Frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung - Margrit Stamm - E-Book

Frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung E-Book

Margrit Stamm

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  • Herausgeber: UTB
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2010
Beschreibung

Wie früh sollen Kinder heute «gebildet» werden? Das vorliegende Überblickswerk liefert zu dieser aktuellen und emotional diskutierten Frage sachliche und umfassende Informationen. Im Mittelpunkt stehen Themen wie die kognitive, emotionale und soziale Entwicklung des jungen Kindes, die Bedeutung und Qualität familienergänzender Betreuung, was frühkindliche Bildung im späteren Leben des Kindes bewirkt und ob deshalb eine frühere Einschulung als bisher üblich angezeigt ist.

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Seitenzahl: 420

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UTB3412
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Prof. Dr. Margrit Stamm ist ordentliche Professorin für Erziehungswissenschaft mit Schwerpunkt Sozialisation und Humanentwicklung an der Universität Fribourg (CH). Sie ist Mitglied des Rates des Eidgenössischen Instituts für Berufsbildung EHB sowie des Stiftungsrates von FORS (Swiss Foundation for Research in Social Sciences). Ihre aktuellen Forschungsschwerpunkte sind Frühkindliche Bildungsforschung; Bildungslaufbahnen vom Vorschulalter bis zur Berufseinmündung; Begabungsforschung; abweichendes Verhalten im Jugendalter (Schulabsentismus und Schulabbruch) sowie Berufs- und Sozialpädagogik des Jugendalters.
1. Auflage: 2010
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-8252-3412-6
ISBN 978-3-846-33412-6 (E-Book)
Alle Rechte vorbehalten.
Copyright © 2010 by Haupt Berne
Jede Art der Vervielfältigung ohne Genehmigung des Verlages ist unzulässig. Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Satz / Gestaltung Inhalt: René Tschirren, Bern
www.haupt.ch
UTB-Bestellnummer 3412-6
Hinweis zur Zitierfähigkeit
Diese EPUB-Ausgabe ist zitierfähig. Um dies zu erreichen, ist jeweils der Beginn und das Ende jeder Seite gekennzeichnet. Bei Wörtern, die von einer zur nächsten Seite getrennt wurden, steht die Seitenzahl hinter dem im EPUB zusammengeschriebenen Wort.
Inhaltsverzeichnis
TitelImpressumHinweis zur ZitierfähigkeitEinleitungSchwerpunkt I - Grundlagen
1 FBBE: Was sie meint und was sie leisten soll
1.1 Was ist FBBE?1.2 Was soll FBBE leisten?
2 Internationale Entwicklung
2.1 FBBE-Systeme
2.1.1 Begrifflichkeiten als Abbilder der unterschiedlichen FBBE-Systeme2.1.2 Öffentliche Investitionen: Eine Ländertypologie2.1.3 Schulvorbereitendes versus sozialorientiertes Paradigma
2.2 FBBE-Forschung
2.2.1 Historischer Rückblick2.2.2 Schwerpunkte der aktuellen Forschung
3 Kognitive, soziale und emotionale Entwicklung
3.1 Kognitive Entwicklung
3.1.1 Piagets kognitive Entwicklungstheorie
Zur Kritik an Piagets Theorie
3.1.2 Wygotskis soziokulturelle Theorie3.1.3 Bedeutsame Weiterentwicklungen
Der kompetente SäuglingPrivilegierte und nicht privilegierte WissensdomänenTheory of Mind
3.1.4 Hirnforschung und FBBE
Fazit
3.2 Soziale und emotionale Entwicklung
3.2.1 Temperamentsstrukturen und emotionale Entwicklung3.2.2 Bindungsentwicklung3.2.3 Die Entwicklung des Selbstkonzepts3.2.4 Peerbeziehungen3.2.5 Entwicklung der Moral und ihre Kehrseite: Die Aggression
3.3 Entwicklungs- und Sozialisationsrisiken3.4 Zusammenfassende Bilanz
4 Individuelle und kulturelle Unterschiede
4.1 Unterschiede in den kognitiven Fähigkeiten und im Wissen
4.1.1 Entwicklung der sprachlichen Fähigkeiten
Sprachentwicklung zwischen Geburt und SchuleintrittGrundlagen von Sprach- und Kompetenzunterschieden
4.1.2 Entwicklung der mathematischen Fähigkeiten4.1.3 Unterschiede in den Zugängen zum Lernen
4.2 Unterschiede in der körperlichen und motorischen Entwicklung4.3 Sozioökonomische und kulturelle Unterschiede
4.3.1 Bildungs- und Kinderarmut4.3.2 Kinder mit Migrationshintergrund
4.4 Interkulturelle Bildung und Erziehung4.5 Zusammenfassende Bilanz
5 Familie und familienergänzende Betreuung
5.1 Die Familie als System5.2 Eltern, ihre Bedeutung und ihre Erziehungsstile5.3 Familienergänzende Betreuung und Bildung5.4 Eltern- und Familienbildung
5.4.1 Die Ziele der Eltern- und Familienbildung5.4.2 Formate von Familien- und Elternbildung
5.5 Zusammenfassende Bilanz
Schwerpunkt II - Angebote, Qualität und Professionalität
6 FBBE: Das Was und das Wie
6.1 Konzepte frühkindlicher Bildungsarbeit
6.1.1 Das Montessorikonzept6.1.2 Das Konzept der Reggio-Pädagogik6.1.3 DasHigh/Scope-Konzept6.1.4 Der Projektansatz6.1.5 Fazit
6.2 Bildungspläne
6.2.1 Verbindungslinien zwischen pädagogischen Konzepten und Bildungsplänen6.2.2 Kernelemente und Inhalte von Bildungsplänen6.2.3 Bildungs- und Erziehungsziele
6.3 Die Messung von Kompetenzen auf der Basis von Bildungsplänen
6.3.1 Entwicklung von Literalität(literacy)
Komponenten von sich entwickelnder Literalität zwischen zwei und drei JahrenKomponenten von sich entwickelnder Literalität zwischen drei und vier JahrenMessung und Diagnostik von Literalität
6.3.2 Entwicklung mathematischer Fähigkeiten
Intuitive Mathematik und ZahlenkonzepteMessung und Diagnostik mathematischer Kompetenzen
6.3.3 Entwicklung und Messung von Sozialverhalten, Lernbereitschaft und Selbstkonzept6.3.4 Messen von allgemeinen Fähigkeiten, wie sie in Intelligenztests erfasst werden
6.4 Strategien frühpädagogischer Bildungsförderung
6.4.1 Der metakognitive Ansatz
Projektbausteine auf der Basis des metakognitiven AnsatzesDasScaffoldingals metakognitive Förderstrategie
6.4.2 Das Spiel als Förderstrategie6.4.3 Der Computereinsatz als Förderstrategie
6.5 Zusammenfassende Bilanz
7 Qualität (in) der FBBE
7.1 Konzepte von Qualität in vorschulischen Angeboten7.2 Qualität messen und beurteilen
7.2.1 Strukturqualität
Stabilität in der Betreuungs- und FördersituationElterneinbezugRaumgestaltungBetreuungsschlüssel und GruppengrößePersonalqualifikation
7.2.2 Prozessqualität7.2.3 Orientierungsqualität7.2.4 Organisationsqualität
7.3 Lernen anregen, herausfordern, vermitteln: Erfolgreiche pädagogische Strategien
7.3.1 Reflective teaching7.3.2 Entwicklungsangemessene Praxis
7.4 Evaluation der FBBE-Qualität
7.4.1 Evaluationsverfahren7.4.2 Qualitätsmanagementansätze7.4.3 Der Spezialfall einer Evaluation: Das klinische Interview als Assessment
7.5 Best Practice : DasHigh/Scope Perry Preschool Project
DerHigh/Scope-Ansatz im evaluativen VergleichPiagets kognitive Entwicklungstheorie als BasisDie pädagogische Fachperson als HerzstückTagesablauf
