Frühwarnsystem - Sophie Krause - E-Book

Frühwarnsystem E-Book

Sophie Krause

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Beschreibung

Julia pendelt täglich von Brandenburg nach Berlin. Auf einer ihrer Bahnfahrten lernt sie Tom kennen - und es knallt gewaltig. Erst in ihrem Herzen, dann in der Beziehung und schließlich in ihrem kompletten Leben. Das wilde Abenteuer, die große Liebe und die perfekte Karriere - Julia will alles, aber zu welchem Preis? Zwischen Partys, Video-Drehs und totaler Erschöpfung muss sie sich fragen, was wirklich wichtig ist. In ihrem ersten Roman "Frühwarnsystem" verknüpft Sophie Krause persönliche und fiktive Erlebnisse zu einer Geschichte, die zeigt, wie schwer es ist, zu wissen, was man wirklich will. Weitere Infos gibt es hier: www.sophiekrause.com

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Alle, die noch tiefer in die Welt von Frühwarnsystem eintauchen möchten: Die Inhalte dieses Romans werden auf einem eigenen Instagram-Channel verlängert.

Nehme an Umfragen teil, lerne Julia & Co. besser kennen und lass dich von vielen tollen Rezepten, Tipps und Tricks inspirieren.

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Für Mit W.

(du weißt)

Inhaltsverzeichnis

Vorspann

Bitte lächeln

Call me maybe

Abschiedskuss – was, ist jetzt Schluss?

Curly Sue

In dieser Stadt leben über drei Millionen

Lass uns reden, ja?

(Mit) Tom allein zu Haus

REWIND: ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT

Orlando Beckham

Vom Winde verweht

Go shorty, it’s your birthday

Ey, Lockenkopf!

All the single ladies

Kiss the cook

Auf gute Nachbarschaft

Das Lied von Eis und Feuer

Trautes Heim, Unglück allein

Holland ist die geilste Stadt der Welt

Schlaflos in Berlin

The fault in our stars

Bonjour Tristesse

Katerpommes

Unsterblichkeitsmodus

Den Spatzi in der Hand

Lauf Jürgen, lauf

Last christmas I gave you my heart

Wetten, dass …?!?

Irgendwie, irgendwo, irgendwann

Das war einmal

Million Dollar Baby

Auf den Rücken der Pferde

Tom und Struppi

(10)1 Dalmatiner

Abspann

Danksagung – Directors Cut

Support your local Tierschutz

Vorspann

November – Zeit nach dem Knall: 3 Wochen

„Kommst du mit auf’s Klo, Jules?“

„Schwierig …“ Ich schaue mich im überfüllten Raum um. Das Mädchen-gehen-immer-zu-zweit-aufs-Klo-Klischee würde uns heute unsere Plätze an der Bar kosten. „Das musst du wohl alleine schaffen.“

„Wird schwer, aber ich gebe mein Bestes“, grinst Lulu und verschwindet.

Kaum hat mir meine beste Freundin, die eigentlich Luise heißt, den Rücken zugekehrt, checke ich erneut die Uhrzeit. Schon Viertel nach eins. Mein Blick wandert zur Tür. Wo bleibt er nur? Was meinte er, als er „Wir sehen uns um elf“ sagte? Etwa morgen Vormittag?

Der DJ legt einen weiteren Song auf, den ich sofort erkenne. ‚Oops! I did it again‘ von Britney Spears. Warum Finn für unser Treffen ausgerechnet eine Bar mit fetter Neunziger-Party ausgewählt hat, muss er mir gleich mal erklären. Wenn er denn noch kommt.

Ich ziehe die Getränkekarte zu mir heran. Immerhin ist der Alkohol billig. Bier und Schnaps liegen weit unterm Berliner Preisdurchschnitt.

Als Lulu von der Toilette kommt, entscheide ich, dass wir noch genau einen Pfeffi trinken, bevor wir gehen. Einen – egal, ob Finn dann da ist, oder nicht.

„Scheiß auf den Typen!“, ruft Lulu und kippt den Schnaps runter. „Komm, wir tanzen!“

Ich muss grinsen. So wie heute, ist sie nur selten drauf.

Mein Blick wandert über den kleinen Dancefloor, auf dem zwischen DJ-Pult und Biertresen grölende Mädels ihre Ärsche für ein paar Typen schwingen, die die Fünfzigermarke längst geknackt haben. Ich will nicht tanzen, ich will nach Hause!

Doch Lulu ist in einem anderen Modus. Sie schiebt sich durch die Feiernden, singt laut mit und winkt mich zu sich.

Ich schüttle den Kopf. Heute nicht. Per Handzeichen versuche ich ihr gerade zu verstehen zu geben, dass ich lieber gehen würde, da tippt mir jemand von hinten auf die Schulter. Mein Herz rutscht mir spontan in die Schlüpper. Auch ohne mich umzudrehen, weiß ich, was das bedeutet.

Er ist hier. Finn. Acht Jahre älter als ich. Und 113 Minuten zu spät.

Ich drehe mich zu ihm um. Strahle. „Hi.“

„Julia, sorry, dass ich es nicht früher geschafft habe. Ich war vorher noch auf einem Geburtstag.“

Wurstegal! „Jetzt bist du ja da!“

Ich rufe die Bardame zu uns heran, bestelle drei Pfeffis und wir trinken, quatschen, lachen und arbeiten uns einmal von der Theke über den Dancefloor bis zum Kicker in der Ecke. Niemand guckt mehr auf die Uhr. Nach Hause gehen? Das können andere. Wir sind jung, wir sind stark!

Und dann, irgendwann, gibt es plötzlich nur noch Finn und mich. Stirn an Stirn stehen wir auf der Tanzfläche und bewegen uns viel zu langsam zur viel zu lauten Musik. Der Moment ist perfekt. Ich betrachte Finn zum ersten Mal aus nächster Nähe. Sehe die kleinen Lachfältchen um seine schönen Augen, seinen von grauen Haaren durchzogenen Bart und seinen Mund, der immer näher kommt. Ich öffne leicht die Lippen … Was ist das?! Ihh! Wir knutschen uns zu wild, zu schnell, zu nass! Unsere Zähne krachen gegeneinander, und meine Zunge ist überfordert von der Intensität und dem Tempo, das Finn vorgibt.

Als wir uns schließlich voneinander lösen, muss ich den Impuls unterdrücken, mir mit dem Handrücken über den Mund zu wischen und verstohlene Blicke in die Runde zu werfen. Wie peinlich! Hätte jemand diesen Kuss gefilmt, wäre er garantiert in die Top 10 der schlimmsten Küsse aller Zeiten eingegangen. Auf RTL. Angekündigt mit einem ironischen Kommentar von Sonja Zietlow.

Finn öffnet die Augen und lächelt mich an. Hä? Bin ich die Einzige, für die das eben das reinste Desaster war? Was mache ich hier überhaupt? Wo ist Lulu? Ich ziehe meine Jacke vom Barhocker und laufe, ohne mich noch einmal umzudrehen, zur Tür. Ich muss hier raus!

Draußen gehe ich ein paar wackelige Schritte und stütze mich dann an einem Straßenpoller ab. Als ich wenige Minuten später jemanden kommen höre, sinke ich noch mehr in mich zusammen. Mir wird die Kapuze aus dem Gesicht geschoben. Ich blicke auf und stelle erleichtert fest, dass es Lulu ist. Sie reicht mir eine Flasche Wasser.

„Das war wohl nichts, was?“

„Das war weniger als nichts.“ Ich fange an zu heulen.

„Komm, wir fahren nach Hause“, sagt sie und hat im nächsten Moment schon ein Taxi angehalten.

Gerade als ich die Autotür öffne, tritt Finn aus der Bar und schaut uns irritiert beim Einsteigen zu. Lulu winkt ihm zum Abschied. Meine Kraft reicht dafür nicht. Schnell flüchte ich mich ins Wageninnere, lehne den Kopf gegen die kalte Scheibe und bin in Gedanken sofort woanders. Nicht vor der Bar. Nicht im Taxi. Und auch nicht irgendwo in Kreuzberg. Ich denke an mein Zuhause. An die Wohnungstür, hinter der jemand auf mich wartet und das Bett für mich warm hält. Jemand, der mich liebt und dem ich versprochen habe, treu zu sein. Ich schaue ein letztes Mal in dieser Nacht auf die Uhr. Es ist spät. Viel zu spät.

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Bitte lächeln

Mai – Zeit bis zum Knall: 4 Jahre, 4 Monate, 15 Tage

Ich halte mir die Ohren zu, so laut quietschen die Bremsen der alten Klapperbahn, die zwischen Dengersdorf und Berlin pendelt. So ist das eben, wenn man aus einem Ort kommt, in dem die Züge nur einmal pro Stunde fahren. Wenn ich das auch noch die nächsten einundzwanzig Jahre ertragen muss, gehe ich garantiert an einem Tinnitus zugrunde. Oder an einer steifen Hüfte, so zugig ist es auf dem kleinen Bahnsteig, auf dem es neben einem Mülleimer und zwei Laternenmasten nur noch ein beschmiertes Wartehäuschen gibt. Das alles kenne ich seit ich klein bin. Und doch ist heute irgendetwas anders.

