umschlaggestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-0155-6

luebbe.de

lesejury.de

Nina Ohlandt

Schlaf in tödlicher Ruh

Nordsee-Krimi

Hinweis für die Leser:Die Kurzromane um John Benthien und sein Teamsind zeitlich vor den Romanen angesiedelt!

Notruf

Heide in Holstein, 30. November, 10:14 Uhr.

Die schrille, angstvoll verzerrte Stimme stach Inken ins Ohr wie ein scharfkantiges Messer. »Schnell, kommen Sie, um Gottes willen«, rief die Frau voller Panik – zumindest nahm Inken an, dass es sich um eine Frau handelte –, »er hat sie niedergestochen, ich glaube, sie ist tot … Hier ist so viel Blut … und es kommt immer noch mehr und mehr, und ich kann ihr nicht helfen … dann ist auch noch der Wärter da, und ich …« Die Stimme der Anruferin endete in einem Weinkrampf.

Inken Ingwersen, die seit zwei Stunden Dienst in der Notrufzentrale in Heide tat, vierzig Kilometer südlich von Husum, reagierte ruhig, souverän und unaufgeregt, wie man es ihr beigebracht hatte. Sie erfragte die Adresse des Einsatzortes, den Namen der Anruferin, meldete der Leitstelle zwei Schwerverletzte, veranlasste, dass Polizei und Notarztwagen in die Stettiner Straße fuhren, und sprach weiterhin beruhigend auf die Anruferin ein.

»Er war da«, schluchzte die Frau, »und es gab sofort einen Riesenstreit, ich habe ihn durch die Wand schreien gehört. Ich wohne nebenan und kenne Eva seit Jahren. Wir sind befreundet. Sie wusste nicht, dass ihr Sohn kommen wollte. Auf einmal war er da, klingelte Sturm und trat wie ein Verrückter mit den Füßen gegen die Tür. Eva hat immer Angst vor Luca gehabt, wissen Sie.«

Sie weinte, und Inken erlaubte sich den Gedanken, dass Eva Meinhardt wohl besser sofort die Polizei gerufen hätte, statt ihrem Sohn die Tür zu öffnen. Die Geschichte von Luca Meinhardt, 42, war ihr, wie fast jedem in der Region, bekannt. Er war ein gefährlicher Gewalttäter, der sich jahrelang der Justiz entziehen konnte, nun aber seit acht Jahren wegen verschiedener Delikte in der JVA Itzehoe einsaß, unter anderem wegen Körperverletzung mit Todesfolge und einer Vergewaltigung mit Strangulation. Dass die Frau überlebt hatte, grenzte an ein Wunder. In der Lokalpresse war Meinhardt immer wieder ein Thema gewesen.

Die Tatsache, dass er sich während der Haft zu einem Bilderbuchhäftling gewandelt, sogar eine Lehre zum Bäcker gemacht und abgeschlossen hatte, hatte ihm einige Vergünstigungen eingebracht, zum Beispiel, wie offenbar heute, einen eintägigen Hafturlaub. Den hatte er anscheinend bei seiner Mutter verbringen wollen, dabei war es zu der Bluttat gekommen. Tragisch, fand Inken, aber durchaus vorhersehbar. Warum fielen Psychiater nur immer wieder auf scheinbar friedliche und geläuterte Häftlinge herein und merkten nicht, wie sie manipuliert wurden?

»Wir wollten heute Abend ins Kino gehen, Eva und ich«, schluchzte die Anruferin, »und vorher wollten wir beim Griechen essen. Und jetzt liegt sie da in ihrem Blut …«

Inken beschloss, auch noch einen Psychologen anzufordern.

Itzehoe, 13:14 Uhr.

Drei Stunden später war Eva Meinhardt notoperiert worden, die Ärzte meinten, es sei zweifelhaft, ob sie durchkäme. Die Begleitperson von Luca Meinhardt, ein Aufseher aus der JVA Itzehoe, war mit einem Messerstich in den Hals getötet worden. Trotz der sofort eingeleiteten Fahndung war der Flüchtige wie vom Erdboden verschwunden.

Itzehoe, 2. Dezember, 17:05 Uhr.

Nach einem Fahndungsaufruf im Radio und in den regionalen Fernsehnachrichten ging in der Polizeidirektion Itzehoe die Meldung ein, Luca Meinhardt sei von mehreren Personen in Westerland auf Sylt gesehen worden. Was nicht so unwahrscheinlich war, denn laut Aussage eines Zellengenossen sollte er dort Bekannte haben. Hauptkommissar Cord Andresen von der Kriminalpolizei Itzehoe verständigte die Kollegen in Westerland. Man beschloss, auch in den Abendnachrichten, in der Sylter Rundschau und anderen Presseorganen der Region einen Fahndungsaufruf zu bringen. Darin warnte man die Bevölkerung allerdings dringend, sich dem Mann zu nähern. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass Meinhardt inzwischen bewaffnet sei.

Nebel

Drei Wochen später, 21. Dezember

Die alte Frau hinter dem Dünenausläufer sah, wie der Mann fiel. Erst hatte er noch ein paar unsichere Schritte getan, dann schlug sein Kopf auf dem Stein auf, der so tückisch unter dem Dünengras verborgen lag. Fast schien es ihr, als hörte sie die Knochen splittern, so fein und leicht wie die Schale eines Frühstückseis. Der weiße Bart war verrutscht und hing ihm schief im Gesicht …

Der Weihnachtsmann war tot.

Annelie stopfte sich die behandschuhte Hand in den Mund, um nicht zu schreien. Ihre Augen saugten sich entsetzt an dem jämmerlichen Etwas fest, das etwa zehn Meter von ihr entfernt lag und bis vor kurzem noch ein lebender Mensch gewesen war. Nun lag es traurig wie ein Bündel alter roter Stofffetzen im nassen Sand der Sylter Dünen.

Was sollte sie jetzt tun?

Was konnte sie tun?

Ein Handy hatte sie nicht dabei.

