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Einleitung
Im 20. Jahrhundert wurde die Kindheit als eigenständige Lebensphase mit speziellen Entwicklungsbedingungen und Ansprüchen entdeckt. Erstmals wurden Rechte der Kinder formuliert, in der UN-Kinderrechtskonvention fixiert und ihre weltweite Durchsetzung angestrebt. Eines dieser Rechte ist das Recht des Kindes auf Bildung. Im Zuge der globalisierten Wirtschaft und ihren neuen Herausforderungen ist Bildung zur zentralen Ressource geworden, die ihr Potenzial im internationalen Wettbewerb unter Beweis stellen soll. Im Zusammenhang mit länderübergreifenden Schulleistungsstudien wie TIMMS und PISA haben deshalb viele Länder ihre Bildungssysteme überprüft und neu reguliert. In diesem Kontext und als Konsequenz von neuen Forschungserkenntnissen aus den Neurowissenschaften sowie der Entwicklungs- und Familienpsychologie wird die frühe Kindheit zunehmend als bedeutsame Phase in der individuellen Bildungsbiografie eines Menschen erkannt und als erster Schritt im Prozess des lebenslangen Lernens begriffen. Das internationale Interesse manifestiert sich denn auch in einem starken Anstieg der Bildungs-, Integrations-, Betreuungs- und Erziehungsarbeit in diesem Sektor (vgl. dazu auch die beiden Starting-Strong-Berichte der OECD von 2001 und 2006).
Diese Entwicklung trifft die Pädagogik relativ unvorbereitet, hat sie doch bislang die frühe Kindheit vernachlässigt. Wohl gibt es eine ausgedehnte Kindheitsforschung, doch hat das Thema Kindheit vor dem Schuleintritt noch wenig Tradition. Deshalb stehen noch wenig Antworten auf Fragen zur Verfügung, die Auskunft darüber geben, was frühkindliche Bildung ist, wie sie mit Betreuung und Erziehung verknüpft ist, wozu sie dient und mit welchen Inhalten sie versehen werden soll. Sie ist noch weitgehend eine Black Box. Angesichts der im gesamten deutschen Sprachraum entwickelten oder in Entwicklung begriffenen Bachelor- und Masterstudienprogramme im Bereich der frühen Kindheit sowie der verstärkten Etablierung von privat und staatlich verantworteten Betreuungs- und Bildungsangeboten wiegt dieser Mangel doppelt. Dazu kommt die große Meinungsvielfalt von Bildungs- und Sozialpolitikern. In den aktuellen medialen Diskursen äußert sie sich in unterschiedlichen, häufig ideologisch gefärbten Facetten, welche eine Unterscheidung von wissenschaftlich geprüften Erkenntnissen erschweren. Was uns somit mangelt, ist eine wissenschaftsbasierte, ideologiefreie Auseinandersetzung mit der Thematik.
Warum jedoch hat die frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung (FBBE) eine so große Bedeutung erlangt? Zum einen aufgrund der Wissensexplosion in der Entwicklungspsychologie, den Neurowissenschaften und der Lehr-/Lernforschung, welche den ungeheuren Enthusiasmus und die Lernkompetenz junger Kinder ins |11◄ ►12|gesellschaftliche Bewusstsein gerückt hat. Zum anderen sind es aktuelle bildungs- und gesellschaftspolitische Herausforderungen, welche die Brisanz der Thematik unterstreichen und sie nicht lediglich als Modeerscheinung deklassieren. Die Bedeutung von FBBE lässt sich vierfach legitimieren:
• Die ersten Lebensjahre sind die kritischste Phase für die Entwicklung eines Kindes. Dies gilt in sozialer, emotionaler und intellektueller Hinsicht. In der frühen Kindheit wird ein wichtiger Grundstein für den späteren Bildungs- und Lebenserfolg gelegt. Was hier unterlassen wird, kann später nur mit großem Aufwand aufgeholt werden. Die ersten fünf Lebensjahre sind eine Zeit enormen Anwachsens linguistischer, sozialer, emotionaler und motorischer Kompetenzen. Schon ab Geburt lässt sich dieser Kompetenzerwerb bei einem gesunden Kind beobachten, wenn es die Umgebung auszukundschaften beginnt, zu kommunizieren lernt und Ideen darüber konstruiert, wie die Dinge in seiner Umgebung ablaufen.
• Die Lerngeschwindigkeit eines jungen Kindes ist jedoch davon abhängig, inwiefern seine Neugier auf ein engagiertes, sensibles und förderliches Umfeld trifft. Der Aufwachskontext beeinflusst seine Entwicklung, seine Lern- und Bildungsprozesse in einem großen Ausmaß. Sollen junge Kinder somit Bildungsangebote annehmen können, müssen sie in gut entwickelte Beziehungsstrukturen eingebettet sein. Für den Aufbau einer allgemeinen Bildungsbereitschaft ist es deshalb besonders wichtig, dass ein Kind soziale Beziehungen sowohl in seiner Herkunftsfamilie als auch in seinem weiteren Umfeld pflegt und sich in diesem Beziehungsraum geborgen und emotional sicher fühlen kann. Deshalb kommt in den ersten Lebensjahren nicht nur Betreuungs-, sondern auch Bildungsprozessen eine grundlegende Bedeutung zu. Dies gilt sowohl für Kinder mit förderlichem als auch mit ungünstigem familiärem Hintergrund. Für diese Kinder gilt es jedoch ganz besonders.