Die Bahn kommt vor mir zum Stehen, ich laufe dem Einstieg entgegen, aber das komische Gefühl bleibt. Ich blicke mich um. Außer einem Pärchen, das sich an der nächsten Tür knutschend verabschiedet, fällt mir nichts Ungewöhnliches auf. Dann schaue ich in die andere Richtung – und zucke zusammen. Ich werde beobachtet. Und angelächelt. Von einem Typen, der auf der anderen Seite der Scheibe im Zug sitzt.

Schnell wende ich mich ab, gehe zur Tür und drücke den grünen Knopf. Hat der wirklich mich angeguckt? Und wenn ja, warum? Ist mir wegen des Bremsenlärms mal wieder die Mimik entgleist? Das würde zumindest sein Lächeln erklären.

Vielleicht findet er dich einfach nett, meldet sich Schweini mit einem breiten, zufriedenen Grinsen, das mal wieder so aussieht, als hätte er zu lange neben Bob Marley gesessen.

Nett, ist die kleine Schwester von Scheiße, kontert Remy.

War ja zu erwarten. Im Gegensatz zu Schweini, der stets um mein Wohlergehen besorgt ist, ist Remy die Ratte, die mir immer dann über die Leber läuft und auf meinen Eingeweiden rumtrampelt, wenn es mir ohnehin nicht gut geht.

Ich suche mir einen Platz direkt am Gang, befreie mich von meiner schwarzen Lederjacke und sinke gegen die Lehne. Obwohl es Anfang Mai ist und die Temperaturen letzte Woche bereits die Zwanzig-Grad-Marke geknackt hatten, ballert in der Bahn immer noch die Heizung. Im Sommer zu heiß, im Winter zu kalt.

Ich fächle mir Luft zu und krame mit der anderen Hand mein Handy aus der Tasche. Hoffentlich hat Lulu an der Abendkasse noch Karten für das Konzert bekommen. Ich aktiviere das Display – und fühle mich erneut beobachtet. Mir wird sofort wieder heiß. Aber mehr als die Jacke kann ich nicht ausziehen, zumindest nicht, wenn ich keinen unfreiwilligen Striptease vorführen möchte.

Ich schiele über den Mittelgang zu den Plätzen auf der anderen Seite. Sie sind alle leer. Wegen der hohen Sitzlehnen ist die Sicht nach vorne versperrt. Und umdrehen will ich mich nicht, das wäre schließlich viel zu auffällig.

Ist mir warm! Ich spüre, wie sich auf meiner Oberlippe Schweißperlen bilden.

Mein Blick wandert aus dem Fenster – und ich erschrecke erneut. Neben den Abendlichtern meines Heimatortes, die wie üblich an mir vorbeiziehen, blicke ich heute auch noch geradewegs in die Augen des Typen vom Nachbarsitz.

Oh man! Wieder wende ich mich viel zu ängstlich, viel zu schnell ab und schaue in die andere Richtung. Doch das hilft nicht viel, denn auch von dort funkeln mich seine braunen Augen nun an. Hä? Hat er die ganze Zeit auf diesem Vierersitz gesessen? Warum habe ich ihn dann vorher nicht gesehen?

Wahrscheinlich weil sich Fräulein-Schiss-in-der-Hose nicht getraut hat, weit genug um die Ecke zu linsen, zischt Remy.

Sehr hilfreich, du Pestschleuder. Verzieh dich in dein Rattenloch und lass mich in Ruhe!

Was mache ich denn jetzt? Der Unbekannte sieht gut aus. Zu gut! Braune, strubbelige Haare, leichter Vollbart. Er trägt Holztunnel in den Ohrläppchen. Und dann diese freundlichen Augen und das verschmitzte Lächeln.

Bisher hatte ich eigentlich keinen speziellen Typ Mann. Auf dem Land darf Frau in dieser Hinsicht auch nicht besonders wählerisch sein. Zumindest nicht, wenn sie nicht etwas mit einem Kerl starten will, mit dem mindestens eine aus der eigenen Klasse, drei aus dem Jahrgang oder fünf andere Schnallen aus der Umgebung bereits in der Kiste waren.

Angestrengt starre ich auf meine Oberschenkel. Ob er von dort, wo er sitzt, die Haarstoppeln unter meiner schwarzen Strumpfhose sehen kann? Oder die kleine Laufmasche, die unter meinem dunkelgrauen Jeans-Minirock hervorlugt? Bitte, lass ihn nicht meine dreckigen Boots bemerken, die ich mir vorhin erst beim Radfahren bespritzt habe. Ich muss aussehen wie die letzte Landpomeranze!

Ich riskiere einen weiteren Blick – und werde sofort erwischt. Als würde ich Laserstrahlen abfeuern! Der hübsche Bahnfahrer schaut amüsiert zu mir herüber. Mir schießt erneut die Hitze ins Gesicht, meine Mundwinkel zucken, ich wende mich ab und starre gegen den Vordersitz. So gerne ich mich gerade verkriechen würde, so sehr scheint er die Situation zu genießen. Aber warum muss er dabei die ganze Zeit so grinsen?

Er mag dich eben, antwortet Schweini.

Weil dir ein dicker Popel am Riechkolben hängt, übertönt ihn Remy.

Oh Gott! Wirklich? Das wär’s ja noch!

Ich schaue den Gang in beide Richtungen hinunter, kein WCZeichen in Sicht. Also tue ich so, als würde ich aus dem Fenster blicken und checke mein Spiegelbild. Insofern ich es erkennen kann, sieht meine Nase sauber aus. Die Wangen sind leicht gerougt, die Wimpern nicht verklebt, die Tusche ist nicht verschwommen. Ich betrachte meinen Mund, doch auch hier ist, bis auf die Tatsache, dass der hellrosa Lippenstift kaum noch zu erkennen ist, alles in Ordnung.

Ich fahre mir durch die Haare und schiebe mir eine blonde Locke aus der Stirn, doch sie springt sofort wieder in ihre Ausgangsform zurück. Diese störrischen, kleinen Dinger machen ohnehin, was sie wollen, stehen mir wild vom Kopf ab. Ausgerechnet heute habe ich das Haarband natürlich nicht dabei.

Ich lehne mich zurück und werfe einen Blick in meine Tasche. Womit die Zeit überbrücken? Ich hole die Handcreme heraus und schmiere mir die Hände ein. Dann lächelt mich die kleine Dose mit Pfefferminzpastillen an.

Gegen deinen Dorfkuh-Atem brauchst du die auch, lacht Remy. Pah! Ich versuche den Deckel zu öffnen, doch meine cremigen Finger rutschen immer wieder ab. Beim dritten Versuch packe ich so fest zu, dass ich nicht nur den Deckel entferne, sondern durch den Schwung auch den gesamten Inhalt auf dem Boden verteile. Fröhlich kullern meine Minz-Drops nun durchs Zugabteil.

Als ich überlege, ob ich die weißen Kügelchen aufsammeln soll, höre ich aus seiner Richtung ein Glucksen.

Tja, das war wahrlich wieder eine Glanzleistung, die ich da abgeliefert habe. Kein Wunder, dass er mich die ganze Zeit angrinst. Warum laufe ich nicht gleich klatschend und tanzend wie ein Zirkusäffchen über den Gang, ziehe Grimassen und führe Kunststücke vor?

Ein Affe fehlt dir zumindest noch in deiner Sammlung, spottet Remy. Warum lässt du dich nicht einfach auf das Spiel ein? Angst, dass er beißt?

Bestimmt nicht! Ich mach jetzt gar nichts mehr, schnauze ich zurück. Ich werde mich still und unauffällig verhalten und stur die Rückenlehne des Vordersitzes anglotzen. Ist doch auch etwas Feines. Hier kleben schließlich die Kaugummireste ganzer Generationen.

Mir fällt dieses ganze Rumgeflirte am Wochenende im Club schon nicht leicht. Aber hier, in der Bahn, ohne laute Musik, indirektes Licht und einen leichten Schwips in der Birne? Never ever. Aus dem Augenwinkel versuche ich dennoch, so viel wie möglich vom Geschehen auf dem Nachbarsitz mitzubekommen. Es sieht so aus, als wäre die Konzentration meines hübschen Unbekannten gerade auf etwas in seinem Rucksack gerichtet. Ich wage einen Blick. Er kramt tatsächlich darin herum und grinst dabei. Warum??? Grinst er vielleicht einfach immer? Hat das gar nichts mit mir zu tun? Ist er einer dieser Druffis, die den ganzen Tag vor sich hinlächeln, weil sie unter Dauereinfluss irgendwelcher sinneserweiternder Drogen stehen? Peace Freunde, das Leben ist schön?

Oder ist er vielleicht so ein durchgeknallter Eso-Freak, der zu den Göttern betet und innerlich ein Om nach dem anderen durch seinen tiefenentspannten Körper jagt?

Er schaut so plötzlich auf, dass ich mich nicht schnell genug wegdrehen kann. Unsichtbare Laserstrahlen, ich sag’s ja.

