Fünf Sommer mit dir - Carley Fortune - E-Book
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Fünf Sommer mit dir E-Book

Carley Fortune

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Beschreibung

Fünf Sommer zu zweit am See. Fünf Sommer voller Sehnsucht und Glück. Fünf Sommer, die nie hätten enden sollen.

Eine unwiderstehliche Friends-to-Lovers-Liebesgeschichte an einem funkelnden kanadischen See – der große New-York-Times-Bestseller!


Unendlich viele Erinnerungen verbindet Percy mit Barry’s Bay, dem idyllischen Ort in Kanada, an dem sie die Sommer ihrer Jugend in einem Cottage am See verbracht hat. Fünf unvergessliche Sommer, in denen sie und der Nachbarsjunge Sam unzertrennlich waren: Eisessen am Steg, Wettschwimmen und Sternezählen am See. Doch die Sache mit den Erinnerungen ist – sie gehören der Vergangenheit an. Aber als Percy erfährt, dass Sams Mutter gestorben ist, kann sie nicht anders, als sofort nach Barry’s Bay zu fahren. Und als sie Sam nach all der Zeit wiederbegegnet, ist plötzlich alles wieder da: das ganze Glück und der ganze Schmerz – über den einen Moment, der eine gemeinsame Zukunft unmöglich machte …

»Ein Debüt voller Nostalgie und Herz. So wie wir uns an unvergessliche Sommer erinnern, bleibt auch diese Liebesgeschichte weit über die Lektüre hinaus im Herzen.« USA Today

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Seitenzahl: 471

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Carley Fortune ist eine preisgekrönte kanadische Journalistin. Ihr Debütroman Fünf Sommer mit dir über eine unvergessene Jugendliebe an einem kanadischen See eroberte sofort die Bestsellerlisten der New York Times, Sunday Times, Globe and Mail und des Toronto Star. Carley Fortune denkt so gern an die Sommer ihrer Kindheit in dem idyllischen Ort Barry’s Bay zurück, dass sie ihn unbedingt zum Schauplatz ihrer wunderschönen Liebesgeschichte machen musste. Sie lebt mit ihrer Familie in Toronto.

Fünf Sommer mit dir begeistert die Presse und Leser*innen:

»Ein Debüt voller Nostalgie und Herz. So wie wir uns an unver­gessliche Sommer erinnern, bleibt auch diese Liebesgeschichte weit über die Lektüre hinaus im Herzen.« USA Today

»›Fünf Sommer mit dir‹ ist Sommer pur, voller Sehnsucht und verlorener Liebe. Zum Abtauchen!« BuzzFeed

»Eine zauberhafte Geschichte über zweite Chancen und über die Über­raschungen, die das Schicksal für uns bereithält.« Jodi Picoult

»Das ist die Strandlektüre, die Sie als Nächstes lesen müssen, von einer fantastischen neuen Stimme. Mit riesiger Freude verschlungen!« Ashley Audrain

Carley Fortune

Roman

Aus dem kanadischen Englisch von Carolin Müller

Die Originalausgabe erschien 2022

unter dem Titel Every Summer After

bei Berkley, New York 2022.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2022 der Originalausgabe by Carley Fortune

Copyright © 2023 der deutschsprachigen Ausgabe by Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Published in agreement with the author, c/o BARORINTERNATIONAL, INC., Armonk, New York, U.S.A.

Redaktion: Angela Kuepper

Covergestaltung: Favoritbüro nach einem Entwurf von Penguin Random House US

Coverabbildung: Elizabeth Lennie/Maiquay Company Ltd

Gesamtherstellung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-29046-7V003

www.penguin-verlag.de

Meinen Eltern gewidmet, die uns an den See mitgenommen haben.

Und für Bob, der mich zurückgehen ließ.

1

Jetzt

Den vierten Cocktail habe ich für eine super Idee gehalten. Genau wie meinen neuen Pony, wenn ich so drüber nachdenke. Aber jetzt, da ich mit dem Schloss meiner eigenen Wohnungstür kämpfe, beschleicht mich das Gefühl, dass ich den letzten Aperol Spritz morgen früh bereuen werde. Und den Pony vielleicht auch. June jedenfalls riet mir von einem Trennungspony dringend ab, als ich heute Vormittag zum Haareschneiden auf ihrem Friseurstuhl Platz nahm. Aber June musste am Abend ja auch nicht als frischgebackener ­Single zur Verlobungsfeier ihrer Freundin gehen. Ein Pony war da genau das Richtige.

Nicht, dass ich meinen Ex noch lieben würde; tu ich nicht. Hab ich nie. Sebastian ist ein ziemlicher Snob. Ein aufstrebender Firmenanwalt, und er hätte auf Chantals Party sofort angefangen, an der Getränkeauswahl herumzumäkeln, und auf irgendeinen großspurigen Artikel aus der New York Times verwiesen, in dem Aperol Spritz als passé bezeichnet wird. Stattdessen hätte er demonstrativ die Weinkarte studiert und dem Kellner nervige Fragen nach so Zeug wie dem Terroir oder dem Säuregehalt gestellt. Und dann hätte er sich, ungeachtet der Antworten, einfach ein Glas des teuersten Rotweins bestellt. Nicht, dass er über einen sonderlich guten Geschmack verfügen würde oder auch nur viel Ahnung von Wein hätte – Fehlanzeige. Er kauft einfach nur gern teure Sachen, um sich als Kenner zu profilieren.

Sebastian und ich waren insgesamt sieben Monate zusammen, was es zu der längsten Beziehung macht, die ich bisher hatte. Am Ende meinte er, er wisse nicht wirklich, wer ich sei. Und damit hatte er nicht mal unrecht.

Vor Sebastian waren die Typen, die ich mir aussuchte, hauptsächlich für eine gute Zeit zu haben und hatten nichts dagegen, es locker angehen zu lassen. Als ich ihn dann kennenlernte, war ich inzwischen zu dem Schluss gekommen, dass ich mir, falls ich irgendwann als seriöse Erwachsene durchgehen wollte, jemanden suchen sollte, mit dem ich eine ernsthafte Beziehung eingehen könnte. Da passte Sebastian genau ins Bild. Er sah gut aus, war belesen und erfolgreich, und obwohl er oft ein bisschen aufgeblasen rüberkam, konnte er mit jedem über fast alles reden. Dennoch fiel es mir schwer, zu viel von mir preiszugeben. Meine Tendenz, all meine Gedanken ungefiltert zu teilen, hatte ich mir schon vor langer Zeit abgewöhnt. Doch insgesamt fand ich, dass es mir eigentlich recht gut gelang, der Beziehung mit Sebastian eine echte Chance zu geben. Aber er spürte letztendlich meine Teilnahmslosigkeit, und er hatte recht. Er bedeutete mir nicht wirklich etwas. Keiner von ihnen hat mir wirklich etwas bedeutet.

Nur der eine.

Und der ist längst Geschichte.

Also, ich bin schon gerne mit Männern zusammen, und ich mag es auch, wie Sex mir kleine Fluchten aus meinen Gedanken beschert. Ich bringe Männer gerne zum Lachen, ich habe gerne Gesellschaft, und hin und wieder brauche ich etwas Abwechslung von meinem Vibrator, aber ich lasse mich nie ernsthaft auf jemanden ein, gehe nicht zu sehr in die Tiefe.

Ich stochere noch immer mit meinem Wohnungsschlüssel herum – Komm schon, da stimmt doch irgendwas mit dem Schloss nicht, oder? –, als in meiner Handtasche das Handy zu summen anfängt. Was ungewöhnlich ist. So spät ruft mich eigentlich niemand an. Genau genommen ruft mich nie jemand an, abgesehen von Chantal und meinen Eltern. Aber Chantal ist noch auf ihrer Party, und meine Eltern sind gerade in Prag und um diese Zeit bestimmt noch nicht wach. In dem Moment, als ich endlich die Tür aufbekomme und in mein kleines Ein-Zimmer-Apartment stolpere, verstummt das Handysummen. Ich werfe einen Blick in den Spiegel am Eingang und stelle fest, dass zwar mein Lippenstift verschmiert ist, aber mein Pony ziemlich phänomenal aussieht. Da hast du’s, June.

Als ich versuche, die Riemchen meiner goldenen Sandalen aufzumachen, fällt mir ein Vorhang aus dunklen Haaren vors Gesicht. Mein Handy fängt erneut an zu summen. Ich wühle es aus meiner Handtasche und humple mit nur noch einem Schuh Richtung Couch. Stirnrunzelnd betrachte ich den Schriftzug »Unbekannt« auf dem Display. Vermutlich falsch verbunden.

»Hallo?«, frage ich hinein und beuge mich vor, um die zweite Sandale auszuziehen.

»Ist da Percy?«

Ich springe so schnell auf, dass ich mich an der Sofalehne abstützen muss, um das Gleichgewicht zu behalten. Percy. So nennt mich niemand mehr. Mittlerweile bin ich für alle eigentlich nur Persephone. Manchmal vielleicht auch P. Aber nie Percy. Percy bin ich schon seit Jahren nicht mehr gewesen.