Ein leiser, fast erstickter Jammerlaut erklang neben ihr, als sich ein Mann hinter dem Toten langsam aus dem Nebel schälte. Er beugte sich über den Weihnachtsmann, richtete sich auf und blickte um sich.

Annelie begriff, dass sie selbst es war, die den Jammerlaut hervorgebracht hatte. Ihr Herz setzte für ein paar Schläge aus, bevor es ihr aus der Kehle zu springen drohte. Sie zwang sich, langsam und geduckt rückwärtszugehen. Langsam, damit der Mann nicht durch die Bewegung auf sie aufmerksam wurde. Rückwärts, damit sie ihn im Auge behalten konnte, wenn auch nur als Umriss im Nebel. Fast wäre sie über ein Büschel Heidekraut gestolpert. Auf Knien kroch sie weiter durch die harten Riedgräser, bis der Ausläufer einer hohen Graudüne sie den Blicken des Mannes entzog.

Aber – hatte er sie gesehen? Wie dicht war der Nebel, wie weit konnte man blicken? Sie hatte den grauen Star und sah sowieso nicht mehr gut, schon gar nicht im Nebel, aber bei dem Mann mochte es anders sein. Sie musste weg hier, daher rannte sie, so schnell ihre alten Füße sie trugen, hinein in den Nebel, in die Dünen. Doch die Richtung war falsch. Ihr bescheidenes kleines Haus lag auf der östlichen Seite, nur war ihr da der Mann im Weg – sie konnte einzig und allein nach Westen fliehen, in Richtung Strand, in Richtung Meer.

Sie keuchte und schnappte nach Luft. Das Atmen wurde ihr schwer, und in der Seite begann es zu stechen. Ausgerechnet jetzt fiel ihr der Häftling ein, Meinhardt, den sie immer noch nicht geschnappt hatten. Ob er noch auf Sylt war? Aber wie absurd, zu denken, dass er nun hier in den Dünen herumspazierte und ein altes Frauchen jagte … er, der an jungen Mädchen interessiert war …

Trotzdem weiter, immer weiter! So viele Dünen, Senken, Hügel, Ansammlungen von Strandhafer, Heidekrautbüschel und hin und wieder tiefer Sand, in dem ihre Füße bis zu den Knöcheln versanken … nein, das war zu viel, sie konnte nicht mehr. Sie blieb stehen, der Brustkorb und die Seite taten ihr zu weh. So gerannt war sie seit mindestens zwanzig oder dreißig Jahren nicht mehr, sie war völlig aus der Übung.

Obwohl ein übler Seewind blies und der Nebel ihr mit kalten Fingern in den Kragen kroch, glühte sie, vielleicht hatte sie sogar Fieber. Ihr Herz schlug wie ein Gong, überall spürte sie sein Echo, im Kopf, im Bauch, in den Füßen, aber vor allem in den Ohren.

Sie ließ sich mit zitternden Knien auf einem kleinen Sandhügel nieder, der im Schatten einer hohen Düne lag. Traute sich nicht, sich umzudrehen. Hatte er sie überhaupt gesehen? Oder hatte er nur Augen für den Toten gehabt? Vielleicht war auch er geflohen, vor Angst, vor Entsetzen oder Scham? War bereits weit weg, in Kampen oder Westerland?

Sie drehte sich um. Der Nebel war inzwischen so dicht, dass sie nur ein paar Meter weit sehen konnte. Das war gut so, denn dann würde auch ihr Verfolger sie nicht so leicht entdecken können. Auf der anderen Seite verlief man sich in dem kilometerweiten Gewirr von Dünen sehr leicht, und bei Nebel war es richtig gefährlich, da konnte man stundenlang im Kreis gehen, ohne es zu merken. Damals, als Georg noch bei ihr war, in einer anderen, schöneren Zeit, waren sie oft über die Bohlenwege gewandert. Ach, Georg … mit ihm wäre all das nicht passiert.

Jetzt nur nicht sentimental werden, du Heulsuse, ermahnte sich Annelie, sie musste sehen, dass sie ans Meer kam. Allmählich setzte die Dämmerung ein, und nur vom Strand aus würde sie sich einigermaßen zuverlässig orientieren können.

Als sie sich eine der letzten hohen Stranddünen hinaufgequält hatte und plötzlich ein Nebelloch entstand, entdeckte sie voller Schrecken, dass die ominöse Gestalt, aus Dunst und Nebel geboren, ihr unbemerkt wieder ganz nahe gekommen war. Sie stand auf der Nachbardüne, ein Stück weiter nördlich. Hatte er sie gesehen? Auch er schien bemüht, den Strand zu erreichen.

Vor Entsetzen ließ sich Annelie in eine Dünenmulde fallen. Sie schloss die Augen, denn wer nichts sieht, wird nicht gesehen … Ach, so ein Quatsch! Als Kind hatte sie daran geglaubt, doch nun war sie alt und auf der Flucht vor einem Menschen, der wesentlich jünger und sportlicher war als sie selbst. Zumindest schien es ihr so.

Sie rappelte sich wieder auf, lief geduckt durch die Mulde nach Süden, jetzt nicht mehr in Richtung Meer. Auf dem leeren Strand wäre sie sofort zu sehen gewesen, wie auf einem Präsentierteller.

Sie lief kreuz und quer wie ein Hase durch die Dünen, durch den Nebel, der Gespinste um jede kleine Krüppelkiefer, jede Silberbirke wob. Zweige peitschten ihr ins Gesicht, als sie blindlings durch ein Wäldchen lief, hin und wieder trat sie in ein Kaninchenloch in der Heide und fiel auf die Knie. Dann bildete sie sich jedes Mal ein, den pfeifenden Atem ihres Verfolgers zu hören, seine Hand zu spüren, die sie an der Schulter streifte.

Schluchzend rappelte sie sich auf und lief weiter, immer weiter. Irgendwann, dachte sie voller Panik, würde er sie einholen. Meinhardt, oder wer immer es auch sonst war.