7.6 Zusammenfassende Bilanz
8 Pädagogische Professionalität
8.1 Professionalität8.2 Denken und Überzeugungen des Vorschulpersonals8.3 Zur Ausbildung des Personals
Vergleichbare Ausbildungen im ÜberblickPraktische Ausbildung
8.4 Zusammenfassende Bilanz
Schwerpunkt III - FBBE und ihre Wirksamkeit
9 Auswirkungen familienergänzender Frühförderung
9.1 Wie viel Mutter braucht das Kind?
9.1.1 Historischer Rückblick9.1.2 Der Einfluss familienexterner Betreuung auf die kindliche Entwicklung
Fazit
9.1.3 Wer profitiert am meisten?9.1.4 Kritik an der Bindungstheorie9.1.5 Zusammenfassung
9.2 Auswirkungen frühkindlicher Förderprogramme auf den Schulerfolg
9.2.1 Prävention und frühe soziale Benachteiligung9.2.2 Kurz- und langfristige Auswirkungen
Kurzfristige WirkungenLangfristige WirkungenErklärung der langfristigen Effekte
9.3 Zusammenfassende Bilanz
10 Zum volkswirtschaftlichen Nutzen von FBBE
10.1 Die Gesamtproblematik10.2 Zur Rolle des Staates10.3 Zum volkswirtschaftlichen Nutzen frühkindlicher Bildung
10.3.1 Aktuelle Studien10.3.2 Der volkswirtschaftliche Nutzen vonHigh/Scope
10.4 Zusammenfassende Bilanz
Schwerpunkt IV - FBBE und ihre Diskurse
11 Bildung und/oder Betreuung?
11.1 FBBE im historischen Kontext11.2 Die Dichotomie «Bildung versus Betreuung»11.3 Bildung und Betreuung in der Praxis11.4 Zusammenfassende Bilanz
12 Je früher und intensiver, desto besser?
12.1 Problematik12.2 Historische Konzepte
12.2.1 Vertreter frühkindlicher Bildung und die Akzeleration12.2.2 Der Sputnikschock und seine Folgen
12.3 Konzeptionen des Kleinkindes im Blickwinkel der Akzeleration12.4 Aktuelle Forschungserkenntnisse12.5 Risiken einer Frühförderung12.6 Zusammenfassende Bilanz
13 Frühere Einschulung
13.1 Grundlagen der Problematik13.2 Von der Schulreife zur Schulfähigkeit13.3 Einschulungsalter international13.4 Empirie
13.4.1 Ältere Untersuchungen13.4.2 Neue Untersuchungen13.4.3 Fazit
13.5 Bedingungen für eine erfolgreiche Früheinschulung
13.5.1 Organisatorisch-materielle Bedingungen13.5.2 Pädagogische Bedingungen
13.6 Zusammenfassende Bilanz
Anhang
Literaturverzeichnis
Prüfungswissen Schulpädagogik
Einleitung
Im 20. Jahrhundert wurde die Kindheit als eigenständige Lebensphase mit speziellen Entwicklungsbedingungen und Ansprüchen entdeckt. Erstmals wurden Rechte der Kinder formuliert, in der UN-Kinderrechtskonvention fixiert und ihre weltweite Durchsetzung angestrebt. Eines dieser Rechte ist das Recht des Kindes auf Bildung. Im Zuge der globalisierten Wirtschaft und ihren neuen Herausforderungen ist Bildung zur zentralen Ressource geworden, die ihr Potenzial im internationalen Wettbewerb unter Beweis stellen soll. Im Zusammenhang mit länderübergreifenden Schulleistungsstudien wie TIMMS und PISA haben deshalb viele Länder ihre Bildungssysteme überprüft und neu reguliert. In diesem Kontext und als Konsequenz von neuen Forschungserkenntnissen aus den Neurowissenschaften sowie der Entwicklungs- und Familienpsychologie wird die frühe Kindheit zunehmend als bedeutsame Phase in der individuellen Bildungsbiografie eines Menschen erkannt und als erster Schritt im Prozess des lebenslangen Lernens begriffen. Das internationale Interesse manifestiert sich denn auch in einem starken Anstieg der Bildungs-, Integrations-, Betreuungs- und Erziehungsarbeit in diesem Sektor (vgl. dazu auch die beiden Starting-Strong-Berichte der OECD von 2001 und 2006).
Diese Entwicklung trifft die Pädagogik relativ unvorbereitet, hat sie doch bislang die frühe Kindheit vernachlässigt. Wohl gibt es eine ausgedehnte Kindheitsforschung, doch hat das Thema Kindheit vor dem Schuleintritt noch wenig Tradition. Deshalb stehen noch wenig Antworten auf Fragen zur Verfügung, die Auskunft darüber geben, was frühkindliche Bildung ist, wie sie mit Betreuung und Erziehung verknüpft ist, wozu sie dient und mit welchen Inhalten sie versehen werden soll. Sie ist noch weitgehend eine Black Box. Angesichts der im gesamten deutschen Sprachraum entwickelten oder in Entwicklung begriffenen Bachelor- und Masterstudienprogramme im Bereich der frühen Kindheit sowie der verstärkten Etablierung von privat und staatlich verantworteten Betreuungs- und Bildungsangeboten wiegt dieser Mangel doppelt. Dazu kommt die große Meinungsvielfalt von Bildungs- und Sozialpolitikern. In den aktuellen medialen Diskursen äußert sie sich in unterschiedlichen, häufig ideologisch gefärbten Facetten, welche eine Unterscheidung von wissenschaftlich geprüften Erkenntnissen erschweren. Was uns somit mangelt, ist eine wissenschaftsbasierte, ideologiefreie Auseinandersetzung mit der Thematik.
Warum jedoch hat die frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung (FBBE) eine so große Bedeutung erlangt? Zum einen aufgrund der Wissensexplosion in der Entwicklungspsychologie, den Neurowissenschaften und der Lehr-/Lernforschung, welche den ungeheuren Enthusiasmus und die Lernkompetenz junger Kinder ins gesellschaftliche Bewusstsein gerückt hat. Zum anderen sind es aktuelle bildungs- und gesellschaftspolitische Herausforderungen, welche die Brisanz der Thematik unterstreichen und sie nicht lediglich als Modeerscheinung deklassieren. Die Bedeutung von FBBE lässt sich vierfach legitimieren:
• Die ersten Lebensjahre sind die kritischste Phase für die Entwicklung eines Kindes. Dies gilt in sozialer, emotionaler und intellektueller Hinsicht. In der frühen Kindheit wird ein wichtiger Grundstein für den späteren Bildungs- und Lebenserfolg gelegt. Was hier unterlassen wird, kann später nur mit großem Aufwand aufgeholt werden. Die ersten fünf Lebensjahre sind eine Zeit enormen Anwachsens linguistischer, sozialer, emotionaler und motorischer Kompetenzen. Schon ab Geburt lässt sich dieser Kompetenzerwerb bei einem gesunden Kind beobachten, wenn es die Umgebung auszukundschaften beginnt, zu kommunizieren lernt und Ideen darüber konstruiert, wie die Dinge in seiner Umgebung ablaufen.
• Die Lerngeschwindigkeit eines jungen Kindes ist jedoch davon abhängig, inwiefern seine Neugier auf ein engagiertes, sensibles und förderliches Umfeld trifft. Der Aufwachskontext beeinflusst seine Entwicklung, seine Lern- und Bildungsprozesse in einem großen Ausmaß. Sollen junge Kinder somit Bildungsangebote annehmen können, müssen sie in gut entwickelte Beziehungsstrukturen eingebettet sein. Für den Aufbau einer allgemeinen Bildungsbereitschaft ist es deshalb besonders wichtig, dass ein Kind soziale Beziehungen sowohl in seiner Herkunftsfamilie als auch in seinem weiteren Umfeld pflegt und sich in diesem Beziehungsraum geborgen und emotional sicher fühlen kann. Deshalb kommt in den ersten Lebensjahren nicht nur Betreuungs-, sondern auch Bildungsprozessen eine grundlegende Bedeutung zu. Dies gilt sowohl für Kinder mit förderlichem als auch mit ungünstigem familiärem Hintergrund. Für diese Kinder gilt es jedoch ganz besonders.
• Insbesondere in Deutschland und der Schweiz sind Bildungschancen stark durch die soziale Herkunft bestimmt. Kinder aus unterprivilegierten, bildungsfernen Familien haben bereits beim Eintritt in den Kindergarten nicht die gleichen Chancen wie privilegiert und bildungsnah auf wachsende Kinder. Die Förderung muss deshalb bereits in den ersten Lebensjahren einsetzen. Dies gilt insbesondere auch deshalb, weil viele Längsschnittstudien aufzeigen, dass sich Leistungspositionierungen von Kindern über die Schuljahre hinweg nicht wesentlich verändern: Wer beim Schuleintritt vorne liegt, wird diese Position wahrscheinlich auch am Ende der Schulzeit innehaben, wer sie mit Defiziten beginnt, wird in den nachfolgenden Schuljahren mit Auf holen beschäftigt sein. Deshalb gilt: Je besser die frühen Jahre für FBBE genutzt werden, desto chancengerechter können Potenziale entdeckt, Defizite erkannt und allen Kindern gerechtere Startchancen für ihre nicht voraussehbare Zukunft gegeben werden.
• Das heute veränderte Rollenverständnis zwischen den Geschlechtern erhöht die Nachfrage nach außerfamiliären Betreuungsangeboten. In allen deutschsprachigen Ländern bestehen jedoch nach wie vor große und ungelöste Herausforderungen, Familie und Beruf ökonomisch und qualitativ verträglich zu vereinbaren. Dazu kommt, dass hochwertige Ausbildungen von jungen Frauen und Männern zu individuellen und volkswirtschaftlichen Verlusten führen, wenn ein Elternteil aus dem Berufsleben ausscheidet.