»Hallo … Percy?« Die Stimme klingt tief und sanft. Ich habe sie bestimmt schon über zehn Jahre nicht mehr gehört, und trotzdem ist sie mir so vertraut. Plötzlich bin ich wieder dreizehn, dick mit LSF 45 eingeschmiert und schmökere am Steg in Taschenbüchern. Bin sechzehn und reiße mir die Klamotten vom Leib, um nach einer Schicht im Restaurant nackt und klebrig in den See zu springen. Bin siebzehn, liege in einem noch feuchten Badeanzug auf Sams Bett und beobachte, wie seine Finger über ein Anatomiebuch gleiten, das er zu meinen Füßen studiert.

Rauschend und heiß schießt mir das Blut in die Wangen, und das hartnäckige Pumpen meines Herzens dringt in meine Ohren. Ich hole zitternd Luft und setze mich mit verkrampften Bauchmuskeln wieder auf die Couch.

»Ja …«, bekomme ich heraus, und er stößt einen lang ge­zogenen, erleichterten Laut aus.

»Hier ist Charlie.«

Charlie.

Nicht Sam.

Charlie, der falsche Bruder.

»Charles Florek«, stellt Charlie klar und erklärt umständlich, wie er an meine Nummer gekommen ist – irgendwas vom Freund eines Freundes und einem Kontakt bei dem Magazin, bei dem ich arbeite –, aber ich höre kaum zu.

»Charlie?«, unterbreche ich ihn. Meine Stimme klingt schrill und angespannt, ein bisschen vom Spritz und sehr viel vor Schock. Oder vielleicht ist es auch pure Enttäuschung. Weil diese Stimme nicht Sam gehört.

Natürlich nicht.

»Ich weiß, ich weiß, lange her. Wahnsinn, ich weiß nicht mal mehr, wie lange«, sagt er, und es klingt wie eine Entschuldigung.

Aber ich weiß es. Weiß genau, wie lange. Weil ich mitzähle.

Es ist jetzt zwölf Jahre her, seit ich Charlie gesehen habe. Zwölf Jahre seit dem verhängnisvollen Thanksgiving-Wochenende, als das zwischen mir und Sam in die Brüche ging. Als ich alles kaputtmachte.

Ich zählte immer die Tage, bis meine Familie und ich in unser Cottage fuhren und ich Sam wiedersehen konnte. Jetzt ist er nur noch eine schmerzvolle Erinnerung, die ich tief in mir drinnen vergraben habe.

Mir ist auch klar, dass es nun schon mehr Jahre ohne Sam sind, als ich mit ihm verbracht habe. Sieben Jahre nachdem ich ihn zuletzt gesprochen hatte, bekam ich eine Panikattacke, die erste seit Langem, pünktlich zu Thanksgiving, und dann kippte ich eineinhalb Flaschen Rosé. Es fühlte sich an wie ein Meilenstein: Jetzt war ich offiziell länger ohne ihn, als wir Jahre zusammen am See verbracht hatten. Ich heulte schlimme, würgende Schluchzer auf den Badfliesen, bis ich erschöpft einschlief. Am nächsten Tag kam Chantal mit fettigem Take-away-Essen und hielt mir die Haare aus dem Gesicht, während ich heulend kotzte und ihr schließlich alles erzählte.

»Ist ’ne Ewigkeit her«, sage ich zu Charlie.

»Ich weiß. Und es tut mir leid, dass ich dich so spät noch anrufe«, meint er. Seine Stimme ähnelt der von Sam so sehr, dass es wehtut; als säße mir ein dicker Klumpen im Hals. Ich weiß noch, dass man die beiden auch früher, als Sam und ich vierzehn waren, am Telefon fast unmöglich auseinanderhalten konnte. Ich erinnere mich, dass mir in dem Jahr auch noch andere Dinge an Sam auffielen.

»Hör mal, Pers. Ich ruf an, weil ich Neuigkeiten habe«, erklärt er und sagt zwar den Namen von früher, klingt aber viel ernster als der Charlie, den ich von damals kenne. Ich höre, wie er tief durch die Nase Luft holt. »Mom ist vor ein paar Tagen gestorben, und ich … na ja, ich dachte, das würdest du wissen wollen.«

Seine Worte treffen mich wie ein Tsunami, und ich habe Schwierigkeiten, sie wirklich zu verstehen. Sue ist tot? Sue war noch jung.

Alles, was ich herausbekomme, ist ein krächzendes »Was?«.

Charlie klingt erschöpft, als er antwortet. »Krebs. Sie hat schon seit ein paar Jahren damit gekämpft. Wir sind am Boden zerstört, aber sie hatte das Kranksein so satt, weißt du?«

Und nicht zum ersten Mal fühlt es sich so an, als hätte jemand das Drehbuch meines Lebens gestohlen und alles total falsch umgeschrieben. Dass Sue krank sein könnte, erschien mir irgendwie ausgeschlossen. Sue, mit ihrem strahlenden Lächeln, in ihrer abgeschnittenen Jeans und mit dem weißblonden Pferdeschwanz. Sue, die die besten Piroggen der Welt machte. Sue, die mich immer wie eine Tochter behandelte. Sue, von der ich mir gewünscht hätte, dass sie eines Tages meine Schwiegermutter geworden wäre. Sue, die seit Jahren schwer krank gewesen war, ohne dass ich davon wusste. Ich hätte es wissen müssen. Ich hätte dort sein sollen.

»Es tut mir so leid«, setze ich an. »Ich … ich weiß nicht, was ich sagen soll. Deine Mom war … sie war …« Ich klinge panisch, das kann ich hören.

Reiß dich zusammen, sage ich zu mir selbst. Du hast dein Anrecht auf Sue schon vor langer Zeit verloren. Da wäre es unangebracht, jetzt total aufgelöst zu sein.

Ich muss daran denken, wie Sue alleine zwei Jungs großgezogen und dabei die Taverne geführt hat, und an unsere erste Begegnung, als sie zu uns ins Cottage kam und meinen deutlich älteren Eltern versicherte, dass Sam ein guter Junge sei und sie ein Auge auf uns hätte. Ich erinnere mich, wie sie mir beibrachte, wie man drei Teller auf einmal trägt, und daran, dass sie sagte, ich solle mir von keinem Jungen etwas gefallen lassen, auch nicht von ihren beiden Söhnen.

»Sie war … alles«, sage ich. »Sie war so eine tolle Mutter.«

»Das war sie. Und ich weiß, dass sie dir viel bedeutet hat. Das ist auch der Grund, warum ich anrufe«, sagt Charlie zaghaft. »Ihre Beerdigung ist am Sonntag. Ich weiß, es ist lange her, aber ich glaube, du solltest dabei sein. Kommst du?«

Lange her? Zwölf Jahre. Zwölf Jahre, seit ich das letzte Mal die Fahrt nach Norden gemacht habe, zu dem Ort, wo ich mich mehr zu Hause fühlte als sonstwo. Zwölf Jahre, seit ich das letzte Mal kopfüber in den See gesprungen bin. Zwölf Jahre, seit mein Leben spektakulär aus dem Ruder gelaufen ist. Zwölf Jahre, seit ich Sam zuletzt gesehen habe.

Aber es gibt nur eine Antwort.

»Natürlich komme ich.«

2

Sommer, siebzehn Jahre zuvor

Ich glaube nicht, dass meine Eltern, als sie das Cottage kauften, wussten, dass im Haus nebenan zwei halbwüchsige Jungs wohnten. Eigentlich wollten sie mir eine Möglichkeit eröffnen, der Stadt zu entfliehen, sie wollten mir eine Pause verschaffen von anderen Kindern in meinem Alter, und die Florek-Jungs, die nachmittags und abends oft unbeaufsichtigt waren, waren vermutlich eine genauso große Überraschung für sie wie für mich.

Auch ein paar andere aus meiner Klasse hatten Sommerhäuser, aber die befanden sich alle in Muskoka, nur eine kurze Autofahrt Richtung Norden vor den Toren von Toronto, wo das Wort »Cottage« eigentlich nicht recht zu den Villen am felsigen Ufer der dortigen Gegend passte. Dad weigerte sich strikt, in Muskoka auch nur zu suchen. Er meinte, wenn wir dort ein Cottage kauften, könnten wir den Sommer über gleich in Toronto bleiben – es war ihm zu nahe an der Stadt und zu überfüllt mit Menschen von dort. Also konzentrierten er und Mom sich bei der Suche auf ländliche Gemeinden weiter nordöstlich, die meinem Dad dann aber zu erschlossen oder zu überteuert waren, bis sie schließlich etwas in Barry’s Bay fanden, einem einfachen, verschlafenen Dorf, das sich im Sommer in einen geschäftigen Urlaubsort verwandelte, voller Feriengäste und europäischer Touristen auf dem Weg zum Wandern im Algonquin Provincial Park. »Dir wird’s dort gefallen, Kleines«, versprach er. »Das ist noch authentisches Dorfleben.«

Später freute ich mich auf die vierstündige Fahrt von unserem Haus im Stadtzentrum von Toronto an den See, aber das erste Mal kam mir vor wie eine Ewigkeit. Doch schließlich passierten wir das »Willkommen in Barry’s Bay«-Schild, Dad und ich in einer Art Umzugstransporter, gefolgt von Mom in unserem Lexus. Im Gegensatz zu Moms Auto verfügte der Transporter weder über eine anständige Sound- noch über eine Klimaanlage, und ich musste mir die ganze Fahrt über das monotone Brummen von CBC Radio anhören, während die Rückseiten meiner Oberschenkel an den Kunststoffsitzen klebten und mein verschwitzter Pony an der Stirn pappte.