Schweini feuert mich an: Los, halte seinem Blick stand! Du schaffst das! Und jetzt die Lippen: Lächeln!

Ich lasse all meine Willenskraft in meine Mundwinkel fließen, ziehe sie nach oben – und zucke zusammen, als sich die Lautsprecher über unseren Köpfen plötzlich mit einer Ansage melden. „Wir erreichen jetzt den Bahnhof Berlin-Spandau. Dieser Zug endet hier.“

Wie, Spandau? Jetzt schon? Nein, nein, nein, das darf nicht sein! Ich habe doch gerade erst angefangen zurückzulächeln. War es das jetzt? Endstation Hoffnung?

Wie auf’s Stichwort erhebt sich der schöne Unbekannte und schnallt sich seinen Rucksack auf. Neben meinem Sitz bleibt er kurz stehen. „Pass auf, dass du auf deinem Minenfeld nicht ausrutschst“, sagt er und deutet lächelnd auf die Minzdrops, die immer noch rings um meinen Platz verteilt sind.

Jetzt muss ich auch grinsen, nur eine Antwort fällt mir nicht ein. „… mach ich“, sage ich schließlich und schaue ihm hinterher, wie er zur Tür geht.

Der Zug fährt in den Bahnhof ein. Also stehe auch ich auf, ziehe meine Jacke an und laufe ihm unauffällig hinterher. Soll ich mich zu ihm stellen? Noch einmal etwas sagen?

Ich bleibe mit dem Rücken zu ihm stehen und kann praktisch spüren, wie sich seine Blicke in meinen Nacken bohren.

Die Türen öffnen sich und ich bin die Erste, die aussteigt. Doch als ich Richtung Treppe gehe, hoffe ich mit jedem Schritt, er würde aufholen, mich ansprechen, irgendetwas tun, damit diese Begegnung noch nicht vorbei ist.

Ich nehme die erste Stufe, die zehnte, die letzte. Nichts.

Vielleicht sollte es einfach nicht sein, Julia Helbig. Vielleicht ist er nicht annähernd so toll, wie er aussieht. Vielleicht …, vielleicht …

Wäre Lulu jetzt hier, würde sie mich sicher daran erinnern, dass ich mein Glück selbst in der Hand habe. Und sie hätte, wie so oft, recht. Mitten in der Bahnhofshalle bleibe ich daher stehen und schaue mich zu allen Seiten um. Ich stelle mich auf die Zehenspitzen, um über die vielen Menschen, die zwischen den Rolltreppen, Kiosken und Fahrplantafeln unterwegs sind, hinweggucken zu können. Ich drehe mich einmal um mich selbst und scanne jeden Winkel. Einen braunen Wuschelkopf mit buntem Rucksack sehe ich nicht. Chance vertan. Blöd gelaufen. Auf dem S-Bahnsteig angekommen, verrät mir die Anzeige, dass die nächste Bahn Richtung Berlin Zentrum erst in zehn Minuten fährt. In zwanzig bin ich mit Lulu verabredet. Das wird knapp, vorausgesetzt, sie hat die Karten überhaupt bekommen. Ich checke mein Handy.

19:38 Uhr Jules, wir haben Glück gehabt! Habe gerade noch zwei Tickets für uns ergattert. Wir treffen uns vorm Eingang, freu mich auf dich!<3

Perfekt! Und heute lohnt sich der lange Weg sogar doppelt, denn nach dem Konzert bleibe ich bei Lulu und kann dadurch morgen fast eine Stunde länger schlafen. Zur Agentur, in der ich gerade meine Ausbildung zur Grafikdesignerin mache, ist es von ihr nur ein Katzensprung. Zumindest im Vergleich zu meiner täglichen Anreise aus Dengersdorf.

Ich schiebe das Handy zurück in meine Jackentasche und schaue mich wieder unauffällig auf dem Bahnsteig um. Links von mir steht ein älteres Paar mit Koffern, daneben ein Typ mit einer Zeitung, und etwas weiter entfernt spielen sich ein paar Kids die neuesten Rap-Songs auf ihren Handys vor. Es wäre ja auch ein sehr großer Zufall gewesen, hätten wir erneut in die gleiche Richtung fahren müssen. Berlin ist groß. Nicht so ein Kaff wie Dengersdorf, wo jeder jeden kennt.

Ich setze mich auf eine Bank. Ich hasse es zu stehen, stehen ist Sport und Sport ist bekanntlich Mord. Schlimm genug, dass ich vom S-Bahnhof bis zur Konzerthalle gleich noch ein Stück laufen muss.

Mein Blick wandert erneut zur Anzeige mit der Abfahrtszeit. Nur noch zwei Minuten. Zum Glück. Warten hasse ich nämlich auch. Als ich den Kopf wieder senke, nehme ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung war, die meinen Puls augenblicklich in die Höhe schnellen lässt. Ich wende den Kopf nach links und … tatsächlich! Es ist der Typ aus der Bahn. Er kommt gerade die Treppe zum Bahnsteig hoch und versucht mit den Zähnen die Verpackung einer BiFi zu öffnen. Erst als er die Wurst aus der Pelle gedrückt und schwungvoll hineingebissen hat, schaut er auf, entdeckt mich und – Peng! Laserstrahlen!

Dieses Mal scheint ER sich ertappt zu fühlen. Verlegen blickt er auf die Wurst in seiner Hand. Ja, es gibt wirklich Schöneres, als jemanden dabei zu beobachten, wie er die muffige Pelle einer Minisalami abzieht.

Unser intimer Moment wird unterbrochen, als die S-Bahn neben uns einfährt. Wir steigen ein. Ich nehme allen Mut zusammen und setze mich ihm im Fahrradabteil gegenüber.

Keine zwei Minuten später klingelt sein Handy.

„Hey“, begrüßt er den Anrufer, und ich nehme seine Stimme zum ersten Mal so richtig wahr. Tief und kräftig.

„Ich bin unterwegs. Müsste in einer halben Stunde bei dir sein. Soll ich was zu trinken mitbringen?“ Bei dieser Frage schaut er mich direkt an. Als wäre ich es, mit der er heute noch einen drauf macht…

Dann verzieht er das Gesicht. „Bier? Ich dachte da mehr an eine Limo oder Saft.“

Schlägt er seinem Kumpel wirklich vor, den Sonntagabend mit einem Saft ausklingen zu lassen? Da er die Miene dabei nicht verzieht, wird er es wohl wirklich ernst meinen. Witzig!

Die S-Bahn rollt durch Berlin, und wir beobachten andere Fahrgäste, stecken einem Straßenfeger-Verkäufer etwas Geld zu und lächeln uns immer wieder unsicher an. Jedes Mal, wenn sich unsere Blicke treffen, schlagen die Fledermäuse in meinem Bauch aufgeregt mit den Flügeln gegen die Streben ihres Käfigs. Dann knackt der Lautsprecher unheilverkündend über unseren Köpfen, denn die nächste Station ist meine. Hier muss ich raus. Ich schaue den Typen eindringlich an, versuche ihm telepathisch mitzuteilen, dass meine Zugfahrt gleich zu Ende ist. Als er nicht reagiert, stehe ich auf, ziehe demonstrativ den Reißverschluss meiner Lederjacke hoch und gehe zu der Tür direkt neben ihm. Ich könnte die Hand nach ihm ausstrecken, so nah ist er mir jetzt. Stattdessen verfalle ich in meine Graue-Maus-Starre und klammere mich nicht nur an der Haltestange, sondern auch an der Hoffnung fest, er könnte erneut mit mir aussteigen. Ich höre mein Herz in den Ohren pochen. Aber ich schaffe es einfach nicht, ihn noch einmal anzusehen. Er ist der Mann! Er muss sich rühren!

Die Bahn kommt zum Stehen, die Türen öffnen sich und er sitzt immer noch auf seinem Platz. Das war’s dann wohl endgültig. Adieu, mein schöner Freund.

Doch gerade als ich die Eisenstange loslasse, piekst mich etwas in die Hand. Ich greife danach und kann es nicht glauben.

Zwischen meinen Fingern steckt eine Visitenkarte! Schnell steige ich aus, eile zur Rolltreppe und atme erst dort hörbar aus. Er hat es wirklich getan! Ich halte den Beweis in meinen Händen – eine schwarze Visitenkarte mit seiner Handynummer in weißer Schrift. Unglaublich. In der Regionalbahn zwischen Dengersdorf und Berlin habe ICH einen Mann kennengelernt! Sein Name ist Tom Schüler.

www.instagram.com/fruehwarnsystem || Kapitel 01

Call me maybe

Mai – Zeit bis zum Knall: 4 Jahre, 4 Monate, 14 Tage

„Julia, kommst du kurz mal rüber, bitte?“

Martin, mein Chef, steckt den Kopf in mein Büro und holt mich aus meinem Tagtraum – gerade noch in Gedanken bei den gestrigen Geschehnissen in der Regionalbahn, jetzt wieder mitten im Alltag.

„Was gibt’s?“ Ich setze mich auf einen Stuhl an seinem Schreibtisch.

