Fritz Wölcken: Der literarische Mord. - Fritz Wölcken - E-Book

Fritz Wölcken: Der literarische Mord. E-Book

Fritz Wölcken

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Beschreibung

Mit einem Vorwort von Thomas Wörtche. Wölckens Buch ist substantiell, weil es Kriminalliteratur ganz selbstverständlich als Literatur begreift. Deswegen methodisch weit seiner Zeit voraus und angesichts des neuen, sehr schlichten, lediglich marketingmäßig denkenden Verständnis von »Genre« auch heute wieder moderner und aktueller. »Der literarische Mord« war Anfang der 50er Jahre Wölckens Habilitationsschrift, die – man bedenke die Zeit – angesichts des damals noch exzentrischen Themas »Kriminalliteratur« sensationellerweise von der Deutschen Forschungsgemeinschaft bezuschusst wurde. Sein Buch – das in Auszügen bis in die 60er Jahre z. B. vom SPIEGEL nachgedruckt wurde – ist die erste seriöse Arbeit zum Thema in Westdeutschland, weil sie die Kriminalliteratur nicht lesersoziologisch im Sinn der Trivialliteratur betrachtet, sondern sie literaturwissenschaftlich in die entsprechenden weltliterarischen Kontexte setzt. Auch wenn einzelne Urteile und Erkenntnisse von heute aus gesehen diskutabel erscheinen – sie sind auf jeden Fall seriös diskutabel und unterscheiden sich damit positiv von mittlerweile subdiskutablen Positionen zum Genre. »Ein Meilenstein des (frühen) Nachdenkens über Kriminalliteratur.« Thomas Wörtche

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Seitenzahl: 479

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Über das Buch

»Der literarische Mord« war Anfang der 50er Jahre Wölckens Habilitationsschrift, die – man bedenke die Zeit – angesichts des damals noch exzentrischen Themas »Kriminalliteratur« sensationellerweise von der Deutschen Forschungsgemeinschaft bezuschusst wurde. Sein Buch – das in Auszügen bis in die 60er Jahre z. B. vom SPIEGEL nachgedruckt wurde – ist die erste seriöse Arbeit zum Thema in Westdeutschland, weil sie die Kriminalliteratur nicht lesersoziologisch im Sinn der Trivialliteratur betrachtet, sondern sie literaturwissenschaftlich in die entsprechenden weltliterarischen Kontexte setzt.

Auch wenn einzelne Urteile und Erkenntnisse von heute aus gesehen diskutabel erscheinen – sie sind auf jeden Fall seriös diskutabel und unterscheiden sich damit positiv von mittlerweile subdiskutablen Positionen zum Genre.

Wölckens Buch ist substantiell, weil es Kriminalliteratur ganz selbstverständlich als Literatur begreift. Deswegen methodisch weit seiner Zeit voraus und angesichts des neuen, sehr schlichten, lediglich marketingmäßig denkenden Verständnis von »Genre« auch heute wieder moderner und aktueller.

»Ein Meilenstein des (frühen) Nachdenkens über Kriminalliteratur.« Thomas Wörtche

Über den Autor

Fritz Wölcken (1903–1992). Geboren in Tientsin, absolvierte Wölcken zunächst eine Buchhändlerlehre in Göttingen und Dessau, studierte dann Anglistik, Germanistik und Philosophie, promovierte bei Friedrich Gundolf, dem »Theoretiker« des George-Kreises, und beschäftigte sich zunächst schwerpunktmäßig mit Shakespeare. Zunächst Schul-, dann Hochschullehrer u. a. in Edinburgh und Aberdeen. Keine Uni-Karriere während des »Dritten Reiches«, stattdessen Verlagsbuchhändler bei Langen-Müller und, gleich nach Kriegsdienst und Gefangenschaft, bei Paul List. Ab 1947 Anglist an der Uni München, die ihn zum 60 Geburtstag mit einer Festschrift ehrte. Neben der Literaturwissenschaft auch Publikationen zu hochschulpolitischen Themen, u. a. für DIE ZEIT.

»Der literarische Mord« erschien 1953 im Nest-Verlag, Nürnberg. Dort verlegte Karl Anders in den Jahren direkt nach dem Zweiten Weltkrieg die alten und neuen Klassiker der angelsächsischen Kriminalliteratur: Raymond Chandler, Eric Ambler, Dashiell Hammett, Howard Browne, Rex Stout et al. Wölcken flankierte das Programm der Krähen-Bücher des Nest-Verlages theoretisch.

Fritz Wölcken

Der literarische Mord

Eine Untersuchung über die englische und amerikanische Detektivliteratur

Impressum

eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2015

Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg

Tel. +4940 31108081, [email protected]

www.culturbooks.de

Alle Rechte vorbehalten

Erstausgabe Print: © Nest Verlag, 1953

Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj

eBook-Herstellung: CulturBooks

Erscheinungsdatum: 01.03.2015

ISBN 978-3-944818-81-8

Inhaltsverzeichnis

Vorwort von Thomas Wörtche
MILLIONEN VON LESERN
Erstes Kapitel:
EDGAR ALLAN POE
Zweites Kapitel:
DAS 19. JAHRHUNDERT
Drittes Kapitel:
IN BAKER STREET
Viertes Kapitel:
FORMEN UND FORMELN
Fünftes Kapitel:
MORD UND MORAL

Mit herzlichem Dank an Dr. Ann Anders und Alf Mayer,

Vorwort von Thomas Wörtche

Es gibt berühmte Bücher, die dennoch weitgehend unbekannt sind. Kaum eine Bibliographie, kaum eine wissenschaftliche Arbeit zur Kriminalliteratur, die in den letzten fünfzig, sechzig Jahren in Deutschland erschienen ist, verweist nicht auf Fritz Wölckens Habilitationsschrift von 1953: »Der literarische Mord. Eine Untersuchung über die englische und amerikanische Kriminalliteratur«. Das macht sich gut in Fußnoten und Bibliographien, aber wenn man sich ein bisschen umhört, wer das Buch wirklich gelesen hat, und wenn man – akademisch einigermaßen routiniert kann man schon sehen, ob auf ein Buch rituell hingewiesen wird oder ob es ein ernsthafter Baustein einer Argumentation ist – bedenkt, wie schwierig es war, an ein vollständiges Exemplar zu kommen, dann schleichen sich leise Zweifel ein, ob man Wölckens Werk nicht einfach der »frühen Forschung« zur Kriminalliteratur zuschlägt, also ins wissenschaftsgeschichtliche Archiv, ins Museum verbannt. Richard Alewyns berühmter Aufsatz »Anatomie des Detektivromans«, der 1968 in zwei Teilen in der ZEIT erschien, gilt allgemein als die entscheidende Nobilitierung der Kriminalliteratur – sie sei damit ein ernstzunehmender Gegenstandsbereich für die Literaturwissenschaft geworden, die damit dem gehobenen Essayismus à la Bertolt Brecht, Ernst Bloch, Walter Benjamin, Siegfried Kracauer und, nach dem Krieg, Helmut Heißenbüttel eigene Zugänge entgegenzusetzen habe. Aber so einfach liegen die Dinge nicht. Alewyns Aufsatz war selbst eher Essay, denn argumentierende Literaturwissenschaft, hatte aber durch den Druckort ZEIT einen erheblichen Prestigebonus.

Der einflussreiche Sampler »Der Kriminalroman«, herausgegeben von Jochen Vogt (als zweibändige Ausgabe 1971, neu bearbeitet in einem Band 1998), die für die wissenschaftliche und seriöse publizistische Auseinandersetzung mit der Kriminalliteratur im deutschsprachigen Raum sicher wirkmächtigste Publikation, hat keinen Auszug aus Wölcken aufgenommen. Alewyns gattungstheoretisch naive Simplifikation der beiden Typen von Kriminalroman, also Detektivroman und »Kriminalroman im engeren Sinn«, scheint die größere Anziehungskraft gehabt zu haben und auch noch einen einfacheren Umgang mit dem immer noch (im Grunde bis heute) unter letztendlichem Trivialverdacht stehenden Genre zu versprechen.

Deswegen möchte ich die Relevanz und auch die immer noch in Teilen bestehende Aktualität Wölckens unterstreichen. Der erste, sofort ins Auge fallende Grund, warum »Der literarische Mord« präsent gehalten werden sollte, ist so selbstverständlich, dass man ihn fast übersieht: Wölcken diskutiert Kriminalromane als Literatur, mit allen Konsequenzen. Nicht lesersoziologisch, nicht als »volkskundliches« Thema – die Erforschung populärer und trivialer Lesestoffe war lange bei den »Volkskundlern« oder Buch-Wissenschaftlern angesiedelt, weniger bei den argumentierenden Literaturwissenschaften –, nicht bei der »Trivialliteraturforschung«.

Vor allem Letzteres ist deswegen bemerkenswert, weil in den 1950er Jahren das Bemühen, wenigstens die deutsche Kultur vor angelsächsischem und amerikanischem »Dreck« rein zu halten (ein Kapitelchen in der Wir-sind-doch-nur-ein-verführtes-Kulturvolk) gerade in der Kriminalliteratur den idealen Angriffspunkt gefunden hatte (später gab’s dann die berühmte »Aktion saubere Leinwand« und andere Prohibitionismen). Der berühmte »Grenzwächter«-Aufsatz von Wilhelm Müller: »Zur Topographie der Unteren Grenze«, der gerade in der einflussreichen Bibliotheksfachzeitschrift »Bücherei und Bildung« (3/1951, S. 665–669) erschienen war, rief dazu auf, »von der Waffe Gebrauch zu machen«, wenn es darum gehe, »unmoralische Kriminalromane« zu verhindern. Unter diesem kulturpolitischen Klima litt natürlich die Rezeption angelsächsischer Kriminalliteratur, um die sich gleich nach dem Krieg der Verleger, Journalist und Politiker Karl Anders mit seinem Krähen- bzw. Nest-Verlag kümmerte. Anders brachte zum ersten Mal Autoren wie Dashiell Hammett, Eric Ambler, Raymond Chandler etc. nach Deutschland, weil er der Meinung war, Kriminalliteratur dieses Zuschnitts, Demokratie und Politik gehörten zusammen und trügen somit zu der dringend notwendigen Demokratisierung der (west-)deutschen Gesellschaft bei. Karl Anders verfasste selbst auch eine – ironischerweise, s.o., bei Vogt 1971 abgedruckte – Erwiderung auf Müller, in dessen Leibundmagenblatt, dem oben zitierten BuB, 4/1952, S. 509 ff, unter dem Titel: »Der Kriminalroman. Versuch einer Einordnung.«, der auch bei Culturbooks wieder zugänglich gemacht werden wird. (Zu dem ganzen Sachverhalt empfehlen wir Patrick Rössler: »anders denken. Krähen-Krimis und Zeitprobleme: der Nest-Verlag von Karl Anders«, mit u.a. substantiellen Beiträgen zum Thema von Ann Anders und Alf Mayer).