Fieber

3 Tage vorher, 18. Dezember

»Junge, Junge, du siehst aus wie ausgespuckt.«

John Benthien, Erster Hauptkommissar bei der Flensburger Kripo, derzeit bettlägerig mit einem fiebrigen Infekt, nahm seinen Vater nur wie durch einen Schleier wahr.

»Danke«, krächzte er, wobei er versuchte, das Stechen in seinen Bronchien zu ignorieren, »vielen Dank für deine aufmunternden Worte!«

»Da nicht für.« Benthien senior, trotz seiner 77 Jahre munter wie ein Fisch in der Nordsee, die nicht weit entfernt von dem alten Kapitänshaus an die Sylter Ostküste brandete, ließ sich auf den Bettrand fallen und zückte seinen Notizblock. »Da du dir ja unbedingt eine Grippe einfangen musstest – du isst zu wenig Vitamine, Junge! –, werde ich unsere Weihnachtseinkäufe wohl allein erledigen müssen.«

»Glaub mir, ich hab’s nicht mit Absicht getan«, murmelte John kratzbürstig. »Und hör auf, mich ständig zu bevormunden. Ich bin kein kleines Kind mehr!«

Er fühlte das Fieber schon wieder steigen. Die Energie seines Vaters ließ ihn sich noch kränker vorkommen, als er ohnehin schon war. Benthien angelte unter dem Kopfkissen nach einem Taschentuch, fand aber nur fünf feuchte Papierkugeln, die er angeekelt auf den Boden fegte. Seine Bemühungen, sich ein neues Päckchen Papiertaschentücher vom Nachttisch zu angeln, waren nicht von Erfolg gekrönt. Das Päckchen fiel herunter.

»Könntest du vielleicht mal …?«

Ben sprang behände auf, reichte seinem Sohn die Taschentücher und ließ sich erneut auf die Bettkante plumpsen. Auf nervtötende Weise klickte er mit dem Kugelschreiber. »Dann lass uns mal überlegen, was wir an Weihnachten essen wollen. Also. Wir sind zu dritt – oder kommt Tommy Fitzen auch? – na egal, ich werde ein bisschen auf Vorrat einkaufen …«

»Wieso sind wir zu dritt?«, krächzte John und kratzte sich wild mit allen zehn Fingern in seinem dichten braunen Haarschopf, weil es ihn überall kribbelte, juckte und brannte. Das Fieber natürlich. Er fühlte sich durch und durch heiß an.

Sein Vater guckte unschuldig drein. »Habe ich dir nicht gesagt, dass Thyra uns an Weihnachten besucht? Sie kommt an Heiligabend oder am ersten Weihnachtsfeiertag. Sie ist ja auch allein, genau wie wir.«

»Was? Thyra? Warum weiß ich davon nichts? Vater! Hast du schon wieder irgendein Techtelmechtel im Sinn? Seit wann trefft ihr euch denn?« John, angetrieben von einem heftigen Adrenalinschub, der ihm kurzfristig ungeahnte Kräfte verlieh, hatte sich abrupt aufgerichtet. Der Effekt war, dass sich sein trockener Husten in Gang setzte, der alle weiteren Vorhaltungen erstickte. In der Brust und im Hals brannte es wie Feuer. Ben nutzte derweil die Gunst des Augenblicks. »Du weißt genau, dass ich Thyra gut kenne, sie war ja eine Freundin deiner Mutter. Und auch wenn sie Oberstaatsanwältin und in gewissem Sinn deine Vorgesetzte ist, seid ihr ja irgendwie befreundet, jedenfalls lädt sie dich regelmäßig jedes Jahr zu ihrer Weihnachtsparty ein. Was also hast du gegen Thyra?«

»Gar nichts«, sagte John und kratzte sich erneut am Kopf, auf den Armen, im Nacken. »Ich bin nur überrascht, dass du dich jetzt auch noch für Thyra interessierst. Hast du nicht schon genug Freundinnen?«

Ben beobachtete John etwas genauer. »Sag mal, hast du Läuse? Weil du dich überall kratzt.«

»Ich habe Fieber, falls du es noch nicht bemerkt haben solltest!«

Ben legte die Hand auf die Stirn seines Sohnes, doch John wischte sie augenblicklich weg.

»Du bist ganz rot im Gesicht, Junge. Soll ich dir ein paar Wadenwickel machen?«

»Untersteh dich!«

»Als Kind haben wir dir immer …«

»Ich bin kein Kind mehr! Ich nehme lieber Tabletten gegen das Fieber. Und nenn mich nicht immer Junge!« Mühsam angelte John nach seinen Aspirin-Tabletten auf dem Nachttisch, legte sich eine auf die Zunge und trank einen Schluck Wasser. Er hatte das Gefühl, als wäre sein Hals innen in der Kehle zu einem kleinen entzündeten Hügel angeschwollen, an dessen Fuß die Tablette strandete wie ein Schiff auf der Sandbank. Er trank das Glas aus und konnte sie endlich herunterspülen, was ihn wiederum zum Husten reizte.

Gleichzeitig wurde ihm klar – er war zwar krank, aber deswegen nicht blöd –, dass sein Vater ihn erfolgreich vom Thema Thyra abgelenkt hatte. Doch er fühlte sich zu heiß und zu elend, um noch einmal darauf zurückzukommen.

»Äpfel«, zählte sein Vater auf, der sich einen herumliegenden Bildband als Unterlage für seinen Schreibblock geschnappt und ihn auf seine Knie gelegt hatte. »Mandarinen, Weintrauben, Rotkohl, Lachs, Knusperschmalz, Oliven, Beifuß, Gebäck – oder soll ich selber backen, John? Könnte ich ja mal versuchen … aber weiter: Preiselbeeren, Lebkuchen, Oblaten, Christbaum sowie einen Christbaumständer …«

»Vater! Wir haben mindestens drei davon im Keller!«

»Das weiß ich, und die geraten mir auch das ganze Jahr über, wenn ich im Keller etwas suche, ständig zwischen die Füße, nur an Weihnachten, da verkriechen sie sich. Das ist jedes Jahr dasselbe. Und ehe ich das ganze Haus auf den Kopf stelle …«

»In fünf Jahren werden wir neun Stück haben«, murmelte John leise vor sich hin. Er freute sich, dass er trotz des Fiebers doch noch so weit rechnen konnte.