„Ich habe mir deine Entwürfe für das Möbelhaus angesehen.“ Er deutet auf seinen Computerbildschirm. „Der zweite gefällt mir am besten. Allerdings bin ich noch nicht ganz zufrieden, was die Positionen der Fotos auf der Vorderseite angeht. Die wirken noch zu draufgeklatscht. Schau doch bitte, dass du das natürlicher integriert bekommst.“

Ich seufze innerlich. Eigentlich habe ich nur wenig Lust, den Flyer noch einmal zu überarbeiten. Besonders nicht heute, wo ich immer wieder an Bahnfahrer Tom denken muss.

Martin dreht seinen Bildschirm in meine Richtung, damit wir uns die Entwürfe zusammen angucken können. Offenbar hat er doch mehr als nur die Bildintegration zu bemängeln. Während er mit dem Mauszeiger über die Details fährt und mir die weiteren Änderungswünsche erklärt, betrachte ich sein Hemd und frage mich, wie viele dieser kleinkarierten Teile er wohl im Schrank hat.

„Schaffst du das bis heute Nachmittag?“

Äh, was? Ah, die Überarbeitungen. „Denke schon.“

Auch ohne genau hingehört zu haben, weiß ich nach neun Monaten als Azubi bei ihm mittlerweile ziemlich gut, was Martin bei den Layouts wichtig ist. Trotzdem versuche ich ihm immer auch eine etwas modernere Gestaltungsversion unterzuschieben. Ich weiß, dass er meinen frischen, jungen Blick und die neuen, kreativen Ansätze sehr schätzt. Aber von irgendwo muss das Geld ja kommen, sagt Martin immer. Und da der Kunde König sei und eher auf klassische Designs stehe, bleibe für Spielereien wenig Platz.

Sicher könnte ich mir spannendere Projekte vorstellen, als das Erstellen von Prospekten, Flyern und Visitenkarten für Autohäuser, Seniorenheime und Möbelläden. Andererseits bin ich froh, dass ich den Ausbildungsplatz bei Graf Grafik überhaupt bekommen habe. Die ersten zwei Jahre nach dem Abi hab ich nämlich nicht allzu viel auf die Reihe gekriegt. Auf Studieren hatte ich keine Lust und hätte wohl auch wegen meines eher schlechten Abiturs erst einige Wartesemester abbummeln müssen, bevor ich mich für einen Design-Studiengang hätte einschreiben können. Also habe ich ein Praktikum absolviert, an den Wochenenden im Dengersdorfer Fotoladen ausgeholfen, war in meiner Freizeit mit der Kamera unterwegs und habe die Sommertage am See genossen.

Ich will gerade zurück in mein Büro gehen, da fährt sich Martin mit den Fingern durch die Haare und räuspert sich. „Ich wollte noch etwas anderes mit dir besprechen …“

Okaaay?

„Ich weiß, gerade ist verhältnismäßig wenig los, weil …“

… es uns leider gerade an Kunden mangelt, beende ich in Gedanken, was Martin so ungerne ausspricht.

„Naja, das Sommerloch scheint dieses Jahr schon etwas früher einzusetzen. Ich bin wirklich sehr zufrieden mit deiner Arbeit, Julia. Mir ist wichtig, dass du das weißt. Und deswegen bist du auch die Erste, der ich erzähle, dass ich plane, unseren Geschäftsbereich zu erweitern.“

Ach ja? „Inwiefern?“

Martin lächelt. „Ich bin gerade mit einer jungen Frau im Gespräch, die einen Webshop für Schuhe in Untergrößen eröffnen will. Das Budget ist nicht besonders groß, aber es wäre eine Chance zu zeigen, dass wir auch online können. Und weil das endlich mal etwas Trendiges wäre und du immer so schöne Schuhe trägst, dachte ich du möchtest mich bei dem Projekt vielleicht unterstützen, wenn es konkreter wird.“

„Du magst also meine Schuhe, ja?“, lache ich. Ich schaue auf meine Füße. Sie stecken heute in beigen Nikes mit schwarzgrünen Applikationen. „Klingt spannend! Allerdings kommt Webdesign erst im nächsten Ausbildungssemester dran.“

Er macht eine wegwerfende Handbewegung. „Wenn du das auch so schnell begreifst wie die anderen Programme, mache ich mir da keine Sorgen. Außerdem hast du ja auch noch ein paar Kollegen, die dich unterstützen können.“

Wir sind bei Graf Grafik zu fünft. Inklusive Martin und einem weiteren Azubi, der sich aktuell mit dem Design von Geschäftsaustattungen wie Briefpapier, Visitenkarten, Schreibblöcken und Stiften beschäftigt. Die Zuständigkeiten wechseln halbjährlich, damit jeder einmal alles gemacht hat, was ich ganz gut finde. „Wenn ich dir bei der Vorbereitung irgendwie helfen kann, sag Bescheid.“

Martins Telefon klingt. „Ich treffe sie nächste Woche mal zum Lunch, dann sehen wir weiter.“ Er nimmt den Hörer ab. „Graf Grafik, Martin Zahl, hallo“, meldet sich Martin und zwinkert mir zu. Ob sich das auf den Running Gag seiner Agentur bezieht – Graf Grafik, Graf Zahl, lustig, lustig – oder ob es seine Vorfreude auf ein eventuelles gemeinsames Schuhprojekt ausdrücken soll? Keine Ahnung, aber ich lasse mich gerne von seiner guten Laune anstecken.

Zurück an meinem Platz sinke ich auf den Bürostuhl und schaue aus dem Fenster. Tom. Er hat mir seine Nummer gegeben. Das heißt, dass ich es bin, die sich melden muss. Die Frage ist nur:

Wann? Und wie? Ich klopfe mir mit meinem Bleistift gegen die Vorderzähne und beobachte eine Taube, die auf dem Balkongeländer am Haus gegenüber sitzt.

Soll ich ihn anrufen? Auf gar keinen Fall! Eine SMS schreiben? Schon eher. Jetzt gleich?

Erst heute Morgen hat Lulu mich noch einmal daran erinnert, dass ich mindestens drei Tage warten soll. Das hätte sie in einer ihrer Frauenzeitschriften gelesen. Warten ist ja schön und gut, aber warum denn gleich drei Tage? In drei Tagen ist er vielleicht schon zig weitere Male mit der Bahn gefahren und hat längst eine andere Schnecke aus irgendeinem anderen Kackdorf kennengelernt. Das darf nicht passieren! Wenn hier einer die Chance auf eine neue Liebe verdient hat, dann ja wohl ich! Meine letzte Beziehung ist fast drei Jahre her und die war eher anstrengend als richtig was fürs Herz.

In diesem Sinne: Also los, vorwärts immer, rückwärts nimmer.

11:38 Uhr Jetzt habe ich zwar eine neue Nummer in meinem Handy, aber noch kein Date. Wann sehen wir uns wieder? Mein Name ist übrigens Julia.

Ich stelle mir vor, wie sich meine Nachricht genau in diesem Moment ins All beamt, einem Satelliten High Five gibt, zurück auf die Erde saust und JETZT auf Toms Handy landet. Piep, piep. Vielleicht hätte ich ihn doch etwas länger warten lassen sollen? Aber ich habe keine Lust auf Spielchen. Außerdem brauche ich keine Drei-Tage-warten-nur-weil-andere-das-sagen-Regel.

Ich stehe vor der Kabine, in die Lulu gerade mit einer LKWLadung Klamotten verschwunden ist. Während sie sich begeistert die Kleider vom Leib reißt, hoffe ich, dass sie bald fertig ist. Ich betrachte die vollgestopften Regale und Kleiderständer. Ganz sicher würde auch ich hier etwas finden. Nur ist heute leider einer dieser Tage, an denen mir einfach nichts gefallen will. Lulu schiebt den Vorhang zur Seite und sortiert ihre Bügel mit Klamotten.

„Schon fertig?“, frage ich überrascht.

Sie legt den Kopf schief. „Noch lange nicht. Aber wir gehen jetzt.“

„Was, warum?“

„Weil das so keinen Spaß macht.“ Sie hängt die Bügel auf die Stange für die Ware, die zurück in den Verkaufsraum geht. „Ich dachte, so eine kleine Shoppingtour bringt dich vielleicht auf andere Gedanken. Aber anscheinend muss ich zu Plan B übergehen.“

Plan B? Ich weiß, dass sie es nur gut gemeint hat, aber irgendwie bin ich einfach nicht in Stimmung. Egal, wo ich in den letzten Tagen gewesen bin, ich habe mich immer wieder dabei ertappt, Ausschau zu halten. Nach einem braunen Wuschelkopf, einem bunten Rucksack und diesem ganz besonderen Lächeln. Doch nichts. Nirgends. Nicht einmal in Form einer Nachricht auf meinem Handy. Ich habe ihm Montagmorgen geschrieben. Heute ist Donnerstagabend. Unsere Begegnung war wohl doch nicht so besonders, wie ich dachte. Wahrscheinlich verteilt er seine Visitenkarten wie andere Kerle Flyer fürs Fitnessstudio.

