Dieser Sommer wird anders - Carley Fortune - E-Book

Dieser Sommer wird anders E-Book

Carley Fortune

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Beschreibung

Diesen Sommer werden sie ihr Versprechen halten. Diesen Sommer werden sie der Versuchung nicht nachgeben. Dieser Sommer wird anders sein.

Sonnendurchflutete Buchten, rostfarbene Klippen, wogendes Dünengras. Normalerweise löst der Anblick von Prince Edward Island Glücksgefühle in Lucy aus. Doch diesmal ist sie notgedrungen ihrer besten Freundin gefolgt, die neun Tage vor ihrer Hochzeit auf die kanadische Insel geflüchtet ist. Lucys Mission steht fest: Bridget durch die Krise helfen und sie so schnell wie möglich zurück nach Toronto bringen. Und Bridgets Bruder Felix nicht zu nahe kommen. Doch als sie das erste Mal wieder in seine gletscherblauen Augen blickt, schwindet plötzlich ihre Willenskraft. Lucy wird von Erinnerungen überfallen, bei denen ihr heiß wird: an sonnige Tage am Strand und leidenschaftliche Nächte. An Felix‘ Grübchen und die magisch wirkende Anziehungskraft zwischen ihnen. Und an ein Versprechen, das sie geschworen hat, um jeden Preis zu halten. Lucys Entschluss steht fest: Dieser Sommer wird anders. Diesen Sommer werden sie und Felix der Versuchung widerstehen.

Wollen Sie noch mehr Sehnsucht, Sonnenschein und Nostalgie von der Bestsellerautorin? Lesen Sie auch »Fünf Sommer mit dir« und »Nächsten Sommer am See«!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 476

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Carley Fortune ist eine preisgekrönte kanadische Journalistin. Unzählige Leserinnen träumen sich mit ihren nostalgischen Liebesgeschichten an die schönsten Urlaubsorte Kanadas. Nach ihren erfolgreichen Romanen Fünf Sommer mit dir und Nächsten Sommer am See stürmte auch Dieser Sommer wird anders sofort auf Platz 1 in den USA und Kanada und wurde zu einem weltweiten TikTok-Hit. Carley Fortune lebt mit ihrer Familie in Toronto.

Begeisterte Stimmen über Dieser Sommer wird anders:

»Knisternde sexuelle Spannung.« The Times

»Ein Liebesroman zum Dahinschmelzen. Dieses Buch gehört in jede Strandtasche!« WOMAN & HOME

»Was für ein verträumter und sexy Sommerroman. Carley Fortune weiß, wie man Herzen erobert.« Kiley Reid

»Eine tiefgründige und schillernde Geschichte über Freundschaft, Sex und vor allem Liebe. Seien Sie bereit, zu weinen, in Ohnmacht zu fallen, Schmerz zu empfinden und innerlich zu jubeln. Einfach umwerfend!« Jennifer Niven

Außerdem von Carley Fortune lieferbar:

Fünf Sommer mit dir

Nächsten Sommer am See

www.penguin-verlag.de

Carley Fortune

Dieser Sommer wird anders

Roman

Aus dem Englischen von Carolin Müller

Die Originalausgabe erschien 2024

unter dem Titel This Summer Will Be Different

bei Berkley, New York 2024.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2024 der Originalausgabe by Carley Fortune

Copyright © 2025 der deutschsprachigen Ausgabe by Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Angela Kuepper

Covergestaltung: Favoritbüro nach einem Entwurf und

unter Verwendung einer Coverillustration von Ashley Tucker

Die verwendeten Zitate stammen aus:

Lucy M. Montgomery, Anne auf Green Gables, Loewe, Bindlach, 2022, S. 31, 39, 51, 172, 182

Lucy M. Montgomery, Anne in Avonlea, Loewe, Bindlach, 2022, S. 381

Lucy M. Montgomery, Anne auf dem Weg ins Glück /Anne in Kingsport, Loewe, Bindlach, 2021, S. 249

Charles Dickens, Große Erwartungen, 29. Kapitel. Siehe: Projekt Gutenberg; www.projekt-gutenberg.org/dickens/erwart03/chap010.html

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-32506-0V001

www.penguin-verlag.de

Für Meredith natürlich.

I shucking love you

ERSTER TEIL

»Ist es nicht tröstlich, dass morgen wieder ein neuer Tag anfängt – ganz frisch und frei von Fehlern?«

Lucy M. Montgomery, Anne auf Green Gables

PROLOG Sommer, fünf Jahre zuvor

Ich schirmte mit den Händen die Augen ab, damit ich den Anblick in mich aufsaugen konnte. Die sonnendurchflutete Bucht. Wasser, das saphirblau unter den rostfarbenen Klippen glitzerte. Seetang, der in knotigen Nestern auf einem Streifen Sandstrand lag. Ein Restaurant mit Holzverkleidung. Hummerreusen auf einem Haufen. Ein Mann in Anglerhose.

Der Geruch von Meeressole erfüllte meine Nase, und ich hörte das leise Plätschern eines schaukelnden Fischerboots. Die salzige Brise erfasste mein Kleid und ließ es um meine Waden flattern. Auf meinem Gesicht machte sich ein Lächeln breit. Es war alles genau so, wie ich mir meinen ersten Prince-Edward-Island-Urlaub vorgestellt hatte – bis auf ein entscheidendes Detail. Bridget hatte ihren Flug verpasst. Aber ich war hier. Und ich war hungrig.

Es dauerte einen Moment, bis sich meine Augen angepasst hatten, als ich Shack Malpeque betrat. Das kleine Mädchen mit den roten Zöpfen und dem Strohhut fiel mir sofort auf. Sie saß an einem Tisch am Fenster, und während ihr älterer Bruder den Muschelzüchtern auf dem Wasser zusah, stibitzte sie sich eine dicke Fritte von seinem Teller. Als sie meinen Blick bemerkte, biss sie herzhaft hinein, und ich gab ihr einen Daumen hoch.

»Deine Probleme werden dir kleiner vorkommen, wenn wir erst einmal auf der Insel sind«, hatte mir Bridget gestern noch versprochen. Ich hatte am Küchentisch in unserer Wohnung gekauert und die Stirn auf der Granitplatte abgelegt. Sie hatte mir den Rücken gerieben. »Hör nicht auf deine Eltern. Du schaffst das schon, Bee.«

Bridget nannte mich nie bei meinem richtigen Vornamen. Für die meisten Menschen in meinem Leben war ich Lucy Ashby, außer für meine beste Freundin. Für Bridget war ich Bee.

Nun stand ich in dem kleinen Insel-Strandrestaurant, das für seine frischen Austern bekannt war, neben dem Empfangstisch und einem Schild mit der Aufschrift LASSSIEDIRKNACKEN, und der Geruch von Malzessig in der Luft ließ mir das Wasser im Mund zusammenlaufen. Die zusammengewürfelten Holztische waren voll besetzt, und niemand sah so aus, als wollte er gleich zahlen. Es war eben genau so ein Tag.

Als ich schon wieder gehen wollte, bemerkte mich eine Kellnerin mit grau meliertem Haar, die gerade drei Teller mit Hummerbrötchen auf dem Arm balancierte.

»Setz dich an die Bar, Süße«, rief sie mir zu, und ich drehte mich um und entdeckte eine Reihe leerer Hocker hinter mir.

Und ihn.

Er stand auf der anderen Seite der Theke, den Kopf leicht nach unten geneigt, und knackte Austern. Von der Kraftanstrengung spannte sein weißes T-Shirt an Armen und Schultern. Seine Haare waren eine Nuance dunkler als meine – tiefes Schokoladenbraun, dicht und wellig –, kurz genug, dass es ihm nicht die Sicht versperrte, aber lang genug, um ihm lässig in die Stirn zu fallen. Der Drang, meine Finger darin zu vergraben, war stark.

Ich beobachtete, wie sich sein Unterarm anspannte, als er ein kleines Messer mit Holzgriff in eine der Austern bohrte, und sah zu, wie sich sein Handgelenk beim Aufbrechen der Auster leicht verdrehte. Er wischte die Klinge an einem gefalteten Geschirrtuch ab und führte sie dann einmal durch die Mitte der Schale. Der obere Teil wurde zur Seite geschoben. Ein letztes Schnipsen mit dem Messer, dann legte er die Auster auf ein Bett aus zerstoßenem Eis.

Als ich näher kam, war er gerade dabei, das Messer erneut abzuwischen. Doch anstatt es in die nächste Auster zu stecken, hielt er inne und blickte zu mir auf.

Beinahe wäre ich gestolpert. Seine Augen waren von einem intensiven Eisbergblau, das durch seine gebräunte Haut noch strahlender hervorstach. In der Mitte seines Kinns befand sich eine kleine Vertiefung. Sein Gesicht war seit mindestens zwei Tagen nicht mehr mit einem Rasierer in Kontakt gekommen, und es war eine Verkörperung von Kontrasten. Kräftiger Kiefer. Weiche rosa Lippen, unten voller als oben. Die hellen Augen waren von schwarzen Wimpern umrandet.

Unsere Blicke trafen sich nur eine Sekunde, doch ich sah ihn, und er sah mich, und in diesem Wimpernschlag passierte etwas zwischen uns.

