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Das Leben der 16-jährigen Ria wird von Regeln und Geheimnissen bestimmt. Nicht einmal ihrer besten Freundin darf sie erzählen, dass sie eine Vogelwandlerin, eine sogenannte Alata, ist. Selbst vor anderen ihrer Art muss sich Ria in Acht nehmen, denn sie kann sich in einen Phönix verwandeln und das hat schon ihren Vater das Leben gekostet. Als sich ihr Großvater nicht mehr um sie kümmern kann, wird sie in die Federklaue gesteckt – ein Waisenhaus für Vogelwandler in Weimar. Dort ist Ria zum ersten Mal von Alati ihres Alters umgeben und im turbulenten Alltag wird es immer schwieriger, ihre Phönixgestalt zu verbergen – vor allem, als sie sich mehr und mehr zu Lily hingezogen fühlt. Doch schon bald ist das nicht mehr ihr einziges Problem. Was hat es mit den Schattenwesen auf sich, die Weimar belagern? Und wohin verschwinden die Bewohner des Waisenhauses in der Nacht? Wird Ria die Geheimnisse, die sie umgeben, aufdecken können, ohne ihr eigenes zu verraten?
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Ines Plagemann
Funkenfeder
Teil 1 der Vogelwandler-Dilogie
Falls Sie eine Triggerwarnung benötigen, finden Sie diese auf meiner Webseite:
www.ines-plagemann.de/buecher.
Ähnlichkeiten in diesem Buch sind zufällig oder eine Hommage. Die beschriebenen Orte habe ich verändert, wo es für die Geschichte besser passt.
© 2021 Ines Plagemann
Autorin: Ines Plagemann
c/o Fakriro GmbH / Impressumsservice
Bodenfeldstr. 9
91438 Bad Windsheim
Cover und Illustrationen: Anastasiia Orobko (Instagram: Anta Frirean @anta_arf)
Lektorat: Marieke Kühne, textzucker e. U. (www.textzucker.at)
Korrektorat: Textfein (www.textfein.at)
Sensitivity Reading: Nora Bendzko (norabendzko.com)
Satz: Ines Plagemann
EAN: 9783754608913
ASIN: B09DHW196Q
ISBN Hardcover: 978-3-96966-827-6
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Inhalt
Widmung
Illustration: Flug über dem Meer
Die erste Regel
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Illustration: Villa Federklaue
Die zweite Regel
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Illustration: Die Klauenschar
Die dritte Regel
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Illustration: Phönix
Danksagung
Über die Autorin
Für Gbemi,
die dieser Geschichte Flügel verliehen hat
Die erste Regel
Erzähle niemandem, dass du eine Alata bist.
Paragraf 1, Absatz 1 von Opas Überlebensregelbuch
Kapitel 1
Auf Rias Gefieder tanzten Funken und in ihren Adern loderte Feuer. Der Wind trug sie rasend schnell zur Küste der Insel Ameland, in den Ausschnitt des Himmels, über den Femke soeben verträumt den Blick schweifen ließ. In letzter Sekunde übernahmen Rias antrainierte Reflexe die Oberhand und sie schlug hektisch mit den Schwingen, um ihren Anflug zu bremsen. Funken blitzten wie ein Kometenhagel um ihre Vogelgestalt. Femke sah zurück auf den Feldweg, ohne Ria bemerkt zu haben.
Frustriert über ihre eigene Disziplin legte Ria sich in die Kurve und drehte weit oben hinter ihrer besten Freundin Kreise in der Abendluft. Die Sonne wetteiferte in Rot- und Orangetönen mit der Färbung ihres Gefieders, aber selbst der Sonnenuntergang war keine Tarnung für einen Phönix. Ein Blick zurück in den Himmel und Femke würde sie unweigerlich sehen.
Mit jedem Flügelschlag gegen den Wind kämpfte Ria auch gegen das Davonfliegen ihres Mutes an. Bei diesen Lichtverhältnissen zu fliegen war nicht nur töricht, sondern im schlimmsten Fall lebensgefährlich. Wenn andere Alati sie sahen … Allerdings waren ihr die anderen Vogelwandler gerade reichlich egal. Sie war wegen Femke hier. Femke, die alles von ihr wusste, bis auf das hier. Paragraf 1, Absatz 1 von Opas Überlebensregelbuch sagte deutlich: Erzähle niemandem, dass du eine Alata bist! Aber bei besten Freundinnen sollten Überlebensregelbücher keine Rolle spielen.