Was versteht man nun unter frühkindlicher Bildung, Betreuung und Erziehung? Diese Frage als Erstes zu beantworten ist zentral für die Lektüre dieser Publikation und das in ihr entfaltete Verständnis. Denn aktuell gibt es in allen deutschsprachigen Ländern, insbesondere in der Schweiz, einen relativ vehementen Widerstand gegenüber dem Ansinnen, die «Bildung» in der frühen Kindheit zu verankern. Nicht selten wird sie sogar als einer glücklichen Kindheit abträglich erachtet. Der Grund für diese Ablehnung liegt hauptsächlich darin, dass unter frühkindlicher Bildung die Vorverlegung schulischer Inhalte in den bis anhin bildungsfreien Vorschulraum verstanden wird. Frühkindliche Bildung ist jedoch etwas anderes. Sie meint die Anregung aller Kräfte eines Menschen, damit sie sich entfalten können, eine tätige Aneignung der Welt erlauben und zu einer selbst bestimmenden Individualität führen (vgl. dazu auch von Hentig, 1996). Diese kindliche Aneignungstätigkeit entspricht dem angeborenen Drang des Kleinkindes, selbsttätig zu sein, zu erkunden, zu beobachten, zu fragen und zu kommunizieren, sich Wissen anzueignen und sich ein Bild von der Welt zu machen. Solche Aneignungstätigkeiten sind jedoch auf die Unterstützung einer anregungsreichen, liebevollen und beschützenden Umwelt angewiesen. Dies ist die Aufgabe der frühkindlichen Betreuung. Sie umfasst die Einbindung in eine Gemeinschaft und die altersangemessene Pflege und Versorgung des Kindes, um seine elementaren physischen und psychischen Bedürfnisse zu stillen. Erziehung schließlich, die auf Bildung zielt und sich auf Betreuung abstützt, meint die bewusste Gestaltung der Umwelt des Kindes und die Interaktion mit ihm, um erwünschte Verhaltensweisen zu fördern und unerwünschte zu vermeiden oder zu korrigieren.
Frühkindliche Bildung und Betreuung gehören damit immer zusammen und bilden mit der Erziehung zusammen das Kürzel «FBBE». Dass für die vorliegende Publikation dieser Begriff gewählt worden ist, hat seinen Grund in der internationalen Gepflogenheit, von «Early Education» zu sprechen. In der internationalen Perspektive umfasst «Education» traditionellerweise sowohl Bildung als auch Betreuung und Erziehung. In der Vergangenheit ist zwar verschiedentlich versucht worden, andere Begriffe zu finden. So verweist Hayes (2007) auf die Wortschöpfung «educare», mit der versucht wurde, eine Balance zwischen den beiden Begriffen herzustellen und einen Zugang zu Bildung zu beschreiben, der eine entwicklungsangemessene Mischung von Betreuung («care») und Bildung («education»), von Stimulation und Pflege, offeriert. Obwohl sich der Begriff bis heute nicht durchgesetzt hat, zeigt er zumindest, wie «care», also Betreuung, rekonzeptualisierbar wird, sodass sie gleichwohl mit Bildung in die frühkindlichen Prozesspraktiken eingeordnet werden kann.
Die Elemente von FBBE zusammenzudenken, ist jedoch nur die eine herausfordernde Seite der Medaille. Die andere Seite liegt darin, sie auch strukturell-organisatorisch zusammenzubringen. Diese Forderung formuliert die OECD in ihrem Bericht Starting Strong II von 2006, der von einem einheitlichen Vorschulraum ausgeht, in dem Betreuungs- und Bildungsfunktion miteinander verzahnt sind. Trotz solcher Forderungen ist der Gedanke einer «Bildung von Anfang an» in allen deutschsprachigen Ländern noch nicht selbstverständlich. Spezifisch für die Schweiz liegt die große Herausforderung darin, dass die Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) sowie die Sozial- und Gesundheitsdirektoren (SODK) die Aufgliederung der beiden Bereiche festgeschrieben haben: So soll die SODK zukünftig die Zuständigkeiten für den Frühbereich (null bis vier, fünf Jahre), der traditionell betreuende, sozial-karitative Züge trägt, übernehmen und die EDK die Verantwortung für die obligatorische Schule, die den Bildungsauftrag schlechthin verkörpert.
Diese Publikation verfolgt zwei Anliegen: Erstens will sie eine umfassende und interdisziplinäre Synthese von Theorie, Forschung und Praxis für die Ausbildung von Studierenden im FBBE-Bereich liefern. Da dieser Bereich im deutschsprachigen Europa erst seit relativ kurzer Zeit beforscht wird und wir zu großen Teilen auf die Erfahrungen anderer Länder angewiesen sind, stützt sich die Publikation auch auf angloamerikanische Erkenntnisse. Grundlage bilden jedoch die deutschsprachigen Forschungsbefunde und die in den letzten Jahren publizierte Fachliteratur (beispielsweise Fried & Roux, 2006; Thole et al., 2008; Stamm & Edelmann, 2010). Zweitens möchte die Publikation einen Beitrag zur Entideologisierung der aktuellen bildungspolitischen Diskussion liefern. Deshalb versucht sie Brücken zwischen Forschung und Praxis zu bauen und wissenschaftliche Befunde in verständliches Praxiswissen zu transferieren. Damit bekommt die Leserschaft ein Instrument in die Hand, das ihr nicht nur Wissen vermittelt, sondern sie auch anregt, sich mit den aktuellen und den zu erwartenden Diskursen auseinanderzusetzen und sich dabei ein eigenes Urteil zu bilden. Dieses Ziel ist jedoch eine große Herausforderung, sind doch viele Ergebnisse der frühkindlichen Bildungsforschung keineswegs so klar, wie sie allenthalben dargestellt werden.
Die Publikation, welche vier Schwerpunkte und 13 Kapitel umfasst, richtet sich an alle, die im FBBE-Bereich tätig sind oder planen, in ihm tätig zu werden: an Studierende an Fachhochschulen, Universitäten und höheren Fachschulen, an frühpädagogisches Fachpersonal, an Eltern und an bildungs- und sozialpolitisch Tätige sowie an interessierte Laien. Der erste Schwerpunkt behandelt in den Kapiteln 1 bis 5 die Grundlagen. Dabei geht es sowohl um die Begrifflichkeiten als auch um eine internationale Bestandsaufnahme und um die drei fundamentalen Themen der kognitiven, sozialen und emotionalen Entwicklung zwischen null und sechs Jahren, um individuelle und kulturelle Unterschiede zwischen den Kindern sowie um die Familie, ihre Rolle und die Bedeutung der familienexternen Kinderbetreuung. Der zweite Schwerpunkt widmet sich den Vorschulangeboten und ihrer Qualität. Im Mittelpunkt stehen das Was und Wie der FBBE, deren Qualität und Standards sowie die Professionalität des Personals (Kapitel 6 bis 8). Der dritte Schwerpunkt fragt nach der Wirksamkeit von FBBE. Untersucht werden ihre Auswirkungen auf den Schulerfolg und die Frage nach ihrem volkswirtschaftlichen Nutzen (Kapitel 9 und 10). Im vierten Schwerpunkt werden die wichtigsten aktuellen Diskurse unter die Lupe genommen: die Dichotomie zwischen Bildung und Betreuung, die Auseinandersetzung mit der Frage, ob frühere und intensivere FBBE-Maßnahmen in jedem Fall besser sind, sowie die Diskussionen um die frühere Einschulung (Kapitel 11, 12 und 13).
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Schwerpunkt I
Grundlagen
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|18◄ ►19|
1 FBBE: Was sie meint und was sie leisten soll
1.1 Was ist FBBE?
Jedes Kind hat ein Recht auf Bildung, Betreuung und Erziehung – von Geburt an. Die UN-Kinderrechtskonvention, welche dieses Bildungsrecht explizit festhält, fußt auf dem Grundgedanken, dass alle Rechte in erster Linie auf das Wohl des Kindes abzielen sollen. Das bedeutet, dass die Bedürfnisse des Kindes und nicht die Bedürfnisse der Eltern respektive der Erziehungsverantwortlichen im Mittelpunkt stehen müssen. FBBE muss deshalb im Hier und Jetzt gedacht werden. Nicht zufällig hat Janusz Korczak vom «Recht des Kindes auf den heutigen Tag» (Korczak, 1981, S.64) gesprochen. Gerade weil Kinder unsere Zukunft sind, müssen wir sie vom ersten Tag an, ohne Rücksicht auf ihre Herkunft, so fördern, dass sie sich kreativ und ihrem Potenzial entsprechend entwickeln können. Hinter dieser Vorstellung verbirgt sich das humboldtsche Bildungsverständnis des Kindes als «Aneignung von Welt» oder als Selbstbildung (Schäfer, 2004). In dieser Tradition ist Bildung von der subjektiven Eigenleistung abhängig. Sie ist es, die einen Lernprozess zu einem Bildungsprozess macht. Diese Sichtweise bekommt nun auch durch die Befunde der Hirnforschung, der Entwicklungsneurologie und der Systemtheorie Auftrieb.
Humboldts Grundgedanken bilden bis heute die regulative Grundidee des Bildungsbegriffs. Sie versteht Bildung als Verhältnis zwischen dem individuellen Ich und der Welt, wobei die Individualität nur durch das Gegenüber, durch das sie sich konturieren kann, entsteht. Die Bildung der Kräfte zu einem Ganzen kann dabei nur gelingen, wenn das junge Kind nicht mit funktionalen Verpflichtungen gegenüber der Gesellschaft gedacht wird. Für die Diskussion grundlegend ist auch Fröbels, Montessoris oder Piagets Verständnis der frühen Kindheit. Fröbel (1839/1982) spricht von der frühen Kindheit als früher Bildungszeit und vom selbsttätigen Handeln des Kindes im Rahmen seines Bildungsprozesses. Diesen Gedanken hat Montessori (Helming, 2002) weitergedacht und hat auf der Basis von Beobachtungen autodidaktisches, auf Sinneserfahrung basierendes Material entwickelt, das Kinder selbstständig nutzen können. Auf diese Weise können sie ein Verständnis der Welt entwickeln. Die Unterstützung der Erwachsenen im kindlichen Bildungsprozess versteht Montessori dabei als Hilfe zur Selbsthilfe. Von besonderem Interesse für die frühkindliche Bildung ist dabei, dass sie in den ersten zwei bis drei Lebensjahren von einem inflationären Reichtum kindlicher Eindrücke ausgeht, der erst durch die Führung der Erwachsenen in eine Ordnung gebracht werden kann. Diese Ordnung wird jedoch nicht durch die Persönlichkeit der erziehenden Person hergestellt, sondern durch die Sache selbst. |19◄ ►20|Piagets (1981) Kernaussage wiederum besagt, dass die kognitive Entwicklung einem selbstkonstruktiven Prozess entspricht, in welchem das Kind auf der Basis seiner kognitiven Fähigkeiten Wissen konstruiert. Erwachsene spielen dabei eine lediglich sekundäre Rolle.