Fast alle Mädchen aus meiner siebten Klasse hatten sich einen Pony wie Delilah Mason schneiden lassen, allerdings stand er keiner von uns so gut wie ihr. Delilah war das beliebteste Mädchen des Jahrgangs, und ich hatte das Glück, mich zu ihren engsten Freundinnen zählen zu dürfen. Früher zumindest, vor der Sache mit der Übernachtungsparty.

Delilahs Pony fiel akkurat über ihre Stirn, wohingegen meiner sowohl der Schwerkraft als auch allen Styling-Produkten trotzte und seltsam bauschig abstand. Dadurch bescherte er mir exakt den Look der unbeholfenen Dreizehnjährigen, die ich auch war, anstatt mich wie die geheimnisvolle Brünette wirken zu lassen, die ich eigentlich sein wollte. Mein Haar war weder glatt noch lockig und schien seine Beschaffenheit abhängig von einer unvorhersehbaren Anzahl von Faktoren zu verändern, vom Wochentag übers Wetter bis hin zu meiner Schlafqualität in der Nacht davor. Während ich alles tat, was ich nur konnte, damit mich die anderen mochten, weigerte sich mein Haar einfach mitzuspielen.

*

Die Bare Rock Lane war eine Schotterpiste, die sich entlang des westlichen Ufers des Kamaniskeg Lake durch die wilde Natur wand, und die Einfahrt, in die Dad einbog, war so ­zugewachsen, dass Zweige seitlich am Transporter entlangschrammten.

»Riechst du das, Kleines?«, fragte Dad und kurbelte das Fenster herunter, während wir über die Einfahrt polterten. Gemeinsam atmeten wir tief ein, und der Geruch der herabgefallenen Kiefernnadeln erfüllte meine Nase, erdig und irgendwie medizinisch.

Wir hielten vor der Hintertür des bescheidenen A-förmigen Nurdachhäuschens, umgeben von hohen Kiefern. Dad schaltete den Motor aus. Mit einem Lächeln unter seinem angegrauten Schnurrbart und mit den faltigen Augen hinter der dunkelrandigen Brille wandte er sich mir zu und sagte: »Willkommen am See, Persephone.«

Im Inneren des Cottage herrschte dieser unglaubliche rauchig-holzige Geruch. Irgendwie verflog er nie, auch nicht, nachdem Mom dort jahrelang ihre teuren Diptyque-Kerzen angezündet hatte. Jedes Mal, wenn ich dort ankam, blieb ich erst mal am Eingang stehen und atmete diesen Duft ein, genau wie damals an unserem ersten Tag. Das Erdgeschoss bestand aus einem offenen Raum, vertäfelt vom Fußboden bis zur ­Decke mit hellen, knorrigen Holzbrettern. Riesige Fenster eröffneten einen fast schon unerträglich atemberaubenden Ausblick über den See.

»Wow«, murmelte ich, als ich eine Treppe entdeckte, die von der Terrasse den steilen Hügel hinabführte.

»Nicht schlecht, oder?« Dad klopfte mir auf die Schulter.

»Ich teste mal das Wasser«, rief ich und flitzte bereits aus der Terrassentür, die hinter mir mit einem begeisterten Klacken zufiel. Ich stürmte Dutzende Stufen hinunter zum Steg. Es war ein schwüler Nachmittag und der Himmel bedeckt von dicken grauen Wolken, die sich im ruhigen silbernen Wasser spiegelten. Ich konnte die Cottages am gegenüberliegenden Ufer kaum erkennen, und ich fragte mich, ob ich wohl hi­nüberschwimmen könnte. Ich setzte mich an den Rand des Steges, ließ die Beine ins Wasser baumeln und war überrascht, wie still es war. Bis Mom mich rief, damit ich beim Auspacken half.

Als wir den Transporter schließlich entladen hatten, waren wir müde und mürrisch vom Kistenschleppen und Mückenabwehren. Ich ließ Mom und Dad weiter die Küche organisieren und ging nach oben. Dort befanden sich zwei Schlafzimmer. Meine Eltern hatten mir dasjenige mit Seeblick überlassen, weil sie meinten, ich würde mehr Zeit in meinem Zimmer verbringen und hätte damit mehr von dem schönen Ausblick. Ich packte meine Klamotten aus, bezog das Bett und drapierte eine bunt gestreifte Hudson’s-Bay-Decke am Fußende. Dad meinte zwar, die schweren Wolldecken seien im Sommer überflüssig, doch Mom hatte auf einer für jedes Bett bestanden.

»Das gehört in Kanada einfach dazu«, erklärte sie in einem Ton, als gäbe es daran überhaupt keinen Zweifel.

Ich türmte einen gefährlich hohen Stapel Taschenbücher auf meinem Nachttisch auf und befestigte ein Der Schreckenvom Amazonas-Poster überm Bett. Für Horror hatte ich eine Vorliebe. Ich schaute haufenweise gruselige Filme, nachdem meine Eltern irgendwann aufgegeben hatten, es mir zu verbieten, und verschlang Bücher von R. L. Stine und Christopher Pike, aber auch neuere Reihen über heiße Teenager, die sich bei Vollmond in Werwölfe verwandelten, und solche, die nach dem Cheerleader-Training Geister jagten. Früher, als ich noch Freunde gehabt hatte, hatte ich die Bücher mit in die Schule genommen, um alle guten (also alle blutrünstigen und ansatzweise scharfen) Stellen laut vorzulesen. Anfangs gefiel es mir einfach, eine Reaktion von den Mädels zu bekommen, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen, aber eben mit Netz und doppeltem Boden in Form von den Worten anderer. Aber je mehr Horrorgeschichten ich las, desto mehr zog mich das Handwerkszeug hinter den Geschichten in den Bann – wie die Autoren unmögliche Situationen glaubhaft machten. Mir gefiel, dass jedes Buch vorhersehbar und einzigartig zugleich war, beruhigend und überraschend. Verlässlich, aber niemals langweilig.

»Pizza zum Abendessen?« Mom stand in der Tür und beäugte das Poster argwöhnisch, sagte jedoch nichts.

»Hier kann man Pizza bestellen?« Barry’s Bay wirkte nicht gerade so, als gäbe es hier Lieferdienste. Und dem war auch so. Also fuhren wir zu einem der beiden Lebensmittelgeschäfte, wo man Pizza mitnehmen konnte.

»Wie viele Menschen leben hier eigentlich?«, fragte ich Mom. Es war sieben Uhr abends, und die meisten Geschäfte in der Hauptstraße sahen aus, als wären sie geschlossen.

»Ungefähr tausendzweihundert, aber ich glaube, im Sommer mit all den Feriengästen sind es eher dreimal so viele«, ­erklärte sie. Abgesehen von einer überfüllten Restaurantterrasse, wirkte das Städtchen wie ausgestorben.

»Samstagabends gehen offenbar alle in das Lokal da vorn«, meinte Mom und fuhr langsamer, als wir das Restaurant mit dem Namenszug The Tavern passierten.

»Scheint hier aber auch die einzige Anlaufstelle zu sein«, meinte ich.

Als wir zurückkamen, hatte Dad schon den kleinen Fern­seher aufgestellt. Es gab zwar keinen Kabelanschluss, aber wir hatten unsere DVD-Sammlung mitgebracht.

»Wie wär’s mit Great Outdoors – Ferien zu dritt?«, schlug Dad vor. »Würde doch passen, oder was meinst du, Kleines?«

»Hmm …« Ich ging in die Hocke, um den Inhalt des Schrankes zu inspizieren. »Blair Witch Project würde auch passen.«

»Das schaue ich mir nicht an!«, protestierte Mom, die gerade Teller und Servietten neben den Pizzakartons auf dem Couchtisch anordnete.

»Dann also Great Outdoors«, meinte Dad und legte die DVD ein. »Ein Klassiker mit John Candy. Perfekt.«

Draußen hatte der Wind aufgefrischt, er strich durch die Kiefernzweige, und auf der Seeoberfläche kräuselten sich Wellen. Die Luft, die von draußen hereindrang, roch nach Regen.

»Ja«, sagte ich und biss in mein Pizzastück, »perfekt.«

*

Ein Blitz zuckte am Himmel, warf ein Schlaglicht auf die Kiefern, den See und die Hügel am gegenüberliegenden Ufer, als hätte jemand mit einer riesigen Kamera ein Foto gemacht.