Femke müsste nur einen Blick über die Schulter vom Feldweg in den Abendhimmel werfen und Rias größtes Geheimnis wäre keines mehr. Lautlos schwebte Ria über ihr. Schon tausendmal hatte sie sich diesen Moment ausgemalt: Wie Femke Mund und Augen aufriss, während Ria sich in der Zeit eines Wimpernschlags von einem Vogel einer Märchengestalt gleich in ihre Menschengestalt verwandelte und elegant, vom Schwung in die Hocke federnd, vor ihr landete. Diese winzige Sekunde, in der Rias gelocktes Haar in flammendem Rot leuchtete, bevor schwarze Farbe es überschattete. Wie würde Femke reagieren?
Ria war sich zu neunundneunzig Prozent sicher, dass sie hellauf begeistert wäre. Aber wenn man einmal angefangen hatte, dieses Geheimnis zu tragen und nach Opas Regelbuch zu leben, hörte man nicht mehr damit auf. Ria hatte den Moment verpasst.
Statt zu ihrer Freundin hinabzufliegen, beobachtete sie sie aus der Ferne. Sie fühlte sich seltsam taub und machtlos. Wie sehr hatte sie sich immer danach gesehnt, eine Verbündete zu haben. Eine, die sogar ihr größtes Geheimnis kannte.
Sieh nach oben!, flehte sie.
Sobald Femke den ungewöhnlichen Vogel über sich erst einmal gesehen hätte, wäre Absatz 1 außer Kraft gesetzt. Paragraf 2, Absatz 6 von Opas Regelbuch: Sieht dich jemand in deiner Vogelgestalt und gibt es keine Möglichkeit, deine Identität zu verleugnen, stelle mit allen Mitteln sicher, dass er niemandem davon erzählt. Ria wäre quasi verpflichtet, Femke in ihr Geheimnis einzuweihen. Aber ihre beste Freundin sah nicht in den Himmel. Flotten Schrittes lief sie den Küstenweg entlang, ihre Hände streiften die Gräser am Wegesrand. Sie erreichte die ersten Häuser der Siedlung und Rias letzte Chance war vergangen.
Ria ließ sich an der Insel vorbei über den Ozean abtreiben und schrie all ihre Angst und Verzweiflung hinaus. Eine Windböe riss die Töne von ihrem Schnabel und trug sie über das Meer davon, wo allein die Möwen sie hörten. In stummem Respekt folgten die grauen Vögel ihr in Schwärmen auf ihrem letzten Flug um die Insel.
Der Schmerz über den Verlust ihrer besten Freundin war so stark, dass er selbst ihre Flammen auslöschte. Kein einziger Funke löste sich mehr von ihren Federn, das Feuer erstarrte in der Kälte ihres Herzens. Und Ria war derart durch den Wind, dass sie nicht einmal mehr Erleichterung darüber empfand.
Als sie sich Minuten später an einer geschützten Stelle in ihre menschliche Gestalt verwandelte, war ihre Kehle rau vom Schreien. Ohne das schützende Gefieder umfing sie schlagartig die abendliche Kälte und sie schlotterte am ganzen Körper. Schleunigst folgte Ria dem Weg durch das Wäldchen, aber bevor sie um die letzte Biegung trat, verlangsamte sie die Schritte. Diese schreckliche Endgültigkeit hatte von ihr Besitz ergriffen. Als wäre es, wenn sie jetzt um die Kurve bog, das allerletzte Mal, dass sie ihr geliebtes Zuhause sehen würde.
Die dürre, knorrige Eiche kam zuerst in Sicht. Daneben duckte sich das Huiz Ochtendzon in die Dünen. Das Reetdach spannte sich über die grauen Ziegel, die weißen Fensterrahmen wirkten einladend – nicht so ihr Großvater, der mit verschränkten Armen in der Tür stand.
Sie konnte sein Aufatmen sehen, als er sie entdeckte, und hatte sofort ein schlechtes Gewissen. Gewaltsam hielt sie die Tränen zurück, die sich in ihren Augenwinkeln sammelten.
„Ich gehe packen“, murmelte sie statt einer Begrüßung.
Opa nickte hilflos und ließ sie vorbei. Obwohl er sicher an ihrer Erschöpfung erkannte, dass sie eine Regel gebrochen hatte, sparte er ihr die übliche Rede.