Eine Ahnung. Eine Sehnsucht. Ein Verlangen.

Elektrizität.

Mein Puls rauschte laut und eindringlich in meinen Ohren, und all die Last der Sorgen, Ängste und des schlechten Gewissens, die ich mit mir herumschleppte, seit ich meinen Eltern von der Kündigung meines Jobs erzählt hatte, glitt mir wie Seide von den Schultern.

Er machte sich direkt wieder an die Arbeit und beachtete mich nicht weiter, als ich mir einen Hocker heranzog. Doch ich konnte den Blick nicht von seinen Händen wenden, während er mit unglaublicher Geschwindigkeit eine Auster nach der anderen aus ihrer Schale befreite. Nachdem er ein ganzes Duzend geöffnet hatte, stellte er die Platte am Ende der Bar ab.

Dann trafen sich unsere Blicke erneut, und einen Moment lang starrten wir uns gegenseitig an. In seinen hellen Augen lag Vorsicht. Eine Sekunde lang sah ich Traurigkeit in ihnen aufflackern, aber gerade als ich mich fragen wollte, woher sie wohl kam, war sie auch schon wieder verschwunden. Bei näherer Betrachtung konnte ich erkennen, dass seine rechte Iris einen winzigen braunen Fleck unterhalb der Pupille aufwies. Ein perfekter Makel.

Plötzlich erschien es mir nicht mehr so tragisch, dass Bridget unseren Flug verpasst hatte. Es fühlte sich wie Schicksal an. Dies war ohne Frage der heißeste Typ, den ich je gesehen hatte.

»Hungrig?«, fragte er.

»Am Verhungern«, antwortete ich, und ich glaubte, seine Lippen kurz zucken zu sehen.

»Wo kommst du her?« Seine Stimme war tief und so trocken wie Birkenrinde. Sein Akzent war stärker als der von Bridget.

»Woher willst du denn wissen, dass ich nur zu Besuch hier bin? Ich könnte doch auch von der Insel sein.«

Er hielt meinem Blick stand. Wieder eine Verbindung. Wie über einen Draht unter Spannung. Sein Blick wanderte zu meinem kupferbraunen Haar, das am Kopf zu einem Kranz geflochten war, und dann zu meinem Outfit. Seine Braue ging leicht nach oben. Als ich meine Urlaubsgarderobe plante, hielt ich den romantisch-verträumten Stil des Kleides – schulterfrei und oversized aus rot-weißem Vichy-Karo-Stoff – für den Anlass durchaus passend. Anne auf Green Gables mit einem modernen Twist. Aber vielleicht waren die Puffärmel doch ein wenig übertrieben.

Er zuckte mit der Schulter, eine Geste, die mir irgendwie bekannt vorkam. »Die Inselbewohner hier tragen eher selten Tischtücher«, sagte er unberührt, während die Kellnerin hinter ihn trat und ihm mit einem missbilligen Zungenschnalzen auf die Schulter klopfte. Ich strich stirnrunzelnd mit den Händen über den Baumwollstoff meines Kleides und zupfte den Ausschnitt zurecht.

Er nahm eine weitere Auster in die Hand, und nachdem er sie geknackt hatte, sagte er: »Aber es ist ein schönes Tischtuch.«

»Das hoffe ich doch. Dieses Tischtuch hätte beinahe meinen Dispo gesprengt.«

»Kümmere dich nicht um ihn, Süße«, sagte die Kellnerin, als sie zwei Teller mit paniertem Schellfisch aus der Küchendurchreiche nahm. »Er ist ein bisschen eingerostet. Denkt, er kommt allein mit seinen Augen durch. Aber Frauen wissen Manieren zu schätzen, das sage ich ihm immer wieder.«

Ich lachte. Bei diesem Klang wanderte sein Blick wieder zu mir, und ich spürte es erneut. Wie ein Blitz den Rücken hinunter.

»Ist es das, was Frauen zu schätzen wissen? Manieren?« Seine Stimme klang tief, streifte sanft über mein Schlüsselbein und die Schultern.

Ich kannte diesen Tonfall. Ein Flirt. Es war subtiler, als ich es gewohnt war – ohne die unverhohlenen Anmachsprüche und die »Du kannst mir sowieso nicht widerstehen«-Prahlerei –, aber es war da. Eine Einladung zum Spielen. Das Stichwort eines Szenenpartners in einem Impro-Theater. Flirten konnte ich, darin war ich gut. Meine Lippen kribbelten; seine verzogen sich auf einer Seite zu einem Grinsen.

»Ich weiß nicht, wie es bei anderen Frauen ist, aber diese Frau hier würde eine Speisekarte zu schätzen wissen.« Ich beugte mich etwas zu ihm vor. »Bitte.«

»Das lässt sich machen.«

Aber er kam meiner Bitte nicht nach. Stattdessen rieb er ein Stück frischen Meerrettich, der mir in der Nase kitzelte, und legte ihn zusammen mit zwei Zitronenspalten in die Mitte eines Rings aus Austern. Dann stellte er den Teller und eine Flasche scharfe Soße vor mich hin. Sechs glänzende Malpeques.

»Die gehen auf mich.«

»Echt?«

Er lief die Bar entlang. Der Saum seiner dunkelblauen Jeans war umgeschlagen, und er trug schwarz-weiß karierte Vans. Ich betrachtete seinen Bizeps, als er ein Bier zapfte. Dann stellte er das eisgekühlte Glas vor mich hin.

»Hier, bitte …?« Er verstummte und sah mich fragend an.

»Lucy.«

»Hier, bitte, Lucy.«

»Danke …?« Ich wies fragend auf ihn.

Er sah mir in die Augen und wischte sich die Hände an einem Geschirrtuch ab, als müsste er erst überlegen, bevor er mir eine Antwort gab. »Felix«, sagte er schließlich.

»Ich bin normalerweise keine große Biertrinkerin, Felix.«

»Das ist ein Blueberry Ale, das hier auf der Insel gebraut wird. Probier es mal.«

Ich nahm einen Schluck. Es war eiskalt und schmeckte leicht säuerlich.

»Danke.« Ich stellte das Glas wieder ab. »Und du hattest recht – ich bin wirklich nicht von hier. Ich lebe in Toronto«, sagte ich und griff nach einer Auster.

»Toronto«, wiederholte er, obwohl es sich eher wie Terra-nah anhörte. Er nickte mit ernstem Gesicht. »Das tut mir leid.«

Ich lächelte ihn schief an. »Muss es nicht. Ich mag es da. Die meiste Zeit jedenfalls. Warst du schon mal da?«

»Ein Mal«, sagte er. »Und nur für eine Nacht, aber das war lang genug.«

Ich brummelte. Toronto konnte wirklich etwas gewöhnungsbedürftig sein, und obwohl ich nun schon seit sieben Jahren dort wohnte, war ich mir nicht sicher, ob es mir tatsächlich gelungen war, mich einzuleben. Ich garnierte die Auster mit einer Prise Meerrettich und einem Spritzer Zitrone und prostete Felix damit zu, bevor ich mit geschlossenen Augen den Kopf nach hinten warf und sie in meinen Mund gleiten ließ. Frisches Meersalz traf auf meine Zunge und weckte eine Erinnerung in mir.

Bridget und ich in unserer Wohnung im letzten Herbst. Wir waren gerade zusammengezogen und verbrachten das Wochenende damit, auszupacken und abzuwägen.

Wie passten unsere Sachen zusammen? Wie passten wir zusammen? Bis Sonntagabend stellten wir fest, dass wir zwei Dosenöffner, keinen Couchtisch, einen Futon mit einem äußerst unbequemen Gestell und einen lebenslangen Vorrat an IKEA-Teelichtern hatten.

Wir lagen gerade staubbedeckt auf dem Rücken am Boden, als Bridget plötzlich aufsprang und in ihren Socken in die Küche schlitterte.

Sie holte eine Schachtel PEI Malpeques aus dem Kühlschrank. Bridget war wohl einer der wenigen Menschen in ihren Zwanzigern, die ein Austernmesser besaßen, ich dagegen hatte noch nie in meinem Leben eine Auster gegessen. Doch in dem Chaos aus Zeitungspapier, Plastikfolie und Pappe konnte sie das Spezialutensil nicht finden, also hebelte sie mit vor Anstrengung verzogenem Gesicht die ganze Ladung mit einem Schraubenzieher auf, den sie aus ihrem Werkzeugkasten befördert hatte.

»Falls du jemals meine Familie kennenlernst«, beschwor sie mich, als ich gerade einen Schalensplitter herausfischte, »schwör mir, dass du ihnen nie erzählen wirst, was für einen Murks ich hier gemacht habe.«

Wir waren seit einem Jahr befreundet, und neben meiner Tante war sie bereits der wichtigste Mensch in meinem Leben. Aber an diesem Abend schloss ich sie noch ein bisschen mehr ins Herz.

Meine erste Auster auf Prince Edward Island hätte sie eigentlich miterleben sollen. Ich hatte sie am Morgen zuletzt gesehen, und dennoch vermisste ich sie plötzlich so sehr, dass es mir die Kehle zuschnürte.

Als ich die Lider öffnete, starrte mich Felix an. Ich hätte schwören können, dass ich erneut einen Anflug von Schmerz in seinen Augen sah – eine Melancholie, die unter der blauen Oberfläche waberte. Aber sie verflüchtigte sich sofort wieder, bevor sich einer seiner Mundwinkel nach oben zog.

