Die Diplomatenallee - Annette Wieners - E-Book

Die Diplomatenallee E-Book

Annette Wieners

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Beschreibung

Bonn, 1974: Eine Frau gerät zwischen alle politischen Fronten und beginnt ein gefährliches doppeltes Spiel, um sich und ihre Lieben zu beschützen ...

Heike lebt zurückgezogen mit Mann und Kindern in Bonn, manchmal hilft sie im Schreibwarenladen mit. Von ihr aus könnte es immer so weitergehen. Doch eines Tages steht ihr alter Uni-Professor im Laden, der Leiter des Instituts für Graphologie. Er möchte sich Heikes enorme Begabung zunutze machen: Niemand kann so viel aus einer Handschrift herauslesen wie sie. Nur will sie mit der Graphologie nichts mehr zu tun haben – aus gutem Grund. Außerdem vertraut sie dem Professor nicht. Tatsächlich ist er in den Aufbau der Ständigen Vertretung der DDR in Bonn verstrickt, und Heike gerät in den Strudel dramatischer Begebenheiten ...


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Buch

Heike lebt zurückgezogen mit Mann und Kindern in Bonn, manchmal hilft sie im Schreibwarenladen mit. Von ihr aus könnte es immer so weitergehen. Doch eines Tages steht ihr alter Uni-Professor im Laden, der Leiter des Instituts für Graphologie. Er möchte sich Heikes enorme Begabung zunutze machen: Niemand kann so viel aus einer Handschrift herauslesen wie sie. Nur will sie mit der Graphologie nichts mehr zu tun haben – aus gutem Grund. Außerdem vertraut sie dem Professor nicht. Tatsächlich ist er in den Aufbau der Ständigen Vertretung der DDR in Bonn verstrickt, und Heike gerät in den Strudel dramatischer Begebenheiten …

Autorin

Annette Wieners ist Schriftstellerin und Journalistin. Sie wurde in Paderborn geboren. Nach Stationen in Münster, München und Hannover lebt sie seit vielen Jahren in Köln.

Von Annette Wieners bereits erschienen

Das Mädchen aus der Severinstraße

Besuchen Sie uns auch auf www.instagram.com/blanvalet.verlagund www.facebook.com/blanvalet.

Annette Wieners

Roman

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Copyright © 2022 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Angela Kuepper

Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com (Fandorina Liza, sevdastancheva), Shutterstock.com (Art Furnace) und © Nikaa/Trevillion Images

BSt · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-27735-2V001www.blanvalet.de

Wer schreibt, verrät sich. Wer liest, entdeckt.

Teil I 5. Februar 1974 bis 8. März 1974

1.

Das Taxi kam gegen Mittag. Ein schwerer Mercedes, wie üblich in dieser Gegend, aber Heike spürte sofort, dass etwas anders war als sonst. Der Wagen parkte nicht vor dem Eingang des Schreibwarenladens, sondern rollte am Schaufenster vorbei. Fuhr auffallend langsam und so dicht vor der Scheibe, dass sie, die gerade am Kassentresen stand, das Streusalz draußen knirschen hörte.

Behutsam legte sie den Füllfederhalter zur Seite, einen P476 in Schwarz. Der Mercedes hielt drüben an der Straßenecke. Die Bremslichter glühten. Das Wageninnere war nicht zu erkennen, weil die Heckscheibe spiegelte. Warum stieg denn niemand aus? Sah man etwa zu Heike herüber?

Sie duckte sich hinter den Postkartenständer. Zwischen den Fächern konnte sie hervorragend nach draußen spähen. Vielleicht war einer der Minister gekommen und kontrollierte, ob Kunden im Laden waren, und falls ja, zu welcher Partei sie gehörten. Ab und zu gab es Befindlichkeiten – aber echte Probleme? Nein, nicht bei Schreibwaren Holländer.

Heike wartete und hörte sich atmen. Sie verabscheute das Gefühl, auf der Hut sein zu müssen. Nicht zu wissen, was als Nächstes geschah.

Das Taxi stand still. Der Auspuff qualmte nicht mehr, der Motor war ausgestellt worden. Die Türen blieben immer noch geschlossen.

Einmal, vor zwei oder drei Wochen, war ein Radfahrer ähnlich seltsam am Schaufenster vorbeigerollt. Ein Abgeordneter, hatte Heike damals gedacht, oder ein Mitarbeiter des Kanzlers, der vor Dienstantritt die Zeitungen überflog, die in der Auslage aufgefächert waren. An jenem Tag hatte sie sich jedenfalls keine Sorgen gemacht.

Bild, FAZ, General-Anzeiger Bonn, Bayerische Staatszeitung, es gab bei Schreibwaren Holländer alles zu lesen. So klein der Laden war, so gut wussten Peter und Heike, was sie der Nähe zum Bundestag schuldig waren. Ihre Regale quollen über. Wer, wenn nicht sie, hielt so viel auf Vorrat? Mappen, Ordner, Umschläge und Papier in Sorten. Büttenpapier, auch teure Varianten, Fabriano, Arches, wildgerippt, die Politik hatte Wünsche. In den Schubladen lagen Tintenroller aus Fernost, Crayons aus Frankreich, Härtegrade B bis H, und in dem Karton auf dem Boden steckten Bänder für Schreibmaschinen, Spulen in jedweder Ausfertigung. Schwarz, blau, rot für Protokolle, Entwürfe, Vertrauliches. Doppelspur für Korrektur.

Ganz oben im Regal neben der Kasse, diskret hinter einem Stapel Bütten, lagerte der gute Cognac. Eine zweite, geöffnete Flasche stand unter dem Tresen bereit, denn es wurde nicht selten nach einem Schluck gefragt, selbst von Leuten, von denen man es nicht unbedingt dachte.

Bloß wenn ein Taxi vorfuhr, aus dem ums Verrecken niemand aussteigen wollte: Wie verhielt man sich dann?

Brüsk schob Heike den Postkartenständer zur Seite. Die Situation hatte möglicherweise gar nichts mit ihr oder dem Laden zu tun.

Bloß war heute alles so zäh. Der Februardienstag hing trüb über der Straße, auch an den Häusern ringsum bewegte sich nichts. Kein Fußgänger, kein weiteres Auto kam vorbei. Mittagszeit in Bonn. Im Taxi, auf Fahrer- und Beifahrersitz, aß man wahrscheinlich Leberwurstbrötchen.

Was die Kinder wohl gerade machten? Und ob Peter bald in den Laden zurückkehren würde? Heike vertrat ihn gerne am Kassentresen, aber sie sollten die Termine, zu denen sie einspringen durfte, doch einmal ändern. Seit Jahren fuhr Peter dienstags für zweieinhalb Stunden in den Großhandel, allerdings immer nur um diese Uhrzeit, in der im Geschäft kaum etwas los war.

Das Taxi stand. Und stand. Mehr nicht. Und Heike fing schon wieder an, sich beobachtet zu fühlen.

Oder braute sich in dem Wagen etwas anderes zusammen? Etwas Politisches, eine Störaktion von Linksradikalen? Von Baader-Meinhof etwa? Die Straße rechts hoch ging es zum Kanzlerbungalow und zum Bundeshaus. Links zum Auswärtigen Amt.

Wieder benutzte sie den Postkartenständer, um nach draußen zu spähen, diesmal noch tiefer geduckt. Und da, ein Licht! Im Innenraum des Taxis brannte mit einem Mal eine Lampe, und Heike erkannte die Hinterköpfe zweier Personen. Fahrer und Beifahrer. Männer? Beide gestikulierten, unterhielten sich also. Etwas glomm auf der Beifahrerseite auf, ein Feuerzeug, bestimmt für eine Zigarette, dann erlosch die Innenraumlampe wieder. Das Glimmen auch.

Aber jetzt sollte es wirklich genug sein! Heike hatte zu arbeiten. Sie holte einen der Warenkartons aus dem Hinterzimmer und packte ihn aus. Die neuen Postkarten rochen nach Chemie. Bonn, das Regierungsviertel von oben und Bundeskanzler Brandt. Der Rhein und wie immer sehr viel Loreley. Sie sortierte die Karten in die einzelnen Fächer und kehrte dem Schaufenster dabei den Rücken zu.

War denn gestern etwas über Baader-Meinhof in der Tagesschau gewesen? Ganz sicher hatte Peter am Abend den Fernseher angeschaltet, er konnte jetzt Farbe. Und, na also, Heike erinnerte sich doch: Sie hatte auf dem Sofa gelegen, während Peter am Apparat beschäftigt gewesen war, allerdings hatte sie mit dem Gong der Nachrichten nicht mehr richtig zugehört, sondern nur nach nebenan gelauscht, ob die Kinder schon schliefen. Anne war wie immer still geblieben, sie kam ja bald schon in die Schule, und Michael schlief mit seinen anderthalb Jahren noch immer so fest wie als Baby. Nur, Terroristen? War von denen im Fernsehen die Rede gewesen?