Die Stufen knarrten laut unter Rias Schritten. In ihrem Zimmer lag bereits der Koffer auf dem Boden. Er nahm fast den gesamten Platz zwischen Bett und Kleiderschrank ein. Sie liebte dieses Zimmer, den Blick auf die Dünen und das Meer, das zwischen den dürren Bäumen hervorblitzte, den zerkratzten Holzboden, den Schrank mit dem aufgemalten Blumenmuster, sogar die dünnen, babyblau gestrichenen Wände, durch die sie nachts den Wind pfeifen hörte. Von allen Orten, an denen sie gelebt hatten, war ihr keiner so ans Herz gewachsen wie dieses Haus.
Mit einem Satz sprang Ria über den Koffer auf ihr Bett. Der alte Lattenrost protestierte geräuschvoll. Sie schlang ihre Arme um das Kissen und starrte auf ihre Fotowand. Auf den meisten Fotos waren Femke und sie zu sehen: auf der superlangen Schaukel im Garten, die Opa für sie gebaut hatte, oder am Strand beim Windsurfen. Dazwischen war eines mit ihrem Großvater auf einer Brücke in Amsterdam, auf dem er seinen albernen Strohhut trug.
Und ganz unten hing ein Foto ihrer Eltern. Papa mit der altmodischen Dauerwelle, durch die seine braun gefärbten Haare fast genauso lockig wirkten wie der Afro ihrer Mutter. Seine Haut war gerötet von der Sommersonne. Und Mama in dem senfgelben Kleid, das so perfekt zu ihrer Hautfarbe passte – ein dunkles Sepia wie das Gefieder einer Wasseramsel. Sie sah wunderschön aus mit ihrem unbeschwerten Lächeln.
Rias Herz zog sich zusammen und die Angst ließ sie nur schwer atmen. Wenn sie sich morgen wiedersahen, würde Mama dann mit der Frau auf diesem Foto noch weniger Ähnlichkeit haben als vor drei Jahren? Das Bild verschwamm vor ihren Augen. Durch den Tränenschleier hindurch ertastete sie die Stecknadeln und löste ein Foto nach dem anderen von der Wand. Sie verstaute sie in einer Klarsichthülle und legte sie zuunterst in den Koffer. Als Nächstes wandte sie sich ihrer Kleidung zu. Sie konnte nicht alles mitnehmen, denn mehr als diesen Koffer und einen Rucksack konnte sie nicht tragen.
Schwerfällige Schritte auf der Treppe kündigten ihren Opa an. Zwei Tassen Tee in den Händen balancierend trat er in ihr Zimmer und blieb unschlüssig vor dem Koffer stehen. Sie nahm ihm die Tassen ab und er stieg über das Hindernis hinweg. Er setzte sich neben sie auf das Bett und nahm seinen Tee wieder entgegen. Schweigend saßen sie dort und umklammerten das Porzellan. Ria merkte, dass ihr immer noch eiskalt war. Sie beugte sich dicht über die Tasse und der warme Lufthauch streichelte ihre Wangen – es war ein tröstliches Gefühl.
Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, wie Opa über den Rand seiner Tasse strich, seine Haut wettergegerbt und grau wie der von Wasser überspülte Sand an der Küste. Im Alltag war es einfach, sein Alter zu vergessen. Aber heute war kein normaler Tag und sie spürte einen Stich der Furcht, dass sie ihn nicht wiedersehen würde, wenn sie ging.
„Ich kann dir auch etwas nachschicken“, bemerkte Opa und tätschelte unbeholfen ihr Knie.
Ria griff nach seiner Hand und sie klammerten sich aneinander fest, ihre eigene Haut so viel dunkler als Opas. Zwischen ihren Fingern wirkte seine noch grauer. „Wenn Mama mich überhaupt reinlässt“, erinnerte sie ihn und er seufzte.
„Wird sie.“ Opa stellte die Tasse auf dem Boden ab und legte den Arm um sie.
Jetzt konnte sie ein Schluchzen nicht mehr unterdrücken, presste ihre Hand auf den Mund und ließ zu, dass er sie an seine Brust zog. Es war lange her, seit sie das letzte Mal geweint hatte.
„Ich werde dich vermissen, Mäuschen.“
„Ich komme bald wieder“, beharrte sie.
Opa schwieg.
***
Als sie am nächsten Morgen um fünf Uhr im Wassertaxi saß, um den ersten Bus von Holwerd aus zu erreichen, schrieb sie Femke eine Nachricht. Sie brauchte die ganze Überfahrt für die paar Zeilen.