• Insbesondere in Deutschland und der Schweiz sind Bildungschancen stark durch die soziale Herkunft bestimmt. Kinder aus unterprivilegierten, bildungsfernen Familien haben bereits beim Eintritt in den Kindergarten nicht die gleichen Chancen wie privilegiert und bildungsnah auf wachsende Kinder. Die Förderung muss deshalb bereits in den ersten Lebensjahren einsetzen. Dies gilt insbesondere auch deshalb, weil viele Längsschnittstudien aufzeigen, dass sich Leistungspositionierungen von Kindern über die Schuljahre hinweg nicht wesentlich verändern: Wer beim Schuleintritt vorne liegt, wird diese Position wahrscheinlich auch am Ende der Schulzeit innehaben, wer sie mit Defiziten beginnt, wird in den nachfolgenden Schuljahren mit Auf holen beschäftigt sein. Deshalb gilt: Je besser|12◄ ►13|die frühen Jahre für FBBE genutzt werden, desto chancengerechter können Potenziale entdeckt, Defizite erkannt und allen Kindern gerechtere Startchancen für ihre nicht voraussehbare Zukunft gegeben werden.
• Das heute veränderte Rollenverständnis zwischen den Geschlechtern erhöht die Nachfrage nach außerfamiliären Betreuungsangeboten. In allen deutschsprachigen Ländern bestehen jedoch nach wie vor große und ungelöste Herausforderungen, Familie und Beruf ökonomisch und qualitativ verträglich zu vereinbaren. Dazu kommt, dass hochwertige Ausbildungen von jungen Frauen und Männern zu individuellen und volkswirtschaftlichen Verlusten führen, wenn ein Elternteil aus dem Berufsleben ausscheidet.
Was versteht man nun unter frühkindlicher Bildung, Betreuung und Erziehung? Diese Frage als Erstes zu beantworten ist zentral für die Lektüre dieser Publikation und das in ihr entfaltete Verständnis. Denn aktuell gibt es in allen deutschsprachigen Ländern, insbesondere in der Schweiz, einen relativ vehementen Widerstand gegenüber dem Ansinnen, die «Bildung» in der frühen Kindheit zu verankern. Nicht selten wird sie sogar als einer glücklichen Kindheit abträglich erachtet. Der Grund für diese Ablehnung liegt hauptsächlich darin, dass unter frühkindlicher Bildung die Vorverlegung schulischer Inhalte in den bis anhin bildungsfreien Vorschulraum verstanden wird. Frühkindliche Bildung ist jedoch etwas anderes. Sie meint die Anregung aller Kräfte eines Menschen, damit sie sich entfalten können, eine tätige Aneignung der Welt erlauben und zu einer selbst bestimmenden Individualität führen (vgl. dazu auch von Hentig, 1996). Diese kindliche Aneignungstätigkeit entspricht dem angeborenen Drang des Kleinkindes, selbsttätig zu sein, zu erkunden, zu beobachten, zu fragen und zu kommunizieren, sich Wissen anzueignen und sich ein Bild von der Welt zu machen. Solche Aneignungstätigkeiten sind jedoch auf die Unterstützung einer anregungsreichen, liebevollen und beschützenden Umwelt angewiesen. Dies ist die Aufgabe der frühkindlichen Betreuung. Sie umfasst die Einbindung in eine Gemeinschaft und die altersangemessene Pflege und Versorgung des Kindes, um seine elementaren physischen und psychischen Bedürfnisse zu stillen. Erziehung schließlich, die auf Bildung zielt und sich auf Betreuung abstützt, meint die bewusste Gestaltung der Umwelt des Kindes und die Interaktion mit ihm, um erwünschte Verhaltensweisen zu fördern und unerwünschte zu vermeiden oder zu korrigieren.
Frühkindliche Bildung und Betreuung gehören damit immer zusammen und bilden mit der Erziehung zusammen das Kürzel «FBBE». Dass für die vorliegende Publikation dieser Begriff gewählt worden ist, hat seinen Grund in der internationalen Gepflogenheit, von «Early Education» zu sprechen. In der internationalen Perspektive umfasst «Education» traditionellerweise sowohl Bildung als auch Betreuung und |13◄ ►14|Erziehung. In der Vergangenheit ist zwar verschiedentlich versucht worden, andere Begriffe zu finden. So verweist Hayes (2007) auf die Wortschöpfung «educare», mit der versucht wurde, eine Balance zwischen den beiden Begriffen herzustellen und einen Zugang zu Bildung zu beschreiben, der eine entwicklungsangemessene Mischung von Betreuung («care») und Bildung («education»), von Stimulation und Pflege, offeriert. Obwohl sich der Begriff bis heute nicht durchgesetzt hat, zeigt er zumindest, wie «care», also Betreuung, rekonzeptualisierbar wird, sodass sie gleichwohl mit Bildung in die frühkindlichen Prozesspraktiken eingeordnet werden kann.
