Fuchskind - Annette Wieners - E-Book

Fuchskind E-Book

Annette Wieners

0,0
8,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

An einem Herbsttag hört Friedhofsgärtnerin Gesine Cordes hinter einem Grab plötzlich Babygeschrei. Sie gerät in Panik, denn sie fühlt sich an den Tag erinnert, an dem ihr Sohn zehn Jahre zuvor durch Giftpflanzen ums Leben kam. Doch der Säugling, den sie auf dem Friedhof entdeckt, ist unversehrt. Von den Eltern aber weit und breit keine Spur. Als wäre das nicht genug, wird auch noch eine Frauenleiche gefunden. Und Gesines Exmann steht plötzlich vor ihr. Hat er etwas mit der Toten zu tun? Gesine kommt der Wahrheit näher, als ihr lieb ist ....

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

Später Herbst, die Tage werden kürzer, die Nächte länger. Friedhofsgärtnerin Gesine Cordes ist froh, sich morgens in aller Ruhe der Grabpflege widmen zu können. So früh kommt kaum ein Besucher auf den Friedhof. Doch plötzlich hört sie Babygeschrei und findet einen verlassenen Säugling. Gesine ist entsetzt. Wer würde sein Kind einfach so im Stich lassen? In der Kälte! Gesine, die ihren eigenen kleinen Sohn bei einem tragischen Unglück verloren hat, ist erschüttert.

Kurz darauf taucht die Polizei bei Gesine auf. Neben dem Friedhof wurde eine Frauenleiche entdeckt – möglicherweise die Mutter des Kindes. Bald scheint es, als ob jemand auch dem Säugling nach dem Leben trachtet. Kann Gesine diesmal das Kind retten?

Die Autorin

Annette Wieners, geboren in Paderborn, hat für ARD, ZDF und WDR als Drehbuchautorin gearbeitet. Sie lebt als Autorin und Journalistin in Köln. Fuchskind ist der zweite Teil der Krimiserie um Friedhofsgärtnerin Gesine Cordes.

Von Annette Wieners sind in unserem Hause bereits erschienen:

KaninchenherzFuchskind

Annette Wieners

FUCHSKIND

Kriminalroman

List Taschenbuch

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-buchverlage.de

Wir wählen unsere Bücher sorgfältig aus, lektorieren sie gründlich mit Autoren und Übersetzern und produzieren sie in bester Qualität.

Hinweis zu Urheberrechten

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten.Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Widergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

ISBN 978-3-8437-1303-0

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016Umschlaggestaltung: Büro für Gestaltung – Cornelia Niere, MünchenTitelabbildung: Mauritius Images/Trigger ImageGrafiken im Innenteil: © Katharina Hacka

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

1

Im Pförtnerhaus brannte Licht. Gesine klopfte ans Fenster, aber alles blieb still. Die Gardine war zugezogen, die Tür abgeschlossen. Der Knauf lag kalt in ihrer Hand, feucht vom Morgennebel.

Sie bückte sich und versuchte, unter der Gardine hindurch in die Loge zu spähen. Der Stoff hatte sich auf der Fensterbank verfangen und gab einen Spalt frei. Sie sah die Lampe auf dem Tisch, die Lederhandschuhe daneben, glänzend im Kegel des warmen Lichts. Trotzdem schien die Loge leer zu sein.

»Hallo?«

Keine Antwort. Aber hinter dem Pförtnerhaus entdeckte sie eine frische Spur im Gras. Jemand war zwischen Friedhofsmauer und Loge hin- und hermarschiert. Jemand, der größere Schritte machte als der alte Pförtner.

»Hallo?«

Nichts. Nur eine Taube flatterte aus dem Rhododendron, die Flügel klatschten, dann verschwand der Vogel über den Gräbern.

Jetzt klopfte Gesine energisch. Die Gardine hing in steifen Falten. Ein grober brauner Stoff, der den Lichtschein filterte wie einen dünnen Kaffee.

Sie überlegte, den Schlüssel zu benutzen. Den Universalschlüssel, dessen Existenz man besser nicht an die große Glocke hängte. Aber dann verwarf sie den Gedanken, holte die Tüte mit den Croissants aus dem Pick-up und klemmte sie an den Türknauf. Warum sofort an das Schlimmste denken? Sie war doch nicht mehr bei der Polizei.

Ohne sich noch einmal umzudrehen, fuhr sie weiter Richtung Kapelle. Der Novembernebel hing tief über den Friedhofswegen, zäh zog die Morgendämmerung auf. So dick war die Luft, dass die Kronen der Bäume im Nichts verschwanden. Die Azaleen bogen sich schwer, die Grabsteine wirkten wie nass lackiert, und an den Eiben leuchteten die falschen Früchte, rot wie Positionslichter im Hafen.

Sie öffnete die Seitenscheibe. Es würde noch angenehmer werden, in ein oder zwei Stunden würde die Sonne durchbrechen. Gegen Mittag könnten Hannes und sie sogar picknicken, drüben auf der Bank vor dem Feld der Kindergräber. Ein perfekter Herbsttag, das hatte man im Radio gesagt, und darauf wollte sie sich verlassen.

Als der Betriebshof auftauchte, hielt sie an, um in die Einfahrt zu schauen. Der Parkplatz war leer, die anderen Gärtner waren noch nicht zum Dienst erschienen. Der Bagger stand mit erhobener Schaufel da, und der Aushub von gestern lag daneben. Sargreste und Knochenteile, die ein Kollege erwischt hatte, als er ein Grab auskoffern sollte.

Aber was war das unter den Bäumen? Ein heller Fleck, etwas bewegte sich und verschwand. Oder täuschte der Nebel? Sie lehnte sich weit aus dem Fenster. Nein, da war nichts. Nur Schwaden und der silbrige Glanz einer Seidenkiefer.

Der Pick-up rollte weiter. Der Motor tuckerte leise.

Plötzlich ein Schatten auf dem Weg. Sie bremste hart und erkannte einen Fuchs vor der Motorhaube. Starr stand er da, den Kopf erhoben. Leuchtende Augen, schräg aufgestellt hinter einer hellen Schnauze. Über seine Lefzen liefen dunkle Streifen, wahrscheinlich hatte er gerade gefressen.

Sie löschte die Scheinwerfer und drehte den Zündschlüssel um. Der Fuchs war kräftig und schön, er trug bereits den Winterpelz. Er lauerte, dann lief er davon. Sie merkte sich die Stelle, denn im Zaun, der das Wild vom Friedhof fernhielt, musste ein Loch sein.

Auf dem Vorplatz der Kapelle schließlich wollte sie sich um das Laub kümmern. Birkenblätter und Ahornfächer waren in Massen von den Bäumen gefallen. Sie nahm die Arbeitshandschuhe und stieß die Bolzen aus der Ladeklappe. Das Klirren stach durch die trübe Luft, aber dahinter, aus dem Gebüsch, erklang noch ein anderes Geräusch. Der dünne Laut eines Kindes.

Sie horchte, doch der Laut wiederholte sich nicht.

Vielleicht trieb sich eine Katze herum, um diese Uhrzeit war kaum etwas anderes möglich. Katzen klangen oft wie Kinder, wie sehr kleine Kinder.