Hi, Femke. Musste spontan zu Mama fahren. Bleibe wahrscheinlich für eine Weile dort.
Wie verabschiedete man sich, wenn man sich vielleicht nie wieder sah?
Werde dich vermissen. Ria.
Liebe dich, deine Ria.
Halt die Ohren steif, Inselschwester!
Am Ende schrieb sie einfach nur: Ria.
Im unbequemen Sitz des Zuges nach Utrecht war sie gerade in einen leichten Schlaf gefallen, als ihr Handy klingelte – es war Femke. Ria wusste immer noch nicht, was sie ihr erzählen sollte. In ihrem Kopf herrschte Leere. Die anderen Leute im Zug warfen ihr genervte Blicke zu, bis das Klingeln schließlich aufhörte.
Sofort trudelten Nachrichten ein:
Ria! Was ist passiert?! Ist etwas mit Hermi?
Oder deiner Mutter?
Oder dir?!!!
Du kannst mich doch nicht einfach so ohne Details zurücklassen!
Geh gefälligst an dein Handy!!!!
Riaaaaaaa
Ein bisschen musste Ria trotz der beschissenen Situation schmunzeln. Femke würde sie niemals in Ruhe lassen, bis sie geantwortet hatte. Ein schmerzhaftes Stechen in der Brust ließ sie tiefer in den Sitz rutschen. Sie presste die Hand dagegen und atmete bewusst ein und aus. Der Zug hielt und fuhr wieder an, bis sie sich dazu durchgerungen hatte, auf Anrufen zu drücken.
Femke nahm sofort ab. „Ria! Was ist passiert? Wo bist du?“
„Hi.“ Ihre Stimme klang rau und leise. Augenblicklich hatte sie das Gefühl, das ganze Zugabteil würde ihr zuhören. „Mir geht’s gut. Ich bin nur für eine Weile weg.“ Oder für immer.
„Aber es ist doch mitten im Schuljahr! Wir schreiben heute Mathe!“
„Ich weiß.“
Kurz hörte sie nur Femkes hektischen Atem. „Du meinst das ernst. Das ist kein doofer Scherz? Du sitzt im Zug nach … Deutschland?!“
„Ja“, hauchte Ria und kämpfte schon wieder mit den Tränen. Blinzelnd starrte sie aus dem Fenster auf die vorbeiziehende Landschaft. Das Meer war längst nicht mehr zu sehen, stattdessen nur flaches Land, vom Morgenlicht rötlich verfärbt.
Hatte sie ihr Haarfärbemittel eingepackt? Sie erinnerte sich nicht. Mühsam hielt Ria einen Anflug von Panik in Schach. Kein Problem, sie konnte sich immer noch neues kaufen.
„Aber warum?! Was ist passiert?“, fragte Femke.
„Mein Opa hat eine Nachricht von einem Freund bekommen und … er muss sich um etwas kümmern.“
Sie merkte selbst, wie schwach die Aussage war. Warum hatte sie sich nicht eine Lüge ausgedacht? Damit würde sie eher durchkommen als mit diesen Halbwahrheiten.
„Und da darfst du nicht anwesend sein, oder was?“, fragte Femke skeptisch.
„Es ist etwas kompliziert. Tut mir leid, dass ich mich nicht richtig verabschiedet habe. Es ging alles so schnell heute Morgen.“
„Ich verstehe immer noch kein Wort, aber … Ri, wenn irgendwas ist, kannst du mich immer anrufen, ja? Oder ich komm vorbei! Sag einfach Bescheid und ich steig in den nächsten Zug!“
„Ja. Danke.“ Sie versuchte, sich die Tränen nicht anmerken zu lassen, die jetzt doch über ihre Wangen liefen. Aber Femke kannte sie zu gut, um den verräterischen Unterton in ihrer Stimme nicht zu hören.
„Ri …“, murmelte sie betroffen.
„Schon okay. Ist nur alles ein bisschen viel gerade.“
„Weiß deine Mutter, dass du kommst?“
„Nein, noch nicht. Ich wollte sie von unterwegs anrufen, aber … Vielleicht rede ich lieber persönlich mit ihr. Bin ja schon auf dem Weg.“
„Ruf mich an, wenn du mehr weißt, okay?“
„Mach ich.“
„Ri, ich vermiss dich jetzt schon! Wie soll ich denn Mathe ohne dich überleben?“
Ria wünschte sich, ihr größtes Problem wäre so etwas Banales wie Mathe. Aber in ihrem Leben würde das niemals so sein.