Die Elemente von FBBE zusammenzudenken, ist jedoch nur die eine herausfordernde Seite der Medaille. Die andere Seite liegt darin, sie auch strukturell-organisatorisch zusammenzubringen. Diese Forderung formuliert die OECD in ihrem Bericht Starting Strong II von 2006, der von einem einheitlichen Vorschulraum ausgeht, in dem Betreuungs- und Bildungsfunktion miteinander verzahnt sind. Trotz solcher Forderungen ist der Gedanke einer «Bildung von Anfang an» in allen deutschsprachigen Ländern noch nicht selbstverständlich. Spezifisch für die Schweiz liegt die große Herausforderung darin, dass die Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) sowie die Sozial- und Gesundheitsdirektoren (SODK) die Aufgliederung der beiden Bereiche festgeschrieben haben: So soll die SODK zukünftig die Zuständigkeiten für den Frühbereich (null bis vier, fünf Jahre), der traditionell betreuende, sozial-karitative Züge trägt, übernehmen und die EDK die Verantwortung für die obligatorische Schule, die den Bildungsauftrag schlechthin verkörpert.
Diese Publikation verfolgt zwei Anliegen: Erstens will sie eine umfassende und interdisziplinäre Synthese von Theorie, Forschung und Praxis für die Ausbildung von Studierenden im FBBE-Bereich liefern. Da dieser Bereich im deutschsprachigen Europa erst seit relativ kurzer Zeit beforscht wird und wir zu großen Teilen auf die Erfahrungen anderer Länder angewiesen sind, stützt sich die Publikation auch auf angloamerikanische Erkenntnisse. Grundlage bilden jedoch die deutschsprachigen Forschungsbefunde und die in den letzten Jahren publizierte Fachliteratur (beispielsweise Fried & Roux, 2006; Thole et al., 2008; Stamm & Edelmann, 2010). Zweitens möchte die Publikation einen Beitrag zur Entideologisierung der aktuellen bildungspolitischen Diskussion liefern. Deshalb versucht sie Brücken zwischen Forschung und Praxis zu bauen und wissenschaftliche Befunde in verständliches Praxiswissen zu transferieren. Damit bekommt die Leserschaft ein Instrument in die Hand, das ihr nicht nur Wissen vermittelt, sondern sie auch anregt, sich mit den aktuellen und den zu erwartenden Diskursen auseinanderzusetzen und sich dabei ein eigenes Urteil zu bilden. Dieses Ziel ist jedoch eine große Herausforderung, sind doch viele Ergebnisse der frühkindlichen Bildungsforschung keineswegs so klar, wie sie allenthalben dargestellt werden.
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Die Publikation, welche vier Schwerpunkte und 13 Kapitel umfasst, richtet sich an alle, die im FBBE-Bereich tätig sind oder planen, in ihm tätig zu werden: an Studierende an Fachhochschulen, Universitäten und höheren Fachschulen, an frühpädagogisches Fachpersonal, an Eltern und an bildungs- und sozialpolitisch Tätige sowie an interessierte Laien. Der erste Schwerpunkt behandelt in den Kapiteln 1 bis 5 die Grundlagen. Dabei geht es sowohl um die Begrifflichkeiten als auch um eine internationale Bestandsaufnahme und um die drei fundamentalen Themen der kognitiven, sozialen und emotionalen Entwicklung zwischen null und sechs Jahren, um individuelle und kulturelle Unterschiede zwischen den Kindern sowie um die Familie, ihre Rolle und die Bedeutung der familienexternen Kinderbetreuung. Der zweite Schwerpunkt widmet sich den Vorschulangeboten und ihrer Qualität. Im Mittelpunkt stehen das Was und Wie der FBBE, deren Qualität und Standards sowie die Professionalität des Personals (Kapitel 6 bis 8). Der dritte Schwerpunkt fragt nach der Wirksamkeit von FBBE. Untersucht werden ihre Auswirkungen auf den Schulerfolg und die Frage nach ihrem volkswirtschaftlichen Nutzen (Kapitel 9 und 10). Im vierten Schwerpunkt werden die wichtigsten aktuellen Diskurse unter die Lupe genommen: die Dichotomie zwischen Bildung und Betreuung, die Auseinandersetzung mit der Frage, ob frühere und intensivere FBBE-Maßnahmen in jedem Fall besser sind, sowie die Diskussionen um die frühere Einschulung (Kapitel 11, 12 und 13).