»Gut?«, erkundigte er sich.

»Sehr gut.«

Ich rutschte auf meinem Hocker hin und her und schlug nervös die Beine übereinander. Ich spürte, wie ich zu erröten begann. Meine stärksten Emotionen standen mir immer in leuchtendem Rot aufs Dekolleté geschrieben. Es begann zwischen meinen Brüsten und kroch hoch bis zum Hals. Felix’ Blick glitt nach unten und blieb an dem Trio von Muttermalen unterhalb meines Schlüsselbeins hängen.

»Und was führt dich auf die Insel?«

»Ein Mädelsausflug.«

Es war Bridgets Idee gewesen. Ich sollte meinen Eltern endlich sagen, dass ich meinen PR-Job aufgegeben hatte, und dann würden wir einen Urlaub im Haus ihrer Familie auf der Insel machen. Zwei Wochen Austern, Sand und Meer. Zwei Wochen, in denen wir uns entspannen konnten und uns um nichts kümmern mussten. Das Ganze fühlte sich an, als hätten wir ein neues Level unserer Freundschaft freigespielt. Wir waren seit einem Jahr Mitbewohnerinnen und davor schon ein Jahr lang befreundet gewesen, aber richtig kennt man jemanden erst, wenn man auch Bekanntschaft mit seiner Familie gemacht hat. Und ich konnte es kaum erwarten, Bridgets Familie zu treffen. Sie war die selbstbewussteste, fähigste und großherzigste Person, die ich kannte, und ich wollte sehen, woher sie kam.

Felix schaute demonstrativ auf die leeren Hocker neben mir.

»Hast du deine Freundin unterwegs verloren?«

Bridgets Eltern waren bis nächste Woche zu Besuch bei Freunden in Nova Scotia, und ihr jüngerer Bruder hatte weder auf ihre Nachrichten noch auf ihre Anrufe wegen meiner alleinigen Ankunft reagiert. Ich sollte zu ihrem Haus fahren und mich selbst reinlassen. »Geh um das Haus herum auf die Terrasse«, hatte Bridget gesagt. »Unter der Keramikkröte liegt ein Ersatzschlüssel.«

Ich hasste Alleinsein ebenso sehr wie Stillsitzen, und ich wollte nicht den Rest des Nachmittags damit verbringen, einsam im Haus der Clarks herumzulungern und den Unmut meiner Eltern auf mich in der Stille nachhallen zu hören. Also war ich mit dem Mietwagen direkt vom Flughafen Charlottetown zu Shack Malpeque gefahren.

»Meine Freundin kommt erst morgen an«, sagte ich und hielt Felix’ Blick stand.

Mit zur Seite geneigtem Kopf verarbeitete er diese Information, blinzelte und nahm dann wieder sein Austernmesser zur Hand. Ich sah ihm dabei zu, wie er in wenigen Minuten weitere drei Dutzend Austern knackte, seine Finger bewegten sich mit beeindruckender Geschwindigkeit. Ich dachte schon, ich hätte sein Verhalten missinterpretiert, als mich sein Blick hinter langen Wimpern traf und er erneut das Wort an mich richtete.

»Und? Hast du schon was vor, bis deine Freundin ankommt?«

Vielleicht war es das Bier oder die berauschende Aufregung, an einem neuen Ort zu sein, aber normalerweise war ich nicht so freiheraus, so sicher, was ich wollte.

»Nein«, sagte ich zu Felix. »Ich bin für alles offen.«

Seine Augen weiteten sich kurz, dann fluchte er. Blut lief ihm über die Hand. Ich schnappte mir einen Stapel Papierservietten aus dem Spender und eilte um die Bar herum.

»Bist du okay?«

Er nahm die Hand von dem Schnitt an seinem linken Handgelenk, und ich drückte die Servietten darauf.

»Ich glaube, das muss genäht werden.«

»Ist bloß ein Kratzer.«

Ich hielt immer noch seinen Arm, trat näher heran und drückte weiter die Servietten auf die Wunde.

»Um Himmels willen«, rief die Kellnerin entsetzt. »Mach das sauber, und dann verschwinde.«

Weiter seinen Arm umklammernd, folgte ich Felix in ein kleines Büro, wo er aus der Schreibtischschublade einen Erste-Hilfe-Kasten zutage förderte.

»Passiert das oft?«, fragte ich, während ich sein Handgelenk mit Mullbinden umwickelte. Ich konnte die Wärme seines Atems auf meiner Haut spüren.

»Nein, Lucy. Für gewöhnlich sagen mir schöne Frauen nicht, dass sie offen für alles sind, während ich einen scharfen Gegenstand in der Hand halte.«

Ich lächelte. »Das ist eine Schande«, sagte ich, auch wenn ich es ihm nicht ganz abnahm. Sein Gesicht war der perfekte Schnittpunkt zwischen atemberaubend und markant. Dazu die Haare und dieser Bizeps. Ich hatte auch schon einen Blick auf seinen Hintern erhascht, und der war bemerkenswert. Felix hatte bestimmt schon ein oder zwei Anmachsprüche gehört, in denen es ums Austernknacken ging. Jedenfalls waren mir bereits mindestens fünf in den Sinn gekommen, seit ich das Restaurant betreten hatte.

Ich befestigte den Verband, wollte ihn aber noch nicht wirklich loslassen. »Willst du es nicht lieber checken lassen?«, fragte ich ihn. »Ich kann dich in ein Krankenhaus fahren.«

»Meinem Arm geht es gut.« Felix beugte den Kopf, um mir in die Augen sehen zu können.

Funkel. Zisch. Knister.

»Wie wäre es, wenn du mich stattdessen nach Hause bringst, Lucy?«

Während der Fahrt sprachen wir kaum miteinander, aber die Luft im Auto flirrte vor gespannter Erwartung. Ich konnte spüren, wie Felix’ Aufmerksamkeit meine Wange streifte und dann zu meiner Schulter hinunterwanderte. Tiefer. Bestimmt konnte er den Puls an meinem Hals pochen sehen.

Ich war nervös, mein Magen machte wilde Flugmanöver wie Möwen am Himmel. Mit vierundzwanzig hatte ich bereits Erfahrung mit unverbindlichen Abenteuern, Affären, eine heiße Nacht da, ein paar Wochen Spaß dort – zwanglos war meine Spezialität. Aber das hier fühlte sich anders an. Riskanter. Wir waren nicht einmal zusammen essen gewesen oder etwas trinken. Ich hatte ihn weder gegoogelt, noch kannte ich seinen Nachnamen, und ich wusste auch nicht, wie alt er war. Anfang zwanzig vielleicht? Alles, was ich über Felix wusste, war, dass er heiß war, dass Austernknacken bei ihm einem Vorspiel gleichkam und dass er Sex mit mir haben wollte.

Ich bog in seine Zufahrt ein, eine rote Sandpiste, die durch ein selleriegrünes Feld führte. Rosa und lilafarbene Blumen säumten den Straßengraben. Ich fuhr um eine Kurve, dann um eine weitere, und ein Haus kam in Sicht. Es stand stolz in der Ferne, mit ergrauten Zedernschindeln auf dem Dach, von dem an beiden Enden zwei dramatische Spitzen aufragten. Die Fassade war in frischem Weiß gehalten, die Eingangstür in fröhlichem Gelb. Dahinter erstreckte sich das Meer, eine blau schimmernde Ebene.

»Hier wohnst du also?«, fragte ich, nachdem ich geparkt hatte. Die Blumenbeete waren prächtig. In Toronto war die Pfingstrosenzeit bereits vorbei, aber hier standen sie noch in voller Blüte. Es waren bestimmt zwölf Stauden. Päonien satt. Magentafarbene Clematis kletterte an einem Spalier hoch. Löwenmäulchen. Schwarzäugige Susanne. Ich drehte mich zu Felix um. »Ist das dein Garten?« Aber er war schon aus dem Auto ausgestiegen.

Er ging um die Motorhaube herum, öffnete meine Tür und reichte mir die Hand. Meeresluft erfüllte meine Lungen, während eine starke Brise das Kleid um meine Beine flattern ließ, als ich ausstieg. Ich lachte und versuchte, es festzuhalten, aber Felix zog mich an sich. Ich vergaß die Pfingstrosen. Er war nur ein oder zwei Zentimeter größer als ich, und wir standen uns auf gleicher Höhe gegenüber, Nase an Nase, Brust an Brust, Hüfte an Hüfte.

»So habe ich mir den heutigen Tag nicht vorgestellt«, sagte ich.

Ich sah ein Grübchen auf seiner linken Wange, als er lächelte, keine Spur mehr von der Traurigkeit, die ich im Restaurant gespürt hatte.

»Nein?«

Seine Lippen berührten meine, bevor sie zu meinem Hals hinabwanderten. Ich lehnte den Kopf zurück und schaute einem Reiher hinterher, der über uns hinwegflog.

»Mm-mm.«

Seine Bartstoppeln kitzelten meine Haut, als sein Mund den Weg zu dem Dreieck aus Muttermalen unter meinem Schlüsselbein fand. Er drückte einen Kuss darauf, dann kostete er sie mit der Zunge. Ein wohliger Schauer lief durch meinen Körper.