„a² plus b² gleich c²“, sagte sie schniefend und brachte Femke damit tatsächlich ein bisschen zum Lachen. „Ich werde dich auch vermissen“, fügte sie hinzu.
Sie spürte sie bereits, die Sehnsucht, wenn sie an Femke dachte. Manche Menschen waren wie Kraniche im Herbst – vorbeigezogen mit Geschnatter und am nächsten Tag vergessen. Aber manche waren wie die Amsel im Garten, deren Gesang das ganze Jahr anhielt.
Nach dem Telefonat konnte Ria nicht mehr einschlafen. Sie rieb ihre Brille trocken und starrte blicklos in die vorbeiziehende Landschaft. Irgendwann hinter der niederländischen Grenze gab sie den Versuch zu schlafen auf und zupfte ein paar Blätter Papier aus ihrem Rucksack. Vor Frankfurt hatte sie drei Kraniche gefaltet. Sie ließ die Papiervögel im Zug liegen, als sie umstieg.
Natürlich hatte ihr nächster Zug Verspätung. Wie sie das hasste! Wenn sie einfach fliegen könnte, wäre sie schon längst dort! Aber so dauerte es bis nach 17 Uhr, bis sie endlich in Erfurt auf den Bahnsteig trat. Sie fühlte sich gerädert. Ihre Augenlider waren schwer vor Müdigkeit und ihre Glieder schmerzten vom Sitzen.
Immerhin erwischte sie sofort eine Straßenbahn. Je näher ihre finale Haltestelle kam, desto mehr fürchtete sie sich vor der Ankunft. Sie spielte mit dem Gedanken, auszusteigen und auf die nächste Bahn zu warten. Aber das war ihr dann doch zu albern.
So schleifte sie viel zu bald ihren Koffer die Treppe des Wohnblocks hoch. Es roch beißend nach irgendetwas Frittiertem und ihr Magen konnte sich nicht entscheiden, ob das eher ein Grund für Übelkeit oder Hunger war.
Auf halbem Weg musste sie eine Pause machen und lehnte sich schwer atmend an das Geländer. Ein Typ mit ins Gesicht gezogener Kapuze kam die Treppe herunter und Ria hielt den Atem an. Ihr müdes Gehirn spielte ihr Horrorszenarien vor, in denen er sich als mordender Alatus entpuppte. Aber er lief vorbei, ohne sie zu beachten, und attackierte sie lediglich mit seiner Knoblauchfahne. Sie wartete, bis unten die Haustür zugefallen war, bevor sie weiterlief.
Mit vor Anstrengung brennendem Arm kam sie im fünften Stockwerk an. Ihr Herz raste, aber nicht nur vom Treppensteigen. Sie strich sich über die Stirn, schob die Brille zurecht und ordnete ihre Kleidung. Tief durchatmend betätigte sie die Klingel. Irgendwo bellte ein Hund.
Ein Teil von Ria war unangemessen erleichtert, als sich auf der anderen Seite der Tür nichts rührte, aber das schob das Drama nur auf. Der Name ihrer Mutter stand noch auf dem Klingelschild, also wenn sie nicht im Urlaub war (unwahrscheinlich), würde sie irgendwann nach Hause kommen.
Ria setzte sich auf ihren Koffer und wartete. Ein weiterer Mann kam vorbei und diesmal traf sie ein misstrauischer Blick. Sie fühlte sich wie ein Eindringling und wollte sich am liebsten in Luft auflösen.
Unten wurde die Eingangstür geöffnet und Ria hielt inne. Schritte schlurften die Treppe empor, Stufe für Stufe, Windung für Windung, immer höher. Regungslos wartete sie ab, bis die Gestalt in ihr Blickfeld kam.
Ihre Mutter bemerkte sie erst, als sie die letzte Kehre umrundet hatte. Mit einem überraschten Keuchen blieb sie stehen und griff haltsuchend nach dem Geländer. Ria sprang auf und wappnete sich gegen die Reaktion.
„Rianne! Was machst du hier?“, rief ihre Mutter.
„Hallo, Mama.“
Ria versuchte sich an einem Lächeln, aber als das Gesicht ihrer Mutter einen verärgerten Ausdruck annahm, ließ sie es schnell fallen. Stattdessen starrte sie auf ihre ausgetretenen Sneaker. Femke und sie hatten Schnürsenkel getauscht, deswegen hatte sie jetzt einen roten und einen grünen.
„Warum bist du nicht bei Opa?“, fragte ihre Mutter.