Sie begann, das Laub zu harken, mit langen, kratzigen Schwüngen. Sie musste sich im Griff halten, ihre Beklommenheit konnte ein Symptom sein. Eine Spätfolge des Sommers, in dem sie mit Gewalt und Hinterlist konfrontiert worden war. Sollte sie inzwischen nicht stabiler sein?

Und trotzdem fiel ihr schon wieder eine Fußspur auf, als sie sich beim Harken der Kapelle näherte. Sie bückte sich. Aus der Art, wie das Laub lag, war eine gewisse Hast zu erkennen. Jemand war am frühen Morgen herbeigeeilt und hatte vor dem Eingang mit den Füßen gescharrt.

»Ist hier jemand?«, rief sie.

Keine Antwort.

Sie lehnte den Laubbesen an die Mauer und überprüfte die Kapellentür, aber das Schloss war in Ordnung und die Tür verriegelt, wie es sich gehörte.

Doch dann knackte irgendwo hinter ihr ein Stock, und noch während sie sich umdrehte, meinte sie, jemanden vom Pick-up weghuschen zu sehen. Jemand jammerte, jemand sagte etwas, kurz und grob, so als ob ein Kind weinte und zwischen den Sträuchern zum Schweigen gebracht wurde.

Sie lief dem Jammern nach, geradeaus in den schmalen Weg hinein, der sich durch den Hartriegel wand. Ein sandiger Boden, von vielen Schuhen zertreten, und wieder wurde es still. Nebel wie Watte und zwei Meter hohe Büsche, die ihr die Sicht versperrten. Dornen, Schösslinge und Efeugeschlinge.

Sie zwang sich, ruhiger zu atmen. Wenn sie den Weg weiterlief, gelangte sie an das Gräberfeld A, den Bereich der Kindergräber, und links lagen die Familiengruften mit ihren gewaltigen Tafeln. Überall konnte man sich bestens verstecken. Aber war sie denn ganz sicher, dass sie vorhin jemanden am Pick-up gesehen hatte?

Nein, ganz sicher war sie nicht.

Sie kehrte auf dem Sandweg um und rief Hannes an. »Wann kommst du heute?«

Er lachte. »Was ist denn mit dir los?«

»Es ist sehr nebelig.« Sie zögerte und war plötzlich nicht sicher, ob sie ihm alles sagen sollte.

»Ach, das kennen wir doch.« Hannes blieb amüsiert. »Mittags wird die Sonne scheinen. Oder willst du unser Picknick absagen?«

»Nein, auf keinen Fall«, sagte sie und stutzte. Hannes war nicht allein. Geschirr klapperte, und jemand wisperte in seiner Nähe. Eine kichernde Frauenstimme, wie peinlich, Gesine störte beim Tête-à-Tête.

»Ist wirklich alles in Ordnung bei dir?«, fragte Hannes, weil sie so lange schwieg.

»Natürlich. Entschuldige.«

Sie beendete das Gespräch und sah auf die Uhr. Die Croissants hingen wohl noch beim Pförtner an der Tür. Sie sollte zur Loge zurückspazieren und den Tag noch einmal neu beginnen.

Aber jetzt knarrte etwas. Vorn, hinter den Sträuchern rührte sich jemand, und diesmal hörte sie es genau. An der Kapelle fiel der Laubbesen um, sie erkannte das Scheppern der biegsamen Zinken und rannte los. An den Dornen vorbei, über das Efeu hinweg, und anstatt die letzte Kurve zu nehmen, schnitt sie den Weg durch den Hartriegel ab.

Der Laubbesen lag am Boden, tatsächlich, und auch wenn kein Mensch zu sehen war, war an der Ecke jemand ausgerutscht. Das Laub war weggeglitscht, der blanke Lehm kam durch.

»Wer ist denn hier?«

Ausgerutscht, aufgestanden, um die Mauer herum hinter die Kapelle gelaufen.

»Ich bin die Friedhofsgärtnerin. Warum verstecken Sie sich vor mir?«

Aber aus den Büschen schlug ihr bloß die stumme Kälte entgegen. Der Nebel saß kompakt zwischen den Zweigen, die Rhododendren waren schon lange nicht mehr geschnitten worden. Grünbraunes Moos überzog die Mauer, und der Boden war hier, an der Nordseite der Kapelle, glatt vor Nässe.

Sie stützte sich an den Bruchsteinen ab, entschlossen, das Katz-und-Maus-Spiel zu beenden. Doch alles, was sie hörte, war ein feines, helles Wimmern. Leise und brüchig, wie von einem Baby.

»Das gibt es doch nicht.«

Sie ging in die Hocke. Dunkle Blätter hingen lappig am knorrigen Holz und schluckten das Licht. Das Wimmern erstarb, bevor sie es orten konnte. War es von vorn gekommen oder eher von der Seite?

Schweigen. Nur der eigene Pulsschlag dröhnte in den Ohren.

Dann endlich, nach einer langen Weile, ein Glucksen von rechts. Sie ging noch tiefer herunter, bog die Zweige auseinander und erschrak. Auf dem Boden, zwei oder drei Meter weit in die Rhododendren geschoben, stand etwas Blaues aus Plastik und Stoff. Eine Babyschale zwischen den tropfenden Zweigen.

Sie kroch nach vorn, eine Hand schützend vor der Stirn, die andere Hand ausgestreckt. Ein Baby lag dort und ruderte mit den Armen.

»Schschscht«, machte Gesine und zog die Schale langsam zu sich heran. Das Kind trug eine helle Mütze mit langen Bändern, die offen herunterhingen. Um seinen Körper war eine karierte Decke gestopft, am Fußende war sie mit Erde verschmiert.

»Schschscht.«

Es guckte sie an. Ein winzig kleines Gesicht. Ein Säugling mit schrumpeligen Händen. Runde Lippen, eine dicke Zunge und Spucke, die übers Kinn rann.

Weiter hinten im Gebüsch raschelte es.

»Hallo?« Jemand rannte fort. »Stehen bleiben, verdammt noch mal!«

Aber die Person rannte weiter, und als Gesine aufsprang, erschrak das Baby und fing an zu weinen. Sie legte ihre Arme um die Schale und brach sich rücklings eine Bahn ins Freie. Es konnte doch nicht sein, dass jemand ein Baby sich selbst überlassen wollte? Im Gebüsch, im November?

Doch der Vorplatz der Kapelle war leer. Sie setzte die Schale ab, das Kind zappelte, spannte sich an und schrie los, als habe man einen Schalter gedrückt. Zahnlose Kiefer, ein heller Gaumen und eine Zunge, die verzweifelt vibrierte.

»Ganz ruhig. Du hast ja recht.«

Sie lupfte die Decke. Das Baby war festgeschnallt, immerhin. Mit einiger Mühe löste sie den Gurt und hob es aus dem Sitz. Ein feuchtes, weiches Päckchen.

»Schschscht.« Sie legte es an die linke Schulter und klopfte auf den kleinen Rücken. »Alles wird gut, versprochen.«

Die Mütze war ihm auf die Nase gerutscht, sie schob sie hoch. Helle Augen mit Sprenkeln. Dunkle, nasse Wimpern, die Lider wie Mandeln geschwungen und rot. Der Mund war mit Rotz verschmiert.