Ich betrachtete das Gewitter fasziniert von meinem Zimmerfenster aus. Der Ausblick hier war so viel größer als das Stückchen Himmel, das ich von meinem Zimmer in Toronto aus sehen konnte, und der Donner so laut, als grollte er direkt über unserem Cottage, wie bestellt für unsere erste Nacht. Schließlich verklang das ohrenbetäubende Krachen in ent­ferntem Grollen, und ich schlüpfte wieder in mein Bett und lauschte dem Regen, der gegen die Fensterscheibe prasselte.

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war ich für einen Moment irritiert von der hellen Sonne, die durchs Fenster drang, und dem Licht, das sich an der Decke kräuselte. Mom und Dad waren bereits unten und mit Kaffee und Lesematerial ausgestattet – mein Vater saß mit einer Ausgabe von The Economist im Sessel und strich sich gedankenverloren den Bart, und Mom blätterte auf einem Hocker am Küchentresen in einem dicken Designmagazin, während die Brille mit dem übergroßen roten Gestell auf ihrer Nasenspitze balancierte.

»Hast du letzte Nacht den Donner mitbekommen, Kleines?«, fragte Dad.

»War ja schwer zu überhören«, antwortete ich und holte eine Schachtel Frühstücksflocken aus den ansonsten noch ziemlich leeren Schränken. »Ich glaub, ich hab nicht viel geschlafen.«

Nach dem Frühstück packte ich eine Segeltuchtasche – ­Roman, ein paar Zeitschriften, Lippenbalsam und eine Tube Sonnencreme mit LSF 45 – und ging hinunter zum See. Obwohl es in der Nacht geschüttet hatte, war der Steg schon wieder in der Morgensonne getrocknet.

Ich legte mein Handtuch auf den Steg und schmierte mein Gesicht mit Sonnencreme ein, dann legte ich mich auf den Bauch und mein Gesicht auf die Hände. Der nächste Steg auf der einen Seite befand sich bestimmt hundertfünfzig Meter entfernt, aber der auf der anderen Seite war relativ nah. Daran war ein Ruderboot befestigt, und weiter vom Ufer entfernt trieb ein Floß. Ich holte mein Taschenbuch heraus und las dort weiter, wo ich gestern Abend aufgehört hatte.

Ich musste eingenickt sein, denn plötzlich schreckte ich von einem lauten Platschen und fröhlichem Jungsgeschrei auf.

»Ich krieg dich!«, plärrte einer.

»Niemals!«, rief eine etwas tiefere Stimme spöttisch zurück.

Zwei Köpfe wippten auf dem See neben dem Floß vor dem Nachbarsteg. Ich lag noch immer auf dem Bauch und sah zu, wie sie auf das Floß kletterten und abwechselnd kopfüber und mit allerlei Drehungen wieder hineinsprangen. Es war Anfang Juli, aber sie waren beide schon gebräunt. Ich vermutete, dass sie Brüder waren und dass der Kleinere, Dünnere ungefähr in meinem Alter war. Der ältere Junge war einen Kopf größer, und die Muskeln an seinem Oberkörper und den Armen warfen leichte Schatten. Als er den Jüngeren über die Schulter ins Wasser warf, setzte ich mich lachend auf. Bis dahin hatten sie mich nicht bemerkt, aber nun schaute der ältere Junge mit einem breiten Lächeln in meine Richtung. Der kleinere kletterte wieder zu ihm auf das Floß.

»Hey!«, rief der ältere Junge mit einem Winken.

»Hi!«, rief ich zurück.

»Neue Nachbarn?«, fragte er.

»Ja«, brüllte ich zurück.

Der Jüngere stand nur da und starrte, bis ihn der Ältere an der Schulter anstupste.

»Mann, Sam, sag Hallo.«

Sam hob die Hand und starrte mich an, bevor ihn der ältere Junge wieder in den See schubste.

*

Die Florek-Jungs brauchten acht Stunden, um mich zu finden. Ich saß, nachdem ich das Geschirr vom Abendessen abgewaschen hatte, gerade mit meinem Buch auf der Terrasse, als ich ein Klopfen an der Hintertür hörte. Ich verrenkte mir den Hals, konnte aber nicht sehen, mit wem Mom da sprach. Also legte ich das Lesezeichen zwischen die Seiten und erhob mich von meinem Klappstuhl.

»Wir haben vorhin ein Mädchen auf Ihrem Steg gesehen und wollten mal Hallo sagen.« Die Stimme gehörte zu einem Jungen im Teenageralter, sie klang schon leicht tief, aber noch jung. »Mein Bruder hat hier in der Nähe niemanden zum Spielen.«

»Spielen? Ich bin doch kein Baby mehr!«, empörte sich ein zweiter Junge mit gereizter Stimme.

Mom warf mir über die Schulter einen fragenden Blick zu. »Du hast Besuch, Persephone«, sagte sie, und man merkte ihr deutlich an, dass sie nicht gerade erfreut darüber war.

Ich trat zu ihr, zog die Fliegengittertür hinter mir zu und blickte zu den beiden Jungen mit den sandfarbenen Haaren auf, die ich einige Stunden zuvor beim Schwimmen gesehen hatte. Ganz offensichtlich waren sie miteinander verwandt – beide hoch aufgeschossen und gebräunt –, aber genauso augen­scheinlich waren ihre Unterschiede. Der ältere Junge lächelte breit, wirkte frisch geduscht und wusste mit einer Tube Gel umzugehen, wohingegen der jüngere auf seine Fußspitzen starrte und ihm sein lockiger Haarschopf ungezähmt über die Augen fiel. Er trug weite Cargo-Shorts und ein verwaschenes Weezer-T-Shirt, das ihm mindestens eine Nummer zu groß war. Der ältere Junge hatte Jeans an, ein gut sitzendes weißes T-Shirt mit Rundhalsausschnitt und schwarze Chucks, deren Gummikappen in perfektem Weiß strahlten.

»Hi, Persephone, ich bin Charlie«, sagte der Größere mit den tiefen Grübchen und selleriegrünen Augen. Süß. Boyband-süß. »Und das ist mein Bruder Sam.« Er legte dem Jüngeren die Hand auf die Schulter. Sam rang sich hinter seinem Haarschopf ein Lächeln in meine Richtung ab und blickte dann wieder zu Boden. Ich fand, er war groß für sein Alter, aber das ließ ihn schlaksig erscheinen, seine Arme und Beine wirkten wie dürre Äste, an denen sich die Ellenbogen und Knie wie zerklüftete Felsen scharf abzeichneten. Seine Füße sahen aus wie Stolperfallen.

»Äh … hey«, sagte ich, und mein Blick wanderte von einem zum anderen. »Ich glaube, ich hab euch heute unten am See gesehen.«

»Ja, das waren wir«, meinte Charlie, während Sam mit dem Fuß Kiefernnadeln wegkickte. »Wir wohnen nebenan.«

»Etwa das ganze Jahr über?«, fragte ich und machte damit dem ersten Gedanken Luft, der mir in den Sinn kam.

»So ist es«, bestätigte er.

»Wir sind aus Toronto, also ist das hier«, sagte ich und machte eine ausladende Handbewegung auf die Wildnis um uns herum, »ziemlich neu für mich. Ihr habt Glück, dass ihr hier lebt.«

Sam quittierte es mit einem Schnauben, aber Charlie ignorierte ihn einfach und redete weiter.

»Also, Sam und ich würden uns freuen, dir ein bisschen die Umgebung hier zu zeigen. Stimmt’s, Sam?«, fragte er seinen Bruder, ohne dessen Antwort abzuwarten. »Und natürlich kannst du auch immer gerne unser Floß benutzen. Das stört uns nicht«, erklärte er noch immer lächelnd. Er sprach mit dem Selbstvertrauen eines Erwachsenen.

»Cool, das mach ich bestimmt, danke.« Ich erwiderte sein Lächeln zaghaft.

»Hör mal, ich möchte dich um einen Gefallen bitten«, sagte Charlie in verschwörerischem Ton. Hinter Sams sandfarbenem Haarschopf kam ein unwilliger Laut hervor. »Heute Abend kommen ein paar Freunde zu mir, und ich dachte, Sam könnte sich vielleicht solange hier mit dir treffen. Er hat nicht viel Gesellschaft, und du scheinst ungefähr in seinem Alter zu sein«, sagte er und musterte mich.

»Ich bin dreizehn«, erwiderte ich und blickte verstohlen zu Sam, um festzustellen, was er von diesem Vorschlag hielt. Doch er blickte weiter zu Boden. Oder vielleicht auch auf seine U-Boot-artigen Füße.

»Perrrfekt«, schnurrte Charlie. »Sam ist auch dreizehn. Ich bin fünfzehn«, schob er stolz hinterher.

»Glückwunsch«, murmelte Sam.