Zwar sind sowohl Humboldt als auch Fröbel, Montessori oder Piaget für die aktuelle frühkindliche Bildungsdiskussion von großer Bedeutung. Sie alle berücksichtigen soziale Prozesse – jedoch nur insoweit, als Erwachsene die Eigenständigkeit des Kindes akzeptieren müssen. Diese Perspektive genügt allerdings kaum. Wenn Pluralität ein konstitutives Element unserer Gesellschaft und Diversität eine soziale Tatsache darstellt, dann kann es kaum universelle Gesetzmäßigkeiten – so wie von Piaget postuliert – geben. Frühkindliche Bildung muss vielmehr als sozialer und kulturell bestimmter Prozess verstanden werden, an dem das gesamte gesellschaftliche Umfeld beteiligt ist. Bildungskonzepte müssen deshalb auf den Kontext und auf die Tatsache ausgerichtet werden, dass jedes Kind anders ist.
Darauf verweisen auch verschiedene empirische Befunde zur vorschulischen Förderung. Seit der internationalen PISA-Studie wird sie verstärkt im Hinblick auf ihre Fähigkeit, Startchancengleichheit bei Schuleintritt zu erreichen, diskutiert. Bekanntlich liegen verschiedene Untersuchungen vor, welche auf die großen Kompetenzunterschiede von Vorschulkindern bereits bei Eintritt in den Kindergarten (Stamm, 2004) und auf die Schwierigkeiten verweisen, diese Unterschiede bis zum Schuleintritt zu egalisieren (Moser et al., 2008). Deshalb besteht heute in der scientific community weitgehend Einigkeit, dass eine langfristig wirksame Förderung früher einsetzen muss. Wenn somit frühkindliche Bildung einen Beitrag zur Minimierung der sozialen Differenz respektive zur Umsetzung von Startchancengleichheit leisten soll, dann greift das humboldtsche Verständnis, aber auch Fröbels und Montessoris Ideen frühkindlicher Bildung als Selbstbildung zu kurz, weil sie keine Aussagen zur soziokulturellen Diversität und sozialen Komplexität machen.
Wie jedoch soll der frühkindliche Bildungsbegriff weiterentwickelt werden? Einen ersten Vorschlag formuliert Fthenakis, indem er ihn als «ko-konstruktiven Bildungsprozess» (2002) bezeichnet. Dabei spricht er vom kompetenten Kind, das sich Wissen selbst konstruiert, aus sich heraus lernt, die Welt erkundet und den aktiven Dialog sucht. Dies sind Aktivitäten und Kompetenzen, die im Hinblick auf die sprachliche, soziale und emotionale Entwicklung besonders wichtig sind. Allerdings ist dieser Perspektive entgegenzuhalten, dass kindliche Eigenaktivität und Selbsttätigkeit nur so lange Gültigkeit haben können, wie das Kind in einem geschlossenen, der Mehrheitsgesellschaft entsprechenden Familiensystem lebt und keine direkte Steuerung von außen braucht. Dies trifft in erster Linie für Kinder mit privilegiertem Bildungshintergrund zu, die in anregungsreichen Milieus aufwachsen und deshalb vieles |20◄ ►21|beiläufig lernen. Für Kinder, die in Armut oder in sozial deprivierten Verhältnissen – unter Umständen kumuliert mit Benachteiligungen aufgrund eines Migrationshintergrunds – aufwachsen, genügt auch das Modell der Ko-Konstruktion kaum. Geeigneter erscheint hingegen das von Rauschenbach (2006) beschriebene Konzept der Koproduktion. Gemeint ist damit, dass Kinder zwar «selbst konstitutiv am Bildungsgeschehen zu beteiligen sind, dass sie auf der anderen Seite auch gezielte Lernstimuli und gestaltende Lernumgebungen benötigen, wenn erfolgreiche Bildungsprozesse mit erhöhter Wahrscheinlichkeit zustande kommen sollen» (S.76). Dieses koproduktive Konzept überwindet sowohl das Konzept der Selbstbildung als auch dasjenige der Kokonstruktion auf zweifache Weise:
• indem es explizit den Austausch zwischen den Selbstbildungsfähigkeiten des Kindes und der Bereitstellung und Anregung von Bildungsmöglichkeiten durch die Umwelt, in Interaktion mit Gleichaltrigen und Erwachsenen, betont;
• indem es den gesellschaftlichen Blickwinkel einbezieht und die für eine erfolgreiche Schul- und Berufslauf bahn erforderlichen instrumentellen und sozialen Kompetenzen herausstreicht.
Was bedeutet eine solche Bildungskonzeption für das pädagogische Fachpersonal in familienexternen Betreuungsinstitutionen? Erstens erfordert sie ein neues, grundlegend anderes Betreuungs- und Instruktionsverständnis, das nicht mehr wie bis anhin ausschließlich auf Pflege und Versorgung respektive auf Begleitung, Unterstützung und Anregung ausgerichtet ist, sondern auf die behutsam-provokative Stärkung des Eigenanteils des Kindes an seiner vorschulischen Bildung. Zweitens erfordert sie eine Verstärkung schulvorbereitender Bildungsanstrengungen, die in erster Linie auf das junge Kind mit Minoritätshintergrund ausgerichtet sein sollen. Damit sind alle Kinder gemeint, die von sozialer Benachteiligung betroffen sind und durch Lebensbedingungen und Lebensführung von der anerkannten schulischen Wissens- und Lernkultur weit entfernt aufwachsen.
1.2 Was soll FBBE leisten?
Nicht nur die UN-Kinderrechtskonvention erachtet Bildung als den zentralen Schlüssel, um sozialer Ausgrenzung vorzubeugen und ihr entgegenzuwirken. Auch die UNESCO hat in ihrem Aktionsplan «Bildung für alle» sechs Bildungsziele festgehalten, deren erstes die frühe Bildung, insbesondere für Kinder aus benachteiligten Familien, darstellt (UNESCO, 2007). Was bedeutet dies für Deutschland und die Schweiz, |21◄ ►22|wo die PISA-Studie gezeigt hat, dass die späteren Chancen eines jungen Kindes davon abhängen, welchen Bildungsstand seine Eltern haben, wie viel sie verdienen und welche Sprache in der Familie gesprochen wird? In erster Linie bedeutet dies die Verpflichtung, Rahmenbedingungen bereitzustellen, welche die Rechte jedes Kindes – auch und insbesondere desjenigen aus benachteiligten Familien – auf Wohlergehen und Bildung garantieren. FBBE kann dazu einen wichtigen Beitrag leisten. Sie ist deshalb eine demokratische Verpflichtung, die auf drei miteinander eng verwobenen Ebenen zum Ausdruck kommt: auf der gesamtgesellschaftlichen, der organisatorischen und der praxisbezogenen Ebene.
• Auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene ist die Aufgabe von FBBE dreigeteilt: Erstens geht es darum, herkunftsbedingte Chancenungleichheit auszumerzen und damit das verfassungsmäßig verbriefte Recht aller Menschen auf Gleichbehandlung konsequent zu realisieren. Zweitens hat sie den Auftrag, in volkswirtschaftlicher Hinsicht in das Aufwachsen junger Kinder zu investieren. Dass sich solche Investitionen in den Vorschulbereich aufgrund ihrer hohen Bildungsrendite lohnen, ist eine vielfach belegte Tatsache (Stamm et al., 2009; Burger, 2010). Die dritte gesamtgesellschaftliche Aufgabe liegt in der breiten, allen Sozialschichten zugänglichen Verankerung von FBBE-Angeboten.
• Auf der Ebene der Organisationsstrukturen kommt FBBE die Aufgabe zu, unterschiedliche Betreuungs- und Bildungskonstellationen zu ermöglichen: Dazu gehören innerfamiliäre Konstellationen, Betreuungsverhältnisse durch Dritte (Verwandte, Babysitter, Au-pairs) sowie institutionalisierte Betreuungsverhältnisse (Krippen, Tageseltern etc.). Notwendig ist dabei, dass die Diskussion im Hinblick auf die optimale Form von FBBE zwar auf der Gleichberechtigung dieser Betreuungskonstellationen beruht, jedoch von entwicklungspsychologisch vorgegebenen und sozioökonomisch bedingten Besonderheiten der frühen Kindheit geleitet wird. So sind beispielsweise familienexterne Betreuungskonstellationen bei benachteiligt aufwachsenden Kindern dann besonders wichtig, wenn diese sprachliche oder soziale Defizite aufweisen, die innerfamiliär nicht behoben werden können.