Die wirkliche, massive Erwiderung gegen derart reaktionäre und borniert-dumme Grenzwächterei war jedoch Fritz Wölckens Buch, das in eben diesem Nest-Verlag erschien, ausgestattet mit einer Finanzspritze der Deutschen Forschungsgemeinschaft, was man für diese Jahre durchaus als sensationell glücklichen Umstand bezeichnen darf.

Wölcken ließ sich souveränerweise auf dieses Niveau und diese zeitgeistigen Schlägereien gar nicht ein, sondern argumentierte ruhig und mit dem richtigen Bewusstsein für die ästhetische Tragfähigkeit der behandelten Kriminalromane. Sein Verwundern über das »sehr spärliche, ja geradezu verlegene theoretische Interesse« an dem Genre, das damals überall sonst auf der Welt schon eine gewaltige Leserschaft hatte, kontert Wölcken mit dem Nachweis, welche Anschlussmöglichkeiten eine Kriminalliteratur hat, die nicht a priori als reines Lesefutter ohne substantielle Kerne verstanden werden kann. Für Wölcken ist klar, dass Kriminalliteratur wie jede andere Literatur aus »ursprünglichen und abgeleiteten Werken« besteht, dass man also eine kriminalliterarisch interne Reihe beschreiben kann, die ihrerseits wieder mit den allgemeinen geistesgeschichtlichen und anderen Kontexten synchronisiert ist. Es reicht also schon für Wölcken nicht aus, eine von anderen Paradigmen unabhängige »Geschichte der Kriminalliteratur« zu schreiben, obwohl man natürlich genau diese Geschichte intim kennen muss, um sinnvolle Aussagen machen zu können. Denn die schon damals große Produktion einschlägiger Romane verstellt den Blick, sofern keine qualitativen Kriterien ins Spiel kommen – der Umstand, »dass schlechte Detektivliteratur oft nicht wesentlich verschieden ist von guter Detektivliteratur« ist ein starker Grund, ihren jeweils ästhetischen Status festzustellen. Und das geht nur genuin literaturwissenschaftlich resp. literaturtheoretisch basiert. Das ist eine sehr originelle, ja schon beinahe aktuelle Argumentation, wenn wir zum Beispiel an die heutigen Diskussionen denken, die um den Vorrang des Gefühligen oder die um das »Das kann ich auch, wo ist der Unterschied zwischen Chandler und mir?« etwa.

Ein anderer und wichtiger Punkt bei Wölcken ist das Insistieren auf dem »Genre-Wissen« des Publikums. »Wenn er sein halbes Dutzend Geschichten vom selben Verfasser gelesen hat«, dann weiß der zumindest nicht ganz verblödete Leser, wie der Hase läuft. Dieses Genre-Wissen verbietet die oft als Legitimation für besonders pfiffige Krimilektüre besonders schwachsinniger Werke ins Feld geführte Möglichkeit des »Mitratens«, des »interaktiven dem Täter-auf-der-Spur-Sein«, des »Früher-als-der-Detektiv-wissen-wer’s-war«, das zu den argumentativen Folterwerkzeugen sinnloser und unfugiger Apologien des Krimis gehört. Auch hier argumentiert Wölcken erstaunlich modern: Weil zum Beispiel bei Edgar Allen Poe und dessen Nachfahren das deduktive Denken (aus allgemein bekannten geistesgeschichtlichen Gründen) absolut gesetzt wird, ist »die Wirklichkeit nichts gegen die Kraft der Deduktion«, und weil das Deduzieren notwendigerweise den Setzungen des Autors folgt (die er jederzeit ändern kann), kann es weder einen Haken in die Realität geben, noch ein Fair Play zwischen Autor und Leser. Poe selbst, so meint Wölcken übrigens zu Recht, habe dieses Problem erkannt, sich erst darüber lustig gemacht und sich dann anderen Bereichen des Erzählens und Dichtens zugewandt. Eine elegante Erklärung dafür, warum schon der »Gründungstext« der Kriminalliteratur, die »Murders in the Rue Morgue«, sich selbst komisiert, auch wenn Wölcken das bei diesem Text noch nicht so sieht.

Was er aber deutlich sieht, das ist der Erstarrungstod des Whodunnits, der nur durch eine erhebliche Komplexionsaufladung von Kriminalliteratur gestoppt werden konnte. Das sei einmal bei Dorothy Sayers eingelöst, die sozusagen das ganze vormoderne Abendland in ihre Texte und Konstellationen einfließen lässt, und zum anderen bei Raymond Chandler, der zwar moderner erscheine als er strukturell tatsächlich ist (er sei dem guten, alten Whodunit noch viel fundamentaler verbunden als man meine, findet Wölcken, zu Recht), der aber wegen seiner einzigartigen sprachlichen Qualitäten (die Metaphern und die wisecracks) die Frage nach dem Täter transzendiere, selbst da, wo er der Moralist sei, der einen überführten Täter als sinnhaft und deswegen unabdingbar versteht. Gilbert Keith Chesterton, by the way, wird von Wölcken nicht zu den Paradigmenwechslern gezählt, auch da verblüffend antizeitgeistig und kühl: Unter den ganzen brillanten Paradoxen, die Chesterton auffährt, unter seiner metaphysischen, moralischen und religiösen Rhetorik, mit der die Father-Brown-Geschichten vollgestopft ist, liege nichts anderes vor als »ziemlich schwache Detektivgeschichten« – auch das ein Befund, dem man nicht widersprechen möchte.

Den nächsten großen und wichtigen Meilenstein der Kriminalliteratur und somit der Literatur überhaupt sieht Wölcken in Dashiell Hammett. Auch wenn er noch in der Vorstellung befangen ist, Hammett habe alles von Hemingway gelernt (was man heutzutage beruhigt umdrehen kann) und er die ganze Radikalität von »Red Harvest« und den Continental Op-Geschichten nicht ganz versteht (er argumentiert hauptsächlich mit dem »Malteser Falken«, mit dem »Dünnen Mann« und dem »Gläsernen Schlüssel«), wittert er jedoch schon klar die neuen Qualitäten, die Hammett in die Literatur des 20. Jahrhunderts und somit in die Moderne und Postmoderne einbringt: die sprachliche und epistemologische Subversion der Wertewelt des Kapitalismus auf dem Wege des Erzählens.

Ich kann hier nicht den ganzen Band referieren, nicht jeden originellen Punkt, den Wölcken macht, aufzählen. Er gibt sich mit keinen Redekonventionen und angeblichen Konsensen über Kriminalliteratur zufrieden, verweigert sich den üblichen Sortierungen von Texten nach Sujetfügungen und hat ein feines Gespür für die Dialektik von Rationalität und Irrationalität, die der crime fiction eigen ist.

Über die Person Fritz Wölcken findet man nicht viel mehr Wesentliches, als wir im Autorenstichwort erwähnt haben. Der »Spiegel« hat ihn noch lange als Autorität zur Kriminalliteratur zitiert, in den zart aufkeimenden Diskurs der 1970er und 1980er Jahre scheint er – meines Wissens – nicht mehr eingegriffen zu haben. Und das ist schade. Denn sein Buch bietet aktuelle Anknüpfungsmöglichkeiten in Hülle und Fülle. Wölcken war ein klassischer »Vordenker«, vielleicht ein paar Jahrzehnte zu früh. Und vielleicht wäre er auch erschüttert gewesen, wie regressiv und ahnungslos heute wieder über Kriminalliteratur gesprochen und gedacht wird, als man erkannt hat, dass man ganz fette Geschäfte vermutlich nur mit den simpelsten Schrumpfformen machen kann und dummes Geplappere dazu die ideale Marketingstrategie zu sein scheint.

Wieder Wölcken zu lesen, könnte zumindest ein bisschen Bewusstsein dafür erzeugen, wie viel weiter man im Nachdenken schon vor 60 Jahren gewesen war.