Sie zuckte mit den Achseln und schluckte den Kloß im Hals hinunter. „Es ist etwas passiert. Er hat gesagt, ich soll jetzt bei dir wohnen.“ Die Worte auszusprechen machte es viel zu real. Bei dir wohnen.
„Das geht nicht, das weiß er doch genau!“ Ihre Mutter stapfte die letzten Stufen herauf, bis sie vor ihr stand.
Abwesend nahm Ria wahr, dass sie inzwischen gleich groß waren. In den drei Jahren war Ria gewachsen, aber ihre Mutter hatte sich nicht verändert. „Er sagt, ich bin nicht mehr sicher bei ihm.“
„Aber hier schon, oder wie? Ich kann doch auch nicht … Warum zieht ihr nicht einfach um, wie sonst auch?“ Sie gestikulierte hektisch, als könnte sie Ria damit vertreiben wie Rauch.
Dummerweise war sie aus Fleisch und Blut. Anders als Papa, mit dem sie sofort getauscht hätte. Aber dieser Rauch war schon längst verzogen und die Erinnerungen, die er zurückgelassen hatte, schwebten zwischen Ria und ihrer Mutter wie ein Gespenst. Sie biss sich auf die Lippe und vermied es, den Blick zu heben. „Ich weiß es doch nicht!“ Unabsichtlich war sie laut geworden und ihre Mutter zuckte zusammen.
„Schht!“, zischte sie.
Aber immerhin kramte sie jetzt ihren Schlüssel aus der Handtasche, damit sie nicht auf dem Flur weiterdiskutieren mussten. Sobald sie in der Wohnung waren, griff sie sich das Telefon und haute eine lange Nummer in die Tasten. Ria hatte keinen Zweifel, wen sie anrief. Erstaunlich, dass sie die Nummer auswendig kannte, so selten, wie sie sich meldete.
„Hermann!“, blökte sie ins Telefon.
Ria hasste es, wenn sie sich stritten. Vor allem, weil es immer um Ria ging.
„– meinst du etwa ich?! Als ob ich –“
Ria lud ihr Gepäck in dem winzigen Flur ab und ging an ihrer Mutter vorbei ins Wohnzimmer. In eine Ecke des Sofas gekauert versuchte sie, die grelle Stimme auszublenden. Blinzelnd starrte sie an die Wand. Hellgrün gestrichen, ein Gemälde mit schneebedeckten Berggipfeln, orange-gelbe Vorhänge.
„– kommt überhaupt nicht infrage! Ich kann das nicht! Verstehst du nicht –“
Ria zog sich den Kragen ihrer Jacke über die Ohren. Die Stimme ihrer Mutter wurde zu einem dumpfen Rauschen. Was wenn … Sie führte den Gedanken nicht zu Ende. Es war offensichtlich zu spät, um nach Ameland zurückzufahren. Ihre Mutter konnte sie nicht zurückschicken.
Auf der Kommode mit dem Fernseher stand ein Bilderrahmen. Ria war überrascht, dass ihre Mutter noch ein Familienfoto besaß. Sie hätte gedacht, dass die Erinnerung zu schmerzhaft sei, um den Anblick zu ertragen. Mit einem hohlen Gefühl im Inneren griff Ria nach dem Bild. Es ähnelte dem auf ihrer Fotowand, nur dass Ria hier schon ein bisschen älter war. Sie saß auf Papas Schultern und er hielt Mamas Hand.
Schlagartig blitzten Flammen vor ihrem inneren Auge hoch und sie konnte den beißenden Rauch riechen, der ihre Kehle zerfraß. Viele Erinnerungen an ihren Papa waren verblasst, aber niemals würde sie seine Stimme vergessen, wie er ihr zugebrüllt hatte, sich zu verstecken. Die letzten Worte, die er zu ihr gesagt hatte. Die letzten Worte, bevor Schatten ihn erstickt hatten und sein Feuer das Haus emporgelodert war, ungezähmt ohne die Kraft des Phönixes, der es erschaffen hatte.
Der Bilderrahmen entglitt Rias Fingern. Das Klirren des brechenden Glases holte sie zurück in die Wirklichkeit. Erschrocken starrte sie auf die Scherben und schnappte nach Luft. Kein Rauch, nur der muffige Geruch des alten Sofas. Eine Hand schob sich in ihr Blickfeld und hob den Bilderrahmen auf.
„Tut mir leid! Ich wollte nicht …“, sagte Ria schnell.