»Da hast du wohl nicht richtig recherchiert«, sagte er, und seine Lippen wanderten zu meinem Ohr. »So heißen wir schöne Frauen von auswärts hier immer willkommen. Ein traditioneller Gruß der Insulaner.«

Seine Bemerkung entlockte meiner Kehle ein helles Lachen. »Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich schon früher hergekommen.«

Seine Hand legte sich sanft an meinen Hinterkopf. »Ich finde, dein Timing ist perfekt.«

Wir sahen uns eine aufgeladene Sekunde lang an. Ich war voller Ungeduld, aber es begann langsam und sanft, zaghaft, bis ich Felix’ Zunge an meinen Lippen spürte. Ich schmiegte mich enger an ihn, und meine Finger wanderten durch sein Haar. Er saugte an meiner Unterlippe, und mir entwich ein leises Stöhnen. Dann spürte ich seine Zähne an meiner Lippe. Sein Biss war spielerisch, ein Knabbern, aber es überraschte mich so sehr, dass ich die Augen aufschlug.

Er zuckte zurück, sein Blick war plötzlich schwerer als noch vor ein paar Augenblicken.

»Zu viel?«

Ich berührte meinen Mund und schüttelte den Kopf. »Mehr.«

Felix führte mich ins Haus, doch bevor ich Zeit hatte, den Ausblick zu genießen, küssten wir uns erneut. Ich griff nach dem Saum seines Hemdes, als ich das metallische Ritsch meines Reißverschlusses hörte, und dann zogen wir uns aus und verfingen uns fast in unseren Kleidern, als wir in einem wilden Durcheinander aus Gliedmaßen und Gelächter die Treppe zu seinem Schlafzimmer hinaufstolperten.

Bereits nackt, ließen wir uns auf sein Bett fallen. Felix’ Körper bestand aus scharf geschnittenen Linien und markanten Erhebungen, als folgte er den Gesetzen der Aerodynamik. Seine Schultern waren breit, seine Brust war muskulös und mit dunklem Flaum überzogen. Ich ließ die Finger über seine gebräunte Haut gleiten und bewunderte die straffen Muskelpakete an seinem Bauch.

Von seinem Zimmer bekam ich nicht viel mit, außer dass ein abgegriffenes Exemplar von Die weite Sargassosee auf seinem Nachttisch lag, das mir ins Auge fiel, als er sich seinen Weg an meinem Körper hinunterküsste. Kurz dachte ich noch, dass es ein ungewöhnlicher Lesestoff für einen Mann in den Zwanzigern sei, aber dann streifte sein Kiefer die Innenseite meines Oberschenkels, und ich hatte keinen Sinn mehr für derartige Überlegungen.

Die Sonne ging bereits unter, und königsblaue und orangefarbene Streifen zogen sich wellenartig über den Himmel, als wir beschlossen, dass wir neue Energie tanken mussten. Felix machte uns Abendessen. Knuspriges Brot in dicken Scheiben, mit Butter bestrichen. Ein Teller mit saftigen, gesalzenen und vor Olivenöl glänzenden Tomatenscheiben. Ein weiterer Teller mit kaltem Brathähnchen. Cheddarkäse. Maiskolben. Wir belegten die Brote mit den Tomaten und dem Käse und verschlangen den ganzen Teller Hähnchen auf der Terrasse mit Blick über den Sankt-Lorenz-Golf, er in Boxershorts, wir beide in weißen T-Shirts, die er aus einer Schublade voll davon gefischt hatte.

Beim nächsten Mal schafften wir es gar nicht erst nach oben. Wir schafften es nicht einmal mehr nach drinnen. Felix schmeckte nach den sonnenreifen Tomaten, die wir zum Abendessen gegessen hatten – eine Explosion aus Sommer und Salz.

Mehr, sagte ich immer wieder. Mehr.

Am nächsten Morgen erwachte ich mit Felix’ Arm quer über mir, sein Körper an meinen geschmiegt. Wir mussten so eingeschlafen sein, auch wenn ich mich nicht daran erinnern konnte. Ich lag still da, wollte ihn nicht wecken, wollte mich nicht dem unvermeidlichen Unbehagen des Morgens danach stellen. Gestern Abend waren wir einem Taumel erlegen. Wir waren zwei völlig Fremde, die sich wie ein Liebespaar benommen hatten, das sich nach langer Trennung wiedersah. Felix schien es genauso nötig gehabt zu haben wie ich, sich einmal gehen zu lassen. Bei Tageslicht betrachtet, würde es uns beiden sicher unangenehm sein. Aber dann spürte ich seinen rauen Kiefer an meiner Schulter und das Flüstern seiner Lippen an meinem Hals. Und es war nicht peinlich. Es war langsam und bedächtig und süß, wie warme Karamellsoße, die eine Kugel Eis hinunterrinnt.

Als wir uns schließlich voneinander lösten und ich meinte, dass ich nun wohl besser gehen sollte, sagte Felix mir, dass es keinen Grund zur Eile gebe.

»Du kannst duschen, wenn du willst«, sagte er. »Trinkst du lieber Kaffee oder Tee?«

Also blieb ich. Ich duschte. Felix trank Tee und ich Kaffee.

»Wann musst du los, um deine Freundin vom Flughafen abzuholen?«, fragte er schließlich. Wir saßen auf der Terrasse, er im Sessel und ich auf dem Outdoorsofa, auf dem wir uns in der Nacht zuvor vergnügt hatten.

»Bald, denke ich. Ihr Flieger landet um zwölf.«

Felix blies in seinen Tee, und der Dampf stieg kräuselnd aus der Tasse auf. »Ich fand es schön mit dir letzte Nacht«, sagte er und hob den Blick. »Ich weiß, du bist bloß für zwei Wochen hier, aber …«

Ich unterbrach ihn. »Felix, letzte Nacht war …« Explosiv. Ultimativ heiß. Möglicherweise mein Verderben. Unbestreitbar der beste Sex, den ich je hatte.

»Es war … na ja, du warst ja dabei. Du weißt, was es war.«

Sein Blick wanderte hinunter zu meiner errötenden Brust und blieb erneut am Trio meiner Muttermale hängen. »Und wie ich dabei war.«

Ich wollte ihn wissen lassen, dass wir uns einig waren. Wir brauchten dieses Gespräch nicht zu führen. »Was ich damit sagen will, ist, dass ich es genauso empfinde – es war großartig. Fünf Sterne. Aber ich weiß auch, dass es eine einmalige Sache war.«

»Es war eher eine viermalige Sache.« Sein Grübchen vertiefte sich.

»Richtig«, sagte ich und mein Blick verfing sich in seinem.

Funkel. Zisch. Knister.

Er räusperte sich. »Wo bist du denn untergebracht? Wenn du willst, kann ich dir ein paar sehenswerte Orte vorschlagen. Ich habe da eine Liste, für den Fall, dass mich im Restaurant jemand fragt. Leider hab ich gestern früh mein Handy im Wagen eines Kumpels vergessen, aber ich schicke sie dir gerne, wenn er es mir vorbeigebracht hat.«

»Das wäre großartig, wirklich.« Ich griff nach meinem Handy und öffnete den Nachrichtenverlauf mit Bridget. »Meine Freundin ist zwar hier aufgewachsen, aber sie lebt schon seit Jahren in Toronto.« Ich las die Adresse vor, die sie mir für Summer Wind gegeben hatte, und sah dann wieder Felix an.

Er erwiderte meinen Blick, ohne zu blinzeln, sein Gesicht war plötzlich ganz blass.

»Was ist?«

Es dauerte ein paar Sekunden, bis er weiterredete. »Bist du sicher?«

»Ich glaube schon.« Ich las die Adresse noch einmal vor. »Warum? Kennst du sie?«

Seine Augen huschten über mein Gesicht. »Du bist Bridgets Freundin«, sagte Felix. »Ich dachte, du würdest erst nächste Woche kommen.«

Ich öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch dann entdeckte ich die grüne Keramikkröte neben der Schiebetür. Mein Magen verkrampfte sich schnell und heftig.

»O mein Gott.«

Bridget hatte mir für diese Reise nur drei Regeln vorgegeben.

Nummer 1: Iss dein Gewicht in Austern.

»Du bist Bee«, sagte Felix.

Ich schüttelte den Kopf, auch wenn er recht hatte. Ich war Bee.

Nummer 2: Lass die Stadt hinter dir.

Ich riss den Blick von der Kröte los, unter der, wie ich wusste, ein Haustürschlüssel lag.

»Du bist Wolf«, murmelte ich. »Du bist Bridgets …« Die Übelkeit überkam mich mit solch schwindelerregender Kraft, dass ich den Satz nicht beenden konnte. Ich schlug die Hand vor den Mund.

Und Nummer 3. Verlieb dich nicht in meinen Bruder.

»Ja«, sagte Felix. »Bridget ist meine Schwester.«

1Gegenwart

Noch neun Tage bis zu Bridgets Hochzeit

Ich betrachte die Illustration auf dem Tisch vor mir und runzle die Stirn. Sie ist viel detaillierter als meine üblichen Skizzen. Manchmal zaubere ich, nur um Kunden zu beeindrucken, eine einfache Strichzeichnung. Aber ich arbeite nun schon mehr als fünf Jahre mit Blumen und muss eigentlich keine Modelle mehr für Bogen oder Traubaldachine entwerfen.