• Die Ebene der konkreten Praxis fragt nach der praktischen Ausgestaltung von FBBE. Im Mittelpunkt stehen sowohl der Ausgleich von Bedürfnissen, die sich bei einzelnen Kindern aufgrund ihrer sozialen und kulturellen Herkunft ergeben, als auch die Förderung individueller Potenziale, Talente und Begabungen. Herzstück ist dabei die pädagogische Professionalität des Fachpersonals und die Qualität des Angebots, der Inhalte und der Prozesse. Diese «pädagogische» Qualität
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meint, dass FBBE entwicklungsadäquat ausgerichtet, kulturell angemessen und hochwertig sein soll. Auf diese Weise wird durch FBBE Chancengerechtigkeit realisierbarer.
Die Beantwortung der normativen Frage, was FBBE leisten soll, orientiert sich letztlich an ihrer Wirksamkeit. Diese ist in dreifacher Hinsicht nachgewiesen: in Bezug auf (a) den internationalen Vergleich der Bildungssysteme, (b) Modellprojekte zur frühen Förderung benachteiligter Kinder und (c) den volkswirtschaftlichen Ertrag.
• Dass FBBE Startchancengleichheit schaffen kann, wenn Bildungsprozessen bereits in den ersten Lebensjahren eine grundlegende Bedeutung beigemessen wird, zeigen verschiedene der erfolgreichsten PISA-Länder im Vergleich: Kanada oder Finnland zeichneten sich nicht nur durch die Leistungen ihrer 15-Jährigen in Lesen, Mathematik oder Naturwissenschaften aus, sondern verfügen auch über gut ausgebaute FBBE-Systeme und fördern darüber hinaus auch Kinder aus unterprivilegierten, bildungsfernen Schichten nicht nur besonders gut, sondern auch besonders kontinuierlich während der gesamten Schulzeit. Insbesondere in Kanada werden dabei FBBE-Angebote mit kognitiven Inhalten verknüpft, d. h. nicht nur mit Betreuung und Pflege, sondern auch mit intellektueller Anregung in spezifisch lernförderlich gestalteten Umgebungen.
• Dass ein solcher Weg besonders erfolgreich ist, zeigt auch die Wissenschaft auf: Der Großteil der verfügbaren Untersuchungen zu Modellprojekten belegt, dass FBBE-Angebote für benachteiligte Kinder besonders wirksam sein können. Sind sie von hoher Qualität, dann sind sie nicht nur in der Lage, die von der Bildungspolitik vielfach eingeforderte Startchancengleichheit bei Schuleintritt umzusetzen, sondern auch einen Beitrag zum späteren Schulerfolg dieser Kinder zu leisten. Denn sie brauchen weniger sonderpädagogische Stützmaßnahmen, müssen seltener Klassen wiederholen und zeigen später auch weniger abweichendes und delinquentes Verhalten (vgl. Burger, 2010, sowie Kapitel 10).
In volkswirtschaftlicher Perspektive wird in vielen Studien nachgewiesen, dass frühe Bildungsförderung genau an der richtigen Stelle ansetzt: Gemäß Cunha und Heckman (2007) sind die ökonomischen Effekte enorm, wenn man Kinder, insbesondere benachteiligte, sehr früh fördert. Unterstützt man sie hingegen erst im Jugendalter, dann sind die Effekte minimal. Eine umfassende Investition in den Frühbereich vermag somit nicht nur Chancenungleichheit bestmöglich auszubalancieren, sondern auch Humankapital durch mehr Wachstum zu fördern (vgl. Kapitel 10).
Zusammenfassend lässt sich aus diesen Befunden folgern, dass mit einem gut ausgebauten FBBE-System das Wachstumspotenzial einer Volkswirtschaft jährlich |23◄ ►24|bedeutsam gesteigert, das Ausmaß von Bildungsarmut und Kinderarmut hingegen gesenkt werden kann. Um dieses Ziel zu erreichen, sind jedoch ein Ausbau der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, eine bessere Qualität frühkindlicher Förderung durch eine Höherqualifizierung des Fachpersonals sowie eine Finanzierung erforderlich, die sich stärker an bildungsökonomischen Leitlinien orientiert. Auf diese Weise kann eine qualitativ hochstehende FBBE die Grundlage für das in einer Wissensgesellschaft wesentliche lebenslange Lernen schaffen. Dieses wiederum fördert die soziale, emotionale, physische, sprachliche und kognitive Entwicklung.
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2 Internationale Entwicklung
2.1 FBBE-Systeme
Dass ein Staat frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung als öffentliches Gut betrachten, sie systematisch ausbauen und qualitativ verbessern soll, ist heute international anerkannt. Doch wie sieht es in der Praxis tatsächlich aus? Ein Blick in die bildungs- und sozialpolitischen Agenden zu den Ausgaben für den Vorschulbereich zeigt beispielsweise, dass die Schweiz aktuell höchstens Mittelmaß ist und dass dies im Wesentlichen auch für Österreich, weniger jedoch für Deutschland, gilt. In Ländern wie England, Frankreich, den USA, Holland oder Skandinavien hat Frühförderung in Bildungs- und Sozialpolitik wie auch in der Forschung Tradition, und auch in Deutschland ist sie in den letzten Jahren zu einem Topthema geworden. Große Firmen wie McKinsey («McKinsey bildet: Frühkindliche Bildung») und Stiftungen wie die Naumann-Stiftung («Frühkindliche Bildung – Grundlage einer zukunftsfähigen Gesellschaft») oder die Bertelsmann-Stiftung («Kinder-früher-fördern»), aber auch deutsche Arbeitgeber verbände («Bessere Bildungschancen durch frühere Förderung») zeigen sowohl in finanzieller als auch in ideeller Hinsicht ein großes Engagement. Auch in der Schweiz engagieren sich Stiftungen zunehmend für die frühkindliche Bildung – beispielsweise im Rahmen der Grundlagenstudie «Frühkindliche Bildung in der Schweiz», die im Auftrag der UNESCO-Kommission durchgeführt worden war (Stamm et al., 2009), währenddem sich Engagements von Betrieben bislang eher in Grenzen halten.
2.1.1 Begrifflichkeiten als Abbilder der unterschiedlichen FBBE-Systeme
Bereits in der Einleitung wurde festgehalten, dass international unterschiedliche Begrifflichkeiten verwendet werden, wenn von frühkindlicher Bildung, Betreuung und Erziehung die Rede ist. Tabelle 2.1 präsentiert eine aktuelle Übersicht. Dabei ist zu beachten, dass die Bezeichnungen variieren und oft englischsprachige Begriffe wie childcare, daycare oder early education ohne Übersetzung in die Landessprache in internationalen Untersuchungen zu finden sind. Die Bezeichnungen sprechen sowohl von Bildung und Lernen als auch nur von Betreuung. Zum Beispiel verwendet Österreich noch weitestgehend den Begriff der «Kinderbetreuung». Es sind jedoch Diskussionen im Gang, vermehrt auf frühkindliche Bildung zu setzen (www.bildungsserver.de). |25◄ ►26|
SchweizFBBEDeutschlandFBBE; Bildung und Erziehung in Kindertagesbetreuung, frühkindliche Bildung■Krippen, Kindertagespflege etc. (0 – 3 Jahre)■Kindergarten mit einem Vorschuljahr (3 – 6 Jahre)ÖsterreichKinderbetreuung■Kindertagesstätten, Krippen, Tagesmütter (0 – 3 Jahre)■Kindergarten (3 – 6 Jahre)FrankreichL’éducation préscolaire■école maternelle (2 – 6 Jahre)■cycle des apprentissages premiers (die ersten drei Jahre)■cycle des apprentissages fondamentaux (die letzten drei Jahre)ItalienI servizi educativi per la prima infanzia■Asili nidi (0 – 3 Jahre) (Kinderkrippen)■Scuola dell’infanzia (2 – 6 Jahre) (Vorschule)■Scuola materna (3 – 6 Jahre) (Kindergarten)FinnlandEarly Childhood Education and Care (in Finnland)■Child daycare and early childhood education am Departement für Soziales und Gesundheit (finnische Informationsseiten)■Vorschule (Esikoulu/Förskola) (1 – 7 Jahre)DänemarkKindertagesbetreuung oder Vor- und Grundschule (Folkeskole)■Kinderkrippen (vuggestuer) (0 – 3 Jahre)■Kindergarten (børnehaver) (3 – 6/7 Jahre)■Kindergartenklasse (børnehaveklasse) (6 Jahre, als Übergang in die Schule)SchwedenVorschulwesen (förskoleverksamhet)■Vorschule (förskola) (0 – 6 Jahre)■Familientagesheim (familjedaghem) (für alle Kinder, die weiter weg wohnen von einer förskola oder besondere Bedürfnisse haben)■Offene Vorschule (öppen förskola) (optionale Tagespflege für Kinder, deren Eltern nicht berufstätig sind und die Kinder nur teilweise abgeben möchten)■Freizeitzentren (fritidshem) (zusätzliche Betreuung, auch für Schulkinder)GroßbritannienChildcare and Pre-School learning (0 – 5 Jahre)■Besondere Programme und Einrichtungen:■Programme wie Early Excellence Centre und Sure Start (Bildung und Betreuung sowie Unterstützung von Familien)■British Association for Early Childhood Education■Foundation stage 3 – 5 (Bildungsplan vorschulischer Bereich in Großbritannien)(seit September 2000)
Tabelle 2.1: Internationale Bestandsaufnahme zu den Begrifflichkeiten
Dass die Diversität der Begrifflichkeiten letztlich ein Abbild der unterschiedlichen FBBE-Systeme darstellt, ist schon in Kapitel 1 angesprochen worden. Grundlage der nachfolgenden Betrachtung bilden die Ergebnisberichte Starting Strong I (2001) und II (2006). Dabei handelt es sich um eine thematische Untersuchung der OECD, die im März 1998 durch den OECD-Bildungsausschuss ins Leben gerufen worden war und an der sich zwölf Länder (Australien, Belgien [flämischer und französischsprachiger |26◄ ►27|Teil], Großbritannien, Dänemark, Finnland, Italien, die Niederlande, Norwegen, Portugal, Schweden, die Tschechische Republik und die USA) beteiligten. Ziel war es dabei, länderübergreifende Analysen und Informationen über Systeme der Kindertagesbetreuung und der frühkindlichen Bildung in den einzelnen Ländern zu erhalten. In der zweiten Runde im Jahr 2004 nahmen auch Deutschland und Österreich teil, die Schweiz jedoch nicht. Ziel dieser zweiten Studie war es, den beteiligten Staaten Anregungen für die Weiterentwicklung der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung zu geben und die Erkenntnisse auf internationaler Ebene zu kommunizieren. Im Mittelpunkt der zweiten Studie standen neben dem Ländervergleich Herausforderungen und Entwicklungsaufgaben sowie Schlüsselelemente für eine erfolgreiche Kindertagesstättenpolitik, Fragen zur Qualitätsentwicklung und Zukunftsaufgaben.