© 02/2015 by Thomas Wörtche

MILLIONEN VON LESERN

Die Literatur, die den Gegenstand dieser Untersuchung bildet, ist so umfangreich, daß sie vollständig kaum mehr dargestellt werden kann. Jahr für Jahr werden mehr neue Erzeugnisse dieser Gattung vorgelegt, als von einem eifrigen und unentmutigten Leser aufgenommen und kritisch betrachtet werden könnten. Howard Haycraft gibt in seiner Geschichte der Detektivliteratur an, daß allein in den Vereinigten Staaten jedes Jahr rund dreihundert neue Detektivromane oder Sammelbände von Detektiverzählungen von durchschnittlich 250 Seiten Umfang erscheinen. Publishers’ Weekly zählt für 1949 unter 1644 insgesamt in den Vereinigten Staaten erschienenen Werken der schönen Literatur 405 Titel der Detektivliteratur. Das ist ein volles Viertel der sogenannten ›schönen Literatur‹ (fiction), die in den USA als Bücher erscheinen. Jeder vierte Roman, jede vierte Sammlung von Erzählungen gehört also in diese Gattung. Dazu kommen noch die zahlreichen Detektiverzählungen in Zeitschriften und Sonderbeilagen. von Ellery Queens Mystery Magazin (monatlich seit 1941) bis zum Detective Supplement des Union Jack. Nimmt man die Sendungen einer Novemberwoche 1945 bei den amerikanischen Rundfunkstationen als typisch an, dann werden täglich 4 ½ Detektiverzählungen in Form von Vorlesungen oder Hörspielen verbreitet. Diese amerikanische Produktion ist zu einem Teil auch Eigentum Großbritanniens und des Empires, wo immer englisch gelesen und gesprochen wird. Um aber zu den Gesamtzahlen dieser Literaturgattung zu kommen, muß man den amerikanischen Zahlen wohl noch mindestens ein Drittel hinzurechnen. Das ist allein die laufende Produktion, und wenn auch die ersten Jahre seit Bestehen dieser Gattung verhältnismäßig wenig Material hervorgebracht haben, so sind doch seit rund 50 Jahren in immer steigendem Maße Detektivgeschichten verfaßt worden, die diese Literaturgattung in beängstigender Weise umfangreich gemacht haben.

Vincent Starrett, einer der bedeutendsten Kenner dieses Gebietes gibt in seiner Darstellung der Detektivliteratur (Mystery Stories) in der Encyclopaedia Britannica von 1946 folgende Zahlen: Von 1841 bis 1920 sind etwa 1300 Titel dieser Art erschienen; von 1920 bis 1940 waren es etwa 8000 Titel. Im Jahre 1929 allein wurden soviele Bücher mit Detektivgeschichten oder Detektivromanen veröffentlicht wie in den acht vorhergehenden Jahren, 1920 bis 1928, zusammengenommen, und im Jahre 1938 sind im Durchschnitt täglich zwei Titel erschienen.

Ernst Schulze zählte bereits 1910 mehr als zehntausend Theateraufführungen von Sherlock-Holmes-Dramen. Ein mit A. C. gezeichneter Artikel Kriminalliteratur von Heute der Westminster Review vom April 1897 stellt bereits die allerdings unzutreffende Behauptung auf, daß vier Fünftel der gesamten Unterhaltungsliteratur des vergangenen Jahres Detektivliteratur gewesen sei. Von den 1893 bestehenden 800 Zeitschriften mit Unterhaltungsbeilage brachten 240 Detektivgeschichten. Bei diesen Angaben muß aber berücksichtigt werden, daß die eigentliche Detektivgeschichte damals noch nicht von der schon immer populären und weit verbreiteten Kriminalliteratur unterschieden wurde.

Auch für Deutschland wurden erstaunliche Zahlen angegeben. In seinem Kampf gegen die dem Nationalsozialismus politisch verdächtige Literatur nennt Dr. Helmut Langenbuchet für das Jahr 1938 die Zahl von rund eintausend Kriminalromanen und -erzählungen. Hierbei sind aber neben den Heften der billigen Serien auch Zeitschriftenerzählungen mitgezählt und neben der eigentlichen Detektivliteratur auch die Kriminalliteratur und zum Teil gewiß auch ein Teil der allgemeineren Abenteuerliteratur.

Nicht minder eindrucksvoll als die Zahl der Titel sind die Verbreitungsziffern. R. Newton Laughlin, der Präsident der Continental Baking Company in New York, liest jedes Jahr über einhundert Romane dieser Gattung – ohne seine wirtschaftliche Position zu gefährden. Die Gesamtverbreitung der Detektivromane und -erzählungen von ›Ellery Queen‹ in allen Ausgaben wird auf zwanzig Millionen Exemplare geschätzt. Als Pocket Book erreichte eines seiner Werke eine Auflage von über einer Million. Von dem meistgekauften Autor der amerikanischen Pocket Books, Erle Stanley Gardner, sind allein in dieser billigen Ausgabe seiner Detektivromane über zehn Millionen Exemplare verbreitet. In einem einzigen Jahr, 1948, wurden von den Büchern dieses einen Verfassers und nur in der Originalsprache, ohne die Übersetzungen, 6.350000 Stück verkauft, im darauffolgenden Jahr 1949 kaum weniger: 6.300000. Neben diesen Zahlen verblaßt die Beliebtheit aller anderen erzählenden Literatur, und die Leserzahl dieser Schriftsteller nähert sich derjenigen der Bibel, der Schullesebücher oder der Warenhauskataloge. Dementsprechend sind auch die wirtschaftlichen Erfolge. Nach dem Tode von Peter Cheyney, dem beliebten Erzähler von Detektivgeschichten, meldete United Press ein zuletzt erreichtes Jahreseinkommen von dreißigtausend Pfund aus seinen sechsunddreißig Büchern – ein Einkommen, das, der Kaufkraft nach, nicht hinter den Einkünften der großen Fürsten der Erzählkunst im neunzehnten Jahrhundert, eines Walter Scott oder Charles Dickens, zurücksteht. Die Honorare aus seinen Romanen, Erzählungen und Theaterstücken ermöglichten es Edgar Wallace, sich selbst mit dem Aga Khan auf den Rennplätzen zu messen, wenngleich diese Leidenschaft schließlich sowohl für den Schriftsteller wie für sein Vermögen den Ruin bedeuten sollte.

Um so auffälliger muß es daher erscheinen, daß einer so ungeheuren praktischen Bedeutung dieser Literaturgattung nur ein sehr spärliches, ja geradezu verlegenes theoretisches Interesse gegenübersteht. Zeitschriften- und Zeitungsaufsätze haben gelegentlich das Phänomen darzustellen versucht, noch häufiger ist diese Literatur aus moralischen Gründen angegriffen und verdammt worden, zuweilen wurde auch die geschichtliche Entwicklung gestreift, wenn auch meist außerhalb der wissenschaftlichen Literaturforschung. Die Frage nach dem Wesen dieser Gattung, die auch ihren ungewöhnlichen Erfolg erhellen könnte, ist dagegen noch kaum gestellt worden. Es ist charakteristisch, daß eine Untersuchung der ›bestseller‹ der englischen und amerikanischen Literatur, die bewußt ohne Rücksicht auf deren literarischen Wert vorgenommen wurde, die Detektivliteratur unbeachtet lassen mußte. »Wenn man sich die verschiedenen Listen der ›fiction-bestsellers‹ ansieht, fällt einem das Fehlen von Detektiv-, Wildwest- und ausgesprochen billigen Liebesromanen (erkenntlich an Titel und Aufmachung) auf. Dies ist um so erstaunlicher, als gerade diese Gattung sich einer großen Beliebtheit erfreut. Die Erklärung dafür ist, daß diese Bücher gesamthaft unter den Begriff ›sub-literature‹ (Unter-Literatur) fallen, ohne Rücksicht auf individuelle Qualität.«

Auf einem so umfangreichen Gebiet kann nur Auswahl, nicht Vollständigkeit den Stoff der Untersuchung bestimmen; in besonderem Maße gilt das für eine aus Deutschland kommende Arbeit. In Amerika, wo das Material in seiner ganzen Fülle zugänglich ist, hängt die zu treffende Auswahl von dem Entschluß des Forschers ab; der deutsche Forscher ist heute weitgehend auf den Zufall angewiesen. Die Veröffentlichungen der letzten Jahre sind zum großen Teil nicht nach Deutschland gekommen. Die Menge der nur für den Konsum bestimmten Detektivliteratur ohne besondere schriftstellerische Ansprüche ist weder von öffentlichen noch privaten Stellen gesammelt worden; und auch Autoren, die sich bei der Kritik einen Namen erworben haben und heute zu den führenden gerechnet werden, wie Dashiell Hammett, Raymond Chandler, Margery Allingham, Michael Innes, sind in Deutschland in den wissenschaftlichen Bibliotheken meist nicht vertreten, und auch die Sammlungen der ›Amerikahäuser‹ sind in dieser Hinsicht durchaus planlos. Aber auch ältere Werke fehlen nicht selten in den deutschen Bibliotheken. In einer Zeit, in der manche Bibliothek nicht einmal mehr über eine vollständige und wissenschaftliche Ausgabe von Dickens oder Edgar Allan Poe verfügt, kann es nicht wundernehmen, wenn nur durch Zufall eine Gesamtausgabe von Wilkie Collins oder Conan Doyle erhalten blieb und Anna K. Green und Carolyn Wells durchaus unbekannt sind.

Sind schon die Texte dem deutschen Forscher keineswegs leicht oder vollständig zugänglich, so steht es um die Sekundärliteratur noch hoffnungsloser; selbst ein so grundlegendes Buch wie F. W. Chandlers Literature of Roguery, das bereits 1907 erschien, fehlt heute in vielen Universitäts- und Landesbibliotheken.

Die Sekundärliteratur dieses besonderen Gebietes setzt in größerem Umfang erst seit den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts ein. Davor gibt es einige Essays wie Chestertons Verteidigung von Detektivgeschichten, 1901, dessen Ehrgeiz es ist, einen absurden Stoff brillant darzustellen, soziologische Studien über die erstaunliche Beliebtheit dieser Literatur, oder Hinweise darauf, daß eine Reihe sehr bedeutender und geistig durchaus interessierter Menschen gerne oder gar mit Leidenschaft Werke dieser neuen Literaturgattung lesen. Die Saturday Review vom 5. Mai 1883 bringt den ersten, bisher bekannt gewordenen literaturkritischen Hinweis auf die Gattung. Er beschränkt sich aber darauf, festzustellen, daß »schon seit geraumer Zeit erfundene Detektive und deren Leistungen die Romanleser mehr oder weniger interessiert haben«. Um die Mitte der zwanziger Jahre werden die ersten ernst zu nehmenden Beiträge zu diesem Thema veröffentlicht und zwar vor allem in Form von Einleitungen zu Anthologien solcher Erzählungen. Dazu kommen seit den dreißiger Jahren auch umfangreichere Zeitungs- und Zeitschriftenaufsätze, die dann kurz vor Beginn des zweiten Weltkrieges zu einer wahren Flut anwachsen und sich inhaltlich oft mehr oder minder wiederholen.