Mit Absicht hatte Peter keine Fahndungsplakate ins Geschäft gehängt. Die schwarz-weißen Fotos sahen schrecklich aus, und ohnehin gehörte es zum Konzept des Ladens, den Politikern beim Einkaufen eine Verschnaufpause von ihren Problemen zu gönnen – oder zumindest so zurückhaltend zu sein, dass jeder Kunde selbst bestimmen konnte, was ihn belastete und was nicht. Dieses Vorgehen kannte Heike noch von früher, denn als ihr Vater an der Kasse gethront und der Laden Schreibwaren Berger geheißen hatte, war Politik bereits ein heikles Thema gewesen. Der Vater hatte jeder Kundin die Tür aufgehalten, auch wenn sie nicht von der CDU gekommen war, aber der SPD hatte er gezielt Gemeinheiten untergejubelt. Ende der Vierziger, vor der ersten Bundestagswahl, hatte Schreibwaren Berger dem SPD-Büro Schumacher einen Waterman-Füller beschaffen sollen, das historische Modell, und unmittelbar vor der Auslieferung hatte der Vater auf die gläsernen Tintenpatronen gerotzt. Heike hatte es selbst gesehen, weil sie auf ihrem Kinderplatz unter dem Tresen gehockt hatte und … Warum dachte sie denn schon wieder daran?

Unwirsch zwängte sie die restlichen Postkarten in die Fächer. Drei verschiedene Motive Willy Brandt. Es wurde wirklich zu eng in diesem Laden.

Und das Taxi stand immer noch am Fleck. Still, mit geschlossenen Türen. Wohingegen sich die Umgebung merklich verschoben hatte: Der Himmel war dunkler geworden, es schien inzwischen auch windig zu sein. Eine Plastiktüte rutschte über die Straße, und dann klatschte plötzlich heftiger Regen gegen das Schaufenster. Also nein. Jetzt würde wirklich niemand mehr aus diesem Auto aussteigen!

Verdrossen knipste sie die Neonröhren an und schlug das Kassenbuch auf. Ein paar Notizen, gern einmal mit dem Stenofüller, warum nicht. Ohne Griffprofil und mit der gewöhnlichen Tinte ging es flott voran. Selten gab es Zahlenkolonnen, meistens summierte Heike im Kopf.

Aber der Füller warf scharfe Schatten auf das Papier, und als sie hochblickte, fiel ihr auf, dass sie in dem Neonlicht wie auf einem Präsentierteller stand. Wer auch immer sich draußen im Taxi versteckte, konnte ganz bequem jede einzelne ihrer Bewegungen hier drinnen am Kassentresen verfolgen.

Ihre Schultern verkrampften sich. Und was war das? Da schlug doch eine Autotür? Ja! Und ach, jetzt rannte jemand über den Gehweg! Im Affekt zog Heike das Telefon näher zu sich heran. Eine große Gestalt stürmte auf den Laden zu, durch das matschige Streusalz, es war ein breiter Mann im Parka, mit wehendem Schal, und … Heikes Herz setzte aus. Es war Professor Buttermann!

Er riss die Tür auf und sprang ins Trockene, die Ladenglocke schepperte wüst. Heike hielt den Telefonhörer mit beiden Händen umklammert, aber wozu, sie wusste gar keine Nummer zu wählen. Was machte der Professor hier?

»Hallöchen!«, sagte er und wischte sich mit bloßen Fingern die Tropfen von der Brille. Die langen grauen Haare trieften, der Schnurrbart glänzte. »Wollen Sie Ihren alten Professor nicht begrüßen?«

Seine Turnschuhe quietschten auf dem Linoleum. Sie waren senfgelb.

»Darf ich Ihnen ein kleines Handtuch …«, sagte Heike und hörte ihr eigenes Entsetzen. »Oder ein Taschentuch vielleicht?«

Er starrte sie an, diese Augen, sie ließ den Hörer fallen, um ins Hinterzimmer zu stürzen, doch da winkte er schon ab: »Nicht nötig. Und ich freue mich.«

»Ich mich auch«, erwiderte sie automatisch und verfolgte verstört, wie er sich im Laden umsah. Er musste wieder verschwinden. Das war ihm doch klar?

»Sie sind mit dem Taxi gekommen?«, fragte sie, die Stimme kaum unter Kontrolle. »Und Sie sind nicht gleich ausgestiegen?«

»Tja, nach all den Jahren …«

Er blies in seine hohle Faust, offenbar um eine feuchte Zigarette zu beleben, und es würgte sie. Auch als er die Arme ausbreitete und ihm der Parka bis zu den Hüften hochrutschte, Nietengürtel, Jeans, war es fast wie früher. Er kam näher, immer näher, und sie wusste natürlich, dass er es nur antäuschte und sie am Ende nicht umarmen würde, trotzdem wich sie zurück. Er lächelte daraufhin und wickelte sich den Strickschal vom Hals, wie um ihr vorzuführen, dass er, der Berühmte, der Leiter des Instituts für Graphologie, durch nichts zu erschüttern war.

Aber er ist älter geworden, dachte Heike. Um zehn Jahre älter, seit sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte. Nur … was war dann wohl mit ihr?

»Wo ist denn der Aschenbecher?«, rief sie und suchte zum Schein die Regale ab. Wie sie sich bewegte, kam ihr mit einem Mal ungelenk vor, und bestimmt wirkte sie spießig mit dem knielangen Rock, der weißen Bluse und dem streng zurückgebundenen Haar.

Doch sollte der Professor sich bloß hüten, eine Bemerkung zu machen! Und sollte sie sich bitte nicht einschüchtern lassen! Wie hatte sie sich denn zu fühlen, wenn sie ihn so plötzlich wiedertreffen musste, oder nein: wenn sie von ihm regelrecht heimgesucht wurde! Sie hatte mit keinem Wiedersehen mehr gerechnet. Nicht auf diese Weise und auf keinen Fall hier. Sondern beim Einkaufen vielleicht, irgendwann in all den Jahren, oder zufällig am Rhein. In Bonn lief man sich immer über den Weg, ob man wollte oder nicht. Trotzdem war es bei ihnen beiden nie passiert, und Heike hatte sich eingebildet, dass Erik Buttermann sie ganz bewusst mied, weil er nämlich nicht mitansehen wollte, was aus ihr geworden war. Weil er doch alles angerichtet hatte!

Immer noch lächelnd, öffnete der Professor den nassen Parka. Ein geblümtes Hemd kam zum Vorschein, der Kragen stand zu weit offen.

»Respekt«, sagte er und deutete auf die Vitrine mit den Füllfederhaltern. »Im Vergleich zu Ihrem Vater haben Sie das Sortiment anständig erweitert, Fräulein Berger.«

»Frau Holländer, bitte. Das wissen Sie doch.«

»Natürlich! Heike Holländer! Entschuldigung, das sollte mir peinlich sein.«

Bestimmt wollte er sie beleidigen. Und sie sollte sich wehren und ihn wegschicken, aber dann würde er natürlich nicht gehorchen, sondern umso exaltierter aus sich herausgehen und herumpoltern und dabei triumphieren, weil sie immer noch machtlos gegen ihn war. Wie konnte sie ihn loswerden? Erst recht, wenn andere Kunden hereinkommen würden: Was würden sie über Heike denken?

Möglichst kühl, aber leider auch zitternd, reichte sie dem Professor den Aschenbecher, einen Blumentopfuntersetzer aus Ton. »Sind Sie denn immer noch an der Universität?«, fragte sie.

»Wo sonst?« Er drückte den Stummel in den aufgestreuten Sand. »Unser Institut ist … Na, Sie haben sich doch bestimmt einmal nach mir erkundigt?« Er neigte den Kopf zur Seite, ein alter Trick, mit dem er früher schon die Studenten aus dem Konzept hatte bringen wollen. Heike sah weg und zog sich hinter den Kassentresen zurück.

»Was kann ich eigentlich für Sie tun, Herr Professor?«

»Am Institut steigt endlich mal wieder eine Fete. Fünfundzwanzig Jahre Graphologie in Bonn! Ist es zu fassen?«

»Und dafür brauchen Sie …«

»Nein! Ich will nichts kaufen, sondern möchte Sie persönlich einladen.«

Ungläubig lachte sie auf. Sie musste sich wohl verhört haben.

Auch der Professor lachte: »Sie denken doch nicht, ich hätte Sie vergessen? Meine Studenten lernen Ihre Aufsätze von damals immer noch auswendig.«

»Das kann nicht Ihr Ernst sein.« Sie sammelte sich. »Ich werde das Institut nie wieder betreten, Herr Professor Buttermann!«

»Natürlich, mit dieser Antwort habe ich gerechnet.« Er wurde ernster. »Sie geben aber wohl zu, dass ein Jubiläum eine Spitzenveranstaltung ist. Oder? Und dass meine Einladung als Ehre verstanden werden darf. Andere Leute würden sich dafür ein Bein ausreißen, nicht nur in der Graphologenszene.«

»Was Sie verlangen, ist …«

»Herrje! Ich verlange doch nichts.« Mit beiden Händen packte er den Rand des Kassentresens. »Und jetzt mal ehrlich: Sie haben längst Frieden geschlossen? Mit damals? Mit Ihrem Leben?«

Wie dreist von ihm. Nach allem! Heikes Hals spannte sich an. Ihr lag so viel auf der Zunge, aber sie durfte diesen Fehler nicht machen, durfte auf keinen Fall mit ihm über damals diskutieren.