»… Knoblauch, einen Topf Basilikum, was brauchen wir noch? Gänsekeulen, saure und süße Sahne, Hefe …«

»Du willst doch die Keulen nicht etwa selbst machen? Wir könnten eine fertige Gans bestellen … oh Gott, ich kann nicht an Essen denken, davon wird mir augenblicklich schlecht!«

»Graupen«, zählte Ben weiter auf, ohne Rücksicht auf die Befindlichkeiten seines Sohnes zu nehmen. »Ich könnte dir ein schönes Graupensüppchen kochen!«

»Ben! Willst du mich umbringen? Du weißt genau, dass ich Graupen hasse! Schon beim Gedanken daran kommt’s mir hoch.«

»Irgendwie bist du heute auf Krawall gebürstet«, stellte Ben fest.

John legte sich bequemer hin, schloss die Augen und blendete die Stimme seines Vaters aus. Bunte Kreise und ein Rauschen in den Ohren wiegten ihn in einen fiebrigen Dämmerschlaf.

Als er erwachte, war der Nachmittag ein Stück weiter fortgeschritten. Im Haus war alles still. Sein Vater war offensichtlich noch beim Einkaufen. Eine milde, kalte Wintersonne lugte ab und zu zwischen den Wolken hervor, umwoben von grauen Schleiern, die Nebel versprachen.

Die Hitze und das Fieber waren verschwunden, dafür war das Bett sehr ungemütlich geworden, heiß und klebrig vom Schwitzen. John stellte sich kurz unter die Dusche, hüllte sich in einen frischen Pyjama und einen dicken Bademantel und bezog das Kopfkissen neu. Das Laken zu wechseln war ihm zu mühsam, ihm schwindelte schon wieder von der Anstrengung des Duschens. Sein Vater hatte ihm eine Kanne Pfefferminztee hingestellt, den er jetzt gierig trank.

Nachdem John sich wieder eine Weile ins Bett gelegt hatte, beschloss er, nach unten ins Wohnzimmer umzuziehen. Dort fühlte er sich weniger ausgeschlossen, irgendwie näher am Leben. Anscheinend ging es ihm doch schon ein wenig besser. Er zog zwei T-Shirts und eine Jogginghose über den Pyjama, nahm sein Kissen und eine Decke und machte es sich auf dem Sofa mit dem karamellfarbenen Leder bequem, das im Lauf von Jahrzehnten butterweich geworden war. Nur das Feuer im Kamin, das sein Vater vorausschauend entzündet hatte, erhellte den Raum in der anbrechenden Winterdämmerung.

Auf der kleinen Dünenterrasse bogen sich die Hecken der Kamtschatka-Rosen im Wind, und hinter den Dünen rauschte eintönig das graue Dezembermeer. Es rauschte John erneut in den Schlaf.

»… irgendjemand muss etwas tun!«, rief eine körperlose Stimme so dicht neben Benthien, dass er erschrocken erwachte.

Er wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte. Die Holzscheite im Kamin glühten noch, und draußen herrschte diffuses Zwielicht.

Vor ihm im Zimmer stand eine fremde Frau.

John, erhitzt und verschlafen, fuhr hoch; hastig überlegte er, wo und wer er war und welche Tageszeit gerade herrschte: graute schon wieder ein neuer Morgen? Oder ging der alte Tag zu Ende? Und wieso lag er auf dem Sofa?

Er blinzelte, aber die Frau war immer noch da. »Irgendjemand muss etwas tun!«, wiederholte sie, nachdem sie ihn eine Weile angestarrt hatte.

Benthien dämmerte es langsam, dass mit »irgendjemand« er gemeint war. Inzwischen kam sie ihm auch vage bekannt vor. Zumindest kannte er sie vom Sehen, wenn er auch noch nicht mit ihr gesprochen hatte. Die grauweiß melierten Haare standen ziemlich zerzaust von ihrem Kopf ab, als hätte sie verzweifelt darin gewühlt. Ihr Gesicht glühte rosig im Schein des Feuers. Was ihn seltsam berührte, waren ihre Augen: Sie wirkten wie die einer Blinden, mit einer ganz hellen, fast weißen Iris. Ansonsten war sie ziemlich alt, sicherlich an die siebzig oder darüber, aber, wie es schien, noch gut beieinander und vernünftig bekleidet mit einer karierten Flanellhose, einem Fleecepulli und einer dicken Wolljacke, in der sie fast ertrank.

Er wunderte sich, dass sie bei der Kälte keinen Mantel trug. Und wie war sie überhaupt ins Haus gekommen? Und wo war sein Vater?

Benthien fuhr sich übers Gesicht und durch die Haare, sodass sie in alle Richtungen abstanden. »Entschuldigung, aber … kenne ich Sie?«

Geisterstunde

»Der Weihnachtsmann liegt in der Badewanne, und die Turbanfrau ist weg!« Die alte Frau stach mit dem Zeigefinger nach ihm, wie um ihre Worte zu unterstreichen, und sah ihn mit ihren seltsam hellen Augen eindringlich an. »Verstehen Sie das? Irgendjemand will mich in den Wahnsinn treiben!«

Benthien versuchte, sich zu sammeln. Hatte sie das eben wirklich gesagt? Und wer war der ominöse »irgendjemand«, von dem sie dauernd sprach? Sie hatte sich inzwischen auf den niedrigen Wohnzimmertisch gesetzt, ihm gegenüber, viel zu nah, fast berührte sie ihn. Sie hörte nicht auf, ihn anzustarren.

»Welche Turbanfrau?«, stotterte er.