Charlie fuhr unbeirrt fort: »Also dann, Persephone …«

»Percy«, platzte ich heraus. Charlie schaute mich komisch an. Ich lachte nervös, drehte das Freundschaftsarmband an meinem Handgelenk und erklärte: »Ich werde Percy genannt. Persephone ist … ein bisschen viel Name. Und ein bisschen großspurig.« Sam richtete sich auf und sah mich kurz mit gekräuselter Stirn und Nase an. Sein Gesicht war eigentlich ziemlich unauffällig, kein Zug war besonders einprägsam, bis auf seine Augen, die in einem aufregenden himmelblauen Farbton strahlten.

»Dann also Percy«, stimmte Charlie zu, aber meine Aufmerksamkeit war noch immer auf Sam gerichtet, der mich mit leicht geneigtem Kopf ansah. Charlie räusperte sich. »Also, wie schon gesagt, würdest du mir einen Riesengefallen tun, wenn du meinen Bruder heute Abend beschäftigen würdest.«

»Oh, Mann«, flüsterte Sam, und ich sagte gleichzeitig: »Beschäftigen?« Wir sahen uns blinzelnd an. Ich trat von einem Bein aufs andere und wusste nicht recht, was ich sagen sollte. Es war Monate her, seit ich Delilah Mason so unglaublich ­gekränkt hatte, dass ich seitdem keine Freunde mehr hatte, Monate, seit ich zuletzt etwas mit jemandem in meinem Alter unternommen hatte. Aber das Letzte, was ich wollte, war, dass Sam sich gezwungen sah, Zeit mit mir zu verbringen. Doch bevor ich genau das sagen konnte, meldete sich Sam zu Wort.

»Du musst nicht, wenn du nicht willst.« Es klang entschuldigend. »Er versucht bloß, mich loszuwerden, weil Mom nicht zu Hause ist.« Charlie boxte ihn vor die Brust.

Die Wahrheit war, dass der Wunsch nach Freundschaft bei mir noch größer war als der Wunsch nach einem perfekt sitzenden Pony. Wenn Sam also einverstanden war, könnte ich die Gesellschaft gut gebrauchen.

»Mich stört’s nicht«, sagte ich zu ihm und fügte mit gespieltem Selbstbewusstsein hinzu: »Als Gegenleistung kannst du mir ja beibringen, wie man einen Salto vom Floß macht.« Er schenkte mir ein Grinsen. Es war schief, aber großartig, und seine Augen funkelten dabei wie Meeresglas vor sonnengeküsster Haut.

Das habe ich gemacht, dachte ich, und ein Kitzel durchfuhr mich. Ich hätte es am liebsten direkt wiederholt.

3

Jetzt

Mein jugendliches Ich würde es nicht glauben, aber ich habe kein Auto. Als Teenager war ich entschlossen, später meinen eigenen fahrbaren Untersatz zu besitzen, damit ich immer, wenn ich am Wochenende Zeit hatte, nach Norden fahren könnte. Heute beschränkt sich mein Leben hauptsächlich auf das recht grüne Stadtviertel im Westen von Toronto, in dem ich wohne, und auf die Innenstadt, wo ich arbeite. Ins Büro, das Fitnessstudio und zu meinen Eltern gelange ich entweder zu Fuß oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln.

Ich habe sogar Freunde, die nicht mal einen Führerschein gemacht haben; sie zählen zu der Sorte von Leuten, die damit prahlen, dass sie nie weiter als nördlich der Bloor Street kämen. Ihr ganzes Leben beschränkt sich auf eine hippe, kleine urbane Bubble, und sie sind stolz darauf. Mein Leben ebenfalls, aber manchmal habe ich das Gefühl zu ersticken.

Die Wahrheit ist, dass die Stadt nicht mehr wirklich mein Zuhause ist, seit ich mich mit dreizehn in den See und das Cottage und die wilde Natur drum herum verliebt habe. Aber meistens erlaube ich mir nicht, darüber nachzudenken. Ich habe gar keine Zeit dazu. Die Welt, die ich mir aufgebaut habe, trägt die Insignien urbaner Geschäftigkeit aus Überstunden, Fitnesskursen und zahllosen Verabredungen zum Brunch. Mir gefällt das so. Ein vollgestopfter Kalender bereitet mir große Genugtuung. Aber hin und wieder ertappe ich mich bei dem Gedanken, wie es wohl wäre, der Stadt zu entfliehen – irgendwo am Wasser einen kleinen Ort zu finden, wo ich schreiben könnte und nebenbei in einem Café arbeiten würde, um meine Rechnungen zu bezahlen – und dann fühlt sich meine Haut zu eng an, als würde mein derzeitiges Leben da nicht reinpassen.

Aber solche Gedanken würden so ziemlich jeden um mich herum vollkommen überraschen. Ich bin eine dreißigjährige Frau, die weitgehend alles im Griff hat. Meine Wohnung befindet sich im obersten Stockwerk eines Gebäudes in Ron­cesvalles, einem polnisch geprägten Viertel, wo man ganz ­passable Piroggen bekommt. Meine Wohnung ist toll, mit frei liegenden Balken und Dachschrägen. Sicher, sie ist winzig, aber ein Ein-Zimmer-Apartment in diesem Stadtteil ist nicht gerade billig, und mein Gehalt beim Shelter Magazine … eher bescheiden. Okay, es ist beschissen, aber das ist im Medienbereich nun mal so. Und auch wenn mein Gehalt nicht so toll ist, mein Job ist es sehr wohl.

Ich bin seit vier Jahren beim Shelter Magazine und habe mich stetig hochgearbeitet von der kleinen Redaktionsassistentin bis zur leitenden Redakteurin. Das versetzt mich in die verantwortungsvolle Position, für das größte Einrichtungs­magazin des Landes Storys in Auftrag zu geben und Foto­shootings zu überwachen. Des Weiteren ist es zum großen Teil meinem Einsatz zu verdanken, dass wir eine treue Followerschaft auf Social Media aufgebaut haben und online ein riesiges Publikum erreichen. Ich liebe meine Arbeit und bin gut darin, und auf der Feier zum vierzigjährigen Firmenjubiläum würdigte mich meine Chefredakteurin Brenda dafür, die Zeitschrift ins digitale Zeitalter geführt zu haben. Das war ein echter Karrierehöhepunkt.

Als Redakteurin bei einem Hochglanzmagazin zu arbeiten wirkt in den Augen der Leute extrem glamourös. Es klingt nach schnelllebiger Glitzerwelt, aber wenn ich ehrlich bin, besteht mein Job hauptsächlich darin, dass ich den ganzen Tag in einer Box im Großraumbüro sitze und Synonyme für das Wort »minimalistisch« google. Aber es gibt auch Produktpräsentationen und Essen mit hippen Nachwuchsdesignern. Außerdem ist es die Art von Job, bei dem Spitzenanwälte und aufstrebende Banker direkt nach rechts swipen, was sich bei der Suche nach Dates für die Cocktailparty-Parade als durchaus nützlich erweist. Und dann wären da noch weitere Vorteile wie Pressereisen, Champagnerbars und eine obszöne Menge an kostenlosem Zeug. Hinzu kommt ein endloser Strom an Branchen-Klatsch und -Tratsch, den Chantal und ich durchkauen können, unsere Lieblingsbeschäftigung an Donnerstagabenden. (Und abgesehen davon wird meine Mutter niemals müde, den Namen Persephone Fraser im Impressum des Magazins nachzuschlagen.)

Charlies Anruf dringt da wie eine Axt in meine Bubble, und ich bin so wild darauf, mich wieder nach Norden aufzumachen, dass ich mir gleich nach dem Auflegen für den nächsten Tag einen Mietwagen und ein Motel buche, obwohl die Beerdigung erst in ein paar Tagen stattfinden wird.

*

Ich schreibe eine E-Mail an meine Eltern, um ihnen von Sue zu erzählen. Allerdings weiß ich nicht, wann sie die lesen werden, weil sie ihren Posteingang während ihrer Europareise nicht regel­mäßig checken. Außerdem habe ich keine Ahnung, ob sie in den letzten Jahren noch Kontakt zu Sue hatten. Mom stand mindestens noch ein paar Jahre mit ihr in Kontakt, nachdem Sam und ich »Schluss gemacht« hatten, aber jedes Mal, wenn sie die Floreks erwähnte, stiegen mir die Tränen in die Augen. Irgendwann hörte sie dann auf, mich auf dem Laufenden zu halten.

Ich halte die E-Mail kurz, und als ich fertig bin, stopfe ich ein paar Klamotten in meinen teuren Rollkoffer, den ich mir eigentlich gar nicht leisten konnte, aber trotzdem gekauft habe. Es ist bereits weit nach Mitternacht, und ich habe morgen früh noch ein Interview zu führen und dann eine lange Fahrt vor mir, also schlüpfe ich in meinen Pyjama, lege mich hin und schließe die Augen. Aber ich bin zu aufgedreht zum Schlafen.