»Wenn ich sonst nichts für Sie tun kann, Herr Professor. Es kommt für mich nicht infrage.«

»Ich wette, Sie werden zumindest darüber nachdenken. Denn das haben Sie doch hoffentlich gelernt: dass eine verbiesterte Haltung ein Bumerang ist?«

Wieso hatte sie nicht aufgepasst, sondern sich zwischen Wand und Kassentresen eingekeilt? Wenn sie sich befreien, wenn sie das Hinterzimmer des Ladens erreichen wollte, müsste sie um Buttermann herumgehen, zu dicht an ihm vorbei – und außerdem: Was wäre dann mit dem Kassenbuch, das immer noch offen herumlag? Mit der blauen Tinte, mit ihrer Handschrift, ja, was wäre, wenn der Professor ihre Schrift in Augenschein nähme? Wie teigig ihre Buchstaben in den vergangenen zehn Jahren geworden waren. Klein im Mittelband und unverbunden. Alles! Er würde alles daraus lesen.

Buttermann beugte sich vor: »Sie haben sich damals viel zu viel Schuld gegeben, Heike.«

»Und Sie? Sie haben mich fallen lassen, als hätten Sie mit nichts etwas zu tun gehabt!«

Er zuckte zusammen, aber wohl nur, weil sie laut geworden war, nicht weil er etwas bereute.

»Na, na«, sagte er. »Sie benehmen sich, als hätten wir beide …«

»Schluss!«

Mit einem Knall schlug sie das Kassenbuch zu und stopfte es unter den Tresen. Die Cognacflasche kippelte. Ein Heft zum Ausmalen fiel aus dem Fach, Krakeleien der Kinder, ihrer beiden kleinen Kinder, die sie gleich wieder küssen würde, sie sehnte sich danach. Sehnte sich auch nach Peter, wie er die Krawatte abnehmen und sich ein Stück Schokolade in den Mund schieben würde wie immer.

Buttermann seufzte und fuhr mit den Fingerspitzen über den Tresen. »Der Schreibvorgang als Bewegung. Vom Ich zum Du. Wissen Sie noch?«

Am besten hielt sie einfach still. Der Professor roch nach Nikotin und Essen aus der Mensa, und noch etwas anderes lag darunter, eine aufdringlich herbe und holzige Note wie von Bleistiftspiralen in einer Anspitzerdose.

»Wie alt sind Sie jetzt, Heike? Mitte dreißig? Sie haben noch eine Menge vor sich.«

»Ich habe alles, was ich brauche.«

Und das stimmte, das wusste sie, sie hatte oft darüber nachgedacht. Die Familie, der Haushalt, der ganze unauffällige Alltag. Und da klackerte es am Schaufenster, wie schön und passend, jetzt kam endlich Kundschaft. Herr und Frau Westerhoff traten ein, Heike würde sich als Geschäftsfrau beweisen.

»Willkommen!«, rief sie und marschierte hoch erhobenen Hauptes an Buttermann vorbei.

Herr Westerhoff war überrascht: »Sind wir schon dran?«

Sie antwortete leichthin: »Gern, wenn Sie mögen.«

»Dann Briefumschläge, zehn Stück bitte, holzfrei. Haben Sie etwas zur Auswahl?«

»Einen Moment.«

Sie beeilte sich, die richtigen Fächer zu finden, während Herr Westerhoff den Regenschirm ausschüttelte und seine Frau den Professor mit unverhohlener Neugier musterte.

»Gummiert oder mit Haftstreifen?«, rief Heike. »Mit Fenster oder ohne?« Sie legte so viele Umschlagmodelle auf dem Tresen aus, dass Buttermann zur Seite rücken musste.

Frau Westerhoff tippte auf die gummierte Variante. »Ein scheußliches Wetter«, sagte sie und beäugte die senfgelben Turnschuhe des Professors. Ihm schien es egal zu sein.

Herr Westerhoff suchte Heikes Aufmerksamkeit: »Wir sind im Bus von der Polizei kontrolliert worden, Frau Holländer. Haben Sie gestern die Tagesschau gesehen? Baader-Meinhof sitzt inzwischen überall. Jede ganz normale Mietwohnung kann eine Terrorzelle sein.«

»Aber doch nicht in Bonn«, antwortete Heike und zählte mit fliegenden Fingern zehn Umschläge ab.

»Nein, Bonn ist noch schlimmer«, sagte Herr Westerhoff. »Wir holen uns jetzt sogar die DDR in die Stadt. Der Herr Bundeskanzler trägt seine riesigen Scheuklappen, aber wir haben bald die Stasi im Vorgarten stehen.«

Heike wollte beflissen klingen: »Soweit ich weiß, handelt es sich um Diplomaten, die nach Bonn kommen. Keine Sorge, Herr Westerhoff.«

»Die DDR hat Diplomaten?« Er wirkte verärgert. »Das wüsste ich aber!«

»Öhm«, Professor Buttermann hob den Kopf. »Die DDR darf in Bonn eine Botschaft einrichten, wie andere Staaten es auch tun.«

»Eben nicht!«, widersprach Herr Westerhoff. »Denn was Sie DDR nennen, ist ja kein Staat, sondern immer noch ein Stück Deutschland. Unser eigen Fleisch und Blut.«

Buttermann nickte. »Umso wichtiger, dass die innerdeutschen Beziehungen geregelt werden, was übrigens die Hauptaufgabe der Diplomatie ist.« Er zog ein Päckchen Tabak aus dem Parka und begann, sich eine neue Zigarette zu drehen.

Herr Westerhoff dagegen ereiferte sich weiter. »Einspruch, mein Herr. Wer der DDR die Hand reicht, akzeptiert, dass unser Land geteilt werden darf. Diesen Gefallen sollten wir den Kommunisten nicht tun.«

»Ist Ihr gutes Recht, so zu denken«, sagte Buttermann. »Zum Glück werden wir aber von klügeren Leuten regiert, nicht von Ihnen, Herr … äh …, und die DDR wird ihre Botschaft in Bonn definitiv eröffnen.«

»Westerhoff mein Name. Und es heißt natürlich: Ständige Vertretung der DDR, bitte sehr, nicht ›Botschaft der DDR‹! Weil es ausdrücklich als Einrichtung zweiter Klasse deklariert wird.«

Heike packte die Briefumschläge zusammen. »Darf es sonst noch etwas sein, Frau Westerhoff?«

Nervös öffnete die Kundin ihr Portemonnaie. »Für den Rückweg nehmen wir wohl besser ein Taxi.«

»Aber nicht das Taxi, das draußen steht.« Buttermann leckte über das Zigarettenpapier. »Der Wagen ist nämlich für mich reserviert.«

»Aha?« Herr Westerhoff blickte durch das Schaufenster auf die Straße. »Da wird gerade das Nummernschild aufgeschrieben. Die Polizei ist da. Wer parkt denn auch auf dem Bürgersteig? Und jetzt will man so frech sein und wegfahren, aber das wird natürlich nichts nützen.«

Buttermann seufzte. Dann zündete er seine Zigarette an, klopfte dreimal auf den Tresen und verschwand mit großen Schritten in den Regen hinaus.

Später, als auch die Westerhoffs den Laden verlassen hatten, wischte Heike den Boden. Der Schirm und die Turnschuhe hatten Spuren hinterlassen, besser, sie beseitigte alles sofort, damit keine salzigen Ränder entstanden.

Auch der Postkartenständer gehörte wieder an seinen alten Platz, aber als Heike ihn zurückschieben wollte, griff sie in etwas Feuchtes und Weiches und erschrak. Es war der Schal des Professors, der da an den Fächern herabhing, und sie verstand sofort, dass er nicht aus Zufall vergessen worden war.

2.

Sie erwachte mit dem Gefühl, etwas verloren zu haben. Das Schlafzimmer war kalt, sie lag auf der Seite mit den Fäusten am Magen. Neben ihr atmete Peter, der Wecker würde noch längst nicht klingeln.

Eine Leere, die schwarz war. Ein Gesicht, das aus der Wand kam. Buttermann.

Dabei hatte Heike gedacht, sie sei über das Schlimmste hinweg. Die Erinnerung hatte nachgelassen, auch an das Institut, und selbst die Schuldgefühle waren ein wenig schwächer geworden. Es war kein klarer Prozess mit einer stabilen Perspektive gewesen, sondern eine mühsame Arbeit, von der sie nie gewusst hatte, ob sie je erledigt wäre. Doch sie hätte sich glücklich schätzen und die Fortschritte genießen sollen, solange es noch möglich gewesen war. Denn jetzt war alles dahin. Buttermann war wiederauferstanden, und was hatte sie ihm entgegenzusetzen?

Sie quälte sich mit Geräuschen und Bildern von damals, dachte wieder und wieder an den Moment, in dem der Professor im Institut für Graphologie ihren Stuhl zur Seite gestoßen hatte. Und wie erbarmungslos er gewesen war. Wie er den Dekan über ihre Schandtat informiert hatte, aber nur in einer verlogenen Version der Dinge. Und dann hatte er die anderen Studenten vor Heike gewarnt und mit Journalisten telefoniert. Alles war zu Ende gewesen. Vor fast zehn Jahren, im Herbst 1964.