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1 FBBE: Was sie meint und was sie leisten soll
1.1 Was ist FBBE?
Jedes Kind hat ein Recht auf Bildung, Betreuung und Erziehung – von Geburt an. Die UN-Kinderrechtskonvention, welche dieses Bildungsrecht explizit festhält, fußt auf dem Grundgedanken, dass alle Rechte in erster Linie auf das Wohl des Kindes abzielen sollen. Das bedeutet, dass die Bedürfnisse des Kindes und nicht die Bedürfnisse der Eltern respektive der Erziehungsverantwortlichen im Mittelpunkt stehen müssen. FBBE muss deshalb im Hier und Jetzt gedacht werden. Nicht zufällig hat Janusz Korczak vom «Recht des Kindes auf den heutigen Tag» (Korczak, 1981, S.64) gesprochen. Gerade weil Kinder unsere Zukunft sind, müssen wir sie vom ersten Tag an, ohne Rücksicht auf ihre Herkunft, so fördern, dass sie sich kreativ und ihrem Potenzial entsprechend entwickeln können. Hinter dieser Vorstellung verbirgt sich das humboldtsche Bildungsverständnis des Kindes als «Aneignung von Welt» oder als Selbstbildung (Schäfer, 2004). In dieser Tradition ist Bildung von der subjektiven Eigenleistung abhängig. Sie ist es, die einen Lernprozess zu einem Bildungsprozess macht. Diese Sichtweise bekommt nun auch durch die Befunde der Hirnforschung, der Entwicklungsneurologie und der Systemtheorie Auftrieb.
Humboldts Grundgedanken bilden bis heute die regulative Grundidee des Bildungsbegriffs. Sie versteht Bildung als Verhältnis zwischen dem individuellen Ich und der Welt, wobei die Individualität nur durch das Gegenüber, durch das sie sich konturieren kann, entsteht. Die Bildung der Kräfte zu einem Ganzen kann dabei nur gelingen, wenn das junge Kind nicht mit funktionalen Verpflichtungen gegenüber der Gesellschaft gedacht wird. Für die Diskussion grundlegend ist auch Fröbels, Montessoris oder Piagets Verständnis der frühen Kindheit. Fröbel (1839/1982) spricht von der frühen Kindheit als früher Bildungszeit und vom selbsttätigen Handeln des Kindes im Rahmen seines Bildungsprozesses. Diesen Gedanken hat Montessori (Helming, 2002) weitergedacht und hat auf der Basis von Beobachtungen autodidaktisches, auf Sinneserfahrung basierendes Material entwickelt, das Kinder selbstständig nutzen können. Auf diese Weise können sie ein Verständnis der Welt entwickeln. Die Unterstützung der Erwachsenen im kindlichen Bildungsprozess versteht Montessori dabei als Hilfe zur Selbsthilfe. Von besonderem Interesse für die frühkindliche Bildung ist dabei, dass sie in den ersten zwei bis drei Lebensjahren von einem inflationären Reichtum kindlicher Eindrücke ausgeht, der erst durch die Führung der Erwachsenen in eine Ordnung gebracht werden kann. Diese Ordnung wird jedoch nicht durch die Persönlichkeit der erziehenden Person hergestellt, sondern durch die Sache selbst. |19◄ ►20|Piagets (1981) Kernaussage wiederum besagt, dass die kognitive Entwicklung einem selbstkonstruktiven Prozess entspricht, in welchem das Kind auf der Basis seiner kognitiven Fähigkeiten Wissen konstruiert. Erwachsene spielen dabei eine lediglich sekundäre Rolle.
Zwar sind sowohl Humboldt als auch Fröbel, Montessori oder Piaget für die aktuelle frühkindliche Bildungsdiskussion von großer Bedeutung. Sie alle berücksichtigen soziale Prozesse – jedoch nur insoweit, als Erwachsene die Eigenständigkeit des Kindes akzeptieren müssen. Diese Perspektive genügt allerdings kaum. Wenn Pluralität ein konstitutives Element unserer Gesellschaft und Diversität eine soziale Tatsache darstellt, dann kann es kaum universelle Gesetzmäßigkeiten – so wie von Piaget postuliert – geben. Frühkindliche Bildung muss vielmehr als sozialer und kulturell bestimmter Prozess verstanden werden, an dem das gesamte gesellschaftliche Umfeld beteiligt ist. Bildungskonzepte müssen deshalb auf den Kontext und auf die Tatsache ausgerichtet werden, dass jedes Kind anders ist.
Darauf verweisen auch verschiedene empirische Befunde zur vorschulischen Förderung. Seit der internationalen PISA-Studie wird sie verstärkt im Hinblick auf ihre Fähigkeit, Startchancengleichheit bei Schuleintritt zu erreichen, diskutiert. Bekanntlich liegen verschiedene Untersuchungen vor, welche auf die großen Kompetenzunterschiede von Vorschulkindern bereits bei Eintritt in den Kindergarten (Stamm, 2004) und auf die Schwierigkeiten verweisen, diese Unterschiede bis zum Schuleintritt zu egalisieren (Moser et al., 2008). Deshalb besteht heute in der scientific community weitgehend Einigkeit, dass eine langfristig wirksame Förderung früher einsetzen muss. Wenn somit frühkindliche Bildung einen Beitrag zur Minimierung der sozialen Differenz respektive zur Umsetzung von Startchancengleichheit leisten soll, dann greift das humboldtsche Verständnis, aber auch Fröbels und Montessoris Ideen frühkindlicher Bildung als Selbstbildung zu kurz, weil sie keine Aussagen zur soziokulturellen Diversität und sozialen Komplexität machen.