Die Frau seufzte. »Ich bin Annelie Jansen, Ihre neue Nachbarin. Ihren Vater habe ich schon kennengelernt. Er erzählte mir, dass Sie bei der Polizei sind.«

Das glaubte John sofort. Sein Vater erzählte immer allen, dass er bei der Polizei war. Darauf war er stolz. Und natürlich hatte Ben die neue Nachbarin bereits kennengelernt, wer, wenn nicht er! Einer, der bei Wattwanderungen mitlief, um – allerdings harmlose – Frauenbekanntschaften zu machen, hatte keine Berührungsängste.

»Eine sympathische Frau«, hatte Ben ihm erzählt. »Wohnt seit ein paar Wochen im Häuschen schräg gegenüber. Ihr Mann ist tot. Sie ist von irgendwo aus Süddeutschland ans Meer gezogen, weil sie als Kind ihre Ferien hier verbracht hat. Pure Nostalgie, sage ich dir. Wenn das mal gutgeht und sie nicht zu viel erwartet. Wahrscheinlich ist sie ziemlich einsam. Wir könnten sie einmal zum Kaffee einladen, was meinst du?«

Doch dazu war es, soweit John wusste, bisher nicht gekommen. Er hatte in den letzten Wochen vor Weihnachten selten die Zeit gefunden, in sein Haus auf Sylt zu fahren, in dem schon einige Generationen der Familie Benthien aufgewachsen waren. Unter der Woche teilte er sich neuerdings mit seinem Vater eine Wohnung in Flensburg, seitdem seine Lebensgefährtin Karin nach sechs Jahren behauptet hatte, sie brauche eine Auszeit, und er ihr die Wohnung überlassen hatte. Über Weihnachten besuchte sie für einige Wochen ihre Schwester in Amerika. John, der fühlte, wie er sich innerlich längst von ihr getrennt hatte, war es egal gewesen. Über die Feiertage hatte er keinen Dienst, da wollte er in aller Ruhe die Zeit genießen, ein paar Bücher lesen, sich den Nordseewind um die Ohren wehen lassen, gut essen und trinken und lange schlafen. Die Grippe hatte er nicht eingeplant. Und eine unbekannte Nachbarin, die einfach bei ihm hereinschneite und von verschwundenen Weihnachtsmännern und Turbanfrauen faselte, auch nicht.

»Jansen, Annelie!«, wiederholte die Frau in einer Lautstärke, als wäre er taub oder begriffsstutzig. »Können Sie nicht vielleicht mit mir rübergehen und sich das mal ansehen? Es ist beängstigend, richtig unheimlich! Allein trau ich mich nicht mehr ins Haus. Sie sind doch die Polizei, oder?«

Benthien versuchte, sich zu sammeln und zu sortieren. Erst einmal Ordnung und Struktur in die Geschichte zu bringen. Und das bedeutete, ganz von vorne anzufangen.

»Entschuldigung, aber wie sind Sie eigentlich hier reingekommen?«

»Spielt das eine Rolle? Die Seitentür war nicht abgeschlossen.« Sie warf ihm einen Blick zu. »Ihr Herr Vater ist zu vertrauensselig. Er sollte die Türen abschließen, wenn er aus dem Haus geht! Erst recht, wenn ein entflohener Straftäter hier herumstrolcht.«

Das fand Benthien allerdings auch. Aber das war kein Thema, das er jetzt mit Frau Jansen diskutieren wollte. »Wer ist die Turbanfrau? Und wieso ist sie weg? Und warum schwimmt der Weihnachtsmann in der Badewanne?«

Frau Jansen seufzte. »Können Sie sich nicht was überziehen und mitkommen? Irgendjemand war bei mir im Haus …«

»Der Weihnachtsmann?«

»Sie nehmen mich nicht ernst.« Eindringlich blickten ihre hellen Augen ihn an. Augen hell wie Bergkristalle … die Zeile eines alten Schlagers ging ihm durch den Sinn. »Aber ich habe Angst, verstehen Sie das nicht?«, wiederholte sie leise.

So langsam wurde John richtig wach. Er sah, dass die Frau wirklich verängstigt war. Ihre seltsamen Augen, starr wie Puppenaugen, ließen ihn nicht los. Panik, Entsetzen, eine Art Grauen konnte er darin lesen. Zweifellos glaubte diese Frau Jansen, was sie ihm erzählte, und wenn er feststellen wollte, was an ihrer Geschichte dran war, musste er wohl oder übel mit ihr rübergehen, Grippe hin oder her.

»Na gut. Ich zieh mir Schuhe an und hol meine Jacke, dann komme ich mit Ihnen.« Sie erstrahlte und seufzte vor Erleichterung.

»Das ist so lieb von Ihnen!«

Im Hexenhaus

Sie nahmen den Weg über die Terrasse der Benthiens, die der Seeseite zugewandt war. Von hier aus war das kleine Nachbarhaus bereits zu sehen. Ein Trampelpfad durch die Dünen, den John als Kind oft gegangen war, führte zur Hintertür von Frau Jansens Haus. Hier oben im Listland, im Ostteil der Insel, war fast jede Düne von einem Friesenhaus gekrönt; wie ein wogendes graues Meer, mit den Reetdächern als Wellenkämme, brandeten sie gegen jenes andere, weit gefährlichere Meer, das zwischen Sylt und der dänischen Küste lag, an. An diesem stillen Nachmittag schickte es jedoch nur kleine, harmlose Wellen an den Strand.

Frau Jansens Haus auf der Nachbardüne war alt und winzig und hatte Benthien als Kind mit seinem tiefgezogenen Reetdach an ein Hexenhäuschen erinnert. Als kleiner Junge war er ein paarmal im Haus gewesen, als noch andere Leute dort gewohnt und er mit den Nachbarskindern gespielt hatte.

Damals erklangen immer Lärm und Lachen aus dem Haus, doch als sie es nun betraten, war es totenstill – bis auf eine alte Standuhr, die in der engen Diele tickte.