Und Heikes Bruder? Johann? Auch dieser Name quoll in Heike wieder nach oben, als hätte sie es erlaubt.

Nein. Nichts! Sie konnte nicht daran denken. Sie war nicht mehr so stark wie früher. War keine Graphologin mehr, nicht wie damals.

Damals, Anfang der Sechziger, befand sich das Institut auf dem Weg an die Weltspitze, und Professor Erik Buttermann forschte nicht nur, sondern erprobte die Erkenntnisse auch in der praktischen Arbeit. Aufträge aus der Wirtschaft gingen ein. Personalchefs aus dem gesamten Bundesgebiet verlangten nach Buttermanns Expertise, um die Handschriften ihrer Mitarbeiter analysieren zu lassen. BMW, die Lufthansa, Oberlandesgerichte und städtische Ämter sprachen bei ihm vor, denn es gelang dem Professor wie keinem anderen, aus der Schrift eines Menschen seinen Charakter zu entschlüsseln. So empfahl er der Stadtverwaltung Bochum einen Telefonisten, der zwar sehr jung war, sich aber als besonders liebenswürdig entpuppte: Buttermann fand in seinen Großbuchstaben winzige Girlanden. Der Firma Maggi dagegen riet er davon ab, einen Sachbearbeiter zu befördern: Die Unterschrift des Mannes wies Doppelschleifen auf, und Buttermann warnte, Eitelkeit sei umso gefährlicher, je steiler der Schreiber den Stift halte.

Der Professor hatte immer recht und sonnte sich in seinem Erfolg, aber besonders stolz war er auf die neue Achtung, die seine Wissenschaft in diesen Jahren genoss. Endlich setzte sich in der Bundesrepublik ein Gefühl dafür durch, wie leistungsstark die Graphologie der modernen Gesellschaft zu dienen vermochte, und endlich durfte ein deutsches Institut die Chance ergreifen, international führend, aber friedfertig zu sein. Die Graphologie verhinderte Kriege, indem sie den Menschen hinter die Stirn blickte. Jede Falschheit, jede Gier und jeden noch so versteckten Charakterzug holte die Schriftanalyse ans Tageslicht.

Wie lange hatte es die Menschen nach Wahrhaftigkeit gedürstet, und plötzlich war es so einfach: Ein Blatt Papier, ein paar Schriftzüge, mehr brauchte ein Graphologe nicht, um alles zu sehen. Wer Handschriften richtig zu lesen vermochte, für den waren die Mitmenschen gläsern.

Auch Heike trug in jener Zeit dazu bei, dass der Fachbereich wuchs. Obwohl sie ihr Studium mit Anfang zwanzig gerade erst begonnen hatte, sorgte sie an der Uni für Furore. Sie war ein Ausnahmetalent, eine extreme Begabung in der Graphologie, sagte Buttermann gerne vor den anderen Studenten – wobei er seinen Anteil an ihrer Karriere wie üblich verschwieg, um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen.

Seit Heike zehn Jahre alt gewesen war, hatte Buttermann sie schon unterrichtet. Sie hatte ihn selbst darum angebettelt, nachdem sie ihn im Schreibwarenladen ihres Vaters kennengelernt hatte. Wenn Buttermann, der damals noch ein aufstrebender Dozent gewesen war, über Handschriften geredet hatte, war der Himmel für sie aufgegangen. Nichts war ihr klüger und sinnvoller erschienen, als herauszufinden, was in den Menschen vorging. Als Buttermann sich tatsächlich dazu herabließ, ihr Lektionen zu erteilen, kam es ihr wie das Glück ihres Lebens vor. Er fürchtete zwar um sein Renommee, weil sie ein Kind und keine Fachkollegin war, wie er sagte, aber was wäre für Heike leichter gewesen, als ein Geheimnis zu hüten? Sie fürchtete sich ja ebenfalls, und zwar vor ihren Eltern.

Noch nie war sie so gelobt worden wie damals von Buttermann. Er war geduldig, er förderte sie und beantwortete all ihre Kinderfragen. Ließ sich eine Handschrift fälschen? Wie wichtig war Schönschrift? Warum war es besser, die Buchstaben nicht so gleichmäßig zu ziehen, wie die Lehrerin es wünschte, sondern auch einmal ein Gefühl durch den Stift zu jagen? Buttermann konnte aus der Schrift eines Mädchens sogar erkennen, woher es die blauen Flecken auf den Armen hatte – sagte er. Und ob die Eltern ihre Gürtel nur dazu benutzten, um ihre Röcke und Hosen zu halten.

Heikes Tage wurden heller, wenn eine Unterrichtsstunde mit Buttermann anstand. Zu Hause nahm sie alles hin, sagte höflich »Bitte« und »Danke«, um bloß pünktlich aus dem Haus zu kommen.

»Die Technik des Schreibens stammt aus Ägypten«, hatte Buttermann einmal gesagt. »Aber wir beide, im Land der Dichter und Denker, machen noch mehr daraus. Wir tragen Verantwortung, wir durchdringen die Handschrift in ihrem Wesen.«

Als Heike endlich alt genug gewesen war, um zum ersten Mal offiziell als Buttermanns Studentin im Institut zu sitzen, war ihr die Luft weggeblieben. Nie zuvor hatte sie so viele Gleichgesinnte erlebt, die ebenso für Handschriften brannten wie sie. Aber sie hatte auch noch nie ihre graphologischen Leistungen mit dem Können anderer Leute verglichen und musste jetzt feststellen, wie weit sie schon gekommen war: meilenweit von ihren Sitznachbarn entfernt.

Im zweiten Semester durfte sie dem Professor bereits assistieren, denn der Nestlé-Konzern beanspruchte einen Großteil seiner Zeit. Die Firmenzentrale ließ die Handschriften sämtlicher Mitarbeiter auf Charakterschwächen untersuchen, bis in die Führungsetage hinein, und Buttermann hatte die Ergebnisse vor Ort zu moderieren. Abgerissene Unterlängen bei breitem Rechtsrand, also Triebstörung – welcher Manager ließ sich so etwas sagen? Damit Buttermanns Büro am Bonner Institut unterdessen nicht brachlag, hielt Heike dort die Stellung. Zuerst sortierte sie nur die Post, dann frischte sie aus eigenem Antrieb Buttermanns Vorträge auf, und schließlich durfte sie ihre ergänzenden Gedanken veröffentlichen.

Als der erste Kongress anstand, sprach sie sich Mut zu, bevor sie das Rednerpult enterte. Die Luft im Audimax war rasierwassergeschwängert. Sie trug einen Rock, der knapp am Knie endete, und hatte die dunklen Haare zu einem Bienenkorb gewunden. Bei ihrem Anblick erstarb das Geraune im Saal. Sie fühlte, wie sie gemustert wurde, aber auch der Professor wurde gemustert, der Mann, der, wie später in einer Fachzeitschrift stand, »die geniale Chuzpe hatte, eine so blutjunge Dame nach vorne zu schicken und der Graphologie damit einen erfrischenden, aufs Höchste erfreulichen Anblick zu verschaffen«. Heike verbeugte sich am Pult ritualhaft in Buttermanns Richtung, bevor sie mit fester Stimme und in freier Rede auf Englisch, Französisch und Deutsch über die zählbaren, messbaren und schätzbaren Merkmale der Handschrift referierte.

Noch heute schlug ihr Herz schneller, wenn sie daran zurückdachte. Und vielleicht hätte es sich doch einmal gelohnt, in Erfahrung zu bringen, wie es später, nachdem sie der Graphologie so plötzlich den Rücken gekehrt hatte, am Institut weitergegangen war. Wie stand es um den Fachbereich heute, zehn Jahre danach? War der Professor noch immer eine Koryphäe wie damals, oder war an ihm ein Makel hängen geblieben, als seine Star-Studentin in Verruf gekommen war? Aber nein, Heike sollte sich keine Illusionen machen. Buttermann würde alles in seinem Sinne gedeichselt und beschönigt haben, sonst wäre er am Dienstag nicht so dreist in den Schreibwarenladen marschiert und hätte ihr die Jubiläumsfeier unter die Nase gerieben. Hämisch war er. Grausam, sie ins Institut einzuladen. Aber er musste auch dumm sein, denn Heike würde garantiert nie wieder auf ihn hereinfallen.

Hellwach starrte sie ins kalte Schlafzimmer. Peters Atem ging tief und gleichmäßig, und obwohl sie das Geräusch in anderen Nächten beruhigend fand, kam es ihr heute nicht richtig vor. Ganz ungewohnt malte sie sich aus, ihn zu wecken, um ihm etwas von Dienstag und ihrer Begegnung mit Buttermann zu erzählen. Aber das war natürlich Unsinn, sie würde nichts dergleichen tun. Peter war der allerletzte Mensch, den sie beunruhigen sollte.