Diesmal habe ich jedoch jedes Blatt und jede Blüte sorgfältig ausgearbeitet und in Grün-, Blau- und Weißtönen schattiert. Aber es ist immer noch nicht stimmig. Blumentorbogen sind meine Spezialität, und dieser muss spektakulär werden. Atemberaubend. Perfekt. Denn dies ist der Bogen, unter dem Bridget stehen wird, wenn sie und Miles sich vor ihren Freunden und ihrer Familie versprechen, einander für immer zu lieben und zu ehren. Hier werden sie sich ihren ersten Kuss als Ehepaar geben. Zwar ist es Bridgets Vater, der sie zum Traualtar führt, aber ich habe das Gefühl, dass auch ich sie in gewisser Weise dem Bräutigam übergebe. Meine beste Freundin, die bald heiraten wird.

»Ich finde, da fehlt noch etwas. Es braucht mehr Drama«, sage ich zu Farah. Sie ist meine Stellvertreterin bei In Bloom und arbeitet schon fast so lange hier wie ich. Sie schreibt Gedichte, hat ein tadelloses Auge und ein absolut kreatives Gespür, dem selbst meine Tante nicht widerstehen konnte. Farah sagt, dass das Arrangieren von Blumen ihre Kreativität beflügele. Sie trägt ihren Eyeliner gerne schwarz und verschmiert und ihre Klamotten knallbunt. Heute sind es neonorangefarbene Radlerhosen.

Ich drehe mich mit meinem Stuhl um und sehe sie Hilfe suchend an. »Was meinst du?«

Sie brummt, dann verschiebt sie die Papiere so, dass all meine Skizzen von Bridgets Blumenschmuck – den Tischgestecken, Bouquets, Anstecksträußchen, Girlanden und den verschiedenen anderen Arrangements – in einer Reihe nebeneinanderliegen.

»Du hast hier schon so viele Blumen, dass möglicherweise kein Platz mehr für die Gäste ist.«

Farah hat so eine Art an sich, die stets zwischen Gleichgültigkeit und Verachtung schwankt. Es hat Monate gedauert, bis ich ihr volles Lächeln mit der niedlichen Lücke zwischen ihren Vorderzähnen zu Gesicht bekommen habe, und dann noch ein paar weitere Monate, bis ich verstanden habe, dass es sich bei ihrer schroffen Attitüde hauptsächlich um Getöse handelt. Farah bringt gerne ihren schwarzen Labrador, Sylvia, mit zur Arbeit, und sie ist eine hingebungsvolle Hundemutter. Sylvia schläft gerade unter dem Tisch und hat ihre Nase auf meinem Fuß abgelegt.

»Meinst du, es ist zu viel?«, frage ich.

Sie wirft mir einen schmalen Blick aus espressobraunen Augen zu. »Normalerweise zerbrichst du dir nicht ewig den Kopf über die Gestaltung.«

Ja, das stimmt. Tante Stacy hat mir gezeigt, wie man Blumen richtig pflegt, sowohl im Garten als auch in der Vase, und sie hat all ihre Tricks mit Freude an mich weitergegeben. Aber mein Sinn für Ausgewogenheit, für Farbe und Form – der ist angeboren. Und wenn ich erst einmal im Fluss bin, lösen meine Hände meinen Verstand auf geradezu magische Weise ab. Das kurze Schnipsen der Schere am Stiel einer Pflanze ist mein Lieblingsgeräusch.

»Du hast ein Auge dafür, mein Schatz«, pflegte meine Tante zu sagen. »Eine Gabe, die man nicht erlernen kann.« Stacy war Schauspielerin, bevor sie den Weg als Floristin einschlug. Berühmt wurde sie durch eine wiederkehrende Rolle als wichtigtuerische italienische Verwandte in der kanadischen Teenie-Serie Ready or Not und drei Spielzeiten beim Stratford-Theaterfestival. Sie hatte einen untrüglichen Stil und versprühte eine gewisse Grandezza.

»Ich weiß«, sage ich zu Farah, »aber …« Ich breche ab.

»Es ist eben Bridget«, beendet sie den Satz für mich.

»Ja. Es ist Bridget.«

Meine beste Freundin hat das lose Mundwerk eines Seemanns, das Herz einer Löwenmutter und eine irritierende Leidenschaft für Listen, Etiketten und Tabellenkalkulation. Weswegen sie die Hochzeitsplanung in wahrer Bridget-Manier mit chirurgischer Präzision überwacht. Es gibt einen farbcodierten Ordner und einen gemeinsamen Google-Kalender für die unzähligen Termine, auf den sowohl ihr Verlobter als auch ich Zugriff haben, ebenso wie auf ihre Listen mit den Kontakten zu Lieferanten und Angehörigen der Brautleute, einen Zeitplan für den Tag der Hochzeit und eine Musikauswahl für die Zeremonie.

Die Blumen sind das Einzige, worüber sie die Kontrolle abgegeben hat. Sie hat Farah und mir vollkommen freie Hand dafür gelassen, und wir haben stundenlang darüber nachgedacht, wie wir das Gardiner Museum in ein wunderschönes Gewächshaus verwandeln können. Pfingst- und Edelrosen, Lilien und Ranunkeln, Efeuranken, Federspargel und Magnolienblätter.

Bridget wird alles gefallen, was ich mache. Sie ist meine entschiedenste Fürsprecherin, meine lauteste Cheerleaderin. Genau genommen meine einzige Cheerleaderin, jetzt, wo meine Tante nicht mehr da ist. Sie ist die eine Person in meinem Leben, deren Liebe und Unterstützung mir frei und ohne Bedingungen zufliegt. Sie glaubt mehr an mich, als ich selbst an mich glaube, und die Blumen für ihren Hochzeitstag sind eine Gelegenheit, ihr Danke zu sagen und ihr all das zurückzugeben, was sie bisher für mich getan hat. Sie sollen alles übertreffen, was ich je gemacht habe. Sie sind mein Geschenk an sie. Und ich möchte, dass mein Geschenk sie zum Weinen bringt.

Ich lasse die Stirn mit einem leisen, frustrierten Klonk auf die Tischplatte sinken und schrecke damit Sylvia auf. Schnell kraule ich sie hinterm Ohr, und sie beruhigt sich wieder.

Die Glocke über der Ladentür läutet, und ich richte mich auf und lächle den jungen Mann freundlich an, der gerade hereingekommen ist. Er ist gut gekleidet und wirkt nervös. Ein erstes Date, vermute ich. Vielleicht ist es aber auch ein wichtiges Date. Ein Heiratsantrag? Ich habe ein Gespür für solche Dinge, und Farah und ich haben einen heimlichen Wettbewerb laufen, wer richtigliegt. Vielleicht will er seine bessere Hälfte auch fragen, ob sie bei ihm einziehen will?

»Hallo«, sage ich. »Suchen Sie etwas Bestimmtes?«

»Ja. Ich möchte ein paar Blumen besorgen.«

Ich spüre, wie Farah sich ein Augenrollen verkneift.

»Da sind Sie hier goldrichtig. Ist es ein besonderer Anlass? Für wen kaufen Sie ein?«

»Sie sind für die Mutter meines Freundes. Ich weiß nicht, was sie mag.«

»Ein Treffen mit den Eltern?«, fragt Farah.

»Ja.«

Sie schaut mich selbstgefällig an. Ich war nah dran.

»Wir haben für sechs Uhr eine Reservierung in einem Restaurant hier am Ende der Straße«, sagt er. »Ich habe Ihr Schild gesehen und mir gedacht, dass ich ihr wohl etwas mitbringen sollte.«

Ich schaue auf die Uhr. Es ist zwanzig vor sechs. Das ist seltsam. Bridget hätte eigentlich längst hier sein sollen. Heute Abend ist ihre letzte Anprobe in einer Hochzeitsboutique einen Block weiter westlich, und normalerweise ist sie überpünktlich. Wir wollen ihr Kleid abholen und danach noch essen gehen.

»Ich bin Ihnen gerne behilflich«, sagt Farah und steht auf. Sie spricht mit den Kunden in einem Ton, der sowohl unaufdringlich als auch kompetent klingt. Ich würde das nie so zuwege bringen wie sie. Ich bin eher quirlig, und mein Lächeln ist voller Zähne.

Sie führt ihn zu unseren handgebundenen Blumensträußen. Es sind nur noch drei übrig, aber er kann froh sein, dass er überhaupt welche zur Auswahl hat. Am Ende des Tages sind wir oft ausverkauft.

Während Farah ihm bei der Auswahl hilft, wende ich mich wieder der Skizze zu. Ich kneife ein Auge zu und stelle mir Bridget in Elfenbein vor und Miles in seinem Anzug. Ihr Kleid ist elegant und schlicht. Das ist einer der Gründe, warum ich finde, dass der Blumenbogen ausdrucksstärker sein sollte. Wenn ihr Kleid extravagant wäre, würde ich darauf achten, dass der Blumenschmuck die Wirkung nicht untergräbt. Das Kleid ist umwerfend, aber schnörkellos. Es hat nicht einmal eine Schleppe.