Eine der vollständigsten, auch historisch bedeutsamen Sammlungen von Werken der Gattung, einschließlich der Grenzgebiete und der Sekundärliteratur, befindet sich in Kalifornien; es ist die des einen der beiden Partner von Ellery Queen: Manfred B. Lee; auch der Detection Club of London verfügt über eine umfangreiche Spezialbibliothek. Eine Geschichte der Detektivliteratur hat Howard Haycraft geschrieben: Mord zum Spaß. Leben und Zeiten der Detektivliteratur. New York 1941. Hier wird auch eine chronologisch geordnete Liste der wichtigsten Autoren und ihrer Werke sowie ein alphabetisches Lexikon der bekanntesten Detektive dieser Literatur gegeben. Eine Anthologie der wichtigsten Sekundärliteratur hat derselbe Autor 1946 unter dem Titel Die Kunst der Detektivliteratur zusammengestellt.

Welchen Sinn kann nun die Untersuchung eines so schwer zugänglichen und so umfangreichen Stoffes haben? Wie im Verlaufe der Darstellung sichtbar werden wird, ist eines der Kennzeichen dieser Literaturgattung die Repetition, die Variation innerhalb eines festen Schemas, so daß ein Werk einen Typ darstellt und für hunderte, ja tausende andere Arbeiten gelten kann. Dies ist aber keine zufällige Erscheinung und bedeutet nicht nur, daß es auch in dieser Literatur ursprüngliche und abgeleitete Werke gibt, sondern drückt auf einer bestimmten Stufe das Wesen dieser Gattung aus. Dieser Sachverhalt wurde, wenn auch unbewußt, schon von Poe in seinen vier Detektivgeschichten erkannt. Die Beschränkung auf das Charakteristische erscheint daher nicht nur zulässig, sondern wirkt förderlich. Hierbei bieten die Anthologien eine nicht zu unterschätzende Hilfe, da sie bereits eine Auswahl des Charakteristischen getroffen haben. Besonders sei dabei auf die Arbeiten von Dorothy Sayers hingewiesen.

Wer nun darauf verzichtet, das Material in seiner ganzen Breite vorzulegen, muß Rechenschaft über die Grundsätze der Auswahl geben und über die Fragen, die an das Material gerichtet werden. Das erste Problem ergibt sich bereits unmittelbar aus dem Thema: warum nämlich ein Stoffkreis von einem so bedeutenden Umfang bisher noch kaum zu wissenschaftlicher Behandlung gereizt hat. So sieht der englische Literaturhistoriker George Saintsbury in dem Dickens-Kapitel der großen Cambridge-Literaturgeschichte in der Kriminalliteratur nur »jenen seltsamen Snobismus mit umgekehrtem Vorzeichen – jene Begeisterung für die ungebildeten Volks schichten, die bis zur Gegenwart immer mehr Mode und Religion geworden ist«. Andere Fragestellungen, die eine Auswahl aus dem überreichen Stoff rechtfertigen können, sind folgende: Was bedeutet die behauptete Vorliebe der akademisch gebildeten Kreise für diese Literaturgattung? Welche Bedeutung hat die Entstehung dieser neuen epischen Kunstform zu einer bestimmten Zeit und unter bestimmten Bedingungen? Was bedeutet die Gestalt der weiteren Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, besonders die Entwicklung zu einer Massen- und bevorzugten Konsumliteratur, die für ihre Leser jährlich rund 2000 Morde erfindet mit einer Beimischung von einigen weiteren Verbrechen gegen Leben und Eigentum? Es ist weiter in einer der klügsten und eindringlichsten Studien zu diesem Thema bemerkt worden, daß die Detektiverzählung, wenn sie nicht den Erstarrungstod sterben wolle, zum Sittenroman werden muß. Diese Wandlung vom Kreuzworträtsel zum echten Roman bringt auch eine Steigerung der gedanklichen und stilistischen Werte der modernen Detektiverzählung mit sich. Heute macht der Leser in den Werken der führenden Schriftsteller auf diesem Gebiet mit einer Literatur Bekanntschaft, die wieder Anspruch auf einige Dauer und Beachtung erheben darf, wie es zu den Zeiten des Begründers der Gattung, Edgar Allan Poe, war. Zu den Autoren gehören Schriftsteller und Dichter vom Rang eines G. K. Chesterton, J. B. Priestley oder Cecil Day Lewis, der seine Detektivgeschichten unter dem Namen Nicholas Blake erscheinen läßt. T. S. Eliot ist sich nicht zu gut, einem Neudruck des bedeutendsten Detektivromans der Dickens-Zeit ein inhaltsreiches Vorwort mitzugeben oder Abschnitte aus Conan Doyles Sherlock-Holmes-Geschichte Das Ritual von Musgrave wörtlich in sein kirchliches Weihespiel Mord im Dom zu übernehmen. So bemerkenswerte Stilisten wie Dorothy Sayers, Dashiell Hammett und Raymond Chandler haben dieses literarische Medium für ihre Arbeiten gewählt.

Heißt dies alles nur, daß ein bisher höchstens soziologisch interessierendes Gebiet der Schriftstellerei in der Hand von bedeutenden Gestaltern zu echter Literatur werden kann, wie es eh und je geschehen ist, oder läßt sich aus dieser Entwicklung mehr ablesen? Ist das Werk der Literatur, das sich auf eine Detektivhandlung aufbaut, nur etwas Zufälliges, Zusätzliches, das in der Literaturgeschichte nur dann einen Platz hat, wenn sich der Autor auch außerhalb dieses Stoffkreises einen Namen erworben hat? Oder ist diese Entwicklung zur großen Literatur ein wesentliches Merkmal von Stoff und Zeit? A. C. Wards Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts enthält vielleicht als erste Literaturgeschichte ein eigenes Kapitel über Detektivliteratur. Eine der bedeutendsten Vertreterinnen der Gattung aber, Dorothy Sayers, wird dort in einem Kapitel der allgemeinen Literatur aufgeführt und erscheint neben Virginia Woolf, Sheila Kaye Smith, Winifred Holtby und Katherine Mansfield unter den Frauen, die auf dem Gebiet des modernen Romans bemerkenswerte Leistungen aufzuweisen haben.

Indem die folgende Untersuchung sich diese und andere Fragen stellt, versucht sie, die Stoffprobleme der Detektivgeschichten als eine Art Prüfstein zu benutzen, an dem einige Aspekte der allgemeinen geistigen Entwicklung der hundert Jahre ihrer Geschichte abgelesen werden können.

Die Quellennachweise zu diesem Kapitel finden Sie hier.

Erstes Kapitel

EDGAR ALLAN POE

Die Literaturgeschichte läßt mit dem, Diego Mendoza zugeschriebenen Werk Lazarillo de Tormes, das 1553 erschien, die Gattung der Schelmenromane beginnen, mit Horace Walpoles Schloß von Otranto 1765 die Gattung der ›gotischen‹ Schauerromane. Auch für die Gattung der Detektivliteratur läßt sich ein nach Ort und Zeit genau bestimmter Anfang angeben: Edgar Allan Poes Der Doppelmord in der Rue Morgue. Die Erzählung erschien zuerst im Aprilheft 1841 der von Poe damals herausgegebenen Zeitschrift Graham’s Magazine und wurde 1843 in die Prose Romances 1 aufgenommen.

Das Entstehen der Detektivliteratur läßt sich aber nicht nur zeitlich genau festlegen, – sie war auch keine zufällige Schöpfung. Es war die Absicht von Poe, mit dieser ersten der später von ihm Erzählungen der Ratiocination genannten Geschichten eine neue Gattung, eine neue Art des Erzählens zu schaffen.

Ein absichtliches, verstandesmäßiges Schaffen entsprach ohnehin diesem Dichter. In seinem Essay Die Philosophie der Komposition (Graham’s Magazine, April 1846) behauptete Poe, daß auch sein bekanntestes Gedicht Der Rabe keineswegs auf romantisch-irrationale Weise entstanden sei. »... nicht ein einziger Punkt in der Komposition läßt sich mit dem Zufall oder der Intuition in Verbindung bringen; das Werk ist Schritt für Schritt mit der Präzision und der absoluten Konsequenz einer mathematischen Aufgabe seiner Vollendung zugeschritten.« Hier soll nicht auf die offenbare Unrichtigkeit dieser Behauptung eingegangen werden – kein Kunstwerk entsteht ganz ohne Intuition –, bemerkenswert bleibt der verabsolutierende, grundsätzliche Anspruch, den Poe erhebt.

Der Ehrgeiz, einen neuen Stil, eine neue Gattung zu schaffen, ist unter Schriftstellern nicht ungewöhnlich; selten aber hat die so geschaffene Gattung später einen solchen Umfang erreicht wie die Detektivgeschichte, der ganze Wälder als Druckpapier zum Opfer fielen.

Mit Poe beginnt die Geschichte der Detektiverzählung, die Elemente aber, aus denen sie zusammenwuchs, sind so alt wie das Geschichtenerzählen überhaupt: das Rätsel, die List, das Abenteuer und der Schauder. Erzählungen listiger Einfälle und Taten sind den Literaturen aller Völker, besonders aber den östlichen, geläufig, und damit auch Geschichten von der Entdeckung solcher Listen, – also Geschichten der ›detection‹. Ob es aber vor Poe innerhalb oder außerhalb der englischen Literatur echte Detektiverzählungen gegeben hat, hängt davon ab, was als das Kriterium der Detektivgeschichte bestimmt wird. Dorothy Sayers druckt in ihrer ausgezeichneten, systematisch geordneten Anthologie Große Kurzgeschichten von Detektiven, Geheimnissen und Grauen, Erste Sammlung vier Erzählungen aus der Antike ab, die sie unter die Detektivgeschichten zählt: Die Geschichten von Daniel und den Priestern Baals, und von Susanna im Bade aus den Apokryphen; von Herkules und Cacus aus dem achten Buch der Aeneis, und die von der Schatzkammer des Königs Rhampsinit aus dem zweiten Buch Herodots, Daneben verweist sie in ihrer Einleitung auf weitere ›Detektiverzählungen‹ wie die Geschichten von Jakob und Esau, Reineke Fuchs, Robin Hood, und aus Aesops Fabeln besonders auf die vom Löwen und vom Fuchs, der zwar die in die Höhle weisenden Spuren der Tiere sieht, aber keine, die wieder herausführen. Auch die erwähnten, in der Anthologie abgedruckten ›Detektivgeschichten‹ von listigen Übeltätern und ihrer Überlistung stehen ja nur als Vertreter einer ganzen Gruppe orientalischer Erzählungen von listigen Menschen da.