„Tut mir leid, dass ich so eine Spaßbremse bin“, sage ich leise.

„Alles gut, Jules. Ich finde nur, dass wir uns den Abend nicht von irgend so einem doofen Typen vermiesen lassen sollten. Wir gehen jetzt in den Supermarkt und kaufen alles, worauf wir Lust haben, und dann machen wir es uns auf meiner Couch gemütlich.“

Ich muss grinsen. „Worauf DU Lust hast, kann ich mir vorstellen: einen leckeren Salat, einen tollen Saft und zum Dessert einen Light-Joghurt mit frischem Obst?“ Als würde Madame nicht immer ganz genau darauf achten, was und vor allem, wann sie isst. Lulu geht mindestens zweimal pro Woche zum Sport. Der Pilates-Kurs, der jeden Mittwochabend im Hotel ihrer Eltern angeboten wird und den sie so gut wie nie versäumt, ist da noch nicht eingerechnet.

Sie hakt mich unter. „Für dich futtere ich mich heute einmal durch das komplette Süßigkeitenregal, okay?“

Schokolade? Chips? Gummibärchen? Schweini reibt sich sein Speckbäuchlein. Und auch ich spüre plötzlich ein kleines Hüngerchen. Lulu hat recht, wir machen uns einen schönen Abend, und ich höre auf, mir den Kopf über einen Kerl zu zerbrechen, den ich nullkommanull kenne. Haken hinter. Next!

„Danke, Lulu. Was wäre ich nur ohne dich?“, sage ich und lege den Arm um sie, als wir über die Straße gehen.

„Einsam und allein, wenn du mich noch einmal Lulu nennst“, lacht sie und spielt damit auf den Spitznamen an, den ich ihr vor vielen Jahren gegeben habe. „Lulu, das klingt nach kleinen Mädchen, die auf den Topf müssen“, hat sie sich oft beschwert. Aber ich weiß, dass sie nur so tut. Insgeheim mag sie ihren Spitznamen. Und das, wofür er steht: die Vertrautheit einer jahrelangen, innigen Freundschaft.

Im Gegensatz zu mir ist Lulu nach der Schule direkt durchgestartet. Ihr Abitur war so gut, dass sie an jede staatliche Uni in Deutschland hätte gehen können. Doch ihre Eltern wollten ihr lieber das Privatstudium an einer Eliteuniversität finanzieren. Den Abschluss in Hotelmanagement hatte sie nach zwei Jahren in der Tasche. Seitdem arbeitet sie in der Personalabteilung des Luxushotels ihrer Eltern am Ku’damm und wohnt in einer schönen Altbauwohnung in Berlin-Mitte. So kann es eben auch laufen.

Als wir in den Supermarkt gehen, schaue ich vorsorglich noch einmal auf mein Handy. Schließlich könnte sich in den letzten fünfzehn Minuten etwas getan haben. Als das Display aufleuchtet, bleibe ich abrupt stehen. Die Drehtür kommt ins Stocken, und alle, die sich mit uns zwischen den Glaswänden befinden, stöhnen genervt auf. Ich blicke zwischen Lulu und meinem Handy hin und her.

„Was ist, hat er etwa geschrieben?“, fragt sie und klingt so, wie sich die Fledermäuse in meinem Bauch anfühlen. Völlig aus dem Häuschen.

Erst als eine ältere Dame mit ihrem Gehstock gegen das Glas vor uns klackert, reiche ich Lulu das Handy und setze mich wieder in Bewegung.

„Hey Julia, heute Abend schon was vor?“, liest sie laut. „Krass, damit hätte ich ja jetzt echt nicht mehr gerechnet. Sehr cool!“

Cool? Eher komisch. Dafür hat er Tage gebraucht? Und warum ist die Nachricht nur so kurz? Und was heißt überhaupt heute Abend? Es ist doch schon fast zwanzig Uhr.

„Du gehst doch, oder?“

Ich spüre, wie sich mein Körper verkrampft. „Findest du sein Verhalten nicht irgendwie merkwürdig?“

Vielleicht hat er so lange gebraucht, um über deinen Mundgeruch hinwegzukommen, kichert Remy böse. Schweini dreht sich ihm zu und täuscht eine Kopfnuss an.

„Vielleicht hat er sich mühsam an die Drei-Tage-Regel gehalten“, sagt Lulu, während sie mir mein Handy zurückgibt. „Und jetzt kann er es gar nicht abwarten, dich so schnell wie möglich zu sehen.“

„Hm, genau, weil er ganz sicher die gleichen Frauenzeitschriften wie du abonniert hat. Als ob sich irgendein Typ dieser Welt über solchen Quatsch Gedanken machen würde.“ Ich schüttle den Kopf. „Und selbst wenn, warum hat er mir dann nicht schon heute Morgen, Mittag oder am frühen Abend geschrieben?“

„Was hast du denn bitte gegen spontane Männer? Du wolltest ihn unbedingt wiedersehen. Das ist deine Chance!“ Lulu greift meinen Arm und führt mich zum Ausgang. Sie hat entschieden.

Ich blicke an mir herunter. Wenn eine von uns beiden jederzeit zu einem Date aufbrechen könnte, dann bin das garantiert nicht ich. Lulu sieht wie immer perfekt aus und hat dafür nicht stundenlang vorm Spiegel stehen müssen. Wenn meine Eltern sich nach dem Wohlergehen meiner besten Freundin erkundigen, dann fragen sie: Wie geht es denn der schönen Lulu? Ich bin hübsch. Lulu ist schön. Wo mein Afrolockenkopf überhaupt nicht zu meiner blonden Haarfarbe und hellen Haut passt, passt bei Lulu alles. Sie trägt einen dunklen Bob mit geradem Pony, hat lange, dichte Wimpern und volle Lippen, die zu jeder Tageszeit so verführerisch aussehen, dass sie eigentlich keinen Lippenstift braucht. Trotzdem hat sie natürlich eine Armada davon im Bad. „Du siehst super aus“, sagt Lulu. Dann zwinkert sie. „Du kannst dir aber natürlich auch das kleine Schwarze von mir ausborgen. Und den roten Chanel-Lippenstift.“

Ist klar. Warum beim ersten Date nicht mal maßlos übertreiben? Als Femme Fatale in der Kneipe aufzukreuzen, macht bestimmt Eindruck.

Auf dem Weg zur Tram, versuche ich abzuschätzen, wann ich mich mit Tom treffen könnte. Einundzwanzig Uhr müsste ich eigentlich schaffen. Los geht’s.

www.instagram.com/fruehwarnsystem || Kapitel 02

Abschiedskuss – was, ist jetzt Schluss?

Mai – Zeit bis zum Knall: 4 Jahre, 4 Monate, 11 Tage

„Was darf’s denn sein bei den Herrschaften?“

„Zweimal das Hausbier, bitte“, bestellt Tom für mich mit. Dann zögert er: „Du magst doch Bier, oder?“

„Noch nicht besonders lange, aber ja“, antworte ich und bin froh, dass ich die Karte mit der riesigen Auswahl nicht länger studieren muss. Wir sind tatsächlich in einer Kneipe gelandet, in einem Pub unter den S-Bahnbögen am Hackeschen Markt, um genauer zu sein. Auf das Minikleid und roten Lippenstift habe ich verzichtet und mich stattdessen für eine schwarze, enge Jeans, ein blau-weiß-gestreiftes Shirt und ein dezentes Make-up entschieden.

„Schöne Schuhe übrigens“, sagt Tom und lugt dabei unter den Tisch. „Sind mir gleich aufgefallen.“

Ich muss grinsen. „Ehrlich? Die waren diese Woche schon einmal Thema.“

Das erste Bier kommt, und ich erzähle ihm von meinem Job bei Graf Grafik und dem Gespräch mit meinem Chef.

„Na, dann drücke ich dir die Daumen, dass das mit dem neuen Projekt klappt. Wer solche Turnschuhe trägt, macht doch bestimmt auch gerne Sport, oder?“

Ähm, nein?! „Weil in dem Wort Turnschuhe Turnen steckt, oder was?“

Tom lacht. Es klingt toll. „Schon irgendwie, oder?“

Um mir etwas Zeit für eine passende Antwort zu verschaffen, trinke ich einen großen Schluck Bier. „Sehr lecker. Hast du gut gewählt, danke.“

„Und, magst du Sport?“, hakt er noch einmal nach und lässt sich von meinem Ablenkungsmanöver offensichtlich nicht täuschen.

„Ich fotografiere.“

„Sportler?“

Ich muss lachen. „Genau, am allerliebsten Bodenturner.“

„Echt?“ Jetzt sieht er tatsächlich ein bisschen verwirrt aus.

„Das war ein Scherz!“, erlöse ich ihn. „Ich will damit sagen, dass ich lieber Natur und Menschen fotografiere als mich sportlich zu betätigen.“

„So siehst du aber nicht aus. Gute Gene, was?“, kontert er und zeigt mir seine Grübchen.

„Du machst viel Sport, nehme ich an?“, lenke ich den Fokus lieber wieder auf ihn.