Eine Schleppe …

Ich nehme meinen Bleistift zur Hand und beginne mit der groben Skizze eines Bogens, der sich wasserfallartig über den Boden ergießt.

Es wird wie ein Fluss aus Blumen sein. Eine Blütenschleppe.

Ich bemerke gar nicht, dass Farah mir über die Schulter blickt, bis ich sie sagen höre: »Raffiniert.«

»Perfekt.«

»Perfekt«, stimmt sie mir zu.

Als Nächstes muss ich mir überlegen, was ich dafür bestellen soll, aber das hat noch Zeit. Die Blumenauktion, auf der ich jede Woche den Großteil meiner Einkäufe tätige, findet immer am Dienstagmorgen statt, also bleiben mir fünf Tage, um mich zu entscheiden. Und jetzt, wo das Design des Blumenbogens geklärt wäre, kann ich mich auf morgen konzentrieren. Ich kaue auf meiner Lippe.

Als ob sie meine Gedanken lesen könnte, fragt Farah: »Gibt es irgendetwas, was wir vor deinem morgigen Termin noch durchsprechen sollten?«

Ich bin zum Frühstück mit Lillian verabredet, der Eventmanagerin von Cena, einer der nobelsten Hotelgruppen Torontos. Sie hat in der Zeitung von unserem Laden gelesen und uns gebeten, künftig die Blumenarrangements für alle Restaurants von Cena zu übernehmen. Insgesamt gibt es acht davon, und eines befindet sich in dem protzigen Hotel, in dem wir uns morgen treffen werden. Mein Freitag wird also mit einem dreißig Dollar teuren Omelett beginnen und einem Vertrag, der mein Leben verändern könnte.

»Ich glaube, es passt«, sage ich zu Farah.

Ich weiß, dass ich dieses Stück Papier morgen unterschreiben werde, aber ich kann nicht leugnen, dass ich mich dabei unwohl fühle. Ich bin mir nicht sicher, ob meine Zweifel daher rühren, dass mich solche Aufträge von großen Unternehmen einfach nicht erfüllen – Dutzende von gleichförmigen Vasen, einfallslos, unpersönlich –, oder ob ich mir Sorgen mache, dass ich den Anstieg des Auftragsvolumens nicht bewältigen kann. Im Moment habe ich Farah und zwei Teilzeitkräfte, aber wenn ich das mit Cena durchziehe, brauche ich zwei oder drei Vollzeitmitarbeiter. Ich liebe es zwar, Blumen zu arrangieren, aber ich bin keine Managerin. Ich finde schwierige Gespräche eher … schwierig. Aber wenn Selbstzweifel und Ängste mich zurückhalten, ist das nur ein Grund mehr, mich kopfüber hineinzustürzen. Und sobald ich den Vertrag unterzeichne, kann Farah endlich die kräftige Gehaltserhöhung bekommen, die sie verdient.

»Ich bin ziemlich aufgeregt«, gestehe ich ihr. »Aber ich bin auch müde. Ich habe seit Wochen nicht mehr gut geschlafen.« Anstatt zu schlafen, habe ich mir endlos den Kopf zerbrochen.

»Vielleicht solltest du dir mal einen Tag freinehmen …«

»Du weißt doch, dass das nicht geht.« Wir sind schon jetzt voll ausgelastet.

Sie knurrt. »Dann geh heute nicht so lange aus. Du bist unausstehlich, wenn du nicht genug Schlaf bekommst.«

Farah tritt zur Ladentür und sperrt zu. Ich werfe einen Blick auf die Uhr und stelle überrascht fest, dass es bereits sechs ist. Bridget ist zu spät. Bridget kommt nie zu spät. Sie ist die zuverlässigste Person, die ich kenne.

Wir sind seit sieben Jahren beste Freundinnen, und in dieser ganzen Zeit ist sie genau einmal zu spät dran gewesen. Bei unserer ersten gemeinsamen Reise. Das eine entscheidende Mal.

»Seltsam«, sage ich und versuche, mir die Angst nicht anmerken zu lassen. Mit Bridget ist sicher alles okay. Es darf nicht anders sein.

»Sie steckt bestimmt bloß im Berufsverkehr fest«, versucht Farah mich zu beruhigen. Aber ich kann auch ihr die Unsicherheit anhören.

»Gut möglich.«

Bridget arbeitet in der Unternehmenskommunikation des Sunnybrook Hospital, und sie wollte direkt nach Feierabend um fünf Uhr herkommen, also hatte sie eigentlich genug Zeit, selbst bei schlimmem Verkehr, was spätnachmittags normalerweise der Fall ist.

Ich schicke ihr eine Nachricht, aber sie antwortet nicht.

Um zehn nach sechs bekomme ich langsam Panik. Ich sperre die Ladentür wieder auf und trete hinaus in den schwülen Augustabend. Ich spähe die Queen Street East in beide Richtungen hinunter, auf der Suche nach einem blonden Korkenzieherlocken-Kopf. Ich habe mich zuerst in Bridgets Haare verliebt, als ich bei einer Belegschaftsversammlung der Agentur, für die wir früher beide arbeiteten, auf ihren Hinterkopf starrte, noch bevor wir überhaupt miteinander ein Wort wechselten. Für die Hochzeit hat sie sie platinblond gefärbt, aber ich bevorzuge ihren natürlichen, sanfteren Farbton. Er erinnert mich an Heuhaufen im Spätsommer.

Wie der Rest von Toronto spielt auch der Stadtteil Leslieville in heißen Nächten seinen ganzen Charme aus. Ich sehe drei rote Straßenbahnen, die hintereinander in Richtung Westen fahren, einen ergrauten Dackel in einem Kinderwagen und ein Kleinkind, das eine tropfende Eistüte hält und dessen Gesicht und Hände grün verschmiert sind, Minze wahrscheinlich. Aber Bridget sehe ich nirgends.

Als ich wieder reinkomme, zählt Farah gerade die Gestecke für die morgige Lieferung, also schnappe ich mir den Besen und fange an, die Blätter, Blumen und Schleifenreste zusammenzufegen.

Farah zeigt mit dem Finger auf mich, dessen langer Nagel mit einem säuregelben French-Nail-Streifen verziert ist. »Lass das. Ich brauche deine Hilfe nicht.«

»Das weiß ich, aber ich bin nun mal hier …«, und muss mich dringend ablenken.

»Setz dich hin und entspann dich mal für dreißig Sekunden. Dein Stress stresst mich.«

Ich schaue wieder auf die Uhr. Sechs Uhr achtzehn. Mein Herz klopft wie wild.

Bridget würde doch nicht so etwas Monumentales wie ihre letzte Hochzeitskleid-Anprobe verpassen. »Wir hätten um sechs in der Boutique sein sollen.«

Ich rufe dort an. Vielleicht haben wir uns bloß missverstanden, und ich hätte Bridget im Laden treffen sollen? Aber nein, die verärgerte Verkäuferin am Telefon sagt mir, dass Bridget noch nicht da ist. Sie sei schon zwanzig Minuten zu spät, der Laden schließe um sieben, und zu dieser Zeit des Jahres sei sowieso sehr viel los, ob ich das denn nicht wisse. Ich entschuldige mich bei ihr und versichere ihr, dass wir bald da sein werden.

Ich bin mit dem Fegen fertig und ziehe einen Hocker zu mir heran. Mit zitternden Fingern schreibe ich Bridget eine weitere Nachricht und schaue dann auf der Seite des lokalen Nachrichtensenders CP24 nach, ob es Neuigkeiten über Unfälle auf ihrer Strecke gibt.

»Lucy«, ermahnt mich Farah. Ihr sanfter Ton gefällt mir nicht.

Ich habe schon meine Tante verloren. Ich kann nicht auch noch Bridget verlieren.

Irgendetwas stimmt hier ganz und gar nicht.

Ich stehe wieder auf. Tigere nervös umher. Sylvia sieht mir einen Moment lang dabei zu, dann verlässt sie ihren Platz unter dem Tisch und trottet neben mir her.

Die längsten fünf Minuten meines Lebens verstreichen, dann vibriert das Handy in meiner Handfläche. Der Laut, der unwillkürlich aus meiner Kehle dringt, als ich Bridgets Namen auf dem Display sehe, klingt kehlig, irgendetwas zwischen einem Schluchzen und einem erleichterten Aufatmen.

»Bridget, wo bist du?«, rufe ich aufgeregt ins Handy. »Alles in Ordnung bei dir?«

Der Empfang ist schlecht, und ihre Stimme ist durch den Wind, der ins Mikrofon bläst, zusätzlich kaum zu verstehen.

»Ich kann dich nicht hören … Hörst du mich?«

»Bee?«

Es knistert in der Leitung. Ich höre das Geräusch einer Schiebetür, dann endet das Windrauschen.

»Bee?« Die Stimme meiner besten Freundin ertönt jetzt klar und deutlich am anderen Ende, aber sie klingt nicht gut. Sie klingt niedergeschlagen. Kleinlaut.