Tabelle 2.2 gibt einen Überblick über die verschiedenen Systeme in ausgewählten OECD-Ländern. Sie macht beispielsweise ersichtlich, dass in Großbritannien der Staat die alleinige Verantwortung für die sozial- und bildungspolitische Strategie trägt, dass in den anderen Ländern auch die Verantwortung der Regionen dazukommt und dass in Schweden die dezentralisierte Organisation bedeutsamer ist als die Verantwortung des Staates. Auch in Bezug auf die strategische Ausrichtung ist Schweden ein Sonderfall. Während in allen anderen dargestellten Ländern eine dichotome Ausrichtung sowohl auf Bildung als auch auf soziale Wohlfahrt praktiziert wird, ordnet Schweden diese der Bildungsperspektive unter. Gleiches gilt für die bedienten Altersgruppen, welche hier von null bis sechs Jahren alle Kinder umfassen, während sie in einigen anderen Ländern zweigeteilt sind (Schweiz, Deutschland, Österreich). Schweden und Großbritannien sind ferner die einzigen der ausgewählten Länder, die das Angebot auch für Neugeborene sichern, während die anderen Länder eine untere Alterslimite von drei Monaten (Frankreich, Italien), sechs Monaten (Dänemark) oder einem Jahr (Finnland) festlegen. Sowohl das Kriterium der Verfügbarkeit als auch das der Finanzierung verdeutlichen die enorme Heterogenität der adressierten Gruppen und das unterschiedliche staatliche Engagement.
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Tabelle 2.2: Frühkind iche Bildung und Betreung in ausgewählten OECD-Ländern
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2.1.2 Öffentliche Investitionen: Eine Ländertypologie
Das Ausmaß, in welchem sich ein Staat im FBBE-Bereich engagiert, beeinflusst die Finanzierung, den Fokus und den Status, aber auch die Prozesse frühkindlicher Bildung. Um die unterschiedlichen Modelle einzelner Staaten diskutieren zu können, schlägt Bennett (2003) ein Modell vor, das in Tabelle 2.3 dargestellt ist und drei unterschiedliche Typen zutage fördert. Es gruppiert sich um das Niveau der öffentlichen Investitionen: Länder mit hohen Investitionen in öffentliche Angebote, Länder mit mittleren Investitionen in Vorschulmodelle und Länder mit tiefen Investitionen in gemischte Modelle. Der erste Typ umfasst Länder mit einem Bruttosozialprodukt (BSP) größer 1,0 %. Dazu gehören Kanada, Italien, Skandinavien oder Neuseeland. In diesen Ländern sind Angebote sowohl als Unterstützungsleistungen für Eltern und Kinder als auch als bildungsorientierte Vorschulprogramme etabliert. Sie sind von staatlichen Mitteln getragen, und es wird keine Unterscheidung zwischen Betreuungs- und Bildungsdimensionen gemacht. Dabei handelt es sich durchgehend um Ganztagsangebote für alle Kinder. Der zweite Typ charakterisiert Länder mit einem BSP zwischen 0,5 und 1,0% und großen, flächendeckenden Bildungsangeboten für Drei-bis Vierjährige. Dazu gehören Frankreich, Großbritannien, die Niederlande oder die USA. In diesen Ländern werden Kinder üblicherweise mit vier oder fünf Jahren eingeschult. Es gibt eine deutliche politische Unterscheidung zwischen Bildungs- und Betreuungsangeboten. Dies zeigt sich darin, dass Vorschulangebote außerhalb des Schulsystems angesiedelt sind. Viele Angebote schließen eine kompensatorische Bildungsdimension ein. Am bekanntesten sind die US-amerikanischen Head-Start- und Early-Head-Start-Programme (Bowman et al., 2000). Die Mehrheit der Vorschulangebote ist als Betreuungsdienstleistung mit Fokus auf Gesundheit, Sicherheit und Fürsorge konzipiert. Ihre Finanzierung erfolgt meist auf privater Basis, die gewinnorientiert oder gemeinnützig sein kann. Der dritte Typ schließlich fasst Länder mit einem BSP kleiner 0,5% zusammen. Dazu gehören Staaten wie Österreich, Deutschland, die Schweiz, Irland oder Korea. Sie betonen vor allem den freien Markt und erachten als ihr erstes Ziel, die soziale Verantwortung zurückhaltend, bedürfnisorientiert und selektiv zu gestalten. Bildung und Betreuung junger Kinder liegt deshalb in der privaten Verantwortlichkeit der Eltern und gilt als Dienstleistung für arbeitende Mütter und Väter. Entsprechend niedrig sind die öffentlichen Interventionen. Ihre Familienpolitik ist vorwiegend auf arme und risikobehaftete Familien/Kinder ausgerichtet.
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Tabelle 2.3: Paradigmen vorschulischer Betreuungs- und Bildungsinvestitionen (nach Bennett, 2003)
Ungeachtet dieser Typologien haben die gesellschaftlichen Veränderungen, die zunehmend diverse Bevölkerung sowie der Wandel der familiären Bedingungen und ihrer Strukturen zu sozialpolitischen Grundsatzdiskussionen über das Angebot frühkindlicher Bildungs- und Betreuungsleistungen des Staates geführt. Einer der Gründe liegt darin, dass die in den letzten Jahren stark gestiegene Nachfrage nach außerhäuslichen Betreuungsplätzen die großen Schwierigkeiten der Familien ersichtlich gemacht hat, Berufs- und Familienarbeit auszubalancieren. Aufgrund der Notwendigkeit, dass vielfach beide Elternteile verdienen müssen, ist diese Praxis zu einem regulären Familienmuster geworden. Eine Folge davon ist, dass die historische Position der Frauen als Familien- und Haushaltbetreuerinnen und die Tradition vieler Staaten, Kinderbetreuung als private Familienangelegenheit zu betrachten, zunehmend hinterfragt wird. Die Vernachlässigung des frühkindlichen Bereichs hat dazu geführt, dass zu wenig Angebote zur Verfügung stehen, Familien in der Folge nur limitierte und kostenintensive Auswahlmöglichkeiten haben und sie ihre Kinder notgedrungen auch in Angeboten variabler Qualität platzieren müssen, in denen eine entwicklungsangemessene Unterstützung und Förderung nicht immer gewährleistet ist. Diese Problematik wird zu einem virulenten Dilemma. Einerseits ergibt es sich aus dem zunehmenden Druck zu finanziellen Kürzungen, andererseits aus der gewachsenen Erkenntnis, dass die frühkindliche Bildung und Betreuung ein wichtiges Fundament des Gesellschafts-und Bildungssystems darstellt, seine Wirksamkeit jedoch nur entfalten kann, wenn es qualitativ hochstehend ist. Hohe Qualität ist jedoch mit höheren als bisher üblichen Kosten verbunden.
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2.1.3 Schulvorbereitendes versus sozialorientiertes Paradigma
Die in Tabelle 2.2 dargestellten Merkmale der einzelnen Länder stehen auch für unterschiedliche Paradigmen. Das eine Paradigma fokussiert auf schulvorbereitende Wissens- und Kompetenzbereiche wie Sprachförderung (literacy) und Zahlenverständnis (numeracy). Diesem Paradigma liegt ein Verständnis von Bildung als Ressource für die Erzeugung von Humankapital, zur Aufrechterhaltung von Wettbewerbsfähigkeit und Funktionstüchtigkeit zugrunde. Das andere Paradigma betont die Entwicklung des Kindes als ein in verschiedenen Domänen lernendes Individuum. Es warnt ausdrücklich vor einer zu frühen Konfrontation mit akademischen Lehrinhalten und betont den Wert des Spiels und sämtlicher vom Kind selbst ausgehenden kulturell geprägten Aktivitäten. Während das erste Paradigma auf einem instrumentellen Bildungsverständnis beruht, das Bildung auf Wissen und Schulvorbereitung fokussiert und beispielsweise in Frankreich, Großbritannien oder etwa in der französischsprachigen Schweiz zur Anwendung gelangt, basiert das zweite Paradigma auf einem subjektiv-konstruktivistischen Persönlichkeitsverständnis, das in der Tradition der fröbelschen Bildungsidee respektive der Reggio-Pädagogik liegt und die Sozialisation, Selbstbildung sowie Autonomie des Individuums und damit die Abgrenzung von der Schule betont. Dieses Paradigma ist in der deutschsprachigen Schweiz, in Österreich, Deutschland, Italien, Schweden oder Dänemark grundlegend.