„Naja, was heißt viel. Ich stehe gerne auf dem Brett. Im Sommer gehe ich wakeboarden oder surfen, im Winter fahre ich mit meinen Jungs zum Snowboarden. Ach, und klettern mag ich auch.“

Das glaube ich ihm sofort. Sieh sich einer diese schönen, leicht gebräunten Oberarme an! Auf dem linken Arm schlängeln sich Tattoos unter dem hellgrauen, schlichten T-Shirt hervor. Dieser Typ sieht gut aus. Sauber gestutzter Bart, weiße Zähne und so schöne, braune Augen. Und die Holztunnel in seinen Ohren stehen ihm ganz ausgezeichnet. Alles in allem hat er ein bisschen Ähnlichkeit mit David Beckham. Er ist meine persönliche Ausgabe von ihm. Mit Wuschelkopf.

„Warst du schon mal klettern?“, holt mich Tom aus meinen Gedanken.

Genau, klettern! Nicht schmachten! Du bist doch keine sechzehn mehr! Ich schüttele den Kopf, nein, war ich noch nicht.

Tom stellt sein Bier ab und lächelt. „Darf ich dich irgendwann mal mitnehmen?“

Erst jetzt fällt mir die kleine Lücke zwischen seinen Schneidezähnen auf. Gab es die am Sonntag auch schon? „Du kannst bestimmt gut pfeifen, oder?“, frage ich, ohne den Blick von seinen Lippen zu nehmen.

Remy klatscht sich mit der Pfote an den Kopf. Im gleichen Moment könnte ich mich ohrfeigen. Erst denken, dann reden!

Was ist denn nur los mit dir, Julia? Warum stellst du so dumme Fragen?

Tom fährt sich mit der Zunge über die Zähne. „Sie ist dir also aufgefallen.“

Ich senke den Blick, doch er lacht. „Ich bin der Pfeifer vom Dienst.“

Er nimmt es mit Humor, Gott sei Dank!

„Wohin bist du am Sonntag eigentlich gefahren? Beziehungsweise: wo kamst du her?“, lenke ich das Thema wieder auf unsere erste Begegnung.

„Ich war beim Geburtstag meiner Mama, die noch in Wüstrow wohnt. Ich bin vor drei Jahren nach Neukölln gezogen und arbeite in einem Copyshop bei mir um die Ecke.“ Er richtet das Glas auf dem Bierdeckel aus. „Eigentlich war der Plan, nach dem Abi Medizin zu studieren und im Copyshop nur die Wartesemester abzubummeln. Mittlerweile bezweifle ich aber, dass ich mich je zum Studium anmelden werde.“

„Warum das?“

Das zweite Bier kommt, er trinkt einen Schluck. „So ein Medizinstudium dauert ewig. Sechs Jahre Minimum. Und dann kommt noch die Facharztausbildung. Plus die vergeudeten Wartesemester vorher. Dann würde ich erst mit Anfang dreißig Geld verdienen.“

Ich rechne im Kopf nach: Er kann also nicht viel älter als ich sein.

„Ich bin jetzt dreiundzwanzig“, liest er meine Gedanken. „Und habe keine Lust mehr, mein halbes Leben in der Uni zu verbringen. Schließlich kann man Menschen auf so vielen Wegen helfen. Ich muss ja nicht unbedingt OPs durchführen und Verbände anlegen, um etwas Gutes zu tun.“

„Stimmt, manchmal reicht es schon, einem fremden Mädchen in der Regionalbahn seine Nummer zuzustecken“, scherze ich und merke, dass mir das Bier immer mehr zu Kopf steigt. Ich hätte bei Lulu vorhin doch noch schnell eine Stulle essen sollen.

„Das war sowieso der größte Zufall“, lacht Tom. „Genau am Tag vorher wollte mein Chef, dass ich den Druck von Visitenkarten übe. Also habe ich mir gleich eine eigene erstellt, und du warst die Erste, die eine bekommen hat. Stift und Zettel hätte ich jedenfalls nicht dabeigehabt.“

Und ich hätte mich nicht getraut dich anzusprechen. „Dann dürfen wir uns also bei deinem Chef bedanken.“

Wir prosten uns zu. „Hab ihm direkt von unserem Kennenlernen erzählt. Ist ein cooler Typ, nicht viel älter als ich, hat aber schon vier eigene Filialen. Der Job ist okay. Trotzdem würde ich zusätzlich gerne als Streetworker oder Sozialberater arbeiten.“

„Mach doch, du bist doch noch jung!“, versuche ich ihn zu ermutigen und klinge dabei wie meine Oma.

„Stimmt schon. Ich würde gerne ein paar Kids in Neukölln unterstützen. Vielleicht so etwas wie der große Bruder sein, den sie nicht haben oder der nicht das Vorbild ist, das er sein sollte, weißt du?“

Ich nicke und weiß genau, was er meint. Er hat das Herz am rechten Fleck, macht sich Gedanken über seine Mitmenschen und das Leben. Bestimmt kennt er sich auch gut mit Politik aus.

„Was hattest du denn für Leistungskurse?“

Tom runzelt die Stirn. „Geschichte und Englisch, wieso?“

„Wusst ich’s doch!“, lache ich.

„Was waren denn deine? Oder warte, lass mich raten …“ Er schaut mich eindringlich an, versucht mir an der Nasenspitze meine Lieblingsfächer abzulesen. Dann aber reißt er die Augen auf. „Ey, ich weiß noch gar nichts über dich! Wir haben die ganze Zeit nur über mich gesprochen. Wie peinlich.“

„Irgendwo müssen wir doch anfangen“, sage ich und nippe an meinem Bier. „Außerdem weißt du doch schon, wo ich arbeite, dass ich gerne fotografiere und keinen Sport mag.“

„Das reicht doch nicht. Erzähl mir mehr von dir.“

Wir schauen uns eine Millisekunde zu lange an. Aber lange genug, um die Fledermäuse in meinem Magengatter verrücktspielen und wie wild um sich schlagen zu lassen. Also gut.

„Ich hatte Kunst und Geographie als Hauptfächer, würde aber behaupten, dass ich alles vergessen habe, was wir je behandelt haben. Anstelle eines Studiums wollte ich aber lieber eine Ausbildung machen. Und was war noch? Ach ja, ich bin einundzwanzig.“

Tom lächelt und nickt. „Verstehe. Und was hat dich ausgerechnet mit jener Bahn fahren lassen?“

„Ich war auch bei meiner Mama“, sage ich und blicke auf die Schaumreste in meinem Bierglas.

Tom freut sich. „Da haben wir ja gleich noch eine Gemeinsamkeit.“

„Hm, nur dass ich noch bei meiner wohne“, sage ich kleinlaut und ergänze: „In Dengersdorf.“

„Echt jetzt? Dann sind wir ja quasi Nachbarn. Ich komme aus Wüstrow. Warum sind wir uns dann nicht schon früher über den Weg gelaufen?“

Ich blicke auf. Hat er das mit dem Zuhausewohnen überhört, oder stört es ihn nur einfach nicht? Vielleicht, weil er selbst ein Dorfi war? Es reicht ja auch erstmal, wenn einer von uns beiden eine Wohnung in Berlin hat, grinse ich in mich hinein. Schweini stimmt mit verstrahltem Lächeln zu.

Ich stützte das Kinn in die Hand. „Mich macht diese Pendelei wahnsinnig. Mit dem nächsten Ausbildungsjahr will ich mir unbedingt eine Wohnung in Berlin suchen.“

Tom schiebt sein Glas zur Seite, lehnt sich auf dem Tisch nach vorne und berührt meinen Unterarm. „Ist deine Schule zufällig in Kreuzberg?“

Die Berührung versetzt meinem Fledermauskäfig einen ordentlichen Stromschlag. Alter Vater, kribbelt das. „Ist sie, aber da gibt es sicher einige.“

„Ein Kumpel von mir macht auch eine Ausbildung zum Grafiker und fährt für den Unterricht immer nach Kreuzberg.“

Okay, wie wahrscheinlich ist es, dass ich ausgerechnet seinen Freund kenne? „Wie heißt er denn?“

„Hannes Rachmeister.“

Ha, das gibt’s nicht! „Echt jetzt?“

„Ja, wirklich. Seid ihr etwa in einer Klasse?“

„Hannes sitzt zwei Bänke neben mir. Krass!“

Darauf noch einen Schluck Bier.

„Pass auf, es wird noch besser“, grinst Tom. „Hannes war nämlich auch derjenige, mit dem ich telefoniert habe, als ich dir in der Bahn gegenüber saß. Erinnerst du dich?“

Und ob! „So klein kann die Welt doch gar nicht sein?“

„Vielleicht sind wir füreinander bestimmt“, sagt er und schaut mir dabei fest in die Augen.

Laserstrahlen! Peng! Puff! Wow!

Als ich seinem Blick nicht mehr standhalten kann, greife ich nach meinem Glas, muss aber feststellen, dass es leer ist.

„Wir nehmen noch mal zwei“, ruft mein aufmerksames Gegenüber dem Kellner hinter der Bar zu.