Sie schmiegte sich an ihn. Er hatte immer zu ihr gehalten. Seine Eltern waren schon gegen ihre Verlobung gewesen, womöglich hatten sie Gerüchte über Heike gehört, aber seine Gefühle waren stark geblieben. »Hier bin ich, und da bist du«, hatte er zu Heike gesagt. »Wenn du mich willst, fangen wir an.«

Sie lächelte ins Dunkle. Er hatte damals wirklich gesagt: »Fangen wir an«, und nicht etwa: »Fangen wir neu an«, und das war für Heike ein großartiges Geschenk gewesen. Denn wenn es kein »neu« gab, gab es auch kein »alt«, und ohne »alt« brauchte eine Beziehung keinen Blick zurück.

Selbstverständlich hatte Peter als ihr Verlobter darüber Bescheid gewusst, dass sie bis Herbst ’64 an der Uni gewesen war, aber – wirklich? Graphologie? Und sie hatte abgebrochen – Peter hatte es als Fügung des Schicksals genommen. Unterm Strich hatte das eigentliche Leben, das gute Leben, für sie beide doch erst mit ihrer Beziehung begonnen. Alles, was vorher gewesen war, war offensichtlich nicht passend gewesen. Sie brauchten nicht länger daran zu denken – das hatte Heike selbst oft gesagt und es auch genau so gemeint.

Ihr wurde wieder warm ums Herz. So funktionierte es, wenn man sich das Glück ganz bewusst vor Augen hielt: Vor zehn Jahren, als sie am Boden zerstört gewesen war und alles verloren hatte, nicht nur ihre Karriere und ihren Ruf an der Uni, sondern, viel schlimmer, auch die Graphologie, von der sie gedacht hatte, dass sie mit ihr auf ewig verwoben sein könnte – da war ihr Peter begegnet und hatte sich nur für sie interessiert. Und natürlich für den Schreibwarenladen, der in Familienhand gewesen war.

»Ich habe dich auf den Teppich geholt«, sagte Peter heute noch manchmal. »Keine Ahnung, wie ich es gemacht habe, und eigentlich warst du es auch, die uns den Teppich ausgerollt hat. Aber du bist ja schon immer viel schlauer gewesen als ich.« Es war nett, dass er das sagte – und stimmte natürlich nicht.

»Wenn du mich willst«, flüsterte Heike jetzt gegen seinen Rücken. Er wiegte sich leicht und behaglich, dann schlief er weiter.

»Ich möchte aufstehen«, beharrte sie nah an seinem Ohr.

»Hm? Wie spät?«

»Fast fünf. Hast du Lust auf frische Brötchen?«

»Fünf?«

»Ich wecke dich später. Versprochen.«

Sie nahm ihre Kleidung, zog sich leise im Badezimmer an und schlich am Kinderzimmer vorbei in den Keller, wo ein kleiner Tisch mit einer Schreibmaschine stand. Sie würde zur Tat schreiten und Buttermann die Stirn bieten, anstatt sich noch einmal etwas kaputtmachen zu lassen. Das Tippen ging schnell und routiniert.

»Hier Ihr Schal zurück. Erneut auch, diesmal schriftlich, meine Absage der Einladung zum Jubiläum. Gruß H.«

Oder Frau H.? Oder Heike H.? Nein, sie steckte das Schreiben in einen übergroßen Umschlag und verließ entschlossen das Haus.

Es regnete wieder. Im Hof vor den Garagen gab es kein Licht, der Schal des Professors befand sich seit Dienstag in der Satteltasche der Mobylette. Heike nutzte das Motorfahrrad nur noch selten, der Lenker rostete, am Tank blätterte Lack ab, aber die Mobylette war einsatzbereit.

Mit beiden Händen hob sie das Garagentor an, sodass es nicht quietschte, nahm den Schal, stopfte ihn zu der getippten Mitteilung in den Umschlag und verstaute alles regensicher in der Tasche. Dann schob sie die Mobylette auf die Straße und bockte sie auf. Im Tank gluckerte es, der Sprit würde reichen.

Schnell nahm sie Fahrt auf. Die Öljacke flatterte ihr um die Schultern, Regen schnitt ihr eisig ins Gesicht. Bald klebte die Jeans auf der Haut, und die gestrickten Handschuhe trieften. Aber das war alles egal, Heike kauerte fest auf dem Sattel. Sie kam gut voran.

Nur wenige Autos waren unterwegs, sie überholten in weiten Bogen. Ein schwerer Regierungswagen rauschte vorbei. An einer Baustelle brannte Licht. Bizarre Gebilde aus Stahl ragten in den frühen Morgen. Sämtliche Ampeln wurden grün, sobald die Mobylette heranfuhr.

Auf der Diplomatenallee umklammerte Heike den Lenker. Noch nie war sie sich so rasant vorgekommen. Freie Bahn, der Tacho zeigte inzwischen fast vierzig. Der kleine Scheinwerfer trotzte dem Regen, und da vorne sah sie die Abbiegung zu Schreibwaren Holländer. Noch zwei Laternen bis zur Kreuzung – wie komisch es sich anfühlte, einfach daran vorbei, strikt geradeaus zu fahren! Der Asphalt wurde rauer. Das Gestell der Mobylette begann zu vibrieren, Heike spürte es bis in die Zungenspitze hinein. Palais Schaumburg, Museum Koenig, dahinter rechts das Auswärtige Amt – und schon war die Unibibliothek erreicht. Sie bremste abrupt und schnappte nach Luft. Sollte sie wirklich … Und wenn sie jemand sah? Aber wer denn? Buttermann? Oder Studenten? So früh am Morgen?

Wieder gab sie Gas, diesmal leider zu grob, oder irgendetwas stimmte mit dem Motor nicht. Er überdrehte, stotterte, die Mobylette schlingerte und ließ sich nur mit Mühe hinter der Bibliothek in die kleine Straße lenken. Meter für Meter wurde bezwungen, bis es in Sicht kam: das Institut für Graphologie. Im Regen. Alle Fenster schwarz.

Die Bremsen griffen nicht gut, Heike rollte noch fast bis ans Ende der Gasse, bis sie vom Sattel sprang. Motor aus, Handschuhe aus und jetzt nicht die Nerven verlieren.

Sie holte den Umschlag aus der Satteltasche und marschierte zum Institut zurück. Das Kopfsteinpflaster glänzte. Die einzige Straßenlaterne stand schief.

Genau so hatte das Institut schon vor zehn Jahren ausgesehen: Dreieinhalb Stockwerke, es war wirklich nicht groß. Über dem Eingang brannte das alte gelbe Licht. Der Putz hatte Risse wie damals, und auf Hüft- und Schuhhöhe prangten Flecken der Studenten an der Wand. Der winzige Vorgarten war verwildert.

Oben, zwischen zwei Fensterbänken, hing ein Transparent. Die Schrift war so groß, dass sie im Zwielicht zu lesen war: 25 Jahre Graphologie in Bonn. Wer würde wohl zu dieser Feier kommen? Der Dekan selbstverständlich, vielleicht war es sogar noch derselbe Dekan wie damals. Professor Buttermann würde eine Festschrift vorlegen, gebunden und mit Goldschnitt versehen. Und er würde wieder und wieder an Heike denken.

Ein feuchter Windstoß fuhr über die Gasse, das Transparent bauschte sich, und der Umschlag in Heikes Hand wurde nass. Neben der Eingangstür des Instituts stand wie eh und je der voluminöse Briefkasten auf den stählernen Stelzen.

»Bücher, Leute«, hatte der Professor im ersten Semester gesagt. »Lest und macht euch Notizen. Steckt mir alles in den Kasten, Tag und Nacht.«

Und die Studenten hatten ihm gehorcht, hatten sich sogar geschmeichelt gefühlt: Der große Professor wollte sich mit jeder einzelnen Studentennotiz ausführlich beschäftigen! Bloß hatte er es vollkommen anders getan, als sie es gehofft hatten, denn der Inhalt ihrer Notizen war ihm komplett egal gewesen. Stattdessen hatte er ihre Handschriften als Seelenstriptease genommen.

Typische Buchstaben, typische Schwächen. Akribisch hatte er Charakterprofile seiner Studenten erstellt und sie wie Steckbriefe am Schwarzen Brett ausgehängt. Anonymisiert, natürlich, aber an den Schriftbeispielen hatten sie trotzdem erkannt, wer gemeint gewesen war. Der impotente Streber: Heinz aus dem fünften Semester. Der Lügner: Harald. Sie waren alle schockiert gewesen – auch Heike. Obwohl Buttermann bei ihr keine Schwächen aufgelistet hatte, sondern Stärken.

Und jetzt hob sie also wieder diesen Deckel vom Briefkasten, wer hätte das gedacht! Die Finger waren steif vor Kälte, und als der Umschlag mitsamt dem Schal und dem Anschreiben in den Hohlraum plumpste, war der Klang noch allzu bekannt.

Damals hatte Heike den Professor wegen der Steckbriefe zur Rede gestellt: Er habe die Graphologie in den Dreck gezogen, das könne sie nicht ertragen. Doch er wehrte die Vorwürfe ab: Ausgerechnet Heike, die er selbstlos gefördert und geformt habe, wolle Streit mit ihm anfangen? Die Steckbriefe seien nötig gewesen, um zusätzlichen Nachwuchs herauszufiltern, sagte er, denn die Internationale Graphologische Gesellschaft habe Bonn, also ihn, Professor Erik Buttermann, auf ihre Weltagenda gesetzt.