Wie jedoch soll der frühkindliche Bildungsbegriff weiterentwickelt werden? Einen ersten Vorschlag formuliert Fthenakis, indem er ihn als «ko-konstruktiven Bildungsprozess» (2002) bezeichnet. Dabei spricht er vom kompetenten Kind, das sich Wissen selbst konstruiert, aus sich heraus lernt, die Welt erkundet und den aktiven Dialog sucht. Dies sind Aktivitäten und Kompetenzen, die im Hinblick auf die sprachliche, soziale und emotionale Entwicklung besonders wichtig sind. Allerdings ist dieser Perspektive entgegenzuhalten, dass kindliche Eigenaktivität und Selbsttätigkeit nur so lange Gültigkeit haben können, wie das Kind in einem geschlossenen, der Mehrheitsgesellschaft entsprechenden Familiensystem lebt und keine direkte Steuerung von außen braucht. Dies trifft in erster Linie für Kinder mit privilegiertem Bildungshintergrund zu, die in anregungsreichen Milieus aufwachsen und deshalb vieles |20◄ ►21|beiläufig lernen. Für Kinder, die in Armut oder in sozial deprivierten Verhältnissen – unter Umständen kumuliert mit Benachteiligungen aufgrund eines Migrationshintergrunds – aufwachsen, genügt auch das Modell der Ko-Konstruktion kaum. Geeigneter erscheint hingegen das von Rauschenbach (2006) beschriebene Konzept der Koproduktion. Gemeint ist damit, dass Kinder zwar «selbst konstitutiv am Bildungsgeschehen zu beteiligen sind, dass sie auf der anderen Seite auch gezielte Lernstimuli und gestaltende Lernumgebungen benötigen, wenn erfolgreiche Bildungsprozesse mit erhöhter Wahrscheinlichkeit zustande kommen sollen» (S.76). Dieses koproduktive Konzept überwindet sowohl das Konzept der Selbstbildung als auch dasjenige der Kokonstruktion auf zweifache Weise:
• indem es explizit den Austausch zwischen den Selbstbildungsfähigkeiten des Kindes und der Bereitstellung und Anregung von Bildungsmöglichkeiten durch die Umwelt, in Interaktion mit Gleichaltrigen und Erwachsenen, betont;
• indem es den gesellschaftlichen Blickwinkel einbezieht und die für eine erfolgreiche Schul- und Berufslauf bahn erforderlichen instrumentellen und sozialen Kompetenzen herausstreicht.
Was bedeutet eine solche Bildungskonzeption für das pädagogische Fachpersonal in familienexternen Betreuungsinstitutionen? Erstens erfordert sie ein neues, grundlegend anderes Betreuungs- und Instruktionsverständnis, das nicht mehr wie bis anhin ausschließlich auf Pflege und Versorgung respektive auf Begleitung, Unterstützung und Anregung ausgerichtet ist, sondern auf die behutsam-provokative Stärkung des Eigenanteils des Kindes an seiner vorschulischen Bildung. Zweitens erfordert sie eine Verstärkung schulvorbereitender Bildungsanstrengungen, die in erster Linie auf das junge Kind mit Minoritätshintergrund ausgerichtet sein sollen. Damit sind alle Kinder gemeint, die von sozialer Benachteiligung betroffen sind und durch Lebensbedingungen und Lebensführung von der anerkannten schulischen Wissens- und Lernkultur weit entfernt aufwachsen.
1.2 Was soll FBBE leisten?
Nicht nur die UN-Kinderrechtskonvention erachtet Bildung als den zentralen Schlüssel, um sozialer Ausgrenzung vorzubeugen und ihr entgegenzuwirken. Auch die UNESCO hat in ihrem Aktionsplan «Bildung für alle» sechs Bildungsziele festgehalten, deren erstes die frühe Bildung, insbesondere für Kinder aus benachteiligten Familien, darstellt (UNESCO, 2007). Was bedeutet dies für Deutschland und die Schweiz, |21◄ ►22|wo die PISA-Studie gezeigt hat, dass die späteren Chancen eines jungen Kindes davon abhängen, welchen Bildungsstand seine Eltern haben, wie viel sie verdienen und welche Sprache in der Familie gesprochen wird? In erster Linie bedeutet dies die Verpflichtung, Rahmenbedingungen bereitzustellen, welche die Rechte jedes Kindes – auch und insbesondere desjenigen aus benachteiligten Familien – auf Wohlergehen und Bildung garantieren. FBBE kann dazu einen wichtigen Beitrag leisten. Sie ist deshalb eine demokratische Verpflichtung, die auf drei miteinander eng verwobenen Ebenen zum Ausdruck kommt: auf der gesamtgesellschaftlichen, der organisatorischen und der praxisbezogenen Ebene.
• Auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene ist die Aufgabe von FBBE dreigeteilt: Erstens geht es darum, herkunftsbedingte Chancenungleichheit auszumerzen und damit das verfassungsmäßig verbriefte Recht aller Menschen auf Gleichbehandlung konsequent zu realisieren. Zweitens hat sie den Auftrag, in volkswirtschaftlicher Hinsicht in das Aufwachsen junger Kinder zu investieren. Dass sich solche Investitionen in den Vorschulbereich aufgrund ihrer hohen Bildungsrendite lohnen, ist eine vielfach belegte Tatsache (Stamm et al., 2009; Burger, 2010). Die dritte gesamtgesellschaftliche Aufgabe liegt in der breiten, allen Sozialschichten zugänglichen Verankerung von FBBE-Angeboten.
• Auf der Ebene der Organisationsstrukturen kommt FBBE die Aufgabe zu, unterschiedliche Betreuungs- und Bildungskonstellationen zu ermöglichen: Dazu gehören innerfamiliäre Konstellationen, Betreuungsverhältnisse durch Dritte (Verwandte, Babysitter, Au-pairs) sowie institutionalisierte Betreuungsverhältnisse (Krippen, Tageseltern etc.). Notwendig ist dabei, dass die Diskussion im Hinblick auf die optimale Form von FBBE zwar auf der Gleichberechtigung dieser Betreuungskonstellationen beruht, jedoch von entwicklungspsychologisch vorgegebenen und sozioökonomisch bedingten Besonderheiten der frühen Kindheit geleitet wird. So sind beispielsweise familienexterne Betreuungskonstellationen bei benachteiligt aufwachsenden Kindern dann besonders wichtig, wenn diese sprachliche oder soziale Defizite aufweisen, die innerfamiliär nicht behoben werden können.
• Die Ebene der konkreten Praxis fragt nach der praktischen Ausgestaltung von FBBE. Im Mittelpunkt stehen sowohl der Ausgleich von Bedürfnissen, die sich bei einzelnen Kindern aufgrund ihrer sozialen und kulturellen Herkunft ergeben, als auch die Förderung individueller Potenziale, Talente und Begabungen. Herzstück ist dabei die pädagogische Professionalität des Fachpersonals und die Qualität des Angebots, der Inhalte und der Prozesse. Diese «pädagogische» Qualität
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meint, dass FBBE entwicklungsadäquat ausgerichtet, kulturell angemessen und hochwertig sein soll. Auf diese Weise wird durch FBBE Chancengerechtigkeit realisierbarer.
Die Beantwortung der normativen Frage, was FBBE leisten soll, orientiert sich letztlich an ihrer Wirksamkeit. Diese ist in dreifacher Hinsicht nachgewiesen: in Bezug auf (a) den internationalen Vergleich der Bildungssysteme, (b) Modellprojekte zur frühen Förderung benachteiligter Kinder und (c) den volkswirtschaftlichen Ertrag.
• Dass FBBE Startchancengleichheit schaffen kann, wenn Bildungsprozessen bereits in den ersten Lebensjahren eine grundlegende Bedeutung beigemessen wird, zeigen verschiedene der erfolgreichsten PISA-Länder im Vergleich: Kanada oder Finnland zeichneten sich nicht nur durch die Leistungen ihrer 15-Jährigen in Lesen, Mathematik oder Naturwissenschaften aus, sondern verfügen auch über gut ausgebaute FBBE-Systeme und fördern darüber hinaus auch Kinder aus unterprivilegierten, bildungsfernen Schichten nicht nur besonders gut, sondern auch besonders kontinuierlich während der gesamten Schulzeit. Insbesondere in Kanada werden dabei FBBE-Angebote mit kognitiven Inhalten verknüpft, d. h. nicht nur mit Betreuung und Pflege, sondern auch mit intellektueller Anregung in spezifisch lernförderlich gestalteten Umgebungen.
• Dass ein solcher Weg besonders erfolgreich ist, zeigt auch die Wissenschaft auf: Der Großteil der verfügbaren Untersuchungen zu Modellprojekten belegt, dass FBBE-Angebote für benachteiligte Kinder besonders wirksam sein können. Sind sie von hoher Qualität, dann sind sie nicht nur in der Lage, die von der Bildungspolitik vielfach eingeforderte Startchancengleichheit bei Schuleintritt umzusetzen, sondern auch einen Beitrag zum späteren Schulerfolg dieser Kinder zu leisten. Denn sie brauchen weniger sonderpädagogische Stützmaßnahmen, müssen seltener Klassen wiederholen und zeigen später auch weniger abweichendes und delinquentes Verhalten (vgl. Burger, 2010, sowie Kapitel 10).
In volkswirtschaftlicher Perspektive wird in vielen Studien nachgewiesen, dass frühe Bildungsförderung genau an der richtigen Stelle ansetzt: Gemäß Cunha und Heckman (2007) sind die ökonomischen Effekte enorm, wenn man Kinder, insbesondere benachteiligte, sehr früh fördert. Unterstützt man sie hingegen erst im Jugendalter, dann sind die Effekte minimal. Eine umfassende Investition in den Frühbereich vermag somit nicht nur Chancenungleichheit bestmöglich auszubalancieren, sondern auch Humankapital durch mehr Wachstum zu fördern (vgl. Kapitel 10).