Wirklich? Ich hab schon leicht einen sitzen. Aber auf so viele Zufälle muss man wohl einfach anstoßen. „Seid ihr denn gut befreundet?“, frage ich ihn nach Hannes.

„Geht so. Wir sind zwar bis zur Dreizehnten zusammen zur Schule gegangen, konnten uns aber eigentlich nie so richtig leiden.“

Ich stutze. Wie jetzt? Hat er ihn nicht eben noch als Kumpel bezeichnet? Und haben sie nicht neulich erst den Sonntagabend miteinander verbracht? „War das nicht der, mit dem du Saft trinken wolltest?“

Tom verschränkt die Arme vor der Brust und schaut auf den Fernseher über der Bar. „Das war eine Ausnahme“, sagt er knapp.

Aha. Na, mir soll’s egal sein. Ich fand Hannes noch nie sonderlich sympathisch. „Was machst du, abgesehen von arbeiten und Bahn fahren, denn sonst noch so?“

Statt zu antworten, schaut er auf die Uhr. „Ist es echt schon kurz nach zwölf?“

Ähm, kann sein? „Also, ich muss noch nicht ins Bett.“

Er verzieht die Lippen zu einem Lächeln, das nicht echt wirkt.

„Ich aber. Mir ist gerade eingefallen, dass ich morgen Frühdienst habe und den Laden aufschließen muss. Wann fährt dein Zug?“

Womit dann auch die Frage geklärt wäre, wo ich heute schlafe.

„Ich bleibe bei einer Freundin in Mitte.“ Ich deute auf das Bier, das uns vor zwei Minuten gebracht wurde. „Austrinken können wir aber schon noch, oder?“

„Na klar. Sorry, ich wollte gar nicht für Aufbruchstimmung sorgen, ich mag das frühe Aufstehen nur nicht besonders“, zwinkert er mir zu, schafft es aber nicht, das komische Gefühl zu vertreiben.

Wir bleiben noch etwas, trinken und reden. Die Schlucke werden größer, die Themen oberflächlicher, die Pausen länger.

Es fühlt sich plötzlich an, als hätte jemand das Leuchten zwischen uns ausgeknipst.

Wir nehmen die letzte Stufe zum S-Bahnsteig, da wir beide in die gleiche Richtung müssen. Die Bahn Richtung Alexanderplatz kommt in vier Minuten.

Oben angekommen, laufen wir den Bahnsteig entlang, bis Tom mich neben einem geschlossenen Kiosk ausbremst und zu sich dreht. Ich halte die Luft an.

„Danke für den tollen Abend. Es war wirklich schön mit dir.“

„Ähm, ja, fand ich auch“, stottere ich. Seine plötzliche Nähe verdrängt sämtliche Worte aus meinem Gehirn.

„Das klingt jetzt vielleicht etwas kitschig, aber … als ich dich da in Dengersdorf auf dem Bahnsteig gesehen habe, wusste ich sofort, dass ich dich kennenlernen muss“, sagt Tom, ohne den Blick von mir zu wenden. „Diese Augen und …“ Er greift mit den Fingern nach einer meiner Locken, zieht sie lang und lässt sie zurückspringen. „ … und diese blonde Haarpracht. Von wem du die wohl hast?“

„Willst du darauf jetzt wirklich eine Antwort?“, frage ich leise.

Er schüttelt den Kopf. Dann zieht er mich in den Schatten hinter den Kiosk und drückt mich sanft gegen die Wand. Seine Hände halten meinen Kopf. Ich schließe die Augen. Unsere Lippen berühren sich. Und ich schmelze dahin. Ein Kuss, wie er sein soll.

Zum Schluss streift er mit seinen Lippen noch einmal meine Stirn. Dann lösen wir uns voneinander. Lächeln verlegen.

Wie auf’s Stichwort fährt die Bahn ein, und Tom setzt zu einer Umarmung an. „Du kommst gut zu deiner Freundin, ja?“

Wie jetzt? „Ich denke, du wohnst in Neukölln? Steigst du dann nicht mit mir am Alex um?“

Er gibt mir einen Kuss auf die Wange. „Ich muss noch woanders hin.“

Hä? Wohin denn? Ich will etwas sagen, doch das Alarmsignal für die Türen übertönt mich. Schnell steige ich ein, drehe mich aber sofort zu ihm um. „Sehen wir uns denn bald wieder?“

Tom schenkt mir ein letztes Mal sein Zahnlückenlächeln. „Na, was denkst du denn?!“

Dann schließen sich die Türen, die Bahn fährt los und mir bleibt nichts anderes übrig, als ihm noch einmal zuzuwinken.

www.instagram.com/fruehwarnsystem || Kapitel 03

Curly Sue

Mai – Zeit bis zum Knall: 4 Jahre, 4 Monate, 4 Tage

Ich gebe den Code für mein Fahrradschloss ein, das Schloss springt auf und ich werfe es zu meiner Tasche in den Korb. Wir wohnen in Dengersdorf-Nord, dem älteren Ortsteil. Um auf die andere Seite der Gleise zu kommen, muss ich durch die Bahnhofsstraße und den Fußgängertunnel.

Kaum sitze ich auf dem Sattel, denke ich wieder an Tom.

Wir sehen uns bald wieder, was denkst du denn?!

Und wann genau soll das bitte sein? Unser Treffen ist genau eine Woche her. Seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört. Dabei wollte ER doch dieses Date. ER bestand darauf, mich einzuladen.

ER hat mich geküsst. Sollte ich mir sein Interesse wirklich nur eingebildet haben?

„Achtung!“, ertönt es vor mir. Ich steige in die Bremsen. Die letzte Kurve im Tunnel habe ich offenbar zu eng genommen und wäre fast mit einem Kinderwagen zusammengeprallt. Ich blicke auf. Das hat mir gerade noch gefehlt. Die Frau hinter dem Wagen kenne ich: Josi. Wir sind zusammen zur Grundschule gegangen.

„Upps, sorry, da war ich wohl etwas zu schnell unterwegs.“

Dabei hätte ich sie auch nicht sehen können, wenn ich langsamer gefahren wäre. Was muss die ihren Kinderwagen auch so knapp um die Ecke schieben.

„Ach, ist doch nichts passiert!“ Anstatt einfach weiterzugehen, lenkt sie den Wagen etwas zur Seite. Anscheinend möchte sie noch plaudern.

Widerwillig steige ich ab und schiebe mein Rad zu ihr rüber.

„Warst wohl shoppen?“, frage ich mit Blick auf die bunten Einkaufstüten von kik & Co.

„Na, hier hat doch vor kurzem so ein Schnäppchenparadies eröffnet. Da bin ich heute gleich hin“, lächelt sie verzückt. Dann kramt sie in einer der Tüten und zieht ein Kindershirt heraus:

„Guck mal, ist das nicht süß?!“

„Bezaubernd.“

Josi scheint die Ironie in meiner Stimme nicht zu hören, sie stopft das T-Shirt zurück und schaut mich mit leuchtenden Augen an.

„Hinten am Wald wird auch noch ein neuer Discounter gebaut.

So langsam macht sich Dengersdorf, findest du nicht?“

Ich nicke zögernd. Kann schon sein. Überall sprießen Neubauten aus dem Boden, die Straßen werden gemacht, das Rathaus saniert. Trotzdem will ich hier weg. Je schneller, desto besser.

„Du, ich muss dann auch wieder“, sage ich, stelle den Fuß aufs Pedal und bringe mich in Startposition.

„Wie geht’s dir denn so? Haben uns ja ewig nicht gesehen“, versucht Josi mich aufzuhalten.

„Ganz gut“, antworte ich knapp.

Josi zieht die Augenbrauen hoch. „Sicher? So siehst du nämlich nicht aus.“

Na vielen Dank auch! „Muss wohl am Wetter liegen“, werfe ich ihr noch zu und rolle los.

„Aber heute scheint doch die Sonne?!“, höre ich Josi verwundert feststellen und kann mir ihr bedeppertes Gesicht, auch ohne mich noch einmal umzudrehen, mehr als deutlich vorstellen.

Als ich fast am Ende der Unterführung bin, drehe ich mich noch einmal zu ihr um und winke. „Tschüss, schönen Abend noch.“

Würde ich mich am Wochenende spontan entscheiden, auf einen Drink im Ort auszugehen, wären es genau solche Leute, denen ich in der kleinen, mit Billardtisch und Dartscheibe ausgestatteten Kneipe begegnen würde. An der Bar die Alten ohne Hoffnung, im Hinterzimmer die Jungend ohne Zukunft. Wahrscheinlich male ich es schwärzer, als es ist. Hier ist ja nicht alles schlecht. Immerhin wird in Kalles Stübchen sonntags der Tatort auf Leinwand übertragen, DAS Highlight für alle cleveren Kids aus der Umgebung. Doch selbst dorthin bin ich letzten Sonntag nicht gegangen, in der stillen Hoffnung, Tom könnte sich wieder sehr spontan melden. Doch als sich um 21:45 Uhr der blau-weiße Fadenkreuz-Abspann ins Bild schob, hatte sich noch immer nichts getan.