Sie tastete nach dem kleinen Nacken, um dort die Haut zu berühren. Das Kind zuckte zusammen, schluchzte bitterlich auf, aber dann schmiegte es sich an sie, schnaufend und warm.

Ein Junge oder ein Mädchen? Sein Ärmel roch nach Creme und aus den Tiefen des Strampelanzugs stieg Windeldunst auf.

Vielleicht ein Junge, denn plötzlich kam ihr die Situation vertraut vor. So, als sei die Zeit aufgerissen und sie dürfte ihr eigenes Kind wieder halten. Sie hörte sein Schmatzen und Glucksen, sie nahm es fester, jäh beglückt, und doch voller Entsetzen: Der Junge war warm und sie wusste zugleich, dass er starb.

Ihr Herz stolperte. Es war eine Täuschung, nichts als eine Erinnerung, und zwar von der niederträchtigsten Art.

Mit weichen Knien ging sie zum Pick-up, stellte die blaue Schale auf den Beifahrersitz und legte das Baby hinein. Es löste sich nur ungern, patschte an ihre Wange und versuchte, an ihre Lippen zu gelangen.

»Ich brauche meine Hände, um zu telefonieren«, sagte sie heiser, aber das Kind bog seinen Rücken durch und schrie. Sie nahm es eilig wieder auf den Arm, mit demselben sanften Druck wie eben, bloß gefiel ihm der Griff jetzt nicht mehr. Es stemmte sich dagegen, boxte und weinte.

»Ich bin ja da«, sie fingerte nach dem Telefon, um die Polizei zu verständigen. Doch jetzt geriet das Baby völlig außer Kontrolle. Es brüllte aus Leibeskräften und biss in seine Fäustchen. Dazu zog es die Knie an, als habe es heftige Krämpfe.

Sie prüfte seine Haut und seine Augen. Wie lange hatte es unter den Rhododendren gelegen, und wann hatte es zuletzt etwas getrunken? Oder war es etwa möglich, dass es an den giftigen Blättern gezogen und daran genuckelt hatte? Nein. Das konnte es doch gar nicht schaffen!

Trotzdem krampfte es. Eindeutig, es krampfte und hatte Schmerzen, sein Gesicht lief violett an, und Gesine musste unbedingt handeln. Sofort zum Krankenhaus fahren. Sie packte das Kind in die Schale, fingerte in fliegender Hast den Sicherheitsgurt durch die Ösen und setzte sich hinters Steuer. Sie würde dem Pförtner am Eingang zurufen, dass er die Polizei verständigen sollte. Er würde doch inzwischen in der Loge sein?

Das Baby wurde steif. Seine Lippen liefen blau an, und die Stirn verdunkelte sich. Sie rüttelte an seinem Sitz.

»Atmen!«

Und es atmete, es wandte sogar den Kopf zu ihr, aber es wurde fürchterlich stumm.

Und schon kam das Pförtnerhaus in Sicht. Gesine hupte lang und laut, doch was war das? Die Gardine hing immer noch vor dem Logenfenster. Die Tür war geschlossen, ebenso das eiserne Tor für die Autos. Und dahinter, auf der Straße, stand der Frühbus an der Haltestelle, dunkel, so als säße niemand darin oder als sei man in einen Dornröschenschlaf gefallen.

Den Tränen nahe sprang sie aus dem Pick-up, rannte zum Tor, riss es auf, warf sich wieder auf den Fahrersitz und beugte sich über das Baby. Es lebte, aber sein Kopf hing schlaff zur Seite.

Da drückte sie das Gaspedal durch, dass die Reifen quietschten. Eine Schar Tauben stob auseinander, und etwas Helles geriet unter den Pick-up. Im Rückspiegel sah sie es wirbeln. Die Tüte, in denen die Croissants gesteckt hatten, lag leer und zerfetzt auf dem Asphalt.

2

Der Heizstrahler knisterte, und es roch verbrannt. Das Baby lag nackt auf dem Tisch. Mit den Armen hieb es auf die Unterlage aus Plastik und die Füße stieß es in die Luft. Ein Junge. Seine Gesichtszüge hatten sich entspannt, aber seine Brust hob und senkte sich immer noch schnell. Viel zu dünn war er, man konnte die Rippen zählen.

»Sechs Wochen alt, höchstens zehn. Bei solchen Kindern weiß man nie«, sagte der junge Arzt und trug die Erkenntnis in das Formblatt ein.

Gesine spitzte die Lippen. Jeder konnte sehen, dass das Kind sich nach der Geburt noch nicht gestreckt hatte. Die Knie krumm, die Ellbogen angewinkelt, es machte sich kleiner als nötig.

»Das Fieber wird gleich sinken«, der Arzt ging um den Tisch herum, »und seine Reflexe sind im Grunde auch in Ordnung. Sehen Sie?« Er berührte den kleinen Fuß, und die Zehen krümmten sich. »Bestens. Sollte es allerdings in der nächsten Stunde immer noch nicht trinken, werden wir ihm eine Infusion legen.«

»Bleibt es hier auf Ihrer Station?«

»Wir besprechen das mit den Behörden.«

Er setzte ein paar Kreuze in eine Tabelle und trat ans Waschbecken. Gesine berührte das Baby an der Wange.

»Ich würde gern wissen, was aus ihm wird«, sagte sie.

»Fragen Sie morgen im Schwesternzimmer nach. Aber Sie brauchen sich wirklich um nichts mehr zu kümmern, Frau Cordes.«

Sie nickte und nahm ihre Jacke. Der Junge schaute zum Heizstrahler hoch. Er bog den Rücken durch, wie eben, als er die Krämpfe bekommen hatte, aber er wirkte zufrieden dabei. Das Häkel-Mobile mit den ausgefransten Figuren schien ihn zu interessieren.

»Sein Gehirn konzentriert sich auf das Hier und Jetzt«, sagte der Arzt, während er sich die Hände wusch. »Vielleicht hat er den Friedhof schon wieder vergessen.«

»Das kann ich mir kaum vorstellen«, entgegnete Gesine.

»Sie würden staunen. Die innere Welt solcher Kinder ist bunt und schön.«

»Ich glaube, er hat eine Gänsehaut.«

In der Ecke stand die blaue Babyschale, in der sie das Kind ins Krankenhaus gebracht hatte. Für die Spurensicherung war sie in eine Folie gepackt, mitsamt der verschmutzten Decke und den Anziehsachen.

»Horchen Sie den Jungen doch bitte noch einmal ab«, sagte sie. »Er atmet so schnell, auch wenn das Fieber sinkt.«

»Ich nehme an, Sie kennen sich nicht aus?«

Die Antwort lag ihr sofort auf der Zunge: Doch, ich bin Mutter, aber sie formulierte es um: »Doch, ich kenne einige Kinder.«

»Gesunde Kinder, vermute ich.«

»Ja.« Ihr gesundes Kind von damals, ihr totes Kind.