Obwohl sich die Schwerpunkte der Vorschulprogrammatik und das Verständnis von Bildungs- und Betreuungsprozessen in den einzelnen Ländern dem vorherrschenden Paradigma entsprechend unterscheiden, lassen sich zwei allgemeine Tendenzen festhalten: Erstens ergeben sich sozusagen in allen Ländern Probleme im Übergangsbereich Vorschule – Primarschule, denen man auf unterschiedliche Art und Weise entgegenzutreten versucht. So ist in Irland bereits im 19. Jahrhundert die Integration der Vorschule in den Primarbereich erfolgt, in den Niederlanden ist dies seit 1985 der Fall. Verschiedene Länder haben in den letzten Jahren auch Bildungspläne für die frühe Kindheit entwickelt, so Neuseeland 1996, Schweden 1998 und England 2000 sowie in jüngster Zeit auch Deutschland. Zweitens wird in vielen Ländern versucht, die Sozialisations- und Bildungsfunktion zu kombinieren. Diejenigen Länder, die traditionell eher auf kognitive Bildung ausgerichtet sind, bemühen sich verstärkt um eine Annäherung an soziale Bildungsziele, während Länder wie die Schweiz oder Deutschland die soziale Funktion besonders betonen, sich jedoch mit neuen Schuleingangsmodellen vermehrt um die Förderung der intellektuellen Entwicklung bemühen (OECD, 2006, S. 33) und sich dabei an einem dynamischen Lern- und Leistungsbegriff orientieren.
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2.2 FBBE-Forschung
2.2.1 Historischer Rückblick
Die FBBE-Praxis hat eine lange Tradition. In den USA umfasst sie seit der Einführung der infant schools, der nursery schools oder der day care centers mehr als 150 Jahre. Ähnliches gilt für den deutschsprachigen Raum: Der erste Kindergarten ist von Fröbel im Jahr 1840 eingeführt worden, die erste Kinderkrippe bereits 1802 von Fürstin Pauline von Lippe. Die FBBE-Forschung jedoch hat eine deutlich kürzere Geschichte. Sie lässt sich in vier Wellen einteilen.
• Bis in die 1960er-Jahre fokussierte die einzige, meist angloamerikanische Forschung zu jungen Kindern ausschließlich auf die Entwicklungspsychologie. Vor allem die Reifungstheorie von Arnold Gesell blieb die akzeptierte entwicklungspsychologische Theorie. Sie postulierte, dass die meisten menschlichen Eigenschaften vorwiegend genetisch determiniert seien und deshalb bereits bei der Geburt festgesetzt seien. Deshalb würde feststehen, dass eine durch Reifungsmechanismen bestimmte Entwicklung in ihrer reinen Form unabhängig von Förderung und Unterricht verlaufe und die Intelligenz eines Menschen nicht verbessert oder modifiziert werden könne. Dementsprechend galt der Kindergarten als Ort, an dem die Kinder betreut werden sollten, damit sie ihre Sozialkompetenz entwickeln konnten. Die Bildung jedoch blieb der Grundschule vorbehalten.
• Grundsätzliche Veränderungen brachten die 1960er-Jahre, in Europa die 1970er-Jahre. Nachdem die Raumfahrtanstrengungen der Sowjetunion die internationale Wettbewerbsfähigkeit der USA auf eine harte Probe gestellt hatten, wurde im Zuge dieses «Sputnikschocks» Bildung und damit die Frage, wie die frühe intellektuelle Entwicklung der Kinder optimal unterstützt werden könnte, zu einem wichtigen Faktor im Wettbewerb des Westens gegen den Osten. In der Folge wurden in den USA und später auch in Europa viele Vorschulinitiativen ergriffen. In den USA hießen sie Head-Start und kompensatorische Erziehung, im deutschsprachigen Raum waren es Programme zur kognitiven Frühförderung, zur Intelligenzentwicklung und zum Frühlesen (Lückert, 1969). Erstmals wurden solche Programme auch wissenschaftlich begleitet.
• Dieser Trend der wissenschaftlichen Fundierung setzte sich mit den Fortschritten in der Entwicklungspsychologie fort, insbesondere in der kognitiven Entwicklungspsychologie Piagets. Allerdings fokussierte diese fast ausschließlich auf kognitive Funktionen, weshalb der umfassende Bildungsgedanke verloren
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ging. Dazu trugen auch die neuen Ansätze von Hunt (Bedeutung der Umweltstimulierung), Bloom (Analysen zur Intelligenzentwicklung), Roth (dynamischer Begabungsbegriff), Bronfenbrenner (Ökologie der menschlichen Entwicklung als Wechselwirkungen) oder Bruner (entdeckendes Lernen durch Umweltstimulierung) bei (vgl. zur Geschichte der Entwicklungspsychologie Montada, 1987, S. 11 ff.).
• In den 1970er- und 1980er-Jahren kehrte die Situation mit dem sogenannten Situationsansatz fast ins Gegenteil. Er gilt bis heute gewissermaßen als «pädagogische Theorie» des Kindergartens. In seinem Mittelpunkt steht das soziale Lernen, dem andere Kompetenzen – wie beispielsweise sprachliche oder mathematische Vorläuferfähigkeiten – lediglich zugeordnet werden. Allerdings wurden viele Modelle entwickelt, sodass man nicht von dem Situationsansatz sprechen kann. Zwischenzeitlich wurde der Situationsansatz mit viel Kritik belegt. Bemängelt wurden vor allem seine Offenheit, die immensen Anforderungen an das Personal, die Missverständlichkeit der Konzepte, welche leicht zu einem Laisser-faire-Stil respektive zu einer Benachteiligung bestimmter Kindergruppen führen könnten, und dass er die Bildungsförderung der Kinder insgesamt vernachlässige (vgl. dazu auch Fried, 2003). Ein im Hinblick auf die FBBE-Thematik besonders gewichtiger Vorwurf ist der, dass der Situationsansatz vom starken, vom von sich aus aktiv mit der Umwelt sich auseinandersetzenden Kind ausgehe und den Gedanken ausblende, dass es Kinder gebe, welche auf Unterstützung und Hilfe angewiesen seien.
• Seit den 1990er-Jahren, vor allem jedoch seit der Jahrhundertwende, konzentriert sich nun auch die deutschsprachige Forschung, vor allem auch im Zuge der Entwicklung der Neurowissenschaften sowie der Entwicklungs- und Kognitionspsychologie, zunehmend auf die frühe Kindheit und den damit verbundenen Bildungsgedanken. So sind verschiedene Forschungsinitiativen lanciert worden, welche auf die Mulitdimensionalität der frühen Kindheit verweisen. Dazu gehören beispielsweise die im Jahr 2005 begonnene BiKS-3 – 8-Studie («Bildungsprozesse, Kompetenzentwicklung und Selektionsentscheidungen im Vorschulalter») an der Universität Bamberg oder die FRANZ-Studie («Früher an die Bildung – erfolgreicher in die Zukunft ?»), die im Februar 2010 an der Universität Fribourg (Schweiz) gestartet ist.
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2.2.2 Schwerpunkte der aktuellen Forschung
Welche Bildungs- und Betreuungsangebote junge Kinder brauchen und welche Konzepte vorschulische Institutionen ihnen vorlegen sollten – diese Frage ist auch heute nicht gelöst. Trotzdem besteht mehrheitlich Konsens, dass aufgrund unserer diversifizierten Gesellschaft Förderangebote flexibel auf die Bedürfnisse und Fähigkeiten des Kindes und auf ihre Kontexte ausgerichtet werden müssen. Die nachfolgend dargestellten Schwerpunkte der aktuellen Forschung zur Pädagogik der frühen Kindheit spiegeln diesen Konsens. Sie fokussieren auf die kulturelle Diversität und ihre Folgen, auf Eltern- und Familienbildungsarbeit und damit verbundene Betreuungsfragen sowie auf die frühere Förderung junger Kinder.