Später hatte Buttermann in einem Seminar Heikes Handschrift auf einem nagelneuen Overheadprojektor präsentiert und gemeint: In ihrer Art, das kleine g zu verschnörkeln, liege genau das Maß an Verrücktheit, das eine erfolgreiche Graphologin brauche.

»Finger weg!«

Erschrocken fuhr Heike herum. Jemand leuchtete ihr mit einer Lampe ins Gesicht, der Stimme nach war es eine Frau: »Was haben Sie da aus dem Briefkasten genommen?«

»Ich habe nichts genommen!« Heike hob die Hände, um sich vor dem Licht zu schützen.

»Sondern?«, fragte die Frau streng.

»Ich habe nur etwas eingeworfen. Was wollen Sie denn?«

Der Lichtkegel wackelte, dann glitt er zu Boden, und Heike sah eine schmale Gestalt vor sich, die ihr kaum bis zur Schulter reichte. Die Frau schien eine Art Uniform zu tragen, ein Abzeichen glitzerte matt auf der Brust.

»Falls Sie wirklich etwas eingeworfen haben«, sagte sie zweifelnd, »muss ich wissen, um was es sich gehandelt hat. Es gab Stress in letzter Zeit, und wir sollen alles kontrollieren, was uns auffällt.«

»Stress? Hier an diesem Institut? Was ist denn passiert?«

»Also würden Sie mir bitte schön sagen, wer Sie sind?«

»Nein.«

Am liebsten wäre Heike zur Mobylette gelaufen, aber die Frau machte sich jetzt am Briefkasten zu schaffen und versuchte, nach dem Umschlag zu angeln. Zum Glück war sie zu klein, um ihn zu erreichen, selbst als sie sich auf die Schuhspitzen stellte und die Hand tief in den Schlitz schob.

»Na toll«, sagte sie dabei. »Sie haben da nichts Schlimmes reingesteckt, oder? Nichts, das brennt oder explodiert?«

»Was? Nein! Es war bloß eine Nachricht. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen.«

»Schön wär’s.«

Die Frau zog ein Büchlein aus ihrer Jacke und hakte darin etwas ab. Die Situation war Heike peinlich.

»Es tut mir leid«, sagte sie. »Hat es Krawalle gegeben, hier am Institut für Graphologie?«

»Lassen Sie es gut sein.«

»Ja. Okay. Dann auf Wiedersehen.«

Heike wandte sich ab. Immerhin schien die Frau trotz ihrer Uniform keine Befugnis zu haben, sie festzuhalten. Aber dass die Uni es überhaupt nötig hatte, das Institut zu bewachen!

»Ist das Ihre Mobylette dahinten?«, rief die Frau über die Straße.

»Warum?«

»Sie haben sie nicht abgeschlossen! Ist mir eben schon aufgefallen.«

Federnd setzte die Frau sich in Bewegung. Sie wollte Heike doch hoffentlich nicht nachlaufen? Aber ja! Und sie war sogar sehr schnell, denn obwohl Heike noch einen Zahn zulegte, kamen sie beinahe gleichzeitig am Motorfahrrad an.

»Das nenne ich eine gute Maschine«, sagte die Frau und fasste an den Lenker. »Ein bisschen rostig, aber in Ordnung.«

»Für meine Zwecke reicht es«, erwiderte Heike knapp.

»Klar.« Die Frau strich über die Klingel. »Ideal, um mal kurz durch die Nacht zu fahren, was?«

»Es ist eher Morgen als Nacht.«

»Aha! Frühaufsteherin. Sie können keine Studentin sein. Das war mir klar.«

»Na und?«

»Obwohl Sie nicht studieren, stecken Sie dem Institut für Graphologie Nachrichten in den Briefkasten. Mich würde ja mal interessieren, was Graphologie eigentlich ist?«

»Also noch einmal: Auf Wiedersehen.«

Energisch fegte Heike das Regenwasser vom Sattel. Dann stieg sie auf die Pedale und packte die Griffe. Die Mobylette schwankte auf dem Ständer, die Frau würde jetzt hoffentlich den Weg frei machen – aber nein, sie dachte wohl nicht daran.

»Gra-pho-lo-gie«, sagte sie stattdessen.

»Gehen Sie bitte zur Seite«, antwortete Heike. »Sonst tun Sie sich weh.«

»Mein Chef macht lauter komische Andeutungen über das Institut.«

»Interessiert mich nicht.«

»Nein?«

»Nein. Aber wenn ich es Ihnen trotzdem erkläre, lassen Sie mich losfahren, ja? Also: Die Graphologie untersucht Ihre Handschrift. Und jetzt Platz, bitte.«

»Wozu untersucht man eine Handschrift?«

»Weil ein Graphologe aus Ihrer Schrift Ihren Charakter herauslesen kann.«

»Wie beim Wahrsagen? Oder beim Aus-der-Hand-Lesen? Und das kann man studieren?«

»Mit Staatsprüfung. Ich starte den Motor.«

»Demnach sind Sie selbst Graphologin! Geprüft und anerkannt?«

»Verdammt noch mal, jetzt lassen Sie endlich die Mobylette in Ruhe!«

Heike trat kräftig in die Pedale, und die Frau hüpfte tatsächlich zurück. Allerdings stotterte die Maschine schon wieder und kam nicht in Schwung. Heike rutschte ab, der Auspuff knallte, dann herrschte Stille.

»Schade«, kommentierte die Frau.

Noch einmal stieg Heike auf und riss auch am Gasgriff, aber zu schnell, zu oft, sie wusste es schon: Die Maschine war längst abgesoffen.

»Hat wohl zu lange im Regen gestanden«, meinte die Frau.

Heike würdigte sie keines Blickes. In der Satteltasche lag Werkzeug, sie holte sich den Steckschlüssel und schraubte die Zündkerze heraus. Die Elektroden trieften – und schon reichte ihr die Frau ein Päckchen Papiertaschentücher an.

»Sie sind nicht nur Graphologin, sondern auch Politikerin, stimmt’s?«

»Bitte!«

»Darum wollten Sie mir auch Ihren Namen nicht nennen. Weil Sie berühmt sind. Das werde ich dem Chef ganz diskret weitergeben. Tut mir leid, dass ich Sie in der Dunkelheit nicht erkannt habe.«

Ohne Antwort knüllte Heike die schmutzigen Tücher zusammen, setzte die Zündkerze wieder ein und startete neu. Es funktionierte, aber wie war es zu ertragen, dass die Frau ihr applaudierte?

»Hören Sie auf!«, rief Heike und schubste die Mobylette vom Ständer. »Auch wenn es Sie und Ihren Chef enttäuscht: Ich bin niemand Besonderes. Mit mir haben Sie nur Ihre Zeit verschwendet.«

3.

Der Schal und Heikes Brief mussten wohlbehalten bei Professor Buttermann angekommen sein, denn schon in der Woche darauf fand Heike eine Antwort im Briefkasten des Reihenhauses. Der Professor hatte ihr ein (ebenfalls getipptes) Schreiben mit der offiziellen Einladung der Universität zur Jubiläumsfeier des Instituts für Graphologie geschickt, adressiert an Heikes Privatanschrift, an Familie Peter Holländer, z. Hd. der Ehefrau, und sie verstand, was Buttermann ihr damit sagen wollte: Er warnte sie. Wenn sie nicht spurte, würde er erneut auftauchen, am Ende sogar bei ihr zu Hause.

Unruhig wusch sie die letzten Teller vom Abendessen ab und horchte auf das Gemurmel aus dem Kinderzimmer. Wie jeden Abend las Peter den Kindern eine Geschichte vor, Schlampi reißt aus, Anne liebte das Buch, und auch Michael plapperte niedlich dazwischen, sodass Peter sein Machtwort probierte: »Wenn ihr mich ständig unterbrecht, schalte ich sofort das Licht aus.« Aber alle wussten natürlich, dass er es nicht ernst meinte, und so riefen und lachten die Kinder weiter, während Schlampi von Stubenarrest zu Stubenarrest trottete und es nur langsam leiser wurde.

Gleich würden Michael einfach die Augen zufallen, und Anne würde sich auf die Seite drehen. Peter würde die Kleinen noch eine Weile lang betrachten und schließlich ins Wohnzimmer wechseln, um sich mit Heike die Tagesschau anzusehen. Er würde den Sessel nehmen, während Heike in seinem Rücken auf dem Sofa lag – ihr erprobter Ablauf des Abends, kaum je zu stören.

Heike hängte das Trockentuch auf und legte die Schürze beiseite, um den Fernseher im Wohnzimmer schon einmal einzuschalten. Den Ton drehte sie leise und stellte sich ans Fenster, um zu warten. Der schmale Garten lag im Dunkeln.

Seit Tagen fühlte sie sich verfolgt. Hörte oben im Haus senfgelbe Turnschuhe quietschen, roch Zigaretten, wenn es unmöglich war, dass jemand rauchte, oder meinte sogar, das Essen aus der Mensa zu sehen, wenn sie den Deckel von ihrem eigenen Kochtopf hob. Sie war schreckhaft und fuhr ständig zusammen, dabei brauchte sie doch gerade jetzt ihre Kraft.