»Im selben Alter wie unser Kandidat hier?«

»Nein. Also genauer gesagt, sind es zwei Nichten.« Sie musste Anlauf nehmen. »Sie gehen schon in die dritte Klasse. Und weil sie keine Mutter mehr haben, kümmere ich mich manchmal um sie.«

Der Arzt winkte ab. »Das ist eine ganz andere Nummer. Also für den Kleinen hier ist es völlig normal, so flach zu atmen. Sein Herz arbeitet nicht richtig. Wir stabilisieren ihn, und wir fragen in allen Kliniken nach, weil wir ihn wieder mit seinem zuständigen Arzt in Verbindung bringen müssen.«

»Er ist ein Findelkind. Wer soll da zuständig sein?«

»Er wird registriert sein. Das Down-Syndrom kommt heute nicht mehr allzu oft vor.«

Der Junge gluckste und stopfte sich eine Hand in den Mund. Vorhin, auf dem Friedhof, war es Gesine nicht aufgefallen, dass er anders aussah, und auch jetzt hatte sie Probleme, die Hinweise zu finden, die der Arzt ihr aufgezählt hatte.

»Meinen Sie, man hat ihn deshalb ausgesetzt?«, fragte sie.

»Weil er behindert ist?«

»Weil er Herzprobleme hat.«

Sie strich dem Jungen über den Kopf. Das Haar war dünn und fedrig, der Schädel rund. Man könnte die Form seiner Augen ungewöhnlich finden, wenn man unbedingt wollte. Er zog die Nase kraus, dann lächelte er Gesine an.

»Die meisten Eltern erfahren es schon während der Schwangerschaft und treiben ab«, sagte der Arzt. »Sie machen es sich natürlich nicht leicht, oft wollen sie den Kindern ein anstrengendes Leben ersparen.«

Gesine schwieg. Der Junge schmatzte, und sie spürte den heftigen Wunsch, ihn auf den Arm zu nehmen.

»Wissen Sie, welche Perspektive er hat?«, fragte sie.

»Nein. Trisomie 21 kann harmlos ausfallen, es kann aber auch mit Schmerzen einhergehen.«

Sie legte eine Hand auf die Brust des Jungen und hielt mit der anderen seine kleinen Füße fest. Sanft und beruhigend, jedenfalls so gut sie es konnte.

Ein Computer piepte. Der Arzt hielt Gesine eine frische Windel hin.

»Vielleicht könnten Sie kurz?«

Sie schüttelte den Kopf, aber er legte ihr die Windel auf den Tisch und eilte zum Monitor an der Wand.

Das Baby lächelte immer noch, allerdings nicht mehr in Gesines Richtung, sondern an ihr vorbei ins Leere. Es zog die Fäuste zum Kinn, hielt vollkommen still und sah aus, als horche es auf ein geheimes Geräusch im Raum.

Sie faltete die Windel auseinander. Es musste ihr doch alles geläufig sein, das Vlies, der Gummizug, das Ratschen der Klebeverschlüsse, trotz der vielen Jahre, die vergangen waren. Sie versuchte ihr Glück und das Baby ließ die Handgriffe über sich ergehen. Als es fertig eingepackt war, gähnte es wohlig. Sie schob ihm einen Finger in die Faust und es drückte zu.

»Es mag sie«, sagte der Arzt hinter ihrem Rücken. »Allerdings sind solche Kinder von Natur aus freundlich und zugewandt.«

»Vorsicht.« Sie richtete sich auf. »Ich bin allergisch gegen Sammelbegriffe.«

Später saß sie im Besucherzimmer. Der Raum war frisch renoviert. Bunte Gemälde an den Wänden, eine offenbar neue Sitzgruppe aus dunkelgrauen Sesseln und einem Sofa. Im Regal stand ein Karton mit einer Milchpumpe. In der Ecke lag Spielzeug. Das Bundesliga-Sonderheft auf dem Tisch hatte Eselsohren.

Sie saß mit dem Rücken zum Fenster. Vor ihr, auf dem Sofa, hatte ein junger Polizist Platz genommen, um ihre Aussagen zu protokollieren. Zuerst stellte er nur Routinefragen. Wann, wo und wie hatte Gesine auf dem Friedhof etwas bemerkt? Aber die starren Schablonen gingen ihr bald gegen den Strich.

»Ich habe Ihnen von der Spur erzählt, die ich hinter dem Pförtnerhaus gesehen habe«, erklärte sie. »Zwischen Friedhofsmauer und Loge muss jemand unterwegs gewesen sein. Außerdem führte eine weitere Spur zur Kapelle. Jemand hat versucht, die Tür zu öffnen, und es wäre ratsam, sich das zu notieren.«

»Auf einem Friedhof kommt es ständig vor, dass jemand in die Kapelle will«, erwiderte der Polizist.

»Nicht so früh am Morgen.«

»Woher wissen Sie, um welche Uhrzeit die Spur entstanden ist?«

»Ich kann es nur schätzen, aber ich habe das Laub untersucht, und ich habe gewisse Vorkenntnisse im Spurenlesen.«

»Ein Hobby von Ihnen?«

»Nein.«

»Also ist Ihre Angabe spekulativ? Sie glauben, dass jemand in die Kapelle wollte, aber Sie haben nichts Konkretes beobachtet?«

»Wir sollten uns vorstellen, was im Umfeld der Tat geschehen ist«, beharrte Gesine. »Der Täter hat das Kind zur Kapelle getragen. Er wollte beten oder es dort aussetzen, weil es ihm in der Kapelle leichter gefallen wäre als draußen.«

Der Polizist klopfte mit dem Stift auf das Papier. »Sie interpretieren, Frau Cordes!«

»Ja. Ich spiele Möglichkeiten durch.«

Ganz oben auf dem Regal stand ein Blumentopf, der in Zellophan verpackt und mit einer Schleife umwickelt war. Sie kniff die Augen zusammen, und tatsächlich: In dem Topf gammelte eine Engelstrompete vor sich hin. Ein giftiger Steckling, irgendwann in die Klinik gebracht und dann hier im Zimmer halbherzig entsorgt.

Der Polizist zog nervös die Nase hoch. Draußen ging jemand über den Flur, Türen schlugen, und Gesine beugte sich vor.

»Wenn es stimmt, dass das Kind bei einem Arzt registriert ist, werden wir seine Eltern bald kennen. Es wird für die Kripo sehr wichtig sein, die Tat dieser Menschen zu beurteilen. Es ist doch ein Unterschied, ob sie unter Druck standen oder eher kaltblütig vorgegangen sind, finden Sie nicht?«

Die Schritte auf dem Flur wurden klarer. Harte Absätze, ein Klang, der nicht ins Krankenhaus passte, in einer Eile, die aufhorchen ließ. Der Polizist hob sich halb aus dem Sofa, und schon flog die Tür auf. Was für eine Überraschung: Marina Olbert stand im Zimmer.

»So sieht man sich wieder«, sagte sie und strahlte.

Im Krankenhaus?, dachte Gesine und der Polizist stand beinahe stramm: »Die Mordkommission?«

Die Ermittlerin nickte ihm zu: »Später!« Sie streckte Gesine die Hand entgegen. »Frau Cordes. Wie lange ist es her?«

Nicht so lange, dachte Gesine und sagte etwas steif: »Freut mich, Frau Olbert.«

Und es freute sie wirklich, auch wenn es im ersten Moment verwirrend war. Marina Olbert brachte die Erinnerung an den Sommer mit. An den Fall, der Gesines Leben auseinandergenommen und neu zusammengesetzt hatte. An die Gefahr und den Schmerz, an die Brutalität der Wahrheit. Aber auch an den schönen gemeinsamen Abend, später am Lagerfeuer, als sie zu zweit beieinandersaßen und der Glut zusahen. Der Gedanke hatte sich eingeschlichen, eines Tages befreundet sein zu können.