Eine Träne entkam ihren Augen. Hektisch wischte sie über ihr Gesicht und wartete darauf, dass ihre Mutter sie anschrie. Aber nichts dergleichen passierte. Ihre Mutter setzte sich neben sie und sah müde auf das alte Foto.
Lange rührte sich keine von ihnen. Ria bemühte sich, ihre Tränen in den Griff zu bekommen, während ihre Mutter ganz weit weg zu sein schien. So, wie sie saßen, blickte Ria genau auf die verbrannte Seite ihres Gesichts. Unnatürlich hell hoben sich die Brandnarben vom dunklen Teint ihrer Mutter ab. Wann immer Ria meinte, sie wäre an den Anblick gewöhnt, traf er sie mit voller Wucht.
Ihr Vater hatte versucht, seine Familie zu schützen, stattdessen hatte er seine Frau für immer entstellt. Sie trug keine Phönixgene in sich, die sie hätten schützen können. Schlimmer noch waren die Narben in ihrem Inneren, der Schmerz, der sie selbst nach all den Jahren dazu brachte, ihre Tochter von sich zu stoßen. Blinzelnd sah sie auf ihre Hände. Dann seufzte sie tief und drehte sich zu Ria.
„Rianne, es tut mir leid. Du kannst nicht hierbleiben.“
Die Worte rannen kalt wie Eis durch Rias Bewusstsein. Sie schluckte schwer und nickte, ohne den Blick zu heben. „Ich kann heute nicht mehr zurückfahren.“ Ihre Stimme brach bei den letzten Worten.
„Ja, ich weiß. Hermann hat mir klargemacht, dass es zu gefährlich ist, wenn du nach Ameland zurückkehrst. Natürlich möchte ich nicht, dass du in Gefahr bist.“
Ria verzog mutlos das Gesicht. Sie wussten beide, dass das nicht so einfach war. „Wohin soll ich dann gehen?“
„Okay, hör zu.“ Ihre Mutter presste die Finger an die Schläfen, aber dann stand sie auf, statt etwas zu sagen. Mit einem kleinen Zettel in der Hand kehrte sie zurück. „Ich mache uns jetzt etwas zum Abendessen und dann fährst du nach Weimar.“ Sie reichte ihr den Zettel. „Dort werden sie dich aufnehmen.“
Mit gerunzelter Stirn las Ria die Aufschrift:
Villa Federklaue
Schillerstraße 13
Weimar
„Villa Federklaue?“
„Ja, das ist …“ Ihre Mutter stockte, dann fuhr sie fort: „Es ist ein Waisenhaus für Alatikinder wie dich.“
Ria fiel die Kinnlade herunter. „Ein Waisenhaus?“
„Nun ja, dieses Wort ist viel zu negativ beladen. Im Grunde ist es eine Art Wohngemeinschaft, ein Haus, in dem andere Kinder wie du leben. Du wirst dich dort sicher wohlfühlen. Dann kannst du dich endlich einmal mit anderen Alati in deinem Alter austauschen. Das ist doch schön, oder?“
Ihre Mutter sah sie flehend an, aber Ria schaffte es nicht, Begeisterung vorzutäuschen. Sie brachte kein Wort hervor, schüttelte nur stumm den Kopf. Als ob sie sich anderen Wandlern anvertrauen könnte. Ihre Mutter wusste genau, dass das keine Option war. Rias Hände zitterten.
„Sieh es dir erst mal an. Das wird schon.“ Kurz schien sie Ria die Hand auf die Schulter legen zu wollen, aber dann strich sie sich doch nur über die Stirn und stand auf. „Ich mache Abendessen.“
Ihre Mutter warf sie hinaus und schickte sie in ein Waisenhaus. Villa Federklaue. Ria konnte nicht mehr aufhören, auf das Foto zu starren, das auf dem Couchtisch lag. Spitze Scherben umrahmten das glückliche Ehepaar.
Kapitel 2
Nach dem Abendessen wanderte Ria ziellos um den Erfurter Bahnhof herum, zögerte den Moment hinaus, in dem sie sich in ihr Exil nach Weimar begeben musste. Jede Viertelstunde fuhr ein Zug nach Weimar. Sie fragte sich, wie viele Züge sie verpassen musste, bis es heute keinen mehr gab.
Die Sonne ging bereits unter, als sie sich dazu überwand, den Bahnhof zu betreten. Auf Gleis 10 wartete der Zug. Eine Schaffnerin lächelte ihr zu – wenigstens eine Person, die Rias Anwesenheit begrüßte.