»Heike? Alles klar mit dir?«

»Oh!« Peter war ins Wohnzimmer gekommen. »Schlafen die Kinder?«, fragte sie schnell.

»Du kannst gerne nachsehen.«

Er gab ihr einen Kuss und schloss die Gardine vor dem Fenster. Fröhlich und freundlich wie immer, dachte sie. Selbst nach seinem Arbeitstag steckte Peter voller Energie. Ihr Ehemann. Ob er ihr helfen würde, wenn sie ihm von Erik Buttermann erzählte?

»Wann ziehst du dich um?«, fragte sie, denn er trug noch den Anzug von der Arbeit im Schreibwarenladen.

»Erst trinke ich einen Schluck. Am liebsten mit dir.«

»Aber es ist Donnerstag.«

»Na und?«

Er lachte unbeschwert und öffnete den Barschrank. Heike setzte sich auf das Sofa. Wenn sie nur auch ein wenig lockerer sein könnte – anstatt Buttermann alles untergraben zu lassen. Ihren Alltag, ihre Selbstsicherheit, ihr gutes Leben.

Sie fasste Mut und nahm einen Anlauf: »Heute ist Post gekommen.«

»Okay.« Peter prüfte den Pegel in der Cognacflasche. »Was Dringendes? Hast du es auf den Schreibtisch gelegt?«

»Nein. Eine Einladung, aber keine private …«

»Egal, ich kümmere mich später darum.«

Er nahm zwei bauchige Gläser und schenkte ein. Dabei warf er Heike einen Blick zu, der ihr das Herz zusammendrückte. So arglos war er. Und immer noch verliebt. Nie im Leben würde er an seiner Ehefrau herumkritteln oder sie gar als Person infrage stellen oder auch nur vermuten, dass sie Kontakt zu einer Gestalt von früher gehabt hatte, von der er nichts wusste.

»Briefalux Dresden«, sagte er und reichte Heike ein Glas. »Schon mal gehört?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Briefalux! Oder Feinpapier Neu Kaliß?«

»Nein.«

Er streifte die Schuhe ab, sie fielen neben den Flokati, und lockerte den Hemdkragen.

»Neu Kaliß liegt in der DDR«, erklärte er. »Dresden natürlich auch, aber stell dir vor, wir haben das unglaubliche Angebot bekommen, in das Geschäft mit Ostwaren einzusteigen.«

»Was für Ostwaren?«

»Schreibwaren aus der DDR!«

»Ach so.« Heike rückte zur Seite. »Magst du dich nicht neben mich setzen?«

Aber Peter blieb stehen: »Jetzt stoß doch mal mit mir an! Herrmann vom Großhandel war bei mir im Laden, und weißt du was? Er hat seine Kontakte zur Bundesregierung genutzt und sich nach der Ständigen Vertretung der DDR erkundigt, die bald in Bonn eröffnet wird. Die Sache ist groß, Heike. Es kommen sage und schreibe hundert Leute aus der DDR zu uns. Männer, Frauen und Kinder.«

»Kinder aus der DDR?«

»Ja! Ganze Familien. Herrmann weiß das aus erster Hand, er hat mit Günter Guillaume darüber gesprochen. Die Bundesregierung wünscht sich wohl, dass die Familien aus dem Osten bei uns in Bonn auf nichts verzichten müssen – und da kommen wir Geschäftsleute ins Spiel. Herrmann soll dafür sorgen, dass die DDR-Bürger mit Schreibwaren ausgestattet werden. Die Kinder brauchen Füller und Schulhefte, die Erwachsenen Briefpapier – und sie dürfen vermutlich keine Westwaren benutzen. Also will Herrmann das Material aus dem Osten nach Bonn importieren, und er sucht Einzelhändler, die es für ihn hier vor Ort verkaufen.«

Peter nahm einen großen Schluck Cognac und ließ sich neben Heike auf das Sofa fallen. Sie faltete die Hände. Es ist eine Frage der Reihenfolge, dachte sie. Sie waren zwei Personen und hatten zwei Themen, und es sprach wahrscheinlich nichts dagegen, erst einmal bei Peters Thema zu bleiben und das Problem mit Buttermann auf später zu verschieben.

»Leute aus der DDR sollen also bei uns einkaufen?« Sie musste sich konzentrieren. »Wie soll das denn aussehen, Peter?«

»Keine Ahnung. Aber die Bundesregierung, vor allem Willy Brandt persönlich, erwartet, dass wir die Ost-West-Versöhnung an der Basis praktizieren.«

»Quatsch. Hat Herrmann das so erzählt?«

»Herrmann hat es von Günter Guillaume gehört, und als persönlicher Referent des Bundeskanzlers wird der es ja wissen.«

»Und jetzt?« Heike nippte am Cognac. »Ich denke, unser Laden eignet sich nicht dazu. Unseren Kunden würde es nicht gefallen.«

»Die Ständige Vertretung der DDR wird in unserem Einzugsbereich liegen. Diplomatenallee 18, das ist nicht weit von uns. Wir würden sogar eine Geldspritze bekommen, wenn wir unser Sortiment Richtung Osten erweitern. Günter Guillaume verspricht jedem Einzelhändler, der mitzieht, finanzielle Unterstützung.«

»Gibt er uns das schriftlich?«

»Mensch, Heike, in Bonn werden längst Geschäfte mit der DDR gemacht. Wenn wir nicht aufpassen, rollt der Rubel an uns vorbei. Allein für Immobilien sind schon Millionen D-Mark über den Tisch gegangen. Guck dir mal die fette Villa in Bornheim an, wo der Chefdiplomat der DDR wohnen wird. Oder das Chauffeurhaus in der Nähe, das doppelt so groß ist wie unser Zuhause. Der Sozialismus lässt sich nicht lumpen! Außerdem werden achtzig bis neunzig DDR-Mitarbeiter in der Pariser Straße in Auerberg unterkommen. Das musst du mal überschlagen: Da sind gigantische Kauf- und Mietverträge geschlossen worden, und zwar zwischen der DDR und einer sehr klugen Bonner Familie, die zur rechten Zeit am rechten Ort war, um abzukassieren.«

»Oder es gab Kontakte – die wir nicht haben, Peter.«

»Doch. Zu Herrmann, der sich im Interesse der Schreibwarenbranche den Referenten im Kanzleramt warmhält.«

Erschöpft lehnte Heike den Kopf an Peters Schulter. Ihre Zunge war ein wenig taub von dem Cognac, und eigentlich müsste im Fernsehen jetzt gleich die Tagesschau beginnen.

Sie nahm Peters Hand und sagte: »Ich möchte, dass wir alles so lassen, wie es ist.«

»Ich nicht.« Er drückte kurz ihre Finger. »Außerdem wird Herrmann keine Ruhe geben. Die Ständige Vertretung soll Anfang Mai eröffnet werden, das sind keine drei Monate mehr, und die Lieferverträge müssen so schnell wie möglich geschlossen werden.«

»Na und? Er kann uns doch nicht zwingen.«

»Das will er auch gar nicht, Heike! Aber wir müssen uns das doch wenigstens einmal durch den Kopf gehen lassen. Bitte!«

Jetzt rückte er von ihr ab, er musste enttäuscht sein. Heike spürte ein Kribbeln im Magen.

»Tut mir leid«, sagte sie. »Ich bin heute nicht ganz auf der Höhe.«

»Das merke ich.« Er stand auf und drehte den Fernseher lauter, sodass der Gong der Tagesschau durchs Zimmer dröhnte. Dann blieb er stehen, die Arme verschränkt, hatte aber schon nach der ersten Meldung genug und stellte den Ton wieder ab.

»Ich verstehe nicht, warum dich das nicht interessiert, Heike. Ich habe die Mustermappen gesehen, Herrmann hatte die tollsten Dinge aus dem Osten im Koffer. Briefalux, Hermes DIN A5. Buntpapier. Zehn Seiten, zehn Farben. Eine bessere Qualität, als ich erwartet hätte.«

»Ja, ich will dir doch gar nichts vermiesen, Peter. Wenn du es unbedingt ausprobieren möchtest, sträube ich mich nicht.«

»Danke. Allerdings müsstest du erst einmal Platz im Laden schaffen. Unsere Regale sind nämlich voll – weil du Bütten bestellt hast. Extrem kostspieliges Zeug, wie ich wieder einmal festgestellt habe.«

Heike stutzte. Vor Überraschung wurde sie rot. Peter sah weg, aber seine Stimme wurde immerhin sanfter: »Für unsere Kunden ist das Bütten, das du aussuchst, viel zu teuer, Heike. Nicht einmal die Bundestagspräsidentin wird es kaufen, und du hast unser Budget mit zweihundertfünfzig Mark belastet. Vollkommen außer der Reihe und … Ach, so was hast du schon lange nicht mehr getan! Ohne Absprache.«

»Ich schicke das Papier zurück. Es sollte sowieso nur für mich sein. Zum Angucken. Tut mir leid.«

Noch Stunden später saß Heike im Wohnzimmer, Peter war längst zu Bett gegangen, und was hatte sie ihm nicht alles versprochen: was sie künftig besser machen wollte und was sie beim nächsten Mal miteinander absprechen würden. Aber sie hatte sich auch wie eine Lügnerin gefühlt oder wie eine Hochstaplerin, die mehr vorgab, als sie zu schaffen vermochte.