Sie schüttelten sich die Hand, einen winzigen Augenblick länger als nötig, dann ließen sie los.

»Alle Achtung«, sagte die Olbert. »Was Sie heute schon wieder geleistet haben!«

»Nicht ich, sondern das Kind.«

»Es hatte Glück im Unglück, dass ausgerechnet Sie es gefunden haben.«

»Danke.« Gesine steckte die Hände in die Hosentaschen. »Und was ist mit Ihnen? Warum haben Sie mit dem Fall zu tun, Frau Olbert?«

»Stört es Sie?«

»Im Gegenteil. Ich wundere mich nur. Sind Sie nicht mehr bei der Mordkommission?«

Die Ermittlerin hob den Zeigefinger. »Darüber macht man keine Witze.« Geschäftig nahm sie dem Polizisten die Unterlagen aus der Hand und kümmerte sich nicht um seine Protestgeräusche.

Gesine lächelte. Die Olbert hatte sich wirklich nicht verändert. Perfekt geschminkt, das blonde Haar in Szene gesetzt. Aus der Manteltasche hing lässig ein Paar Handschuhe und die blanken Stiefel signalisierten, dass sie eher angreifen als sich verteidigen würde. Schwere Absätze und schwarzes Leder. Sie konnte jeden Stier in die Knie zwingen, und genau das wollte sie erreichen: dass man das von ihr dachte.

Der Polizist steckte schicksalsergeben den Stift in seine Brusttasche. »Die Aussage der Zeugin ist vielleicht noch nicht vollständig, Frau Kollegin. Aber wenn Sie beide sich kennen, kommen wir zu dritt vielleicht schneller voran.«

Marina Olbert nickte. »Frau Cordes erinnert sich an viele Details, wie ich sehe. Wussten Sie, dass sie vor Jahren selbst bei der Kripo war?«

»Sie sagte, sie ist Friedhofsgärtnerin.«

Gesine hob entschuldigend die Hand: »Ich bin schon vor so langer Zeit aus dem Dienst ausgeschieden, dass ich es meistens vergesse.«

Was natürlich eine Lüge war, und nicht einmal der Polizist nahm ihr das ab. Er blies die Wangen auf und setzte sich wieder aufs Sofa, von wo aus er beobachtete, wie die Mordkommission seine Notizen studierte.

Stille. Allerdings auf eine angespannte Art, wie Gesine fand. Die Olbert runzelte komisch die Stirn, und warum hatte sie eigentlich nicht auf die Frage geantwortet, was sie hier tat?

Jetzt fing sie an zu blättern, als suche sie etwas, und sprach den Polizisten noch einmal ungeduldig an: »Herr Kollege, sind Sie sicher, dass hier keine Seite fehlt?«

»Wie bereits gesagt, waren wir noch nicht fertig mit der Befragung«, antwortete er. »Aber die Zeugin hatte angefangen, sich zu wiederholen, und das brauchte ich nicht alles zu notieren.«

»Frau Cordes, wie sehen Sie das?«

»Ich würde es nicht ›wiederholen‹ nennen«, antwortete Gesine. »Ich habe die Fakten vollständig zu Protokoll gegeben und anschließend damit begonnen, sie einzusortieren.«

»Gut.«

Die Olbert sah ihr in die Augen. Etwas Ungewisses hing in der Luft. Gesine verschränkte die Arme.

»Geht es um den Jungen, Frau Olbert?«

»Nein, das Baby ist nicht das Problem.«

»Oder um den Pförtner?«

»Ach was«, die Ermittlerin klappte die Unterlagen zu. »Der Pförtner ist heute zu Hause geblieben. Seine Frau ist krank.«

»Woher wissen Sie das?«

»Ich habe mit ihm telefoniert.« Sie zog sich die Mütze vom Kopf. »Also reden wir darüber, wie Sie heute Morgen zum Friedhof gekommen sind.«

»Wollen Sie mir nicht endlich sagen, was los ist?«

»Ja und nein.« Die Olbert glättete ihr Haar. »Auf Ihrem Friedhof ist mehr passiert, als Sie mitbekommen haben.«

»Nämlich?«

»Sie sind doch zweimal an der Bushaltestelle vor dem Friedhof vorbeigekommen. Zuerst auf dem Weg zur Arbeit und später wieder, als Sie mit dem Baby ins Krankenhaus fuhren.«

»Ja, und?«

Die Olbert fixierte sie ernst. »Konzentrieren wir uns auf das erste Mal am frühen Morgen. Ist Ihnen da an der Haltestelle etwas aufgefallen?«

Gesine versuchte, ihre Unruhe zu verbergen. »Nein, alles war wie immer.«

»Leider nicht. Zu diesem Zeitpunkt muss dort bereits eine Frau gelegen haben. Tot.«

»Was?«

»Man hat sie erschlagen, und wir konnten sie bisher noch nicht identifizieren.«

»Ermordet?«

»Erst als der Frühbus kam und die Fahrerin die Leiche entdeckte, wurden wir alarmiert.«

Gesine wandte sich ab. Sie hatte den Frühbus gesehen, wie er auf der Straße stand, mit geschlossener Tür.

»Aber eigentlich hätte auch jeder andere die Tote sehen können«, sagte die Olbert. »Der Unterstand der Haltestelle ist ja zur Straße hin offen.«

»Natürlich«, Gesine rang um Fassung, »und er ist einigermaßen beleuchtet.«

Aber es war so neblig gewesen. Die Fahrbahn nass, dazu der frühe, einsame Morgen. Sie hatte beim Autofahren nur nach vorn schauen wollen, hatte wie selbstverständlich die Haltestelle passiert, den hellen Unterstand, eingelullt vom Trott der Routine. Hatte an nichts gedacht, hatte nur den Hals gereckt, weil die Croissants auf dem Beifahrersitz dufteten. Hatte sogar ein Lied gepfiffen, als sie das Friedhofstor geöffnet hatte. Zehn, zwanzig Meter von einem Gewaltverbrechen entfernt. Ohne zu helfen. Lebte das Opfer zu diesem Zeitpunkt noch?

»Ist die Frau direkt an der Haltestelle erschlagen worden?«

»Nein, woanders«, sagte Marina Olbert. »Aber wo, das wissen wir noch nicht.«

»Auf dem Friedhof vielleicht? Im Gebüsch?«

»Bisher sieht es nicht danach aus. Bitte machen Sie sich keine Vorwürfe, dass Sie die Leiche übersehen haben.«

Der Polizist schnalzte mit der Zunge. Marina Olbert schickte ihn ärgerlich auf den Flur, damit er Kaffee holte. Gesine kämpfte mit den Bildern, die auf sie einstürmten.

»Die Tote wird wahrscheinlich die Mutter des Babys sein?«, fragte sie leise.