Das von Herodot berichtete Märchen von der Schatzkammer des Königs Rhampsinit ist von Charles Johnston nach Handlung und Einzelheiten bis zu den tibetanischen, italienischen und indischen Quellen und Verzweigungen verfolgt worden, und Wright weist dazu auch auf Chaucers Geschichte des Nonnenpriesters als einen frühen Vorfahren der Detektivliteratur hin. Diese, auf Cicero zurückgehende, aber auch sonst bekannte Geschichte von den beiden Reisenden, von denen einer durch seinen Wirt ermordet wird, hat aber kaum etwas mit Entdeckung oder Überlistung zu tun, denn die Entdeckung der in einer Mistfuhre verborgenen Leiche geschieht nicht durch ein Verfolgen von Spuren, sondern durch einen Wahrtraum, – also das genaue Gegenteil einer rationalen Analyse.

Eine der verbreitetsten Geschichten vom listigen Erschließen eines Sachverhalts ist das Märchen von den drei Brüdern, oder Prinzen, denen ein Kameltreiber auf der Suche nach einem entlaufenen Kamel begegnet, das ihm die drei Brüder beschreiben können, ohne es gesehen zu haben: einäugig, hinkend, mit fehlendem Vorderzahn und auf der einen Seite mit Öl, auf der andern mit Honig beladen. Voltaire hat dieses Thema im dritten Kapitel seines ›Zadig‹ behandelt, nachdem es bereits durch d’Herbelot, du Fresny, Gueulette und Mailly in die europäische Literatur eingeführt worden war. Aber auch Voltaire benutzt hier die Kunst des deduktiven Erschließens, die den ›Detektiv‹ Zadig sogar vorübergehend in Gefahr bringt, nur als Anlaß, um eine Situation zur ironischen Kritik der Regierungsmethoden zu schaffen: die Kunst des Spurenlesens erscheint zwar als reizvolles und witziges Beispiel menschlicher Vernunft, aber nicht als ausreichendes Motiv einer Erzählung. Voltaire war Poe bekannt; verschiedene, zum Teil spöttisch-überhebliche Hinweise auf ihn finden sich in seinen Werken oder Briefen.

Von Interesse waren den Zeitgenossen auch die Berichte über die bei den Indianern entwickelte Kunst des Spurenlesens, auf die – neben manchen anderen Quellen – mit besonderer Ausführlichkeit die Aufzeichnungen des französischen Missionars Xavier de Charlevoix hinweisen, der von 1720 bis 1722 in Kanada war. Hier berührt die Vorgeschichte der Detektivliteratur das große Gebiet der menschlich-ursprünglichen Lust am Lösen der vom Leben gestellten Aufgaben, die ihren Niederschlag in Reiseberichten und den Indianergeschichten Fenimore Coopers gefunden hat.

Elemente der Detektivliteratur können auch in den bei allen Völkern verbreiteten Rätseln gefunden werden. Da diese aber meist keine erzählenden Werke sind und sein wollen, deuten sie nur allgemein auf die Freude am Verbergen und Enträtseln hin, die in epischer Form in der Detektivliteratur ihren Ausdruck findet. Ein Beispiel für ein episches Werk, dessen Thema das Lösen von Rätseln ist und das hieraus seine Spannung gewinnt, ist die isländische Saga von Hervor und dem König Heidrek. In dieser Rätselfolge sucht der als Gestumblindi verkleidete Odin diesen zu retten, indem er Heidrek Rätsel aufgibt, zum Schluß ein unlösbares, an dem Heidrek Odin erkennt. Dies letzte ›Halslöserätsel‹ ist kein Weisheitsrätsel mehr, wie die der Sphinx, sondern ein Wissensrätsel. wie das Simsonrätsel nach Richter 14, das nicht ohne besondere Kenntnisse gelöst werden kann. Sowohl der Gedanke des ›Halslöserätsels‹ als auch der Unterschied zwischen den Weisheits- und Wissensrätseln findet sich in anderer Form auch in der Detektivliteratur.

Ein Halslöserätsel ist ein Rätsel, das ein dem Tode Verfallener aufgeben oder lösen muß, um sich zu retten. Diese Rätsel können aber nicht, wie andere Rätsel, allein stehen: sie brauchen zur Wirkung einen Rahmen, eine richtige, wenngleich kurze Erzählung. Diese berichtet von der Situation, in der es zu dem Halslöserätsel kommt, und enthält die Lösung, die ja auch der Hörer sonst nicht erraten kann. Durch den Rahmen, in den das Rätsel gestellt wird, wird die Bedeutung des Rätsels gesteigert, wird es dramatisiert und die List hervorgehoben, zu deren Lob das Rätsel und die Erzählung erdacht sind. So ist auch in der modernen Detektivgeschichte der Täter gerettet, der dem Detiv ein unlösbares Halslöserätsel aufgeben kann.

In einem ›Wissensrätsel‹ wird nach etwas gefragt, was der Befragte auf keinen Fall raten oder erschließen kann, da er es einfach nicht weiß.

Diesen Wissensrätseln entsprechen in der Kriminalliteratur die Erzählungen, deren Lösung durch eine überraschende, dem Leser unbekannte Enthüllung gebracht wird – Erzählungen, die von der strengen Kritik immer als ›unrecht‹ und als nicht dem eigentlichen Bild der Gattung entsprechend abgelehnt worden sind, da sie zur Sensations- und nicht zur Detektivliteratur gehörten. Die Weisheitsrätsel dagegen fordern wie die echten Detektivgeschichten ihre Hörer oder Leser zur Mitarbeit und selbständigen Lösung des gestellten Problems auf.

Auch das bekannte Rätselmärchen von dem in eine Blume verwandelten Mädchen, das erlöst wurde, als der Mann sie unter den anderen Blumen herausfand und pflückte, da auf ihr nach der mit ihm verbrachten Nacht nicht, wie auf den andern Blumen, Tau lag, gehört in die Vorgeschichte der Detektivliteratur. Hier kündigt sich bereits die gleiche Freude an der klugen Beobachtung an, die später von dieser angesprochen werden sollte.

Rätsel und Märchen sind aber nur Vorläufer der Gattung; sie gehören noch nicht in ihr Gebiet. Andererseits wäre es aber auch eine unzutreffende Vereinfachung, nur solche Erzählungen als Detektivliteratur gelten zu lassen, in denen ein Detektiv oder ein Polizist vorkommt. Doch bedeutet die Gründung der Londoner Polizei durch Sir Robert Peel 1829 einen wichtigen Ausgangspunkt dieser literarischen Gattung. Wenn die Interpretation nicht zu eng gefaßt wird, mag dieser Termin ein sehr nützlicher Anhalt sein. Wesentlich ist die Bestimmung, daß in der Detektivgeschichte, zum Unterschied von der Kriminal- und Abenteuergeschichte, der Detektiv, ob er es nun beruflich oder aus privater Leidenschaft ist, eine Hauptrolle spielen muß. Damit scheiden zahlreiche Werke aus, die oft ohne genaue Prüfung der Gattung zugerechnet werden, so fast alle Reißer von Edgar Wallace, ebenso wie die psychologischen Studien von Dostojewski bis Aldous Huxley. John Carter, der als Bibliograph um eine genaue Definition der Gattung bemüht ist, weist darauf hin, daß von Wallaces umfangreichem Werk nur Zelle 13 und Der silberne Schlüssel Detektiverzählungen im strengen Sinn sind. So bekannte Werke wie Die vier Gerechten dieses Autors, E. W. Hornungs Der Amateureinbrecher, dessen Held Raffles ist, und John Buchans Die neununddreißig Stufen oder aus unseren Tagen Graham Greenes Der dritte Mann, sind zwar aus der Geschichte der Gattung nicht fortzudenken, stehen aber ihrer Art nach am Rande.

Auch Pater Ronald Arbuthnott Knox hat recht, wenn er in dem Artikel Mystery Stories der 14. Auflage der Encyclopaedia Britannica (die 11. Auflage kennt dieses Stichwort noch nicht) die eigentliche Detektiverzählung. die er richtig mit dem Kreuzworträtsel vergleicht, von den Rätsel-Erzählungen trennt, zu denen er Poes Goldkäfer und Collins’ Die Frau in Weiß zählt. Die Begründung, daß in diesen Erzählungen kein Detektiv vorkomme, ist aber zu eng: der junge Walter Hartright in Die Frau in Weiß bringt alle Voraussetzungen mit, um in einer modernen Erzählung den Detektiv abgeben zu können.

Eine genaue Trennung der Detektivgeschichte von der Kriminal- oder Abenteuererzählung hat vor allem den Vorteil, daß sie das Wesen der eigentlichen Detektiverzählung deutlicher erkennen läßt und es daher erst möglich macht, zu erfassen, um was es dabei den Verfassern und den Lesern eigentlich geht.