1.Sensitivität gegenüber kulturellen Differenzen und Hinwendung zu Risikogruppen: Das Bewusstsein, allen Kindern einen chancengleichen Zugang zu einer qualitativ hochstehenden Vorschuleinrichtung zu ermöglichen, ist in den letzten Jahren stark angestiegen. Als Erstes hat es sich in der Sprachforschung niedergeschlagen. Grundlegend war dabei die in den Sozialwissenschaften verbreitete Annahme, dass Kinder, die nicht so sprechen, handeln und denken, wie dies die Gesellschaft von ihnen erwartet, in der Schule benachteiligt werden. Solche Annahmen haben sich in zahlreichen empirischen Studien bestätigt. Nachdem lange Jahre diese Defizithypothese Bestand hatte, ist in den letzten Jahren ein Wandel zu pluralistischeren Entwicklungsmodellen in Gang gekommen. Daraus haben sich neue Perspektiven ergeben, welche zwischen Kompetenz und Entwicklung unterscheiden und auf unterschiedliche Lebenserfahrungen in den Vorschuljahren hinweisen. In diesem Zusammenhang hat sich auch die empirisch breit abgestützte Erkenntnis etabliert, dass vorschulische Interventionen zur Ausbalancierung von sozialen Benachteiligungen beitragen oder sie gar verhindern können. Erste Interventionsprogramme richten sich auf Kinder mit Sprachproblemen und/oder solche aus benachteiligten familiären Milieus. Ein Teil der Angebote arbeitet ausschließlich mit Kindern, während andere größere Bedeutung auf die Unterstützung der Erziehungs-, Bildungs- und Betreuungskompetenz der Familie legen. «Mit ausreichenden Deutschkenntnissen in den Kindergarten» ist beispielsweise ein Schweizer Projekt, das im Kanton Basel-Stadt lanciert worden ist. Es zielt darauf ab, dass Kinder, deren Erstsprache nicht Deutsch ist bzw. die aus sozial benachteiligten oder bildungsfernen Familien stammen, vorschulische Förderung erhalten, damit sie bei Eintritt in den Kindergarten und anschließend in die Schule die gleichen Startchancen haben wie nicht benachteiligte Kinder.
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2.Eltern- und Familienbildungsarbeit und die Frage der Betreuung: Dass das Elternhaus die kindliche Entwicklung maßgebend beeinflusst und alle schulischen und extrafamiliären Interventionen seine Qualität nicht ersetzen können, war zwar bereits eine wesentliche Erkenntnis des Coleman- und des Plowden-Reports (Coleman et al., 1966; Plowden, 1967) und wurde nachfolgend in vielen Untersuchungen bestätigt (Holodynski & Oerter, 2002), doch verstärkte sich das Interesse an Eltern- und Familienbildung erst in den letzten Jahren. Elternbildung gilt heute als eine Form der Familienbildung, die auf die Stärkung der Familie als Erziehungsinstanz ausgerichtet ist und die Eltern darin anleitet, wie sie ein entwicklungsförderndes Sozialisationsumfeld schaffen können. Die Effekte vieler Elternbildungsprogramme sind jedoch recht bescheiden. Einer der Hauptgründe liegt darin, dass elterliche Erziehungspraktiken schwierig zu verändern sind. Weil Familienwerte in sozioökonomische Kontexte eingebaut sind, verändern sie sich nur, wenn auch bedeutsame Veränderungen in anderen Dimensionen des täglichen Lebens stattfinden. Dazu gehören Veränderungen in Einkommen und Haushalt sowie in der sozialen Referenz auf Gruppenwerte und Verhaltensweisen.
3.Familienergänzende Betreuung: Inwiefern familienergänzende Betreuung dem Kind schadet oder seiner Entwicklung förderlich ist, wird auf der Basis widersprüchlichster Positionen debattiert. Gegner der familienergänzenden Betreuung argumentieren mit Entwicklungsrisiken, Befürworter mit Entwicklungsvorteilen für die Kinder. Von beiden Seiten kaum zur Kenntnis genommen werden jedoch die wissenschaftlichen Erkenntnisse, wonach das junge Kind in seinen ersten drei Lebensjahren wegen seiner körperlichen und seelischen Verletzlichkeit ganz besonders auf eine schützende und stabile Umgebung angewiesen ist. An die ihm am verlässlichsten zur Verfügung stehenden Personen bindet es sich. Die Stabilität seiner Beziehungen fördert die soziale und kognitive Entwicklung. Verschiedentlich problematisiert die Forschung deshalb hohe zeitliche Anteile von Krippenbetreuung im ersten Lebensjahr.
4.Frühere Förderung: Die aktuelle Forschung erhält weiteren Auftrieb durch bildungspolitische Pläne, das Schuleintrittsalter vorzuverlegen (in der Schweiz), die Schuleingangsphase neu zu gestalten (in der Schweiz und in Deutschland) und die kognitive Bildungsfunktion vorschulischer Einrichtungen generell zu verstärken (Roßbach, 2005). Vor diesem Hintergrund wird verständlich, weshalb der diskursive Spannungsbogen so groß ist und von Befürchtungen reicht, die frühe Kindheit würde verschult und familienexterne Betreuung führte zu Verhaltensproblemen, bis zu euphorischen Hoffnungen, FBBE könne per se
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sowohl die Sicherung einer langfristigen kognitiven Neugier als auch einer besseren Sozialkompetenz aller Kinder garantieren und darüber hinaus auch einen wesentlichen Beitrag zur Herstellung von Startchancengleichheit für benachteiligte Kinder bei Schuleintritt leisten.
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3 Kognitive, soziale und emotionale Entwicklung
Die Entwicklungspsychologie ist von verschiedenen Philosophen wie Descartes, Locke, Kant oder Marx geprägt. Descartes (1596 – 1650) beispielsweise ging vom Menschen als einem vernunftbegabten Wesen aus, das von Gott eine Art «Grundausstattung» von angeborenen Ideen mitbekommt. Dazu gehören etwa die Gesetze der Logik und der Mathematik. Descartes erachtete Erkenntnis als Wiedererkennen von bereits in der Seele schlummernden Vorstellungen. Locke (1632 – 1704) wiederum ging davon aus, dass der Mensch als tabula rasa, als leeres Blatt, das Licht der Welt erblickt und erst durch die Erfahrungen des Lebens geformt wird. Rousseau (1712 – 1778) war überzeugt, dass jeder Mensch Stufen der Entwicklung vom Neugeborenen bis zum Erwachsenen universell durchläuft, weil sie von der Natur weitgehend vorgegeben sind. Deshalb ging er davon aus, dass Versuche pädagogischer Einflussnahme eher schaden als nützen, weil die Entfaltung der förderlichen Anlagen des Menschen damit behindert werde.
Im vorhergehenden Kapitel ist dargestellt worden, dass die Pädagogik der frühen Kindheit seit vielen Jahren dazu tendiert, für eine bestimmte Zeit auf eine oder zwei große Theorien zu fokussieren, um dann zu einer anderen zu schwenken. So wurde aufgezeigt, dass in den 1960er-Jahren behavioristische Perspektiven und positive Verstärkung federführend waren, während es heute vor allem kognitionspsychologische und sozialanthropologische, mit den Erkenntnissen der Hirnforschung verknüpfte theoretische Ansätze sind. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, weshalb es keine lineare Verbindung zwischen einer einzelnen Entwicklungstheorie und einem einzelnen pädagogischen Zugang gibt. Die nachfolgenden Ausführungen fokussieren deshalb auf allgemeine, teils traditionelle, teils neue, Erkenntnisse zur kognitiven, sozialen und emotionalen Entwicklung sowie auf Entwicklungs- und Sozialisationsrisiken.
3.1 Kognitive Entwicklung
Vor fast 40 Jahren waren es Kohlberg und Mayer (1972), die in den USA die hauptsächlichen theoretischen Positionen der frühkindlichen Bildung mit Begriffen wie Romantizismus, kulturelle Transmission und Progressivismus herausarbeiteten. Unter Romantizismus verstanden sie eine innengerichtete Reifungsperspektive und unter kultureller Transmission eine außengesteuerte behavioristische Perspektive. Der Progressivismus wiederum war eine Kennzeichnung der selbst konstruierten, phasenbestimmten Position.
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Im Verlaufe der 1970er-Jahre wurde Piagets Phasentheorie in den USA bekannt. Sie setzte beim Progressivismus an und bildete einen Meilenstein in der Entwicklungspsychologie. Etwa gleichzeitig erlangte Wygotskis soziokulturelle Theorie (1971) eine gewisse Beachtung, doch blieb sie lange hinter dem Primat Piagets zurück. Heute sind beide Ansätze etwas in den Hintergrund getreten. FBBE-Konzepte werden weit stärker mit der Hirnforschung als mit den Erkenntnissen Piagets oder Wygotskis legitimiert. In der Tat ist die Hirnforschung ein faszinierendes neues Wissenschaftsfeld. Drei ihrer vielen Botschaften sind sicher sehr bedeutsam für die frühkindliche Bildung:
• dass wir die geistige Leistungsfähigkeit unserer jungen Kinder bislang stark unterschätzt haben,
• dass die Sinnesorgane – gesunde Augen und Ohren – besonders wichtig sind für eine gute Entwicklung,
• dass die Lernumwelt anregend und anspruchsvoll sein soll.
Selbstverständlich ist auch das vielfach formulierte Argument gewichtig, dass sich in den ersten Lebensjahren die Verbindung der Nervenzellen im Gehirn in weit höherem Maße verdichten als in späteren Jahren und dass die Lernkapazität in dieser Zeit deshalb besonders groß ist. Aber dieses Argument verdeckt die Tatsache, dass es auch ein stark reifungsabhängiges Lernen gibt, so wie dies Piaget immer wieder betont hat. Ein Sauberkeitstraining beispielsweise ist erst möglich, nachdem sich bestimmte Nervenverbindungen herausgebildet haben. Im Ergebnis müssen viele Erkenntnisse der Hirnforschung als noch ungesichert bezeichnet werden, sodass eine angemessene Zurückhaltung ihrer Postulate am dienlichsten erscheint.
3.1.1 Piagets kognitive Entwicklungstheorie