Lulu meinte am Montag, dass ich ihm noch etwas Zeit geben soll. „Vielleicht arbeitet er gerade viel, hat persönlichen Stress oder ist verreist.“

Ja, vielleicht. Aber irgendwie alles keine Gründe, sich nicht bei jemanden, den man mag, zu melden, oder? Schade, ich hatte ihn irgendwie anders eingeschätzt.

Schweini stupst mich liebevoll an: Warum meldest du dich nicht einfach bei ihm? Ruf ihn doch mal an.

Stimmt, warum eigentlich nicht? Ist eigentlich nichts dabei. Ich will einfach nur mal hören, wie es ihm geht, was er so macht.

Nur ein bisschen quatschen.

Autsch, mein Po knallt auf den Sattel. Das Schlagloch habe ich nicht gesehen, rüttelt mich aber wach. Fast wäre ich nämlich an unserem Haus vorbeigefahren.

Ich schiebe mein Rad neben Papas Auto in die Garage. Obwohl ich meine Eltern im Garten höre, nehme ich die Vordertür und schleiche die Treppe zu meinem Zimmer hinauf. Dort öffne ich das Fenster, krame mein Handy aus der Tasche und setze mich auf die breite Fensterbank.

Ich atme tief durch, zähle bis drei und wähle seine Nummer.

Mein Herz rast. Es klingelt einmal, viermal, sechsmal, Mailbox.

Mist. Schnell lege ich auf.

Im gleichen Moment klopft es an der Tür, und meine Mutter streckt den Kopf zu mir herein. „Dachte ich mir doch, dass ich dich gehört habe. Kommst du runter, Schatz, wir wollen draußen essen. Das Wetter ist noch so schön.“

In Gedanken höre ich Josi rufen: Aber die Sonne scheint doch?!

Ja, die Sonne scheint, und das Wetter ist gar zauberhaft, also MUSS es allen Menschen gut gehen.

„Was gibt’s denn zum Abendbrot?“, frage ich, während ich vom Fenstersims rutsche.

Sie lächelt. „Toast Hawaii und Gurkensalat.“

Na wenigstens etwas.

Biep, biep, biep – der Weckton wird immer lauter. Blind taste ich nach dem Handy auf meinem Nachttisch, um die Taste für die Schlummerfunktion zu finden. Doch als meine Finger das Display aktivieren, sticht mir anstelle der Zeitangabe etwas anderes ins Auge.

Ich streiche mir schnell die Schlafkrümel aus den Augen und die Haare aus dem Gesicht. Mit einem Mal bin ich hellwach, starre auf mein Handy und auf die Nachricht, die mich gerade um meinen Nur-noch-fünf-Minuten-Schlaf gebracht hat.

02:18 Uhr Hey Curly Sue, ich war vorhin im Copyshop und konnte nicht rangehen. Ich hoffe dir geht es gut? Ich würde mich freuen, wenn wir uns nächste Woche wiedersehen. Montag? Bis bald! Tom.

Oléééé, Olé, Olé, Oléééé! Schweini pustet in eine Tröte und setzt sich ein Partyhütchen auf den rosa Kopf.

Doch nur einen Herzschlag später nagt Remy an meinen Eingeweiden. Warum erst nächste Woche? Was ist denn mit dieser?

Das Wochenende steht doch vor der Tür.

Wann hat er mir überhaupt geschrieben? Ich lag gegen elf im Bett, es muss also danach gewesen sein. Ich öffne die Nachricht erneut: 02:18 Uhr. Mitten in der Nacht.

Komisch. Aber vielleicht ist er einfach ein Nachtmensch. Ob er sich wohl auch gemeldet hätte, wenn ich gestern nicht angerufen hätte? Keine Ahnung, wie ich auf diese Nachricht reagieren soll.

Am besten erstmal gar nicht. Ich überlege mir in Ruhe, wie ich vorgehe. Passe mich seiner Reaktionsgeschwindigkeit an. Nur nichts überstürzen …

In der Schule werde ich von meiner Sitznachbarin angestupst, die eine kleine, zusammengeknüllte Papierkugel an mich weiterreicht. „Ist für dich.“

Um von Herrn Meinecke nicht erwischt zu werden, lasse ich meine Hände unterm Tisch verschwinden, wo ich den Zettel vorsichtig auseinanderfalte.

Unfassbar, dass ich mir ausgerechnet mit Hannes Zettelchen schreibe. Aber wie heißt es so schön? In der Not frisst der Teufel Fliegen, und er ist nun mal der Einzige, der mir ein paar Infos zu Tom geben kann.

Trotzdem werde ich mich behutsam herantasten. Ich will nicht, dass er sofort checkt, worauf ich eigentlich hinaus will. Auch wenn das bedeutet, so zu tun, als wäre ich an seinem Gequatsche interessiert.

Ich: Heeeey, ist ja wieder echt spannend heute, was? Er: Boah, hör mir auf, ich kann sein Gelaber über Kunst- und Designgeschichte nicht mehr hören. Will ich Museumsdirektor werden, oder was? Ich: Wobei es für unsere späteren Karrieren sicher nicht schaden kann, zu wissen, woraus sich die heutigen Grafikdesign-Ansätze entwickelt haben. Er: Wenn wir so etwas wirklich brauchen, schule ich um!

Während Herr Meinecke vorne die Folie vom ersten Journal of Design gegen einen kurzen Steckbrief zum Herausgeber Henry Cole austauscht, frage ich Hannes nach seinem Wochenende und reiche den Zettel wieder möglichst unauffällig an meine Sitznachbarin nach links weiter.

Es dauert nicht lange, da ist er wieder bei mir.

„Habt ihr’s jetzt bald mal“, flüstert meine Nachbarin genervt, während sie mir die Papierkugel ins Federmäppchen schiebt.

„Ja, gleich. Sorry“, wispere ich zurück. „Ist wichtig.“

Ich muss mich beeilen! Lange macht sie das nicht mehr mit.

Hannes Ausführungen zu seinem krassen Party- und Katerwochenende kommentiere ich deswegen nur kurz mit Klingt geil!,

bevor ich mich endlich vorwage. Ich habe schließlich eine Mission. Wo wir gerade dabei sind, ich habe vorletztes Wochenende Tom Schüler kennengelernt. Er meinte, dass ihr zusammen zur Schule gegangen seid …?

Remy veranstaltet ein Violinkonzert in meinem Bauch, nur dass er den Bogen nicht über die Saiten einer Geige, sondern über meine Magenwände streicht.

Ich falte den Zettel mit schwitzigen Fingern zusammen und gebe ihn mit entschuldigendem Blick ein weiteres Mal nach links weiter. Gott sei Dank sitzen zwischen Hannes und mir nur drei Leute. Während mein „Brief“ unterwegs ist, traue ich mich nicht, in Hannes’ Richtung zu blicken. Ich komme mir lächerlich vor. Wie damals beim Zettelchen-Schreiben in der neunten Klasse, die Angst im Nacken vom Empfänger ausgelacht zu werden.

Warum tue ich das hier eigentlich?

Als der Zettel wieder bei mir ist, falte ich ihn trotzdem hastig auseinander und laufe rot an. Wie damals in der neunten.

Ist ja witzig! Stehst du auf den, oder was?

Boah, genau DAS wollte ich vermeiden. Aber gut, ich bin kein pubertierender Teenie mehr. Ich zieh das jetzt durch.

Vielleicht?!

Der Zettel wandert zurück. Dieses Mal kann ich ihn nicht aus den Augen lassen. Muss wissen, was Hannes weiß!

Im Raum wird es plötzlich unruhig, also schaue ich nach vorne – und zucke zusammen. Herr Meinecke steht direkt vor meinem Tisch. „Frau Helbig, es freut mich, dass Sie und Herr Herold heute solch einen Spaß miteinander haben, aber vielleicht könnten Sie Ihr Geturtel auf nach dem Unterricht verschieben? Ich glaube nämlich nicht, dass Sie mir sagen können, wie es zur Umsetzung der ersten Designausstellung durch Cole kam, oder?“

Leises Gekicher. Remy hat den Violinenbogen in die Ecke geschmissen und haut jetzt ordentlich auf die Pauke. Natürlich kenne ich die Antwort nicht, deswegen setze ich mich gerade auf und betrachte interessiert die Infografiken auf der Leinwand. Mein Lehrer nickt, wendet sich den anderen Mitschülern zu und erzählt, wie aus Henry Coles Idee, Produkte aus verschiedenen Ländern zusammenzubringen, 1851 die erste Weltausstellung entstand.

Ob der Zettel schon wieder auf dem Rückweg ist?

„Das ist das letzte Mal. Ich habe echt keinen Bock auf Stress“, zischt meine Sitznachbarin.

Schon gut, schon gut. Zum Glück ist die Stunde gleich vorbei.

Als Herr Meinecke etwas an der Tafel notiert, lese ich die neue Nachricht.

Naja, also soviel ich weiß, hat der doch eine Freundin, oder?

Er hat WAS?! Mir bleibt die Spucke weg.