Zwischen den Rätseln und Märchen von der listigen Entdeckung eines Sachverhaltes und der von Poe geschaffenen Detektiverzählung besteht ein wesentlicher Unterschied, der die neue Gattung tatsächlich erst als Gattung begründet. Dieser Unterschied ist die Leidenschaft des Geistes, mit der sich der Erzähler der Entdeckung des Sachverhaltes widmet und in die er den Leser oder Zuhörer hineinzuziehen versucht. Diese Leidenschaft des Geistes ist grundsätzlich verschieden von der ursprünglichen, ja unschuldigen Lust und Freude des Geistes an der List. So verbindet sich z. B. keinerlei Leidenschaft des Entdeckens mit der List des Cacus, der die dem Herkules gestohlenen Rinder rückwärts in seine Höhle schleift, um die Spur der Hufe in die falsche Richtung weisen zu lassen. Mit welcher Eindringlichkeit hingegen wird dem Leser in Conan Doyles Abenteuer der Priory Schule der Kuhfüßen ähnelnde Beschlag der zum Raub benutzten Pferde vorgeführt! Wie sehr ist die ganze Erzählung Doyles nicht auf die kindliche Freude an der List, sondern auf die geistige Passion der Entdeckung gestellt. Denn jede Detektiverzählung muß flach und sinnlos erscheinen, wenn es dem Erzähler nicht gelingt, diese Überzeugung von der entscheidenden Bedeutung des Entdeckens im Leser zu wecken.

In den Erzählungen von menschlicher List ist die Sympathie des Erzählers wie des Hörers stets auf der Seite des Listigen. Die Frage der sittlichen Berechtigung taucht selten auf: es wird nicht gefragt, ob die List zu guten oder, wie meist, zu bösen Zwecken gebraucht wird; es genügt, daß die List die Herrschaft des Geistes über die Kraft erweitert und erweist, um sie vor dem Gefühl zu rechtfertigen, da sie im Dienste des Fortschritts steht. Nur die strahlende Sittlichkeit Hebels etwa vermag den Geschichten vom Zundelfrieder und vom Zirkelschmied eine Moral anzuhängen. Im allgemeinen aber wird man wohl nicht fehlgehen, wenn man in den uralten Erzählungen von Reineke Fuchs oder dem Schatzkammerdieb Huldigungen an den menschlichen Geist sieht, der, wie nur jeder andere Held in der Geschichte der Menschheit, einen Schritt voran tut, indem er die Widerstände überwindet. Noch Bulwer entzieht seinen so anziehend geschilderten Verbrecherhelden Eugene Aram im letzten Augenblick dem Henker, der ›die äußerste Schmach des Gesetzes‹ dann nur noch an der Leiche vollziehen kann.

Erst in der Detektiverzählung genießt weder der Listige noch der Überlistende die Sympathie der Fortschrittsgläubigen. Die Detektivliteratur ist keine Huldigung an die Überlegenheit des menschlichen Geistes, sondern eine Leidenschaft, eine Besessenheit eben dieses Geistes selbst.

Zu den Elementen der List und des Rätsels, die in die Detektivliteratur aufgenommen werden, treten noch andere, ebenso alte Elemente: das Abenteuer, das Verbrechen. Von diesen haben sich vielleicht die Erzählungen von Verbrechen äußerlich am unmittelbarsten in der Detektivgeschichte fortgesetzt, und das hat wohl bei der sittlichen Be- und Verurteilung dieser Literaturgattung die größte Rolle gespielt – eine Ablehnung, die der Detektivroman auch mit den Gattungen des pikaresken, des Schelmenromans oder des Schauerromans teilt. In der Tat ist gerade in England die Verbindung zwischen der Detektivliteratur und dem Gerichtsbericht besonders eng. Dazu hat die englische Art der Gerichtsverhandlung das ihre beigetragen: vor dem neutralen, zuschauenden Richter entfaltet sich zwischen Anklage und Verteidigung in dramatischer Weise der Tatbestand; listiges Verbergen und überlistende Entdeckung spielen sich vor den Augen und Ohren des Publikums ab, und der Verlauf des Dramas wird von Gerichtsstenographen wörtlich mitgeschrieben. So hat die englische Gerichtsverhandlung schon immer den Stoff zu äußerst spannenden, dramatischen und zuverlässigen Büchern geliefert, und die Beliebtheit des Newgate Calendar oder der zahlreichen Prozeßnachschriften großer Verbrechen aus allen Jahrhunderten bedeutet nicht nur die Befriedigung der Sensationsgier am Verbrechen selbst, sondern auch an der dramatischen Aufdeckung des Verbrechens. So ist es denn nicht verwunderlich, daß die wie eine Welle hereinbrechende Beliebtheit der Detektivliteratur um die Jahrhundertwende auch eine Steigerung der Prozeßnachschriften wirklicher Verbrechen mit sich brachte, die zum Teil, wie die von William Roughhead seit fünfzig Jahren herausgegebenen Serien, eine sehr bedeutsame literarische und psychologische Höhe der Bearbeitung aufweisen.

Aber zeigte das Wiederaufleben der Prozeßberichte die Wirkung der Detektivliteratur, so wandte sich auch umgekehrt immer wieder der Erzähler von erfundenen Verbrechen den wirklichen Gerichtsfällen zu. Schon Poe hat im Das Geheimnis der Marie Rogêt das von der Polizei unaufgeklärte Verschwinden der Mary Cecilia Rogers ausschließlich auf Grund von Zeitungsberichten erzählend zu interpretieren versuch, und Sir Arthur Conan Doyle setzte sich mit dem ganzen Gewicht seines durch die Erfindung der Detektivgestalt Sherlock Holmes erworbenen Ruhmes für eine von der offiziellen abweichende Interpretation des Mordfalles Marion Gilchrist ein und erreichte auch tatsächlich nach neunzehn Jahren eine Wiederaufnahme des Verfahrens, die mit dem Freispruch des Angeklagten Oscar Slater endete. Schließlich sei noch als ein Beispiel für viele andere das von Joseph Henry Jackson 1945 herausgegebene Buch der Mordfälle erwähnt, in dem die hervorragendsten Vertreter der Detektivliteratur ihre ganze psychologische Einsicht, ihr streng ordnendes Denken und ihre literarische Darstellungskunst einigen der berühmtesten Mordfälle der neueren Zeit widmen. Hier hat ein Sachverhalt der wirklichen Welt wie ein Anruf an den Erzähler von Detektivgeschichten gewirkt, seine Leidenschaft, sich durch die Macht des Geistes der Welt zu bemächtigen, aus der Phantasie in die Wirklichkeit übergreifen zu lassen.

Diese Leidenschaft des Geistes hat es in der englischen Literatur vor Poe nicht gegeben, wie ähnlich mancher literarische Stoff dem Stoff der Detektiverzählung zunächst auch erscheinen mag. So ist im Hamlet, – um das berühmteste Beispiel für alle anderen zu nehmen – die Frage nach dem Mörder und nach dem Vorgang der Tat keine Passion. Der Geist von Hamlets Vater ist, wenigstens im Rahmen des Stückes, eine durchaus geglaubte Erscheinung, – mag der Dichter auch außerhalb dieses Dramas vielleicht anderer Meinung über die Wirklichkeit von Gespenstern gewesen sein. Im Hamlet jedenfalls erfährt der Zuschauer fast im Augenblick, in dem er überhaupt von der geheimnisvollen Ermordung erfährt, auch eine Erklärung und Entdeckung des Geheimnisses. Dieser tut es keinen Abbruch, daß die Anklage bis zu der Schauspielszene auf eine Bestätigung warten muß. Aber von einer Entdeckerleidenschaft des Geistes kann nicht gesprochen werden; und daß der junge Dänenprinz selbst durch die Aufklärung des Verbrechens in eine neue Passion gesetzt wird, das begründet zwar auch für den Zuschauer das Drama Hamlet; es ist aber diese Passion nicht die der Detektivliteratur.

So lagen also die Elemente, aus denen die Detektiverzählung entstand, bereit, seitdem sich Menschen Geschichten und Rätsel von List oder von Verbrechern erzählen. Erst in und mit Poe aber fährt wie ein Blitz der leidenschaftliche Glaube an die Entdeckerkraft des Geistes in die verschiedenen Erze und schmilzt sie zu einer neuen literarischen Gattung zusammen. Welche Bedeutung dieser Glaube an die Analysierbarkeit des Lebens für eine neue literarische Gattung hat, wird noch zu zeigen sein. Aufschlußreich ist jedoch, daß sich bei Poe dieser Glaube, der die wesentliche Grundlage der Detektiverzählung bildet, schon an einer anderen Stelle zeigt, ehe er mit Der Doppelmord in der Rue Morgue die neue Gattung der Detektivliteratur begründet.

Fünf Jahre vor Erscheinen der ersten Detektiverzählung, in der Aprilnummer 1836 des Southern Literary Messenger, dessen Redakteur Poe war, und der bereits vier seiner Erzählungen gebracht hatte, veröffentlicht Poe eine sehr umfangreiche Abhandlung über Maelzels Schachspieler. Der Wiener Hofmechanikus Johann Nepomuk Maelzel (1772–1838) gehört zu den Erfindern mechanischer Kunstwerke, an denen gerade das achtzehnte Jahrhundert besonders reich war. Nach ihm trägt ein Metronom-nicht ganz berechtigt – seinen Namen; und für sein ›Panharmonicon‹ komponierte der mit ihm befreundete Beethoven seine ›Schlacht von Vittoria‹, der auch ein von Maelzel konstruiertes Hörrohr benutzte. Der ›schachspielende Türke‹ aber, um den es sich bei Poes Abhandlung handelt, war keine eigene Konstruktion Maelzels, sondern 1770 von dem in Preßburg geborenen Sekretär bei der ungarischen Hofkammer in Wien, Wolfgang von Kempelen (1734–1804), gebaut worden. Nachdem dies ingeniöse mechanische Spielzeug bei Fürstenbesuchen an den Höfen halb Europas Erstaunen und Fragen erweckt, wohl auch zu philosophischen Gedanken im Anschluß an Lamettries ›L’homme machine‹ geführt hatte, erwarb Friedrich II. von Preußen Maschine und Geheimnis und ließ sie dann stehen. Napoleon erbeutete auch dies Stück des alten Europas. Dann ging die Maschine lange nach dem Tode des Erfinders durch verschiedene Hände, um schließlich, zur Jahrmarktssehenswürdigkeit geworden, mit Maelzel 1817 über Paris 1826 nach Amerika zu kommen, wo sie 1854 in Philadelphia verbrannt sein soll.