Es gibt da diese Momente, auf die ich immer zurückkomme, wenn ich besonders nostalgisch werde, wenn ich es mir nur noch in meiner Vergangenheit mit Sam gemütlich machen möchte. Ich kann sie im Geiste abspielen wie alte Videokassetten. Als ich noch studierte, spielte ich sie mir jeden Abend beim Schlafengehen vor, eine Routine, die mir so vertraut wurde wie die fusselige Hudson’s-Bay-Decke, die ich aus dem Cottage mitgenommen habe. Doch die Erinnerungen und das Bedauern, das sie mit sich brachten, wetzten sich langsam ab wie die alte Wolldecke, also verbrachte ich Nächte damit, mir vorzustellen, wo Sam sich wohl in genau diesem Moment aufhielt, und mich zu fragen, ob er vielleicht auch an mich dachte. Manchmal war ich mir sicher, dass er es tat – als gäbe es einen unsichtbaren, unzerstörbaren Faden, der sich unendlich ausdehnte und uns auch über riesige Entfernungen hinweg verband. Aber manchmal dämmerte ich auch während eines Films in meinem Kopfkino weg und schreckte dann mitten in der Nacht hoch, weil meine Lunge sich anfühlte, als würde sie gleich kollabieren, und dann musste ich gegen die aufkommende Panikattacke anatmen.

Gegen Ende meines Studiums hatte ich einen Weg gefunden, die allabendlichen Vorstellungen abzuschalten, indem ich mich stattdessen auf kommende Prüfungen, Artikel-Deadlines und Praktika-Bewerbungen konzentrierte, und die Panikattacken ließen nach.

Aber an diesem Abend kann ich mich nicht von den Erinnerungen abhalten. Ich rufe unsere ersten Male auf – das erste Mal, als wir uns trafen, unseren ersten Kuss, das erste Mal, als Sam mir sagte, dass er mich liebt –, bis es langsam zu mir durchdringt, dass ich ihn wiedersehen werde, und meine Gedanken sich in einen Strudel aus Fragen verwandeln, auf die ich keine Antworten habe. Wie wird er auf mein Auftauchen reagieren? Wie sehr hat er sich verändert? Ist er Single? Oder, verdammt, ist er vielleicht verheiratet?

Meine Therapeutin Jennifer – nicht Jen, auf keinen Fall, ich habe einmal den Fehler gemacht, sie so zu nennen, und wurde scharf zurechtgewiesen. Aber hey, bei dieser Frau hängen gerahmte Sprüche an der Wand (»Das Leben beginnt erst nach dem ersten Kaffee«, oder »Ich bin nicht seltsam, ich bin eine Limited Edition«), also weiß ich nicht, welche Würde ihr der volle Name verleihen soll. Wie dem auch sei, Jennifer hat ein paar Tricks auf Lager, wie man mit solchen Angstspiralen umgehen kann, aber tiefes Bauchatmen oder Mantras können in dieser Nacht auch nichts ausrichten. Mit den Sitzungen bei Jennifer habe ich vor ein paar Jahren angefangen, kurz nach Thanksgiving, als ich Rosé gekotzt und Chantal mein Herz ausgeschüttet hatte. Ich wollte eigentlich keine Therapie machen. Ich dachte, diese Panikattacke sei nur ein kleiner Rückfall auf dem (ansonsten recht erfolgreichen) Weg, Sam Florek aus meinem Leben und Kopf zu verbannen. Aber Chantal blieb hartnäckig. »Für diesen Scheiß werde ich nicht bezahlt, Percy«, sagte sie mir mit der für sie so typischen Direktheit.

Chantal und ich lernten uns als Praktikantinnen bei dem Stadtmagazin kennen, bei dem sie jetzt Unterhaltungsredakteurin ist. Wir freundeten uns bei der merkwürdigen Aufgabe an, Restaurantkritiken faktenzuchecken (Also, der Heilbutt hat einen Mantel aus geriebenen Pinienkernen und keine Pistazienpanade?), und wegen der absurden Tennis-Obsession unseres Chefredakteurs. Der Moment, der unsere Freundschaft besiegelte, ergab sich während einer Redaktionssitzung, die der Chefredakteur buchstäblich mit den Worten »Ich habe viel über Tennis nachgedacht« eröffnete, woraufhin er sich direkt an Chantal wandte, die das einzige schwarze Mitglied der Redaktion war, und meinte: »Sie können doch bestimmt super Tennis spielen.« Chantal ließ sich nichts anmerken, als sie erwiderte, sie spiele überhaupt kein Tennis, und ich platzte im selben Moment heraus: »Ist das Ihr Ernst?«

Chantal ist meine engste Freundin – nicht, dass es da viel Konkurrenz gäbe. Meine Zurückhaltung, mit anderen Frauen peinliche oder intime Details über mich selbst zu teilen, macht mich in deren Augen verdächtig. Zum Beispiel wusste Chantal zwar von unserem Cottage und dass ich mit den Nachbarsjungen befreundet war, aber sie hatte keine Ahnung, welche Art von Beziehung ich wirklich mit Sam hatte – oder dass sie mit einem schrecklichen Knall endete, der keine Überlebenden zurückließ. Ich glaube, die Tatsache, dass ich so einen wichtigen Teil meiner Geschichte lange vor ihr geheim gehalten hatte, schockte sie mehr als das, was damals passiert war.

»Du weißt schon, wozu Freunde da sind, oder?«, fragte sie mich, nachdem ich ihr die schlimme Wahrheit erzählt hatte. In Anbetracht der Tatsache, dass meine zwei bisher engsten Freunde nicht mehr mit mir redeten, hätte die Antwort wohl nicht wirklich lauten müssen.

Aber ich bin Chantal bis jetzt immer eine gute Freundin gewesen. Bei mir lästert sie über die Arbeit oder über ihre zukünftige Schwiegermutter, die ihr ständig suggeriert, sich für die Hochzeit doch die Haare glätten zu lassen. Chantal inte­ressiert sich nicht für Hochzeitsgedöns, abgesehen von der großen Party, die sie haben will, mit einer offenen Bar und einem Wahnsinnskleid. Aber weil das Fest ja irgendwie zustande kommen muss, bin ich jetzt die Ersatzplanerin und stelle Pinterest-Boards mit Dekoideen zusammen. Auf mich kann man sich verlassen. Ich bin eine gute Zuhörerin. Ich bin diejenige, die weiß, welches coole neue Restaurant den heißesten Koch hat. Ich mixe hervorragende Manhattans. Mit mir kann man Spaß haben! Ich will bloß einfach nicht darüber reden, was mich nachts wach hält. Ich will nicht verraten, dass ich immer öfter darüber nachdenke, ob es mich wirklich glücklich gemacht hat, die Karriereleiter zu erklimmen, dass ich manchmal gerne wieder mit dem Schreiben anfangen würde, aber nicht so recht den Mut dazu aufbringe, oder wie einsam ich mich manchmal fühle. Chantal ist der einzige Mensch, der so etwas aus mir herausbekommt.

Aber meine Zurückhaltung, mit Chantal über Sam zu reden, hat nichts damit zu tun, ob ich manchmal an ihn denke oder nicht. Natürlich tue ich das. Allerdings bemühe ich mich, es möglichst nicht zu tun, und ich gerate nur selten ins Wanken. Seit ich die Therapie angefangen habe, hatte ich keine Panikattacke mehr. Ich denke, ich bin in den letzten zehn Jahren darüber hinausgewachsen. Ich denke, dass ich all das hinter mir gelassen habe. Und trotzdem schimmert hin und wieder die Sonne auf eine Art im Lake Ontario, dass es mich an das Cottage erinnert, und dann bin ich wieder mit ihm auf dem Floß.

*

Meine Hände zittern so sehr, als ich versuche, das Formular der Autovermietung auszufüllen, dass ich beinahe überrascht bin, als der Angestellte mir den Schlüssel aushändigt. Brenda war sehr verständnisvoll, als ich darum bat, mir den Rest der Woche freinehmen zu können. Ich erzählte ihr, ich hätte einen Todesfall in der Familie, und obwohl es sich streng genommen um eine Lüge handelte, war Sue gefühlt wirklich ein Teil meiner Familie. Zumindest war sie das einmal gewesen.

Eigentlich hätte ich die Wahrheit gar nicht strapazieren müssen, denn ich habe dieses Jahr bisher genau einen Tag Urlaub genommen für ein verlängertes Wellness-Wochenende mit Chantal zum Valentinstag. Seit wir beide Freundinnen sind, begehen wir diesen Tag gemeinsam, und kein Freund oder Verlobter wird dieser Tradition je ein Ende setzen.

Kurz ziehe ich in Betracht, Chantal nicht zu erzählen, wohin ich fahre, aber dann male ich mir aus, dass ich einen Unfall habe und dann keiner weiß, warum ich mich überhaupt auf diesem Highway fernab der Stadt befunden habe. Also schreibe ich ihr vom Parkplatz der Autovermietung aus eine kurze Nachricht und hänge vorsichtshalber, bevor ich sie abschicke, noch ein paar fröhliche Ausrufezeichen hinten dran: Deine Party war super!!! (Bisschen zu super vielleicht! Der letzte Spritz war schlecht!) Bin ein paar Tage nicht in der Stadt. Auf dem Weg zu einer Beerdigung. Sams Mutter.