»Was ist los? Wo bist du? Wir wollten doch schon vor einer halben Stunde bei deiner Anprobe sein.«

»Ich bin zu Hause«, sagt sie. »Ich bin in Summer Wind.«

Es dauert eine Sekunde, bis ihre Worte einen Sinn ergeben. »Du bist … was?« Mein Puls klingt jetzt eher wie ein Presslufthammer in meinen Ohren. »Geht es deiner Familie gut? Deinen Eltern? Ist …« Ich verkneife es mir, den falschen Namen auszusprechen. »Ist Wolf okay?«

Ich höre sie schniefen und halte den Atem an. »Ja. Es geht ihnen gut. Aber ich dachte, sie würden hier sein. Sie haben es mir nicht gesagt.«

»Bridge, ich kann dir nicht folgen. Was haben sie dir nicht gesagt?«

»Sie haben beschlossen, mit dem Auto zur Hochzeit nach Toronto zu fahren. Sie machen eine Art Roadtrip daraus«, sagt sie, und ihre Stimme kippt. »Du weißt ja, wie sie sind.«

Ja, ich weiß, wie sie sind. Bridgets Eltern sind spontan, das Gegenteil ihrer Tochter. Das treibt Bridget oft in den Wahnsinn. Deshalb ist es nicht nur höchst ungewöhnlich, dass sie von jetzt auf gleich auf die Insel geflogen ist. Es ist zutiefst beunruhigend.

»Okay. Aber, Bridget, warum bist du auf Prince Edward Island? Deine Hochzeit ist in weniger als zwei Wochen.«

Heute Abend ist die Anprobe, und morgen sollte ich eigentlich zu ihr nach Hause kommen. Miles wollte ein schickes Abendessen kochen, während ich Bridget helfe, den Sitzplan und die Shotlist für den Fotografen fertig zu machen. Dieses Wochenende schmeiße ich die Junggesellinnenparty für sie.

»Ich weiß. Ich weiß. Aber ich musste einfach mal weg, Bee. Ich musste nach Hause fahren.« Sie redet hastig, stoßweise, so schnell, dass ich fast verpasse, was als Nächstes kommt. »Und ich brauche dich hier bei mir.«

»Du brauchst mich dort? Auf Prince Edward Island?«

Farahs Augenbrauen wandern hoch bis zum Haaransatz.

»Ja, wirklich. Im Ernst. Bitte komm«, sagt Bridget und schnieft erneut. »Es gibt morgen einen Flug, bei dem noch Plätze frei sind. Ich schaue gerade auf der Buchungsseite nach.«

»Du willst, dass ich morgen nach PEI komme?« Ich starre Farah an. Sylvia, die neben ihr sitzt, legt den Kopf schief.

»Bitte, Bee. Bitte komm her. Ich brauch dich.«

Die Liste der Gründe, warum ich hierbleiben sollte, ist lang. Da wäre zum Beispiel der Cena-Termin morgen. Die Blumenauktion am Dienstag. Ich weiß nicht, ob unsere Teilzeitkräfte spontan Zusatzschichten übernehmen können. Und dann ist da ja auch noch Bridgets Hochzeit, für die ich einiges vorbereiten muss.

Aber Bridget bittet niemals um Hilfe. Das musste sie noch nie. Sie liebt mich bis zum Neptun und zurück, aber sie braucht mich nicht so, wie ich sie brauche. Zumindest bis jetzt. Ich würde überallhin reisen, wenn sie mich um Hilfe bittet. Nein zu sagen, kommt nicht infrage.

Ich schaue zu Farah.

»Fahr«, flüstert sie.

»Okay«, sage ich zu Bridget und schüttele den Kopf. Ich kann nicht fassen, dass ich das tue.

»Du kommst nach PEI?«

Ich schlucke. »Ja«, sage ich zu Bridget. »Ich komme.«

Obwohl es einen bestimmten, sehr guten Grund gibt, warum ich nie wieder einen Fuß auf Prince Edward Island setzen sollte.

2Gegenwart

Noch acht Tage bis zu Bridgets Hochzeit

Ich starre aus dem ovalen Fenster auf das Rollfeld und beobachte, wie mein rosa Koffer auf das Förderband geworfen wird. Er bewegt sich über die Rampe in den Bauch des Flugzeugs, während sich in meinem ein Flattern breitmacht.

»In wenigen Minuten heben wir ab nach Charlottetown, Prince Edward Island«, verkündet der Flugkapitän über den Lautsprecher, und ich verschränke die Finger in meinem Schoß. Ich war mir nicht sicher, ob ich diese Worte noch einmal hören würde.

Als das Flugzeug abhebt, atme ich tief ein. Ein und aus. Und dann noch einmal. Ich sollte nicht nervös sein. Ich fliege, weil Bridget in einer Krise steckt. Es hat nichts mit ihm zu tun. Ich werde ihn wahrscheinlich nicht einmal treffen. Ziemlich sicher sitzt er mit seinen Eltern im Auto auf dem Weg nach Toronto. Ich hatte nicht den Mut, Bridget nach ihm zu fragen, aber das macht nichts. Eigentlich sollte ich gar nicht an ihn denken.

Sie klang so aufgewühlt, als wir miteinander telefonierten, und wollte nicht recht damit herausrücken, warum sie nach Hause geflogen ist. Ich weiß nur, dass sie gestern auf der Insel angekommen ist und dass sie mich an ihrer Seite haben will.

»Bridget ist wie ein wahr gewordenes Märchen in deinem Leben«, sagte meine Tante Stacy einmal, und ich gebe ihr recht.

Ich dachte, ich würde lauter tolle Kontakte knüpfen, als ich zum Studieren von St. Catharines nach Toronto zog. Es heißt ja immer, dass man an der Uni Freundschaften fürs Leben schließt, aber ich habe mich vier Jahre lang durch mein Studium der Kommunikationswissenschaft gehangelt und nie wirklich jemanden gefunden, der zu mir passte.

Nachdem wir uns angefreundet hatten, erzählte mir Bridget einmal, dass sie sich oft in einem Raum voller Menschen am einsamsten fühle, und ich dachte nur: Ja, genau das ist es.

Ich hatte Dates und einen losen Freundeskreis, aber außer meiner Tante gab es niemanden, der mich wirklich verstand. Und dann lernte ich Bridget kennen.

Unser Freundschaftsmärchen begann an einem Samstagabend. Ich war zweiundzwanzig, und eine der Geschäftsführerinnen der PR-Agentur, in der ich arbeitete, veranstaltete eine Party in ihrem Haus im Stadtteil Annex. Es war eine alte Backsteinvilla mit einem Türmchen und einer imposanten Treppe. Im Garten gab es ein weißes Partyzelt, Papierlaternen und einen Infinitypool. Ich trug ein Rüschenkleid und einen Kranz mit Blumen aus dem Garten meiner Tante. Es war ein zauberhafter Abend.

In Wahrheit unterschied er sich gar nicht so sehr von dem Studentengelage, auf dem ich im ersten Semester nur zwei Straßen weiter gewesen war. Es wurde eine gigantische Menge an Alkohol konsumiert, niemand hatte Badesachen dabei, aber einer der Jungs aus der Finanzabteilung sprang voll bekleidet in den Pool. Weitere Kollegen folgten. Als einer der älteren Gesellschafter mir schließlich unverhohlen auf den Busen gaffte, machte ich einen großen Schritt rückwärts und verdrehte mir dabei den Knöchel. Ich landete auf dem Boden mit einem kaputten Schuh. Das war mein Stichwort, die Party zu verlassen.

Also humpelte ich mit einem nackten Fuß die Brunswick Avenue entlang, als ich plötzlich eine Fahrradklingel hinter mir hörte, und dann: »Hey, Aschenputtel.«

Ich drehte mich um, und da war Bridget, auf einem roten Singlespeed-Bike, in einem abgeschnittenen Jeans-Overall, mit weißem Helm und ohne einen Hauch von Make-up. Sie war umwerfend.

Wir hatten uns noch nie richtig unterhalten, aber ich kannte sie flüchtig von der Arbeit. Sie war Assistentin wie ich, aber in Meetings sprach sie mit der Autorität von jemandem, der doppelt so viel Erfahrung hat. »Du bist Bridget, stimmt’s?«

»Jap. Und du bist Lucy Ashby, die in Meetings Gänseblümchen malt.«

Ich lächelte. »Ich male auch Tulpen.«

»Die Party war also ein Reinfall.«

»Ja. Ich dachte, es wäre nicht so …«

»… eine Vollkatastrophe?«, beendete Bridget meinen Satz.

Ich nickte.

Sie deutete auf den Schuh in meiner Hand. »Was ist denn da passiert?«

»Ich bin damit zwischen den Pflastersteinen hängen geblieben und in eine Pfütze aus Poolwasser gefallen.« Ich drehte mich, um ihr den nassen Fleck auf meinem Hintern zu zeigen. »Zumindest hoffe ich, dass es Poolwasser war. Mein Absatz ist abgebrochen.«

»Wo wohnst du?«

»Jarvis Ecke Wellesley Street.«

»Das ist gar nicht weit von mir. Ich wohne in Cabbagetown. Steig auf.«

So kam es, dass ich auf Bridgets Lenker die Bloor Street hinunterfuhr und ihren Geschichten über das Aufwachsen auf Prince Edward Island lauschte. Einmal musste ich derart lachen, dass ich fast heruntergefallen wäre. Als wir an meinem Haus ankamen, setzten wir uns auf die Eingangstreppe und plauderten noch über eine Stunde weiter.