Als Poe den ›schachspielenden Türken‹ 1835 oder 1836 in Richmond, Virginia, sah, war das Geheimnis dieser Maschine längst und mehrfach bekanntgemacht worden. Zahlreiche Schriften und Aufsätze hatten sich in den ersten Jahren nach 1770 mehr oder weniger scharfsinnig und zutreffend mit ihr beschäftigt. 1789 hatte Josef Friedrich Freiherr von Racknitz bei Brockhaus in Leipzig eine Schrift über seine eigene Nachbildung erscheinen lassen, nachdem er durch Beobachtung und Deduktion das Geheimnis weitgehend entschleiert hatte, und noch 1819 war in London eine wissenschaftliche Enthüllung erschienen.

Das alles war aber Poe, wie den meisten seiner Zeitgenossen in Amerika unbekannt geblieben. Ihm war das Geheimnis noch neu, aber er sah in dem ›schachspielenden Türken‹ nicht nur ein kluges Kunstwerk, sondern in erster Linie eine Herausforderung an den menschlichen Geist.

Die Frage, die Poe zu beantworten sich vornimmt, ist, ob es sich bei Maelzels ›schachspielendem Türken‹ tatsächlich um einen reinen Automaten handelt, oder ob ein Mensch in der Maschinerie versteckt ist. Er beginnt mit der Aufzählung einiger der berühmtesten Automaten, meist aus dem achtzehnten Jahrhundert. Bei aller Erfindungsgabe und Vielfalt der durchgeführten Arbeiten, die selbst mathematische Aufgaben umfassen, waren diese doch zweifele frei reine Automaten. Das Schachspiel hingegen bietet ein Moment der Willkür in den jeweils möglichen Zügen, das ein automatisches Handeln ausschließt. Daher läßt sich, stellt Poe fest, a priori schließen, daß der ›schachspielende Türke‹ von einem menschlichen Verstande abhängig ist, der, da ein äußerer Einfluß ausgeschlossen ist, in der Figur selbst verborgen sein muß. Dieser grundsätzlichen Deduktion folgt dann eine genaue Beschreibung des Türken und einer Vorstellung und ein Bericht über die Poe bekanntgewordenen bisherigen Erklärungen, die mehr oder minder abgelehnt werden müssen. Zuletzt gibt Poe seine eigene Erklärung und siebzehn z. T. sehr ingeniöse ›Beobachtungen‹, aus denen er demonstriert, daß und wie ein lebender Schachspieler, und wer, die Spiele durchführt.

Als Analyse, Beobachtung und Schlußforderung ist diese Abhandlung über Maelzels ›schachspielenden Türken‹ ein ähnliches Stück Deduktion und Detektion wie später Das Geheimnis der Marie Rogêt, und wäre es Poe eingefallen, etwa schon hier Dupin unter die Zuschauer zu setzen, so würde zweifellos die Geschichte der Detektiverzählung fünf Jahre früher beginnen. Aber es ist nicht allein dieses Beispiel von Poes ungewöhnlicher Fähigkeit, das typische Denkgebäude der Detektiverzählung aufzubauen – ein fugenloses und in sich geschlossenes Stück ›ratiocination‹ in dem jedes Teilstück mit allen anderen in logischer Beziehung steht – das die Abhandlung so bedeutsam macht. Bedeutsamer als der sachliche Inhalt ist die sich in der Abhandlung aussprechende Leidenschaft, mit der die ›ratiocination‹ als Instrument benutzt und auf die Welt angewandt wird, eine Leidenschaft, die durchaus die Färbung einer philosophischen Überzeugung hat. Das zeigen vor allem die im Druck hervorgehobenen Worte wie ›Beobachtung‹, ›Verstand‹, ›Prinzip‹, ›Tatsachen‹ usw., Worte, die gerade im neunzehnten Jahrhundert, im sogenannten Jahrhundert der Naturwissenschaften, in dessen erste Hälfte Poes Leben fällt, wie Dogmen eines neuen Glaubens wirken. Noch im Druck meint der Leser die Erregung nach zittern zu spüren, mit der sich der junge, wilde und abenteuerliche Geist des Dichters der gewaltigen und, wie ihm scheint, unbedingt zuverlässigen, einzig zuverlässigen Kraft der Analyse bemächtigt. Es ist derselbe Poe, der in dem Essay über Miss Barett. Ein Drama vom Exil und andere Gedichte über seine Zeit sagt: »Unser Zeitalter – das muß betont werden – hat sich dem Denken gewidmet. Ja, man darf sogar fragen, ob früher überhaupt ernsthaft und wirklich gedacht worden ist.«

So drängt sich auch das eigentliche Anliegen des Dichters in die ersten, einführenden und grundlegenden Abschnitte zusammen, in denen – mit verhaltenem Triumph, aber nicht ohne Hervorhebung im Druck – der Schluß gezogen wird, daß a priori der ›schachspielende Türke‹ keine Maschine sein könne. Die zwingende, unabwendbare Logik, der Schritt des Schicksals, sozusagen, zu einer Lösung des Problems aus grundsätzlichen Erwägungen heraus, das lag dem Dichter am Herzen. Die nachfolgende, kluge, umfangreiche und klar geordnete Darstellung ist dann etwa, was der Routine-Arbeit der Polizei in der Detektiverzählung späterer Zeit entspricht: unentbehrlich und mit Sorgfalt vorzunehmen, aber grundverschieden von der Lösung des Problems durch den analytisch die gesamte Welt beherrschenden Geist des Detektivs.

Wie diese Abhandlung über Maelzels ›schachspielenden Türken‹ sind auch die Detektiverzählungen Poes aufgebaut. An den Beginn wird ein Axiom gestellt, das durch die folgende Erzählung nicht so sehr bewiesen als nur mehr illustriert werden soll. Aus diesem Gedankengang erklärt sich dann auch die letzte, meist unbeachtete Detektiverzählung Poes Du bist es!

Mit der Veröffentlichung von Der Doppelmord in der Rue Morgue im April 1841 begann Poe seine Arbeit als Herausgeber von Graham’s Magazine, einer Monatsschrift, die nicht zuletzt durch Poes eigene Beiträge in dem einem Jahr, in dem er Herausgeber blieb, bei Publikum und Kritik einen ungewöhnlichen Erfolg errang.

Der Stoff- und Problemkreis der Detektivliteratur schien damals gleichsam in der Luft zu liegen. Fast gleichzeitig mit Poes Der Doppelmord in der Rue Morgue erschien Eugène Sues Das Geheimnis von Paris (1842–43), in dem der Prince de Gerolstein als eine Art Amateurdetektiv auftritt. Auch Balzac hatte in einigen Bänden seiner Comédie Humaine (1833–1841) einen Polizeidetektiv, Vautrin, als Helden. Aber diesen Werken fehlte, wie später den Romanen von Dickens oder Collins, die besondere geistige Leidenschaft, die Poes Tales of Ratiocination auszeichnete – die Spannung, die alles Geschehen nur als Sache des Verstandes aufzufassen sucht.

Der Doppelmord in der Rue Morgue beginnt mit einer Vorbemerkung über Analyse und psychologische Einfühlung, die als eine Art vorangestellter Text zu den folgenden Ausführungen dienen soll. In dieser Vorbemerkung zieht Poe einen Vergleich zwischen Dame und Schach zu Ungunsten des Schachspiels, da in dem Damespiel der reine Intellekt noch enger und starrer regiere, sei es als Analyse der Spielsituation oder – und darauf wird besonderer Wert gelegt – als Einfühlung in die Psyche des Partners.

Als Beweis für die aufgestellte These wird dann Monsieur Dupin erwähnt und damit die Erzählung begonnen. Dupin, dessen Gestalt wahrscheinlich, zum Teil wenigstens, auf den französischen Kriminalisten Eugène Francois Vidocq (1775–1857) zurückgeht, eröffnet ehrenvoll die lange Reihe der literarischen Detektive. Er ist mit ungewöhnlicher analytischer und Beobachtungskraft begabt und führt ein exzentrisches Leben in Paris, dem sich der Erzähler, nach zufälliger Bekanntschaft, aus innerer Neigung anschließt. Die Nacht ist ihre Zeit, während unter Tags sorgfältig verschlossene Fensterläden und Räucherkerzen eine geheimnisvolle Atmosphäre verbreiten. Auf einem Spaziergange gibt Dupin seinem Freunde ein überraschendes Beispiel seines ungewöhnlichen Vermögens, den Gedankengängen eines anderen zu folgen. Ein Zeitungsbericht über einen besonders grauenhaften Mord veranlaßt Dupin, seine Gaben diesem Fall zuzuwenden, und er beginnt mit einem sorgfältigen Studium der Zeugenaussagen in den verschiedenen Zeitungen. Zusammen mit dem Erzähler besucht er dann die Mordstätte und macht dort einige unbeschriebene Beobachtungen. Auf dem Heimweg gibt er eine Anzeige in einer Tageszeitung auf.