»Wir machen einen DNA-Abgleich, und der Pathologe wird zusätzlich herausfinden, ob sie entbunden hat. Aber bitte, Frau Cordes, noch einmal: Sie hätten nichts verhindern können.«

»Um wie viel Uhr ist sie denn gestorben?«

»Deutlich bevor Sie zur Arbeit erschienen sind.«

»Sicher? Und warum haben Sie dann meine Zeugenaussage durchsucht? Sie haben doch irgendetwas vermisst.«

»Nicht direkt.«

»Doch«, beharrte Gesine. »Sie haben sich gefragt, wie ich mich als ehemalige Kriminalkommissarin an einem Tatort aufhalten kann, ohne etwas Verwertbares zu bemerken.«

»Erstens wissen wir noch nicht, was wir als Tatort bezeichnen können. Und zweitens ist es meine Schuld, Frau Cordes. Ich hätte nicht so selbstverständlich davon ausgehen sollen, in Ihrer Zeugenaussage Details zu finden, die über das Findelkind hinausweisen.«

Im hinteren Bereich des Besucherzimmers führte eine Glastür auf einen kleinen Balkon. Gesine entriegelte sie ruppig. Der Nebel hatte sich aufgelöst. Die Novembersonne schien blass auf das Krankenhaus und die feuchten Flachdächer gegenüber. Aus einer der Fassaden stülpte sich ein kleiner Wintergarten.

»Hat die Kriminaltechnik schon einen Abdruck von Ihrem Schuhprofil genommen?«, fragte Marina Olbert.

»Noch nicht.«

»Dann holen wir das schleunigst nach, und anschließend haben Sie auch erst einmal Ruhe vor uns.«

»Ruhe ist relativ.«

Gesine umfasste das Geländer. Die Olbert stellte sich neben sie, viel zu dicht, und rückte den Behälter mit Sand zur Seite, der an der Brüstung hing und aus dem Zigarettenkippen ragten.

»Wie geht es Ihnen eigentlich inzwischen, Frau Cordes? Ich habe oft an Sie gedacht.«

»Danke.«

»Auch an Ihre Nichten, die Zwillinge. Sie drei waren so ein gutes Gespann.«

Gesine ließ den Kopf hängen. »Frau Olbert, Sie brauchen mich nicht aufzumuntern.«

»Das will ich auch gar nicht. Obwohl ich sehe, dass Sie sich schon wieder zermartern.«

»Es geht um ein Baby! Und um eine Leiche, die ich nicht bemerkt habe!«

»Na und? Sie sind nicht dazu verpflichtet, Kapitalverbrechen aufzuspüren. Aber Sie sind eine wichtige Augenzeugin, da beißt die Maus keinen Faden ab.«

Wie schlimm, wenn jetzt die Sprüche kamen. Gesine atmete durch und wünschte, sich beherrschen zu können. Vielleicht schaffte sie es ja doch noch, sich an etwas Bedeutsames zu erinnern. Etwas, das weiterhelfen würde.

»Ich weiß, dass Sie mit dem Pförtner telefoniert haben und dass er zu Hause ist«, sagte sie. »Aber ich habe heute Morgen in seiner Loge Licht gesehen.«

»Natürlich, das Licht haben wir alle gesehen.«

»Wer hat es denn angeschaltet, wenn es der Pförtner nicht war?«

»Er war es, allerdings gestern schon. Er sagt, er hat einfach vergessen, die Lampe zum Feierabend zu löschen.«

Vergessen? Der sorgsame Pförtner? Gesine stieß sich vom Balkongeländer ab.

»Dann noch ein anderer Punkt. Hat man Ihnen erzählt, dass die Bushaltestelle berüchtigt ist?«

»Längst.« Die Olbert warf ihr Haar nach hinten und setzte sich die Mütze wieder auf. »Aber es ist prima, dass Sie es erwähnen, Frau Cordes. Ich mache mir Gedanken über die Gerüchte, gerade weil die Leiche nackt war.«

»War sie das?«, fragte Gesine, nun etwas schärfer.

»Es tut mir leid, dass Sie schon wieder überrascht sein müssen, aber die Leiche trug nichts, nicht einmal einen Ring am Finger.«

NOTIZBUCH

Engelstrompete

Zierstrauch oder Baum, meist im Kübel.

Oft meterhoch, sehr blühfreudig, nicht winterhart.

Nachtschattengewächs. Standort hell, auch halbschattig.

Blätter vielgestaltig, eiförmig bis elliptisch, am Rand oft gezahnt oder gewellt, oft weich behaart.

Blüte ab Juni, trichterförmig hängend mit 5 nach oben gestülpten Spitzen.

Blüte 25 cm lang oder länger, Blütenstiel bis zu 6 cm lang.

Farbe meist Weiß, Gelb, Orange, Rot.

Früchte eiförmig, länglich oder gestreckt, 5 bis 35 cm lang.

Samen ca. 1 cm, oft nierenförmig, dick, oft derb.

Giftstoffe aus dem Bereich der Tropanalkaloide, zum größten Teil Scopolamin, aber auch Hyoscyamin.

Gift enthalten in allen Pflanzenteilen. Auch Blütenduft kann Vergiftungssymptome hervorrufen.

Samen in kleiner Anzahl für Kinder tödlich.

Erbrechen, Durchfall, heiße Haut, erweiterte Pupillen, Schluckbeschwerden, Sehstörungen, Halluzinationen, Herzbeschwerden.

Tod durch Herzversagen oder Atemlähmung.

Sofort Notarzt rufen. Ggf. Erbrechen herbeiführen. Kohlegabe.

3

Als Gesine zum Friedhof zurückkam, war es so hell und warm, wie es gegen Mittag im November noch möglich war. Ein Bussard kreiste über den Bäumen, und aus dem Gebüsch perlte der melancholische Gesang eines Rotkehlchens. Es musste ein altes Männchen sein, das nicht mit den anderen nach Süden gezogen war. Normalerweise hätte Gesine sich für eine Weile in seine Nähe gesetzt.

Heute aber erkannte sie den Friedhof nicht wieder. Einsatzwagen parkten quer auf der Straße. Die Bushaltestelle am Haupteingang war weiträumig abgesperrt worden. Uniformierte Polizisten passten auf, dass niemand unter den Flatterbändern hindurchkroch, und die Spurensicherung kniete im Gras, während Fotografen an der Mauer lehnten und auf ihren Einsatz warteten. Am Fenster der Loge war immer noch die Gardine zugezogen.

Sie überlegte, wieder umzudrehen und nach Hause zu fahren. Beim Chef konnte sie sich krankmelden, die Arbeit von heute in den nächsten Tagen nachholen, und das Picknick mit Hannes kam in dieser Situation sowieso nicht mehr in Frage. Außerdem musste sie unbedingt die Zwillinge anrufen. Frida und Marta hatten die Angewohnheit, nach Schulschluss spontan auf dem Friedhof vorbeizuschauen, um das Grab ihrer Mutter, aber auch um Gesine zu besuchen, und das musste für heute unterbunden werden. Stattdessen könnten die Nichten zu ihr nach Hause kommen, damit sie ihnen erklärte, warum der Friedhof für sie zu gefährlich geworden war.

Andererseits würde Gesine kaum noch etwas über die Ermittlungen erfahren, wenn sie dem Tatort jetzt den Rücken kehrte. Sämtliche Spuren wären morgen vernichtet, mögliche Zeugen verschwunden, und im Bus, der zur Haltestelle kam, würde ein anderer Fahrer sitzen. Wäre sie damit zufrieden?