Es fiel ihr schwer, einen Plan für sich zu entwerfen. Sie kannte sich nicht gut mit sich selbst aus und fand Peters Verhalten oft schlüssiger als ihr eigenes. Außerdem fehlten ihr Alternativen. Je mehr sie jemandem gefallen wollte, je strenger sie sich an die Kandare nahm, umso mehr irritierte sie sich selbst. Denn in ihr passte so wenig zusammen. Sie lebte in diesem Haus mit Peter und den Kindern, und zwar ausgesprochen gerne. Trotzdem warf sich manchmal ihr Herz auf. Da war die raue Stelle, die Unebenheit, die sich nicht beseitigen ließ. Der Abdruck des alten Prägestempels der Graphologie.

Ein P für Peter konnte steif sein wie ein Stock. In das Papier gekratzt mit einer schnellen Bewegung von unten nach oben und einer scharfen Kurve zum Schluss. Aber ein P konnte auch auf einem gerundeten Fuß stehen, konnte ein offenes Dach tragen oder eine festgezurrte Haube. Ein P war ein Grashalm, an den sich ein Regentropfen klammerte, oder ein Baum im Sturm.

In einer Handschrift offenbarte sich alles, was einen Menschen ausmachte, und das war intim, faszinierend. Wer es einmal begriff, den ließ es nie wieder los.

Früher, als Heike studiert hatte, hatten einige Graphologen die Meinung vertreten, die Hand werde beim Schreiben von der Seele geführt. Heike hatte das eher nüchtern betrachtet, oder vielleicht hatte sie schon damals an keine Seele mehr geglaubt. Für sie war das Schreiben eine unwillkürliche Geste, eine Tätigkeit, die sich vollständig der Kontrolle des Verstandes entzog. Eine Mimik ließ sich schulen, eine Stimme beherrschen, die Körperhaltung verbessern, Angstschweiß übertünchen, und wenn man es übte, konnte man sogar lautlos atmen. Die Schrift aber floss roh aus dem Menschen heraus und hinterließ auf dem Papier eine spektakuläre Fährte zum Innersten des Schreibers zurück.

Ein P mit Anfangsgirlande: ein Hinweis auf Minderwertigkeitsgefühle.

Ein P mit weit auswehender Haube: mangelndes Taktgefühl.

Natürlich reichte ein einzelnes P nicht aus, um ein Gesamturteil über eine Person zu fällen. Je länger ein Schriftstück war, umso mehr Aussagekraft besaß es, wobei auch Einkaufszettel, flüchtig hingeworfene Listen ihren Reiz entfalteten. Am allerbesten waren Briefe.

Ja, Heike liebte die Graphologie wohl noch immer. Schließlich hatte es auch Jahre gegeben, in denen jede Zelle ihres Körpers und jede Windung ihres Geistes davon erfüllt gewesen waren. Warum wunderte sie sich also, wenn sie die Wissenschaft heute manchmal vermisste? Oder wenn ihr das Verbot zu schaffen machte, das sie sich selbst auferlegt hatte? Nie wieder durfte sie ein Schriftstück analysieren, auch nicht in Gedanken, und auch nicht, wenn sie meinte, dass die Graphologie im Grunde lebensnotwendig war, weil nur die Schriftanalyse die Welt in ein erträgliches Lot bringen konnte. Wenn alles schwankte, hielt man sich an Buchstaben fest.

Buttermann hatte wahrscheinlich sehr früh erkannt, dass es mit Heike nicht gut gehen konnte. Eine Süchtige wird eines Tages zwangsläufig ihre Grenzen verlieren, und dann unterscheidet sie nicht mehr zwischen sich und dem Stoff und dem Desaster. Folglich hatte Buttermann es vor zehn Jahren leicht einfädeln können, dass Heike als Graphologin über die Stränge schlug:

»Überwinden Sie Ihre Spießigkeit«, hatte er gedrängt. »Bringen Sie sich mit Ihren Gefühlen in die Analyse ein, und schreiben Sie ein Gutachten über die vorliegende Person, das sich gewaschen hat.«

Heike war irritiert gewesen: »Ich kann nur Urteile fällen, die ich aus den Zeilen herauslese.«

»Eben nicht! Sie können alles, Fräulein Heike! Sie können im Handstreich bestimmen, dass die Freundin Ihres Bruders eine Schlampe ist.«

»Ohne faktische Gegebenheit in ihrer Schrift? Wo bleibt da die Graphologie?«

»Sie sind Graphologin, oder nicht? Und ist nicht alles, was Sie tun, eine Analyse und Einordnung zum Ziel einer Vorhersage? Niemand kann Sie davon abhalten, einmal in Ihrem wissenschaftlichen Rahmen zu experimentieren. Wie fühlt es sich an, Macht zu besitzen? Ein vernichtendes Gutachten zu erstellen? Als Graphologin sollten Sie Ihre Emotionen kennen, um verantwortungsvoll arbeiten zu können.«

»Was ich für die Freundin meines Bruders empfinde, weiß ich genau.«

»Aber Sie bremsen sich. Sie verurteilen sich vorauseilend für Ihre negativen Gedanken und werden dadurch nie erfahren, wie substanziell Ihre Gefühle sind. Ihre Eifersucht darf sein! Und wenn Sie sich einmal hineinstürzen, werden Sie das verstehen und sich von Ihrer Verkrampfung befreien. Ein Resultat übrigens, das viele Leute überraschen dürfte. Wobei ich verspreche, dass unsere Übung mein Büro hier nicht verlassen wird.«

Bestimmt hätte Heike nicht auf Buttermann gehört, wenn sie nicht ohnehin so durcheinander und aufgeregt gewesen wäre und wenn seine Worte nicht geklungen hätten, als stammten sie aus den Kursen, die in jenem Semester im Keller des Instituts stattfanden und von denen Heike ausgeschlossen worden war. »Die Triebstruktur der Gesellschaft.« – »Durch Purifikation zur Emotion des Mannes.«

Sie war es gewohnt gewesen, an der Uni alleine zu sein. Eine Einzelgängerin war sie, angeblich eine Streberin, die nichts wagte. Nur an jenem Abend in Buttermanns Büro fand sie es verlockend, sich den anderen einmal anzunähern. Sie ging aus sich heraus, um eine neue Dimension zu erschließen – als Experiment unter vier Augen, wie Buttermann es ihr versprochen hatte.

Doch das, was sich daraufhin ereignet hatte, war genauso wenig zu steuern gewesen wie Heikes Gefühle auf dem Papier. In einem rasenden Tempo war die Katastrophe herangewachsen, und als Heike gerade noch überlegt hatte, wie sie es ihrem Bruder erklären sollte, dass das Gutachten bloß eine Übung gewesen war, war schon jemand ums Leben gekommen. Gestorben wegen Heike. Denn die Graphologie war nicht immer nur harmlos, sondern manchmal auch eine Waffe.

In der Nacht, vom Wohnzimmerfenster aus, wirkte die Straße schmutzig unter den hohen Laternen. Die Hecke warf Schatten. Linien, Tupfen und Schleifen. Der Rasen vor dem Reihenhaus war ein alter Streifen Löschpapier.

Heike litt unter der Versuchung. Sie wusste, dass auf der Flurkommode eine handgeschriebene Rechnung lag, denn der Schornsteinfeger war im Haus gewesen. Außerdem wartete seit Tagen der Gemeindebrief in der Kommode. Der Pfarrer hatte die Kinder eingeladen, für Ostern zu basteln, und die Gemeindeschwester hatte mit einem Kugelschreiber die Dinge ergänzt, die von zu Hause mitzubringen waren: Bastelschere, drei ausgeblasene Eier, Zweige. Ein großes Z. Ein B, dessen Verhältnis von Bauch zu Bauch tief blicken ließe, wenn Heike sich nur daransetzen würde. Aber nein. Sie durfte es nicht. Durfte sich nie wieder über einen anderen Menschen erheben.

Natürlich verlernte man nie, wie es ging, und es würde ihr auch keine Mühe machen, die Gemeindeschwester zu entschlüsseln. Im Keller, in der Nähe der kleinen Schreibmaschine, lag sogar noch eine Lupe, die für die Analyse nützlich wäre. Aber im Anschluss würde Heike sich grausen.

Die Hände im Morgenmantel vergraben, ging sie durchs Haus. Der Boden schien sich langsam zu drehen, das Teppichmuster irisierte.

Und plötzlich stand sie im Keller. Die Lupe neben der Schreibmaschine war staubig, sie würde sie bloß putzen und dann einmal anders verstauen, zum Beispiel hinten im Waschkeller, tief in dem Schrank mit den Babysachen, die Peter und sie ja auch nicht ernsthaft, sondern nur für alle Fälle aufbewahrten. Sie wussten noch nicht, ob sie ein drittes Kind wollten.

Im Schrank fand sie gelbe Söckchen, ein bunt geringeltes Mützchen und eine Häkeldecke, die gar nicht hierhergehörte. Unter der Decke lag eine Schallplatte – was ebenfalls nicht richtig war. John Coltrane, A Love Supreme