Nachdem Dupin, wie der Leser später erfährt, das Problem bei seiner Rückkehr bereits völlig gelöst hat, ohne den Erzähler oder den Leser an der Lösung zu beteiligen, erfolgt nun monologisch, bei gelegentlichen Zwischenfragen des Erzählers, die Darlegung des Mordvorganges. Zunächst wird darauf verwiesen, daß die Ungewöhnlichkeit des Mordes keine Erschwerung, sondern gerade eine Erleichterung der Entdeckung bedeute. Ein weiterer Schlüssel zum Geschehen liege in den widersprechenden Aussagen der Zeugen über die Sprache des einen vermeintlichen Täters. Sie wird von Angehörigen von fünf Nationen jeweils als die eines Fremden und als eine Sprache angegeben, die sie gerade nicht kennen – ein Einfall, der vielzitierte Berühmtheit erlangt hat. Logische Überlegungen verweisen auf die rückwärtigen Fenster des Mordzimmers als den einzigen denkbaren Weg des Mörders, und in dem Konflikt zwischen dem, was undenkbar und dem, was unmöglich erscheint, erweist sich der Zwang des Denkens als die stärkere Wirklichkeit: das scheinbar Unmögliche zeigt sich einer neuen Interpretation zugänglich. Auch diese Überlegung ist später zu einem Axiom erhoben worden. Einige weitere, dem Erzähler jetzt mitgeteilte Beobachtungen runden das Bild ab; der Täter war – worauf die besondere ›Brutalität‹ der Tat hinweist – ein gewaltiger Orang-Utan, dessen Besitzer sich dann auch auf Dupins Anzeige hin meldet.

Die Konstruktion des Mordes, wie sie Poe vorträgt, ist zwar denkbar, aber in ihren Details so unwahrscheinlich, daß schon hier der unwirkliche Charakter der Detektivliteratur sichtbar wird. Diese Unwirklichkeit der erfundenen Kriminalliteratur gegenüber den echten Kriminalfällen wird von Oliver Elton bei der Besprechung von Wilkie Collins geradezu als literarische Notwendigkeit stipuliert.

Wenn auch noch allzu spürbar bleibt, daß hier ein erstes, noch in manchem ungeschicktes Werk einer Gattung vorliegt, so hat doch das Genie Poes bereits mit dieser einen Geschichte feste Traditionen begründet.

Da ist zunächst der Detektiv selbst, der mit Vorliebe außerhalb der berufsmäßigen Polizei steht und mit zahlreichen exzentrischen Charakterzügen ausgestattet wird. Schon Poe hat seinen Dupin nicht nur mit einem überragenden Intellekt, sondern auch mit den romantischen Zügen eines Einzelgängers versehen. Durch das überwältigende Vorbild des Sherlock Holmes wurde diese Tradition dann fast obligatorisch.

Fast ebenso wichtig wie die Tradition des Privatdetektivs ist die des Watson. Poe hat es leider unterlassen, Dupins Freund, dem Erzähler der Geschichten, einen Namen zu geben, so daß diese Figur mit dem Namen des Erzählers der Sherlock Holmes-Geschichten bezeichnet wird. Doch ist er schon bei Poe vorgezeichnet, da seine Existenz einer technischen Notwendigkeit dieser Erzählungen entspricht. Der Schriftsteller braucht ein Medium, dem der Detektiv seine Beobachtungen und Schlüsse berichten kann, der ihn begleitet und mehr oder weniger sieht, was der Detektiv sieht, und vor dem der Detektiv dann schließlich die Handlung des Verbrechens entwirrt. Dieses Medium darf selbst nicht zu klug sein, damit der Detektiv die Handlung und alle Schlüsse so breit und eindringlich auseinandersetzen darf, daß auch der langsame Leser folgen kann und er zudem noch die Befriedigung hat, klüger zu sein und weiter zu sehen als der Watson. Ja selbst die Blaßheit der Gestalt, die bei Poe so weit geht, daß er sie ohne Namen läßt, ist typisch und durch die technischen Erfordernisse der Erzählung bedingt: die Figur des Watson gehört nicht zu den Personen der Handlung, sondern zu den Requisiten der Bühne. Jeder Versuch, über die englische gesund-langweilige Figur von Doyles Watson hinaus diesem Medium Relief und Charakter zu verleihen, ihn gar in den Kreis der Handlung mit einzubeziehen, mußte die Erzählung schädigen. Die Detektiverzählung hat eine so streng geschlossene Form, daß sie eines notwendigen, aber unpersönlichen Vermittlers bedarf.

Auch andere Charakterzüge der Detektivgeschichten sind von Poe bereits in seiner ersten derartigen Erzählung vorgebildet und als technische Probleme von Generationen von Schriftstellern diskutiert worden. Dazu gehören der völlig abgeschlossene Raum, in dem das Verbrechen geschieht, und dessen Türschlüssel schon bei Poe innen in der abgeschlossenen Tür steckt, sowie der fälschlich beschuldigte Mann, der ein Motiv zu der sonst unverständlichen Tat zu haben scheint und so den Verdacht des Lesers ablenkt. Wichtiger sind aber die beiden geistigen Prinzipien, die hier auftauchen. Für das erste dieser beiden Prinzipien läßt Poe seinen Detektiv die folgende Formulierung finden: »Mir scheint, daß diese geheimnisvolle Tat genau aus dem Grund für unlösbar gehalten wird, aus dem sie eigentlich als leicht zu lösen angesehen werden sollte – ich meine damit, daß die Umstände so betont ungewöhnlich sind.« Dieses Prinzip, daß ein Fall um so leichter lösbar ist, je sonderbarer die Umstände, und nicht umgekehrt, wird von Poe in Das Geheimnis der Marie Rogêt mit ausdrücklichem Bezug auf diese Stelle noch einmal wiederholt; es entspricht der a priori-Beweisführung in MaelzelsSchachspieler.

Das zweite Prinzip wurde später von Conan Doyles Sherlock Holmes knapp formuliert, und von Dorothy Sayers wiederholt: »Ich handle immer nach dem Grundsatz, daß die Wahrheit – und mag sie auch noch so unwahrscheinlich aussehen – das ist, was übrigbleibt, wenn man das Unmögliche ausscheidet.« Auch dieses Prinzip wird von Dorothy Sayers ausdrücklich über Sherlock Holmes auf Dupin zurückgeführt; doch wird bei Poe der Gegensatz nicht zwischen ›unmöglich‹ und ›unwahrscheinlich‹ bezeichnet, sondern zwischen ›unmöglich‹ und ›vernunftgemäß‹ – eine Formulierung, die weit stärker das Element des Rationalen hervorhebt. Die Wirklichkeit gilt ›durchaus als ein Nichts‹ gegenüber der Kraft logischer Deduktion.

Auf der anderen Seite dient aber gerade die Intensität, mit der diese Prinzipien vorgetragen werden, dazu, sichtbar zu machen, daß es sich keineswegs um sachliche, sondern um geistige Notwendigkeiten handelt. In der Erzählung freilich und unter dem Einfluß der überzeugten Schlüsse Dupins verfällt der Leser ohne Schwierigkeiten dem Glauben, diese Schlüsse seien tatsächlich zwingend aus den Verhältnissen abgeleitet und setzten diese Verhältnisse nicht erst. Zwingend ist dabei aber nur der Vortrag des Autors, der, auf eine scheinbare Unmöglichkeit zusteuernd, in der er seine Lösung verborgen hat, andere Unmöglichkeiten als bewiesen annimmt. So wie in Der Doppelmord in der Rue Morgue die anscheinend verschlossenen Fenster bei genauer Untersuchung ihr Geheimnis preisgeben, so könnte Poe auch für Kamin, Wände oder Decke noch ein Geheimnis bereithalten, – wie es unzählige spätere Schriftsteller dann getan haben. Poe selbst schreibt zu dieser Täuschung des Lesers: »Sie haben recht mit den Haarspaltereien meines französischen Freundes: Das ist bloße Effekthascherei. Diese Geschichten der ›ratiocination‹ verdanken ihre Beliebtheit zum größten Teil der Tatsache, daß sie etwas Neues bringen. Ich will nicht sagen, daß sie nicht gescheit wären – aber die Leute halten sie für viel gescheiter, als sie wirklich sind – durch die Methode, die ich anwende, und die Art, wie ich diese Methode darbiete. Zum Beispiel in Der Doppelmord in der Rue Morgue, worin liegt denn da die große Intelligenz, wenn man ein Gewebe entwirrt, das man (der Autor selbst) ja ausdrücklich gewoben hat zu dem Zwecke, entwirrt zu werden? Der Leser wird verführt, die Gescheitheit eines erfundenen Dupin mit der Intelligenz des Erzählers der Geschichte zu verwechseln.«

Es handelt sich also um keinen echten Grundsatz des Entdeckens durch Denken, sondern um eine notwendige Technik der Konstruktion. Dieser Irrtum, daß nämlich die Analyse einer Situation so weit geführt werden kann, daß die zwingende Logik des Denkens an einen Punkt führt, bei dem die bisherige Interpretation eines Sachverhaltes durch eine neue ersetzt werden muß, dieser Irrtum und diese Überschätzung der Analyse ist ungemein aufschlußreich für die seelischen Notwendigkeiten des Autors und seiner Leser.

Das zeigt auch die zweite seiner Dupin-Erzählungen Das Geheimnis der Marie Rogêt, die – ausdrücklich als Fortsetzung zu Der Doppelmord in der Rue Morgue bezeichnet – anderthalb Jahre später, im November 1842 in Snowden’s Ladies’ Companion zu erscheinen begann und im Februar 1843 abgeschlossen wurde. Obwohl auch diese Dupin-Geschichte unter die Detektiverzählungen gerechnet wird, handelt es sich eigentlich nicht um eine Erzählung, sondern um eine Analyse, eine Darstellung, wie Poe sie von Maelzels ›schachspielendem Türken‹ gegeben hatte und die diesmal nur Dupin, statt dem Verfasser selbst, in den Mund gelegt wird. Zu Grunde liegt ein genau so realer Sachverhalt wie die Vorführung des Türken, doch um diese Analyse zu einer Art philosophischer Demonstration zuzuspitzen, hat Poe die Handlung in das Paris Dupins verlegt. Von Anfang an war die Einkleidung so ironisch behandelt worden, daß sie kaum mehr als Verkleidung gelten konnte. In der Buchveröffentlichung wurden dann die Namen aller Beteiligten und der Zeitungen, auf deren Berichte und Theorien sich die Darstellung stützte, offen genannt.