Sie lenkte den Pick-up vor die Flatterbänder und musste ihren Ausweis zeigen. Der Beamte prüfte die Personalien in quälender Ruhe, erst dann öffnete er das eiserne Tor. Sie mied seinen Blick. Er hatte sich zwar nicht anmerken lassen, ob er ihren Namen erkannte, aber spätestens am Nachmittag, wenn er mit den Kollegen seine Liste durchsprach, würde er sich vor die Stirn schlagen: Ach, die war das! Die habe ich hereingelassen wie eine ganz normale Friedhofsgärtnerin!

Sie, die Zeugin, die vom Täter mit einem Versteckspiel genarrt worden war. Sie, die Superzeugin, von der die Kripo eigentlich mehr erwarten durfte.

Sie ließ die Flatterbänder hinter sich und bog mit dem Pick-up um die Kurve. Alles war anstrengend. Das gleißende Sonnenlicht und die herbstliche, bunte Natur. Außerdem harkten die Leute tatsächlich ihre Gräber, als sei nichts geschehen. Hatte sich denn niemand erschrocken, von der Leiche und dem Findelkind zu hören?

Eine Frau richtete sich von ihrem Beet auf, sah den Pick-up heranrollen und winkte. Die gelben Handschuhe fegten wie Warntafeln durch die Luft. Gesine winkte verhalten zurück und registrierte die Chrysanthemen, über denen die Frau stand. Dichte, kugelförmige Büsche in Lila, teure Symbole, und in diesem Moment ließ sich alles durchschauen: Niemand würde sich stören lassen, wenn er ein privates Grab betreute. Denn das persönliche Schicksal wog immer schwerer als der Mord an einer Fremden.

Und hatte die Fremde nicht auch an der Bushaltestelle gelegen, und zwar nackt? Ausgerechnet an der Haltestelle, an der vor Jahren eine Prostituierte ihre Dienste angeboten hatte?

Die Prostituierte hieß Lucy und hatte strategisch gesehen eine gute Wahl für ihr Geschäft getroffen. Die Haltestelle wurde nur alle dreißig Minuten von einem Bus angesteuert und lag dazwischen recht einsam da. Die Autofahrer konnten problemlos anhalten. Allerdings empörte sich die Friedhofsgemeinde, als sich das Treiben herumsprach, und Lucy musste sich bald zurückziehen.

Der gesamte Skandal hatte nur wenige Wochen gedauert und war inzwischen drei Jahre her. Aber es war klar, dass das Gerede jetzt, nach der Toten im Unterstand, wieder aufleben würde.

›Befremdlich, was da schon wieder passiert ist‹, würde man munkeln. ›Eine sehr leichtsinnige, neue Prostituierte.‹

Und was war mit dem Baby? Gehörte es etwa dazu?

Gesine fuhr weiter, mit geschlossenen Fenstern. Auf Feld B sammelte ein älteres Paar Herbstlaub von seinem Grab, ein paar Meter weiter grub ein junger Mann die Erde um. Vasen wurden geleert und gereinigt, Grabsteine geputzt. Hochsaison im Totenmonat November.

Am Ende des Hauptwegs stand ein Sperrgitter quer auf dem Asphalt. Ein uniformierter Beamter verwehrte Gesine die Durchfahrt. Sie musste sich noch einmal ausweisen, und während ihre Daten geprüft wurden, betrachtete sie durch die Windschutzscheibe das Treiben auf dem Vorplatz der Kapelle.

Mehrere Ermittler von der Spurensicherung suchten den Boden ab und prüften den Lehm. Gesines Laubbesen, der noch immer vor der Bruchsteinmauer lag, schien uninteressant zu sein.

Der Beamte am Sperrgitter gab ihr den Personalausweis zurück. »Sie sind Gesine Cordes, die das Kind gefunden hat?«

»Ja.«

»Es wäre gestorben, wenn Sie es nicht so schnell ins Krankenhaus gebracht hätten. Sie haben das wirklich gut gemacht.«

Er lächelte, und plötzlich brannten ihre Augen.

Sie fuhr den Wagen zur Seite, nahm ihr Gärtnermesser und machte sich auf den üblichen Rundweg. Feld B, C und D, und höchstens kurz am Pförtnerhaus vorbei.

Im Schatten der Bäume liefen die Farben ineinander. Ein sattes Orange, ein cremiges Braun. Blätter, Pilze, feuchtes Holz. Die Zaubernuss blühte, und auch beim Winterschneeball, der das Gräberfeld der Anonymen begrenzte, öffneten sich die Knospen.

Ihr Herz schlug schneller, als schräg vor ihr im Gebüsch etwas aufblitzte, ein Stück Glas oder eine Getränkedose vielleicht. Kurz musste sie sich vorstellen, dass sie von jemandem beobachtet wurde, aber dann hüpfte ein Vogel aus dem Strauch, Tropfen glitzerten, und sie konnte ausatmen.

Sowieso würden es nur Polizisten sein, die zwischen den Sträuchern herumkrochen. Ermittler, die langsam begriffen, welches Potential der Ostfriedhof besaß.

Sie versuchte, das Gelände mit den Augen der Polizei zu sehen. Die parkähnlichen Zonen mit den Rasenflächen und dem alten Baumbestand; die verwilderten, kaum begehbaren Ecken, in denen Holunder und Schlehen wuchsen; die verschnörkelten, großbürgerlichen Gärten vor den Familiengruften und schließlich die blanken Flächen vom Reißbrett, wo die Wege sich im rechten Winkel kreuzten und die Gräber in Reihen nebeneinanderlagen, exakt ausgerichtet wie Handtücher an einem endlos langen Pool. Eignete sich das alles nicht ideal für ein Verbrechen?

Mit großen Schritten näherte sie sich den Handtuch-Gräbern. Oft konnte sie hier den alten Herrn Dinkelbach treffen. Seine Frau lag hier, er kam zweimal die Woche und hielt dabei normalerweise Ausschau nach Gesine, um einen Plausch zu halten. Heute allerdings war er so sehr mit seiner Winterheide beschäftigt, dass er nicht merkte, wie seine Lieblingsgärtnerin näher kam.

»Haben Sie an den sauren Boden gedacht, Herr Dinkelbach?«, fragte sie gedämpft, um ihn nicht zu erschrecken.

Er fuhr herum. »Frau Cordes! Wie geht es dem Findelkind?«

»Sie wissen schon davon?«

»Man spricht über Sie wie über eine Heldin.«

»Das Kind wird im Krankenhaus versorgt.«

Er stakste über das Beet zu ihr. »Ich habe mich ganz schön erschrocken, als ich die Polizei gesehen habe.«

Sie half ihm auf den Weg. »Sind Sie mit dem Bus gekommen?«

»Sie meinen wegen der Toten?«

»Auch darüber wissen Sie also Bescheid.«

Herr Dinkelbach lächelte. »Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, ich war in meinen Gesprächen diskret wie immer.«

»Inwiefern?«

Er betupfte seine Nase mit einem blauen Stofftaschentuch. Seine Ohren leuchteten, er fror schon wieder, hager, wie er war.