Sekunden später summt ihre Antwort herein: DER Sam??? Bist du ok?

Die Antwort lautet Nein.

Wird schon, schreibe ich zurück.

Mein Handy fängt an zu vibrieren, sobald ich die Nachricht abgeschickt habe, aber ich lasse die Mailbox anspringen. Ich habe kaum geschlafen und laufe bloß auf Adrenalin und den zwei Bottichen Kaffee, die ich heute Morgen während des Interviews mit einem total selbstverliebten Tapetendesigner gekippt habe. Ich möchte jetzt wirklich nicht reden.

Nachdem ich die Stadt endlich hinter mir gelassen habe und auf die 401 aufgefahren bin, bekomme ich solche Bauchkrämpfe, dass ich an einer Raststätte rausfahren und eine Notfall-Toilettenpause einlegen muss.

Ich fühle mich noch immer zittrig, als ich mit einer Flasche Wasser und einem Muffin bewaffnet wieder ins Auto steige. Aber während ich weiter Richtung Norden fahre, überkommt mich eine surreale Ruhe. Schließlich brechen felsige Aufschlüsse aus Granit aus der Landschaft hervor, und im Gestrüpp am Straßenrand tauchen Schilder auf, die für Lebendköder und Chippertrucks werben. Es ist so lange her, dass ich hier entlanggefahren bin, und doch kommt mir alles so vertraut vor – als würde ich zurück in einen anderen Abschnitt meines Lebens fahren.

Das letzte Mal, als ich diese Fahrt unternommen habe, war ein Thanksgiving-Wochenende. Auch damals war ich alleine unterwegs und heizte mit meinem gebrauchten Toyota hoch, den ich mir von meinen Trinkgeldern geleistet hatte. Ich fuhr die ganzen vier Stunden durch. Ich hatte Sam seit quälend langen drei Monaten nicht gesehen und wollte nur, dass er mich in die Arme schloss, mich sein Körper umfing und ich ihm die Wahrheit sagen konnte.

Hätte ich damals ahnen können, dass mir dieses Wochenende sowohl den schönsten als auch den schrecklichsten Moment meines Lebens bescheren würde? Wie schnell sich alles zum sehr, sehr Schlimmen wenden würde? Dass ich Sam danach nie wiedersehen würde? Mein Fehler war schon Monate zuvor passiert, aber hätte ich die Nachbeben, die die heftigste Zerstörung auslösten, noch irgendwie verhindern können?

Mein Magen vollführt eine Fahrt mit der Achterbahn, sobald ich einen Blick auf das südliche Ende des Sees erhasche, und ich atme tief ein – eins, zwei, drei, vier – und aus – eins, zwei, drei, vier –, bis ich am Cedar Grove Motel am Ortsrand angekommen bin.

Als ich einchecke, ist es bereits später Nachmittag. Ich kaufe eine Ausgabe der Lokalzeitung von dem älteren Mann am Hotelempfang und fahre mit dem Auto vor das Zimmer 106. Es ist sauber und nichtssagend. Die einzigen Farbtupfer sind ein typischer Druck von einem Hirsch im Wald über dem Bett und ein ausgefranster Quilt, der am Anfang seines langen Lebens vermutlich einmal burgunderrot war.

Ich hänge das schwarze Etuikleid auf, das ich für die Beerdigung in den Koffer gepackt habe, setze mich an den Bettrand und trommle nervös mit den Fingern auf meinen Oberschenkeln herum, während ich aus dem Fenster schaue. Das nördliche Ende des Sees, der Stadthafen und der öffentliche Strand sind gerade so zu sehen. Ich habe ein kribbeliges Gefühl. Es fühlt sich falsch an, so nah am Wasser zu sein und nicht zum Cottage zu fahren. Ich habe meinen Badeanzug und ein Handtuch eingepackt, also könnte ich rüber an den Strand gehen, aber ich möchte nur von meinem Steg aus hineinspringen. Das Problem ist allerdings: Es ist nicht mehr mein Steg.

4

Sommer, siebzehn Jahre zuvor

Noch nie zuvor war ein Junge in meinem Zimmer gewesen, bis zu jenem Abend, als Charlie Sam vor unserer Haustür absetzte. Sobald wir allein waren, bekam ich vor Nervosität kein Wort mehr heraus. Aber Sam schien dieses Problem nicht zu haben.

»Was ist Persephone überhaupt für ein Name?«, fragte er und stopfte sich einen dritten Oreo-Keks in den Mund. Wir saßen auf dem Boden, auf Moms Beharren hin bei geöffneter Tür. Wenn man bedachte, wie mürrisch er anfangs gewesen war, war er nun ausgesprochen gesprächig. Innerhalb weniger Minuten erfuhr ich, dass er bereits sein ganzes Leben nebenan lebte, er nächsten Herbst auch in die achte Klasse käme und dass er Weezer zwar ganz gerne mochte, er das T-Shirt aber bloß von seinem Bruder geerbt hatte. »So wie so ziemlich all meine Klamotten«, erklärte er nüchtern.

Mom hatte nicht gerade erfreut geguckt, als ich sie gefragt hatte, ob Sam den Abend bei uns verbringen könnte. »Ich weiß nicht, ob das die beste Idee ist, Persephone«, hatte sie ­zögerlich eingewandt – »in seiner Anwesenheit« – und dann fragend meinen Vater angesehen. Ich glaube, es lag weniger daran, dass Sam ein Junge war, sondern an der Tatsache, dass Mom mich wenigstens zwei Monate von anderen Teenagern fernhalten wollte, bevor wir wieder nach Toronto zurückkehren würden.

»Sie kann einen Freund gebrauchen«, hatte mein Vater erwidert, um meine Demütigung komplett zu machen. Ich hatte meine Haare vors Gesicht fallen lassen, Sam am Arm gefasst und ihn zur Treppe gezogen.

Es waren keine fünf Minuten vergangen, bis Mom nach uns gesehen hatte, mit einem Teller voll Oreos in der Hand, als wären wir sechs. Es hätte mich nicht überrascht, wenn sie auch noch zwei Gläser Milch angeschleppt hätte. Wir mampften gerade die Kekse und krümelten uns mit schwarzen Bröseln voll, als Sam das mit meinem Namen fragte.

»Der stammt aus der griechischen Mythologie«, erklärte ich ihm. »Meine Eltern sind totale Nerds. Persephone ist die Göttin der Unterwelt. Passt nicht gerade zu mir.«

Er betrachtete erst das Der Schrecken des Amazonas-Poster, dann den Stapel Horror-Taschenbücher auf meinem Nachttisch und sah mich mit hochgezogener Augenbraue an.

»Weiß nicht. Göttin der Unterwelt? Scheint ganz gut zu dir zu passen. Klingt ziemlich cool, finde ich …« Er verstummte, und sein Gesicht bekam einen ernsten Ausdruck. »Persephone, Persephone …« Er drehte und wendete meinen Namen in seinem Mund, als versuchte er herauszufinden, wie er schmeckte. »Gefällt mir.«

»Von was ist Sam denn die Abkürzung?«, erkundigte ich mich und merkte, wie meine Hände und mein Hals heiß wurden. »Samuel?«

»Nee.« Er grinste.

»Samson? Samwise?«

Er zuckte mit dem Kopf zurück, als hätte ich ihn überrascht.

»Herr der Ringe, nicht schlecht.« Seine Stimme überschlug sich leicht beim Wort »schlecht«, und er grinste mich schief an, was ein weiteres Kribbeln durch mich hindurchjagte. »Aber nein. Einfach nur Sam. Meiner Mutter gefallen kurze Namen für Jungs – wie Sam und Charles. Sie meint, sie klingen stärker, wenn sie nicht so viele Silben haben. Aber manchmal, wenn sie echt sauer ist, nennt sie mich Samuel. Sie meint, da hat sie mehr, mit dem sie arbeiten kann.«

Darüber musste ich lachen, und sein Grinsen verwandelte sich in ein richtiges, strahlendes Lächeln, das sich auf einer Seite weiter hochzog als auf der anderen. Er hatte so eine lockere Art, als wäre er nicht zwingend darauf bedacht, sich bei anderen beliebt zu machen. Das gefiel mir. Genauso wollte ich sein.

Ich verputzte noch einen Keks, als Sam weiterredete. »Was hat dein Dad vorhin eigentlich gemeint?«

Ich tat so, als wüsste ich nicht, worauf er hinauswollte. Irgendwie hatte ich gehofft, er hätte es nicht mitbekommen. Sam blinzelte und fuhr leise fort: »Von wegen, dass du einen Freund gebrauchen könntest.«

Ich zuckte zusammen, dann schluckte ich, weil ich nicht wusste, was ich sagen oder wie viel ich ihm erzählen sollte.