Zusammenfassend lässt sich aus diesen Befunden folgern, dass mit einem gut ausgebauten FBBE-System das Wachstumspotenzial einer Volkswirtschaft jährlich |23◄ ►24|bedeutsam gesteigert, das Ausmaß von Bildungsarmut und Kinderarmut hingegen gesenkt werden kann. Um dieses Ziel zu erreichen, sind jedoch ein Ausbau der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, eine bessere Qualität frühkindlicher Förderung durch eine Höherqualifizierung des Fachpersonals sowie eine Finanzierung erforderlich, die sich stärker an bildungsökonomischen Leitlinien orientiert. Auf diese Weise kann eine qualitativ hochstehende FBBE die Grundlage für das in einer Wissensgesellschaft wesentliche lebenslange Lernen schaffen. Dieses wiederum fördert die soziale, emotionale, physische, sprachliche und kognitive Entwicklung.
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3 Kognitive, soziale und emotionale Entwicklung
Die Entwicklungspsychologie ist von verschiedenen Philosophen wie Descartes, Locke, Kant oder Marx geprägt. Descartes (1596 – 1650) beispielsweise ging vom Menschen als einem vernunftbegabten Wesen aus, das von Gott eine Art «Grundausstattung» von angeborenen Ideen mitbekommt. Dazu gehören etwa die Gesetze der Logik und der Mathematik. Descartes erachtete Erkenntnis als Wiedererkennen von bereits in der Seele schlummernden Vorstellungen. Locke (1632 – 1704) wiederum ging davon aus, dass der Mensch als tabula rasa, als leeres Blatt, das Licht der Welt erblickt und erst durch die Erfahrungen des Lebens geformt wird. Rousseau (1712 – 1778) war überzeugt, dass jeder Mensch Stufen der Entwicklung vom Neugeborenen bis zum Erwachsenen universell durchläuft, weil sie von der Natur weitgehend vorgegeben sind. Deshalb ging er davon aus, dass Versuche pädagogischer Einflussnahme eher schaden als nützen, weil die Entfaltung der förderlichen Anlagen des Menschen damit behindert werde.
Im vorhergehenden Kapitel ist dargestellt worden, dass die Pädagogik der frühen Kindheit seit vielen Jahren dazu tendiert, für eine bestimmte Zeit auf eine oder zwei große Theorien zu fokussieren, um dann zu einer anderen zu schwenken. So wurde aufgezeigt, dass in den 1960er-Jahren behavioristische Perspektiven und positive Verstärkung federführend waren, während es heute vor allem kognitionspsychologische und sozialanthropologische, mit den Erkenntnissen der Hirnforschung verknüpfte theoretische Ansätze sind. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, weshalb es keine lineare Verbindung zwischen einer einzelnen Entwicklungstheorie und einem einzelnen pädagogischen Zugang gibt. Die nachfolgenden Ausführungen fokussieren deshalb auf allgemeine, teils traditionelle, teils neue, Erkenntnisse zur kognitiven, sozialen und emotionalen Entwicklung sowie auf Entwicklungs- und Sozialisationsrisiken.
3.1 Kognitive Entwicklung
Vor fast 40 Jahren waren es Kohlberg und Mayer (1972), die in den USA die hauptsächlichen theoretischen Positionen der frühkindlichen Bildung mit Begriffen wie Romantizismus, kulturelle Transmission und Progressivismus herausarbeiteten. Unter Romantizismus verstanden sie eine innengerichtete Reifungsperspektive und unter kultureller Transmission eine außengesteuerte behavioristische Perspektive. Der Progressivismus wiederum war eine Kennzeichnung der selbst konstruierten, phasenbestimmten Position.
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Im Verlaufe der 1970er-Jahre wurde Piagets Phasentheorie in den USA bekannt. Sie setzte beim Progressivismus an und bildete einen Meilenstein in der Entwicklungspsychologie. Etwa gleichzeitig erlangte Wygotskis soziokulturelle Theorie (1971) eine gewisse Beachtung, doch blieb sie lange hinter dem Primat Piagets zurück. Heute sind beide Ansätze etwas in den Hintergrund getreten. FBBE-Konzepte werden weit stärker mit der Hirnforschung als mit den Erkenntnissen Piagets oder Wygotskis legitimiert. In der Tat ist die Hirnforschung ein faszinierendes neues Wissenschaftsfeld. Drei ihrer vielen Botschaften sind sicher sehr bedeutsam für die frühkindliche Bildung:
• dass wir die geistige Leistungsfähigkeit unserer jungen Kinder bislang stark unterschätzt haben,
• dass die Sinnesorgane – gesunde Augen und Ohren – besonders wichtig sind für eine gute Entwicklung,
• dass die Lernumwelt anregend und anspruchsvoll sein soll.