Die beiden Räume im Erdgeschoss waren liebevoll und gemütlich nach der Art älterer Damen eingerichtet; mit dicken Perserteppichen auf den Böden, bezogenen Lampenschirmen, Ölbildern an den Wänden und einem bisschen Kram und Nippes auf den blankpolierten Möbeln. Auf dem Tisch stand ein Adventskranz, und nach Wald duftende, frische Tannenzweige waren im Zimmer auf Vasen verteilt und mit goldenem und rotem Weihnachtsschmuck liebevoll dekoriert worden. Am Fenster hing ein großer gelber Weihnachtsstern, und auf einem Weihnachtsteller warteten selbst gemachte Zimtsterne, Vanillekipferl, Walnusskugeln und Spekulatius auf eine Schar fröhlicher Naschkatzen.

Ein paar Bücher, in denen sie wohl gerade las, lagen auf kleinen Tischchen herum. In der blitzblanken Küche stand ein prächtiger, noch nicht ganz erkalteter Schokoladenkuchen auf einem Kuchenteller mit weiß-blauem Friesenmuster. Es duftete nach warmer Milch, Backpulver, Vanille und Zimt.

Neben der Küche lag das Badezimmer. Die Badewanne war bis kurz vorm Rand mit Wasser und Schaum gefüllt, und unter dem Schaum schimmerte etwas Rotes. Benthien langte hinein und holte den ertrunkenen Weihnachtsmann herauf, eine ziemlich schlappe Figur, ungefähr 60 Zentimeter groß, mit Mütze, Bart, rotem Rock und einem Geschenkesack auf dem Rücken. Solche Weihnachtsmänner sah man in der Weihnachtszeit oft an Balkonen oder Hausfassaden hochklettern. In eine Badewanne gehörte er mit Sicherheit nicht.

»Ich hänge ihn jedes Jahr an Weihnachten zur Dekoration an mein Bücherregal«, sagte Frau Jansen bekümmert. Sie lächelte ihn schüchtern an. »Dann merke ich wenigstens, dass Weihnachten ist.«

Benthien versuchte, das rote Gewand ein bisschen auszudrücken, dabei fiel sein Blick auf den Spiegel. Die alte Frau, die seinem Blick gefolgt war, keuchte entsetzt. Auf dem Spiegel stand in großen roten Buchstaben: Stille Nacht, tödliche Nacht, liebe Annelie. Daneben ein Kreuz, wie man es in Todesanzeigen oft abgedruckt sieht.

Benthiens erster Gedanke war, ob hier nicht jemand »Versteckte Kamera« mit ihm spielte. Tommy Fitzen vielleicht? Zu dessen abstrusem Sinn für Humor würde eine solche Inszenierung durchaus passen. Sein zweiter Gedanke war, dass so was höchstens in Büchern vorkam oder in einem Fernsehkrimi, aber nicht im wirklichen Leben.

»Wer tut so etwas?«, fragte die alte Frau mit zitternden Lippen, und Benthien begriff, dass sie die Sache nicht als einen üblen Scherz aufnahm und sich tatsächlich fürchtete. Sie war bleich vor Angst.

»Darf ich mich in Ihrem Haus ein bisschen umsehen?«

»Ja, bitte, tun Sie das«, flüsterte Annelie. »Aber ich komme mit. Ich will hier unten nicht allein bleiben.«

Sie stiegen die Treppen hinauf ins obere Stockwerk, in dem es zwei kleine Schlafzimmer und eine Toilette gab. Auch hier war alles liebevoll weihnachtlich geschmückt, und ein Duft nach Harz und Tannennadeln zog durch die Räume. Ansonsten schien nichts ungewöhnlich zu sein, was die alte Dame auch bestätigte. Dennoch schaute sie ängstlich um sich und hielt sich dicht hinter Benthien, der sie um eineinhalb Köpfe überragte und hinter dessen sportlichem Rücken sie sich offenbar sicher fühlte.

»Haben Sie eigentlich eine Waffe dabei?«

Benthien drehte sich um und lächelte. »Nein. Die ist in Flensburg, sicher verwahrt im Büro. Aber eine Waffe brauchen wir nicht, Frau Jansen. Machen Sie sich keine Sorgen.«

Was rede ich hier für einen Blödsinn, dachte er gleich darauf ärgerlich. Jemand war schließlich im Haus gewesen und hatte nicht nur den Weihnachtsmann ertränkt, sondern auch eine Art Drohung an den Spiegel geschmiert. Wahrscheinlich nur ein Dummejungenstreich, aber die Sorgen der alten Frau sollte er wohl doch etwas ernster nehmen.

»Könnten Sie nicht einfach Annelie zu mir sagen?«, fragte sie mit ihrem schüchternen Lächeln. »Wir sind doch Nachbarn, und …«

»Aber gern. Ich heiße John. Wird zwar geschrieben wie der amerikanische Westernheld, aber Joon gesprochen.«

»Ich weiß.« Sie schüttelten einander feierlich die Hand und lächelten sich an.

Benthien griff nach einem Foto, das gerahmt auf dem Nachttisch neben ihrem Bett stand. »Ihre Tochter?« Er betrachtete das etwas unschöne Gesicht mit dem fliehenden Kinn, den schmalen Lippen und der großen Nase und dachte, dass es wenig Ähnlichkeit mit der zierlichen Frau Jansen hatte, der man auch jetzt noch ansah, wie hübsch sie früher einmal gewesen war.

Über Annelies Gesicht fiel ein Schatten. »Das ist Lydia, meine Nichte und Patenkind. Meine Schwester ist vor einigen Jahren gestorben. Außer Lydia habe ich keine Angehörigen mehr. Wollen wir nicht in die Küche gehen und den Kuchen anschneiden? Und ein paar Weihnachtsplätzchen essen? Ich habe, aus alter Gewohnheit, viel zu viel gebacken.«

John war klar, dass die alte Frau nicht gern allein im Haus bleiben wollte und Gesellschaft suchte. Wenn er an den leckeren Schokoladenkuchen und die Vanillekipferl dachte … offenbar schien es seinem Infekt schon wieder besser zu gehen, denn er verspürte Hunger.

Als sie nach unten kamen, stand Ben vor dem Küchenfenster, die Hände seitlich an den Kopf gelegt, um besser sehen zu können, und guckte angestrengt in die Küche. Sein Gesicht hellte sich auf, als er seinen Sohn bemerkte.