»Ich hatte dieses Jahr einige«, ich deutete mit den Fingern Gänsefüßchen an, »Probleme mit ein paar Mädels aus meiner Klasse. Sie mögen mich nicht mehr.« Ich nestelte an dem Armband an meinem Handgelenk herum, während Sam meine Erklärung sacken ließ. Als ich verstohlen zu ihm aufblickte, sah er mich direkt an, mit zusammengezogenen Augenbrauen, als wäre er dabei, eine mathematische Gleichung zu lösen.

»Aus meiner Klasse wurden letztes Jahr zwei Mädchen wegen Mobbing geschmissen«, sagte er schließlich. »Sie haben die Jungs angestiftet, ein bestimmtes Mädchen zum Spaß um Dates zu bitten, und dann haben sie sie damit aufgezogen, dass sie darauf reingefallen ist.«

Sosehr sie mich auch verabscheute, ich glaube nicht, dass Delilah so weit gegangen wäre. Ich fragte mich, ob Sam auch an dem Streich beteiligt gewesen war, und als könnte er mein Hirn arbeiten sehen, sagte er: »Sie wollten, dass ich auch mitmache, hab ich aber nicht. Es kam mir fies vor und ziemlich scheiße.«

»Es ist total scheiße«, sagte ich erleichtert.

Er behielt seine blauen Augen auf mich gerichtet und wechselte das Thema. »Erzähl mal, was ist das für ein Armband, an dem du da die ganze Zeit herumspielst.« Er zeigte auf mein Handgelenk.

»Ach, das ist mein Freundschaftsarmband.«

Bevor ich eine Ausgestoßene wurde, war ich an meiner Schule für zwei Dinge bekannt: meine Liebe für Horrorgeschichten und meine Freundschaftsarmbänder. Ich knotete sie in kunstvollen Mustern, aber am wichtigsten waren die richtigen Farben. Ich wählte die Farbkombination immer ganz sorgfältig aus, damit sie die Persönlichkeit des Trägers reflektierte. Für Delilah bestand sie aus verschiedenen Pinktönen und tiefen Rottönen – feminin und kraftvoll. Mein eigenes Armband wies eine trendige Mischung aus Neonorange, Neonpink, Pfirsichfarben, Weiß und Grau auf. Delilah war immer schon das hübscheste und beliebteste Mädchen unserer Klasse gewesen, und auch wenn die anderen mich mochten, verdankte ich meinen Status hauptsächlich meiner Nähe zu ihr. Als ich dann Anfragen für Armbänder von allen Mädchen aus unserer Klasse und sogar einigen Achtklässlerinnen bekam, hatte ich das Gefühl, endlich mein ganz eigenes Ding gefunden zu haben und nicht mehr bloß Delilahs Anhängsel zu sein. Ich fühlte mich kreativ und cool und interessant. Aber eines Tages fand ich die Armbänder, die ich für meine drei besten Freundinnen gemacht hatte, zerschnitten auf meinem Pult vor.

»Von wem hast du das bekommen?«, fragte Sam.

»Oh … na ja, von niemandem. Hab ich selbst gemacht.«

»Das Muster ist richtig cool.«

»Danke!«, sagte ich erfreut. »Ich hab das ganze Jahr geübt. Ich finde, die Neonfarben und der Pfirsichton sind ’ne echt abgefahrene Mischung.«

»Absolut«, sagte er und beugte sich darüber. »Könntest du mir auch eins machen?«, fragte er und sah wieder zu mir hoch. Das war kein Witz. Ich sprang auf und holte die Box mit dem Stickgarn von meinem Schreibtisch. Ich stellte das Holzkästchen mit meinen eingeschnitzten Initialen auf dem Deckel am Boden zwischen uns ab.

»Ich habe jede Menge verschiedener Farben, aber ich weiß nicht, ob da was dabei ist, das dir gefällt«, meinte ich und holte die Garnschlaufen in allen Regenbogenfarben heraus. Ich hatte noch nie ein Armband für einen Jungen geknüpft. »Aber sag mir, was du magst, und wenn ich es nicht habe, dann kann ich Mom fragen, ob sie mit mir in den Ort fährt, und ich schau, ob ich es kriege. Normalerweise kenne ich die Leute etwas besser, bevor ich ein Armband für sie mache. Klingt vielleicht bescheuert, aber ich versuche, dass die Farben zur Persönlichkeit passen.«

»Das klingt überhaupt nicht bescheuert«, meinte er. »Und was sagen diese Farben über dich?« Er streckte die Hand aus und zupfte an einem der Fäden, die an meinem Handgelenk baumelten. Seine Hände waren wie seine Füße, zu groß für seinen restlichen Körper. Sie erinnerten mich an die übergroßen Pfoten von Schäferhundwelpen.

»Na ja … sie bedeuten nicht wirklich etwas«, stammelte ich. »Ich fand nur, dass es eine komplexe Mischung ist.« Ich wandte mich wieder dem Stickgarn zu und reihte es ordentlich von hell nach dunkel und nach Farben sortiert auf dem Holzboden zwischen uns auf. »Vielleicht könnte ich Blautöne nehmen, passend zu deinen Augen?«, dachte ich laut nach. »Ich hab zwar nicht besonders viel Blau, aber dann muss ich halt noch ein paar mehr Töne besorgen.« Ich schaute zu Sam, um herauszufinden, was er dachte, doch er beachtete das Garn überhaupt nicht. Er starrte mich an.

»Schon okay«, sagte er. »Ich will genauso eins wie deins.«

*

Am nächsten Morgen schlang ich mein Frühstück hinunter und rannte dann mit meiner Garnschatulle zum Wasser. Ich setzte mich im Schneidersitz auf den Steg und befestigte das Armband mit einer Sicherheitsnadel an meiner kurzen Hose, um schon mal daran zu arbeiten, während ich auf Sam wartete.

Als seine trampelnden Schritte auf dem Steg nebenan erklangen, war es fast so, als wären sie direkt neben mir. Er trug dieselben dunkelblauen Shorts wie tags zuvor; es sah aus, als könnten sie ihm jeden Moment von den schmalen Hüften rutschen. Ich winkte ihm zu, er hob die Hand, hechtete dann vom Ende seines Stegs und paddelte auf mich zu. In weniger als einer Minute war er vor meinem Steg angekommen.

»Du bist schnell«, sagte ich beeindruckt. »Ich habe Schwimmunterricht genommen, aber ich bin nicht annähernd so gut wie du.«

Sam schenkte mir sein schiefes Grinsen, hievte sich aus dem See und ließ sich neben mich fallen. Wasser tropfte ihm vom Haar und lief ihm in kleinen Rinnsalen übers Gesicht und den Brustkorb, der sich fast nach innen wölbte. Falls er irgendwie befangen war, so halb nackt neben einem Mädchen, ließ er es sich nicht anmerken. Er zupfte an den Fäden des Stickgarns, mit denen ich arbeitete.

»Wird das mein Armband? Sieht super aus.«

»Hab noch gestern Abend damit angefangen«, erzählte ich ihm. »Es dauert gar nicht so lange, eins zu machen. Morgen sollte es fertig sein.«

»Super.« Er zeigte zum Floß hinaus. »Bereit, dir deine Bezahlung abzuholen?« Sam hatte mir zum Tausch für ein Armband angeboten, mir zu zeigen, wie man einen Salto vom Floß machte.

»Auf jeden Fall«, sagte ich, nahm meine Baseballkappe von den Toronto Jays ab und rieb mein Gesicht ausgiebig mit LSF 45 ein.

»Du nimmst es echt genau mit dem Sonnenschutz, was?« Er nahm die Kappe in die Hand.

»Schätze schon. Na ja, nee, ich will bloß einfach keine Sommersprossen haben, und die bekomme ich von der Sonne. Auf den Armen und so finde ich’s noch okay, aber ich will sie nicht überall im Gesicht.« Was ich wollte, war ein cremig makel­loser Teint wie Delilah Mason.

Er schüttelte verdutzt den Kopf, dann leuchteten seine Augen auf. »Wusstest du, dass Sommersprossen durch eine Überproduktion von Melanin entstehen, die durch die Sonne hervorgerufen wird?«

Ich starrte ihn mit offenem Mund an.

»Was?«, meinte er. »Das stimmt.«

»Nein, ich glaub’s dir ja«, erwiderte ich zögernd. »Ist bloß ziemlich willkürliches Faktenwissen, das du da auf Lager hast.«

Er grinste. »Ich werde mal Arzt. Ich kenne viel«, er malte Gänsefüßchen in die Luft, »willkürliches Faktenwissen, wie du es nennst.«

»Weißt du echt schon, was du mal werden willst?«

Ich war total erstaunt. Ich hatte keinen Plan, was ich später mal machen wollte. Nicht mal ansatzweise. Englisch war mein bestes Fach, und ich schrieb gerne, aber ich hatte noch nie wirklich darüber nachgedacht, einen Erwachsenenjob zu haben.

»Ich wollte schon immer Arzt werden, Kardiologe, aber meine Schule ist nicht besonders. Ich will nicht ewig hier festsitzen, also lerne ich Dinge auf eigene Faust. Meine Mutter bestellt mir online auch gebrauchte Fachbücher«, erklärte er.