»Ich reserviere dir einen Platz im Quartalsmeeting am Dienstag«, sagte sie zu mir, während sie die Schnalle an ihrem Helm zumachte. »Du kommst immer zu spät.«

»Super.« Ich war überrascht, dass sie es bemerkt hatte. »Danke.«

Sie stieg auf ihr Fahrrad, fuhr los und rief mir dann noch über ihre Schulter »Bis dann, Ashby« zu. Heute weiß ich, dass das etwas ist, was ihr Vater gerne macht – Leute beim Nachnamen nennen.

Am Ende der Woche teilten wir Snacks, aßen gemeinsam zu Mittag und tauschten Gerüchte aus – und sie hatte Ashby zu Bee verkürzt und meinte, das würde zu mir passen, so, wie ich immer herumschwirrte. Es machte mir nichts aus. Kein bisschen. Denn in den nächsten fünf Jahren, bis zu dem Tag, an dem sie aus unserer gemeinsamen Wohnung auszog, fühlte ich mich nie mehr einsam.

Mittlerweile wohnen wir nicht mehr zusammen. Wir sind neunundzwanzig, und sie wird bald heiraten. Wir haben uns beide in unsere Karrieren gestürzt.

Bridgets Vorstellungsgespräch beim Sunnybrook Hospital war der Grund dafür, dass sie vor fünf Jahren ihren Flug nach PEI verpasste. Sie hatte die Auswahlkommission geradezu umgehauen und wurde noch stundenlang herumgeführt, um den Komplex zu besichtigen und ihre zukünftigen Kollegen und den Chef ihres Chefs kennenzulernen. Die Tage, an denen wir in unseren Kaffeepausen den Büroklatsch austauschten, fühlen sich heute wie aus einem anderen Leben an, und es ist schwieriger geworden, gemeinsam wegzufahren.

Ich döse irgendwo über Quebec ein, aber das Nickerchen dauert nicht annähernd lange genug. Ich träume von einer Hochzeit, bei der Minuten vor der Zeremonie alle Blumen verwelken. Über Maine geraten wir in Turbulenzen, und ich bin wieder hellwach, mein Herz rast, und ich habe feuchte Hände.

In all den Jahren, die Bridget und ich nun schon befreundet sind, hat sie noch nie so verloren geklungen wie gestern am Telefon. Normalerweise ist es immer Bridget, die sich um mich kümmert. Sie hat mir schon öfter, als ich zählen kann, wieder aufgeholfen, nachdem ich hingefallen war. Bridget selbst kommt nur selten ins Straucheln.

Der praktische Teil meines Gehirns weiß, dass ich gerade eigentlich nicht in diesem Flugzeug sitzen sollte. Als ich gestern Abend Lillian von Cena anrief, um ihr mitzuteilen, dass ich unseren Termin verschieben müsse, war sie eindeutig enttäuscht.

Ich konnte ihr nicht einmal konkret sagen, wann ich wieder zurück sein würde. Ich hörte mich wie eine unzuverlässige Versagerin an.

Bridget bestand darauf, mir mein Ticket zu kaufen, aber sie hat noch keinen Rückflug gebucht. Ich kann mir jedoch nicht vorstellen, länger als bis zum Wochenende zu bleiben. Ich habe zu viel auf dem Zettel, unter anderem den Blumenschmuck für Bridgets Hochzeit, aber wie könnte ich ihr etwas ausschlagen, wo sie schon so viel für mich getan hat?

»Achtung, Achtung, verehrte Passagiere«, ertönt die Stimme des Piloten. »Gleich setzen wir zum Landeanflug auf Charlottetown an.«

Dies ist meine fünfte Reise auf die Insel – letzten Juli war ich allein hier. Ich schaue aus dem Fenster, und mir wird ganz flau im Magen. Vom Himmel aus erinnert Prince Edward Island an einen der Quilts von Bridgets Großmutter – ein wahrer Flickenteppich aus Farmen, Feldern und Bäumen. Diese Insel mag Bridgets Zuhause sein, aber auch mir bedeutet sie viel. Einige meiner glücklichsten Erinnerungen sind verbunden mit diesem herrlich grünen sichelförmigen Stück Land.

Allerdings auch einige meiner größten Fehler.

Aber ich werde sie nicht wiederholen. Nicht dieses Mal. Dieser Sommer wird anders.

Das muss er auch.

Denn Bridget ist mein liebster Mensch auf der Welt. Meine Ratgeberin. Meine Schwester. Ich würde alles tun, worum sie mich bittet, selbst wenn es sich dabei um eine superspontane Notfallreise handelt. Mich nicht zu verlieben inbegriffen.

3Gegenwart

Ich bin schon immer gern nach Charlottetown geflogen. Man verlässt das Flugzeug direkt auf dem Rollfeld, was mir jedes Mal das Gefühl gibt, ein Promi zu sein. Der Flughafen selbst ist winzig und herzallerliebst. Es gibt nur ein einziges Gepäckband, und innerhalb von fünfzehn Minuten, nachdem man einen Fuß auf Prince Edward Island gesetzt hat, hat man auch schon seinen Koffer in der Hand.

Aufgrund der Informationen, die Bridget mir gegeben hat, vermute ich, dass sie mich draußen auf dem Parkplatz erwartet, also gehe ich direkt in Richtung der Kuhstatue der Cows Creamery, um mein Gepäck in Empfang zu nehmen. Die Kuh sieht aus wie eine lebensgroße Comicfigur – schwarz-weiß mit rosa Schnauze – und bringt mich immer zum Schmunzeln. Seit meiner ersten Reise bin ich leicht versessen auf sie. Aber meine Lieblingskuh ist diesmal nirgends zu sehen. Entsetzt drehe ich mich mitten im Raum einmal im Kreis.

»Brauchst du Hilfe, Schätzchen?«, erkundigt sich eine Frau mit Besen und Kehrschaufel bei mir. Inselbewohner sind wirklich die nettesten Menschen.

»Nein, aber danke«, sage ich zu ihr. »Mir ist nur gerade aufgefallen, dass die Kuh weg ist.«

»Eine Schande, nicht wahr? Die Renovierung. Mir fehlt Wowie auch.«

»Ich wusste nicht, dass sie sogar einen Namen hat.«

Die Frau nickt. »Ja, Wowie.« Sie wünscht mir noch einen schönen Tag, und ich habe gerade mal zwei Schritte auf das Gepäckband zu gemacht, als ich gepackt werde. Bridget ist einen ganzen Kopf kleiner als ich, aber sie stürzt sich mit solchem Schwung auf mich, dass ich fast umfalle. Sie schlingt die Arme um mich, und mein Gesicht verschwindet in einer Wolke aus Blond.

Wir haben uns erst letztes Wochenende gesehen, auf dem Junggesellinnenabschied in der Arbeit, den ihre Kolleginnen geschmissen haben, aber sie umarmt mich, als wäre es Monate her. Da schien mit Bridget noch alles in Ordnung zu sein, aber ich könnte auch etwas übersehen haben. Ich war an dem Tag abgelenkt, unruhig, weil ich ausnahmsweise nicht in meinem Laden war.

»Ich bin so froh, dass du lebst«, nuschle ich in Bridgets Haar. »Du hast mir gestern echt einen Riesenschrecken eingejagt.« Ich drücke sie fest an mich, dann schiebe ich sie an den Schultern ein kleines Stück von mir weg, damit ich sie mir genauer ansehen kann. Sie trägt abgeschnittene Shorts, ein Tanktop und kein bisschen Make-up. Sie sieht fast genauso aus wie damals, als wir dreiundzwanzig und noch Mitbewohnerinnen waren, bevor sie mit Miles zusammenzog.

Mit ihrem goldenen Lockenschopf und ihrer winzigen Körpergröße wirkt Bridget ein bisschen wie ein niedlicher Kobold mit Sommersprossen auf der Nase und den Schultern, die sich immer zeigen, sobald sie mit ein paar Sonnenstrahlen in Berührung kommt. Aber sie ist tough und wird oft unterschätzt. Sie liebt es, die falschen Erwartungen zu sprengen. Das habe ich selbst live mitbekommen, als wir noch zusammengearbeitet haben.

Einmal, während eines ziemlich angespannten Meetings, wandte sie sich an den Mann neben ihr und sagte ihm, sein Standpunkt sei Quatsch mit Soße. Das war noch, bevor wir befreundet waren, und die Art und Weise, wie sie es sagte, mit dieser unverblümten Selbstsicherheit, gefiel mir besonders.

Bridgets Ostküsten-Tonfall stach damals immer nach einem Drink oder während einer hitzigen Debatte besonders deutlich hervor.

»Ich bin so froh, dass du hier bist.« Bridget lächelt mich an, und ihre Zwillingsgrübchen kommen zum Vorschein. Aber ihre Wangen sind blass, und unter ihren braunen Augen zeichnen sich dunkle Ringe ab. Bridget hält sich normalerweise strikt an ihren Schlafrhythmus, doch letzte Nacht hat sie auf keinen Fall ihre selbst verordneten acht Stunden Schlaf bekommen.

»Du weißt, ich würde von der Klippe springen, wenn du mich darum bittest.«

»Vielleicht morgen.« Sie kneift mich in die Wange. Gern zeigt sie ihre Zuneigung auf überschwängliche Art, und meine Wangen bekommen viel davon ab.