»Ich weiß ja, wie die Abläufe sind«, sagte er. »Wer normalerweise morgens als Erster auf dem Friedhof erscheint und wer aus welcher Richtung kommt. Aber als man mich danach gefragt hat, habe ich meinen Mund gehalten. Ich möchte Sie nicht in ein falsches Licht rücken.«

»Sie meinen, weil ich früher als meine Kollegen zum Dienst erscheine? Das können Sie ruhig jedem erzählen. Ich fahre ans Tor, schließe auf, begrüße den Pförtner und fahre weiter.«

»Nein. Heute ist der Pförtner nicht gekommen, und darum haben Sie seine Arbeit gemacht und für ihn die Nebeneingänge geöffnet. Zumindest an der Nordseite.«

»Das habe ich nicht.«

»Aber ja! Das Tor war offen. Ich habe doch gesehen, wie ein Mann hindurchgegangen ist. Ein ziemlich großer Mann.«

Ihre Handflächen wurden feucht. »Wann war das?«

»Keine Sorge. Er hat nichts mit dem Findelkind oder der Leiche zu tun. Er kam erst später, als Sie schon längst mit dem Baby beim Arzt waren.«

»Aber das Tor war aufgeschlossen? Das wundert mich wirklich.«

»Na, kommen Sie.« Er fingerte an seinem Taschentuch. »Was ist denn mit Ihrem Schlüssel?«

»Der ist für die Haupteinfahrt.«

»Dieser besondere Schlüssel. Frau Cordes, ich weiß doch, dass Sie ihn haben, weil Sie dem Pförtner manchmal Arbeit abnehmen. Ihre Kollegen tun das übrigens nicht, die sind nicht so nett, und darum können auch nur Sie den Nordeingang geöffnet haben.«

»Herr Dinkelbach, Sie sollten Ihre Beobachtung der Polizei berichten.«

»Verstehen Sie denn nicht? Wenn Sie behaupten, Sie waren es nicht, kann ich doch nicht hingehen und das Gegenteil erzählen!«

»Sie sollen ja nur sagen, dass Sie den Mann gesehen haben und dass das Tor offen war. Sie sollen nur das angeben, was Sie auch glasklar vor Augen hatten.«

Er steckte das Taschentuch weg und rieb sich die kalten Hände. »Man wird nach Ihrem Schlüssel fragen. Es wird nicht gut verlaufen. Ich denke nur daran, wie es im Sommer war.«

»Es gibt keinen Anlass, mich zu beschützen. Vertrauen Sie mir, bitte.«

»Ach, Frau Cordes.« Er zupfte an ihrem Ärmel. »Es klingt so schön, wenn Sie das zu mir sagen.«

4

Marina Olbert saß in ihrem Büro und ging noch einmal die Aussagen durch, die Gesine Cordes als Zeugin abgeliefert hatte. Viel Material, aber nichts, das auf die Bushaltestelle verwies. Alles drehte sich um Geräusche zwischen den Gräbern, Spuren im Laub und das Findelkind. Alles war hervorragend memoriert, dennoch fehlte das Eigentliche: Hinweise auf das Kapitalverbrechen, das sich vor den Toren des Friedhofs abgespielt hatte.

Die Cordes hatte sich auf das Kind fokussiert. Tunnelblick, kein Wunder, wenn man bedachte, was in ihr vorgegangen sein musste. Ausgerechnet sie fand das schreiende Bündel im Gebüsch, sie, die wusste, wie es sich anfühlt, wenn ein Kind in den Armen stirbt, und die anfällig für Schuldgefühle und Zweifel war, weil sie den Tod ihres eigenen Kindes nicht hatte verhindern können.

Garantiert war sie Flashbacks ausgesetzt gewesen, grauenvoll, auch wenn es ihr in diesem Fall gelungen war, den Jungen zu retten.

Sie hatte das unbestreitbar gut gemacht: nicht auf die Polizei oder gar einen Krankenwagen zu warten, sondern die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Die Gefühle beiseitezuschieben. Nur leider hatte die Beobachtungsgabe darunter gelitten.

Und jetzt? Wo sollte man ansetzen? Der Fall türmte sich auf wie ein Monolith. Glatt, gewaltig, ohne Sollbruchstelle.

Aber Marina erinnerte sich an die Fortbildung für Führungskräfte. Wer in Feinheiten stochert, höhlt den dicksten Brocken aus, hatte sie notiert. Also galt es zunächst, den Brocken zu bestimmen:

Eine unbekannte, mittelalte Frau war erschlagen worden, und zwar an einem unbekannten Ort aus unbekannten Gründen. Anschließend hatte man die Leiche entkleidet und am Friedhof an der Bushaltestelle abgelegt. Darüber hinaus war wenig später oder nahezu zur selben Zeit hinter der Friedhofskapelle das Kind ausgesetzt worden, eingehüllt in feinste Bio-Baumwolle, wie es heutzutage üblich war.

Und nun die Feinheiten:

Warum hatte der Täter das Baby nicht ebenfalls getötet, sondern es ins Gebüsch geschoben? War ihm das Kind wichtig gewesen? Lag es ihm am Herzen, so dass er ihm keine direkte Gewalt antun konnte? Oder war es ihm im Gegenteil so egal, dass er sich nicht die Mühe machen wollte, es eigenhändig umzubringen?

Wobei es nicht nur um einen einzigen Täter gehen musste. Vielleicht waren mehrere Personen am Werk gewesen. Oder – noch komplizierter gedacht – es waren von mindestens zwei Personen zwei Einzeltaten verübt worden, die gar nichts miteinander zu tun hatten, außer dass sie zufällig eine zeitliche und räumliche Nähe zueinander aufwiesen, den Morgen am Friedhof nämlich.

Bloß glaubte Marina nicht an Zufälle. Erst recht nicht im Umfeld des Friedhofs. Sie konnte wetten, dass die Kriminaltechnik in den nächsten Stunden eine Verbindung zwischen der Leiche und dem Baby aufzeigen würde, und zwar anhand von DNA- oder Faserspuren.

Ende der Feinheiten.

Wobei zu beachten war, dass es in diesem Fall noch zu einem besonderen Gerangel kommen konnte. Die Zuständigkeiten im Präsidium waren nicht klar. Die Jugendsachbearbeiter könnten sich wegen des Babys in die Mordkommission einklinken, und das war ein Horror.

Ein großes, interdisziplinäres Team würde sich bilden und aus dem Bauch heraus agieren. Die Sachbearbeitung würde verlangen, mit der Mordkommission, also mit Marina, auf Augenhöhe zu diskutieren. Ständig würden sie ins Krankenhaus rennen, um nach dem Kind zu sehen, und sie würden sogar auf der Station im Besucherzimmer tagen, als sei Marinas Büro nicht mehr gut genug.

Wenn sie es aber wagte, aus der Reihe zu tanzen, würden sich die Kollegen bestätigt fühlen: Marina Olbert, die Mordkommission, versagte am lebenden Objekt.

Von wegen.

Sie loggte sich in den Computer ein und legte einen neuen Ordner an. Mordfall Haltestelle. Unterordner: Baby Down-Syndrom. Oder besser und neutraler: Baby DS.

Möchten Sie gerne weiterlesen? Dann laden Sie jetzt das E-Book.