Frau Jansen schloss die Küchentür auf, die auf eine schmale Dünenplattform führte, auf der sauber verstaut die Müllbehälter standen.

»Ich habe mich schon gefragt, wo mein grippekranker Sohn eigentlich abgeblieben ist«, sagte Ben und trat ein.

Wie auf Kommando fing John an zu niesen und konnte gar nicht mehr aufhören. Frau Jansen – Annelie – streckte ihm ein Päckchen Papiertaschentücher entgegen, die sie aus einer Küchenschublade genommen hatte.

»Du gehörst ins Bett!«, sagte Ben, und John nahm auf einmal wieder seine Bronchien wahr, die sich anfühlten, als stünden sie in Flammen. Und jedes Schlucken war wie eine Messerklinge, die ihm jemand durch die Kehle zog. Das Adrenalin, das durch seine Adern gerauscht war, solange er sich bei der Nachbarin aufgehalten hatte, war verpufft. Gerade, als er verkünden wollte, dass er sich wieder ins Bett legen würde, nachdem er die Westerländer Kollegen wegen des Einbruchs benachrichtigt hätte, fiel ihm die Turbanfrau ein.

»Annelie, Sie sagten vorhin, die Turbanfrau ist weg? Was hat es damit auf sich? Wer ist die Turbanfrau?«

»Sie stand hier, im Flur.« Frau Jansen zeigte durch die offene Küchentür auf einen stabilen Hocker, der neben dem Treppenaufgang stand und wohl als Podest gedient hatte. »Sie war aus Ton, siebzig Zentimeter hoch. Mein Patenkind hat Modell dafür gestanden und mir die Skulptur geschenkt. Damals lebte mein Mann noch. Eine Freundin von ihr, die solche Tonfiguren macht, hatte sie dazu überredet, Modell zu stehen.«

»Seit wann ist sie weg? Ist denn bei Ihnen eingebrochen worden?«, wunderte sich Ben. Und, an seinen Sohn gewandt: »Bist du deshalb hier?«

Daraufhin erzählte ihm Frau Jansen die ganze Geschichte, einschließlich des ertränkten Weihnachtsmannes und der Schrift auf dem Spiegel. Ben war entsetzt. Vor allem darüber, dass so etwas in dieser ruhigen Gegend, auf dieser normalerweise so friedlichen Insel, passieren konnte. Hier gab es vor allem Ferienhäuser, die bald, an den Feiertagen, wieder voller Leben sein würden. In der Zwischensaison waren sie nur spärlich belegt. Kriminalität kannte man hier kaum, erst recht keine Schwerverbrechen.

»Ich geh rüber und leg mich wieder hin«, sagte John erschöpft, der fühlte, wie sein Fieber wieder anstieg.

»Darf ich Ihnen ein paar Kuchenstücke und Plätzchen mitgeben? Und vielleicht einen Kaffee kochen?«, fragte Frau Jansen sehnsüchtig. »Sie haben mir so sehr geholfen, John. Jetzt fühle ich mich schon wesentlich besser.«

»Kommen Sie doch mit zu uns rüber, Annelie«, sagte Ben herzlich. »Ich bin für den Kaffee zuständig, und Sie bringen den Kuchen mit. Einverstanden?«

»Ich geh dann schon mal«, sagte John, als ihn ein Schrei zurückhielt.

»Da liegt sie ja, die Turbanfrau!«, sagte Annelie mit weißen Lippen und deutete aus dem zweiten Küchenfenster, das zur Seeseite hin lag. Von hier aus hatte man einen Blick auf die kleine gepflasterte Terrasse, die eingemummelt war von einer wild wuchernden Hecke von Kamtschatka-Rosen. Im Sommer war dies ein sonniges und windgeschütztes Plätzchen inmitten pinkfarbener Blüten, jetzt lagen weiße Scherben auf der Terrasse und ein abgetrennter Kopf, der einmal auf den Schultern der Turbanfrau gesessen hatte. Benthien meinte sogar, in dem leicht grimmigen Gesicht eine Ähnlichkeit mit Annelies Nichte wiederzuerkennen.

»Jemand muss die Turbanfrau nach draußen getragen und ihr den Kopf abgeschlagen haben«, sagte Ben mit leisem Erstaunen. »Jetzt ist sie nur noch ein Trümmerfeld.«

Ein Mysterium

»Fangen Sie einfach ganz von vorne an, Frau Jansen«, sagte Hinnerk Petering, der junge sommersprossige Polizeioberkommissar von der Polizeidienststelle Westerland, den John Benthien herbeitelefoniert hatte. Annelie war er auf Anhieb sympathisch gewesen. Er hatte ein verschmitztes Lächeln und ließ ihr Zeit, sich zu sammeln. »Wann haben Sie den Einbruch bemerkt?«

Annelie drückte sich tiefer in den bequemen Sessel im Wohnzimmer der Benthiens, das jetzt nur noch vom Feuer und ein paar Kerzen erhellt wurde.

»Als ich heute Nachmittag von meinem Spaziergang zurückkam. Ich bin in Morsum gewesen, am Kliff.«

»Und als Sie das Haus verlassen haben, da war noch alles in Ordnung?«

»Natürlich.«

»Aber wir haben keine Einbruchspuren gefunden.«

Annelie runzelte die Stirn. »Das verstehe ich nicht. Vielleicht hatte der Einbrecher einen Dietrich dabei? Oder er hat beruflich mit Schlössern zu tun?« Aufgeregt beugte sie sich nach vorn. »Möglicherweise hat er Fingerabdrücke hinterlassen …«

Hinnerk Petering lächelte sie beruhigend an. »Das überprüfen wir gerade. Sind Sie sicher, dass nicht mehr weggekommen ist als die Skulptur?«

»Mein Schmuck ist noch da, aber er ist auch nicht besonders wertvoll. Und Geld war keins im Haus.« Sie sah ihn ängstlich an. »Was halten Sie von der Schrift auf dem Spiegel? Und wieso lässt der Einbrecher Wasser in die Badewanne ein und ertränkt darin den Weihnachtsmann? Glauben Sie, das ist … ist so eine Art Botschaft für mich, eine Warnung oder so was?«