Selbstverständlich ist auch das vielfach formulierte Argument gewichtig, dass sich in den ersten Lebensjahren die Verbindung der Nervenzellen im Gehirn in weit höherem Maße verdichten als in späteren Jahren und dass die Lernkapazität in dieser Zeit deshalb besonders groß ist. Aber dieses Argument verdeckt die Tatsache, dass es auch ein stark reifungsabhängiges Lernen gibt, so wie dies Piaget immer wieder betont hat. Ein Sauberkeitstraining beispielsweise ist erst möglich, nachdem sich bestimmte Nervenverbindungen herausgebildet haben. Im Ergebnis müssen viele Erkenntnisse der Hirnforschung als noch ungesichert bezeichnet werden, sodass eine angemessene Zurückhaltung ihrer Postulate am dienlichsten erscheint.
3.1.1 Piagets kognitive Entwicklungstheorie
In Kapitel 1.1 ist dargelegt worden, dass die kognitive Entwicklung bereits bei Fröbel und Montessori eine bedeutsame Rolle gespielt hat. Fröbels Bildungsanspruch (1839/1982) manifestiert sich in seiner Pädagogik dort, wo er von Bewusstseinssteigerung oder von kategorialer Bildung spricht und dabei betont, dass der Schule eine frühere geistige Bildung vorauszugehen habe, ohne dass sie die Kinder früher erfassen solle. Bei Montessori zeigt sich der kognitive Fördergedanke dort, wo sie ihr Verständnis des inneren Bauplans um eine Theorie der selektiven Wahrnehmung ergänzt, d. h. um die Vorstellung, dass sich das System der Intelligenzleistung durch die selektive Wahrnehmung und Verarbeitung selbst aufbaut und strukturiert.
Den signifikantesten Einfluss auf die entwicklungspsychologische Forschung hatte jedoch das Werk von Piaget (1981). Mit seinem Denkmodell schuf er eine der |38◄ ►39|bis heute einflussreichsten Theorien des menschlichen Denkens und Schlussfolgerns. Piaget erachtete die kognitive Entwicklung als selbstkonstruktiven Prozess. Dieser entwickelt und vollzieht sich immer durch Interaktion zwischen Subjekt und Umwelt. Gemäß Piaget entwickelt sich das Denken jedoch nicht kontinuierlich, sondern in Stufen bzw. in Stadien oder Phasen. Jede Phase entspricht einem langen Plateau, während kognitive Veränderungen selten oder moderat sind und von großen, manifesten Veränderungen im Denken abgelöst werden, zugleich aber die nächste Phase andeuten. Piaget unterscheidet die folgenden vier Stufen, wobei für die frühkindliche und vorschulische Entwicklung die ersten beiden Stadien von Bedeutung sind:
• das sensumotorische Stadium (erstes und zweites Lebensjahr),
• das voroperationale Stadium (zweites bis siebtes Lebensjahr),
• das konkret-operationale Stadium (siebtes bis elftes Lebensjahr),
• das formal-operationale Stadium (ab dem elften/zwölften Lebensjahr).
Das erste Hauptstadium ist das sensumotorische, das sich über die beiden ersten Lebensjahre erstreckt. Wie der Name dieses Stadiums verdeutlicht, ging Piaget von der Vorstellung aus, dass Kinder mit allen ihren Sinnen – fühlend, sehend, riechend, tastend – denken. Deshalb sah er in dieser Phase eine Vorstufe zum Denken und bezeichnete diese ersten Vorläufer kognitiver Strukturen als sensumotorische Schemata. Kinder leben in dieser Phase sehr stark im Moment und haben nur ein rudimentäres Verstehen von Raum, Zeit und Kausalität. Am Ende dieser Phase können sie praktische und alltägliche Probleme lösen und ihre Erfahrungen mittels Sprache, Spiel und Gestik darstellen. Unter Schemata verstand Piaget abstrahierte Formen menschlicher Handlungen und Denkprozesse, die sich in ihrer Grundstruktur gleichen und die eine organisierte, sinnstiftende Verarbeitung von Erfahrungen erfordern. Ab dem zweiten Lebensjahr werden auch kognitive Schemata entwickelt, z.B. die Fähigkeit, Dinge aufgrund bestimmter Eigenschaften wie Farbe oder Größe in «Klassen» zu ordnen.
In der zweiten Stufe, der präoperationalen Stufe, die eine Zeitspanne zwischen dem dritten Lebensjahr und dem Schuleintritt umfasst, müssen Handlungen nicht mehr zwingend physisch vollzogen werden. Sie erfolgen mehr und mehr geistig, was zur Entwicklung des Sprach- und Symbolverständnisses führt. Voraussetzung dafür ist die kindliche Fähigkeit, ein Objekt oder Phänomen durch ein Symbol zu ersetzen. Nach und nach werden die Symbole komplexer und durch abstrakte Zeichen ersetzt. Das können Wörter sein oder Zahlen. Kinder sind auch in der Lage, mentale Symbole zu nutzen. Beispielsweise können sie sich vorstellen, dass im Spiel ein Objekt etwas anderes ist als in der Wirklichkeit. Dennoch ist ihre Fähigkeit, die Symbole in |39◄ ►40|