»Haben Sie denn Feinde?«

Annelie starrte ihn an. »Sehe ich aus wie jemand, der Feinde hat? Ich kenne hier kaum einen Menschen. Mein Mann hat das Häuschen von einer Tante geerbt. Wir waren ein-, zweimal hier, dann wurde er krank. Nach seinem Tod habe ich beschlossen, in Heidelberg alles aufzugeben und hierher zu ziehen. Seit einem Monat bin ich jetzt auf Sylt. Ich habe das Meer schon als Kind geliebt.« Ihre Stimme geriet ins Stocken. »Aber anscheinend gibt es jemanden, der mich hier nicht haben will.«

»Das ist doch Unsinn!«, protestierte Ben, und dafür war ihm Annelie sehr dankbar.

Es klopfte an der Terrassentür. Hinnerk ließ seine beiden Kollegen herein, die in Annelies Häuschen nach Spuren gesucht hatten. »Nichts«, sagte der dünne Blonde. »Wir haben nur Fingerabdrücke von Frau Jansen gefunden, keine Einbruchspuren, keine Fußabdrücke. Das ist alles sehr seltsam.«

»Sieht aus, als wäre er durch den Schornstein gekommen«, scherzte der andere, der einen kugelrunden Bauch hatte, passend zu seinem Gesicht. »Vielleicht ein Weihnachtsengel, der im Weihnachtsmann einen Konkurrenten sah und ihn deshalb ersäuft hat.«

»Rede doch nicht so blöd daher, Eike!«, fuhr ihn Benthien an, der sich wieder aufs Sofa gelegt hatte und leise vor sich hin hustete.

Ich hätte ihn nicht mit der Sache behelligen sollen, dachte Annelie, nicht mit seiner starken Erkältung.

Wenig später waren alle drei Beamten gegangen. Sie wollten, erklärte Hinnerk, sich in der Nachbarschaft umhören, ob jemandem etwas aufgefallen war. »Du hast ja nichts gehört, John, oder?«

»Ich habe geschlafen«, erwiderte Benthien. »Ich bin erst wach geworden, als Frau Jansen mit mir sprach.«

Er begleitete Petering zur Tür. »Weißt du, dass Meinhardt zwischen zwei Knastaufenthalten bei einem Schlüsseldienst gearbeitet hat?«, fragte er leise.

»Weiß ich nicht, werden wir aber überprüfen«, gab Hinnerk ebenso leise zurück. »Ist aber nicht sicher, ob der überhaupt noch auf der Insel ist – wenn er es denn je war. Tatsächlich gesehen hat ihn hier niemand. Bis demnächst, und gute Besserung! Ich lass von mir hören.«

Annelie beobachtete John ängstlich, als er wieder ins Zimmer kam. Was hatte er draußen mit dem Polizisten geflüstert, was sie offenbar nicht hören durfte? War es etwas Ernstes gewesen? Doch John sagte nichts; er legte sich sofort wieder aufs Sofa, offenbar fühlte er sich ziemlich erschöpft nach all der Aufregung. Eine angenehme Stille senkte sich über den Raum. Benthien senior war in die Küche gegangen, um frischen Kaffee zu brühen. Vorher hatte er noch drei weitere Kerzen auf einem Sideboard angezündet. Obwohl es im Zimmer warm war, zog Annelie die Wolljacke enger um ihre zierliche Figur und kuschelte sich tiefer in den gemütlichen Sessel mit den dicken Armlehnen. Das Feuer prasselte fröhlich vor sich hin, und draußen, über den Dünen, funkelten die ersten Sterne am Himmel. Im Zimmer duftete es nach Bienenwachskerzen, nach Kaffee und frischem Tannengrün. Die Kerzen bildeten stimmungsvolle Inseln des Lichts, ansonsten krochen aus allen Ecken Schatten. Aber Annelie fürchtete sich nicht in dem stillen, gemütlich-warmen Haus. Sie hatte sich schon lange nicht mehr so wohl gefühlt wie hier, und sie hatte, so fand sie, schon lange nicht mehr so nette Nachbarn gehabt wie die Benthiens. Schon als sie Ben mit seiner wilden weißen Mark-Twain-Mähne das erste Mal gesehen hatte, war sofort ein Gefühl der Verbundenheit bei ihr aufgekommen, als würde sie ihn schon lange kennen. Sein Sohn ähnelte ihm in der Statur. Beide waren groß, schlank und wirkten freundlich und offen. Und nun war sie ihnen unendlich dankbar, dass sie sich um sie kümmerten und sie nicht allein ihrem Schicksal überließen.

»Annelie, haben Sie jemanden, bei dem Sie heute übernachten können? Oder jemand, der zu Ihnen kommen kann? Ich würde Sie ungern allein drüben im Haus wissen.«

»Hier auf Sylt kenne ich niemanden. Ich bin ja noch ganz neu hier. Und in meinem Alter sterben einem die Leute weg wie die Fliegen, wissen Sie.«

Ben kam mit einer Kanne frischen Kaffees wieder ins Zimmer, wunderte sich, dass es so dunkel war, und wollte Licht machen, doch sein Sohn protestierte. »Meine Augen brennen, als hätte jemand Salz reingestreut. Du wirst doch sicher deinen Mund auch noch im Halbdunkeln finden?«

»Ich finde Kerzenlicht sehr romantisch, besonders jetzt in der Weihnachtszeit«, sprang ihm Annelie bei. »Möchte noch jemand Kuchen? Oder Plätzchen?«

John hatte zwar den Eindruck, dass die Krümel seinen Hals verstopften, aber der Kuchen mit der dicken Schokoladenglasur schmeckte so gut, dass er noch ein Stück nahm und es mit viel Milchkaffee herunterspülte. Sein Vater befriedigte indessen seine Neugier, indem er Annelie nach ihrem Leben ausfragte.