Die Fahrtzeit von Erfurt nach Weimar war ideal, um aus dem Adresszettel ein Kamel zu falten. Ria fühlte sich ihm gerade sehr verbunden: hängender Kopf, ratloser Gesichtsausdruck, absolut fehl am Platz in einem Zug nach Weimar.
Bei ihrer Ankunft war die Sonne endgültig verschwunden. Ria folgte den Menschen durch das Bahnhofsgebäude nach draußen und sah sich orientierungslos um. Die Ortskundigen verschwanden sofort in unterschiedliche Richtungen und sie war allein. Seufzend zückte sie ihr Handy und sah sich den Weg zur Villa an – zwanzig Minuten zu Fuß und es fuhr kein Bus. Noch nie hatte sie sich so verloren gefühlt. Aber es half nichts. Sie zurrte ihren Rucksack zurecht und überquerte den Zebrastreifen. In einem Schachbrettmuster angeordnete Beete verzierten den Bahnhofsvorplatz, die Abendluft roch süß nach Dahlien. Wenige Schritte weiter standen Hecken Spalier und streckten ihre stacheligen Zweige nach ihr aus. Kaum war sie zwischen die Büsche getreten, wurde Ria kalt. Mit der freien Hand zerrte sie umständlich den Reißverschluss ihrer Jacke zu, aber die Kälte kroch hartnäckig in ihre Knochen. Begleitet von dem Echo einer Erinnerung drang sie in ihren Schädel ein und die Erkenntnis ließ Ria nach Luft schnappen: Das hier war keine gewöhnliche Kälte.
Ohne den Schritt zu verlangsamen, schielte Ria zur Seite. In dem Busch neben ihr waberte es. Dunkle Schlieren wanden sich zwischen den Zweigen, neblig-blaue Funken flimmerten im Zentrum. Ein Snagad! Rias Beine wurden weich wie Pudding. Sie beschleunigte ihre Schritte und wagte es nicht, zurückzusehen. Die Kälte wurde mit jedem Meter intensiver, das klamme Gefühl drückte auf ihre Brust. Sie sah noch einen, zwei! Jetzt blickte sie sich doch panisch um. Die Schattenwesen waren überall, es waren Dutzende! Sie krochen aus den Büschen, schwebten auf Ria zu, neongelb pulsierende Tentakel streckten sich nach ihr aus.
Nur mit Mühe unterdrückte Ria einen Schrei. Snagad, am frühen Abend auf einem Bahnhofsvorplatz, wie konnte das sein?! Sie sprintete die Straße hinunter, auf den rauen Pflastersteinen wurde ihr Koffer schwer wie Zement. Seine kleinen Rollen verhakten sich und schlingerten. Sie ignorierte den Schmerz in ihren Armen, hob den Koffer hoch und rannte über eine Straße, ohne auf die Autos zu achten.
Bis auf das Trommeln ihrer Füße war es schrecklich still. Jeder Atemzug brannte in Rias Lungen – sie konnte nicht mehr. Am Ende der Straße ließ sie den Koffer fallen und fuhr herum, die Hände abwehrbereit erhoben. Nichts rührte sich. Die Straße zog sich düster und leblos den Hügel empor, in der Ferne leuchtete die Bahnhofsuhr. Das Reklameschild in der Bushaltestelle neben ihr flackerte. Fröstelnd zog Ria ihren Kragen hoch und griff nach dem Koffer. Sie drehte sich um und schrie auf – Schatten waberten direkt vor ihr. Rückwärts stolperte sie über den Koffer und landete hart auf dem Steißbein. Der substanzlose Körper des Snagad drückte sich gegen das Glas der Bushaltestelle zwischen ihnen. Seine von blauen Funken durchzuckten Glieder streckten sich unter dem Glas hindurch.
Panik sirrte durch Rias Körper. Sie rutschte zurück, richtete sich auf und kam direkt vor einem zweiten Snagad zu stehen. Kopflos schlug sie nach ihm und war nur einen Hauch davon entfernt, sich zu verwandeln.
„Nein!“, ermahnte sie sich selbst, ließ ihren Koffer zurück und rannte.
Die Snagad waren überall, senkten sich aus der Luft herab und krochen aus den Gärten. Die Straße teilte sich, rechts flogen Snagad auf sie zu, blind sprang sie in die andere Richtung. Sofort bereute sie es, die Straße endete in einem Fußweg, der zwischen graffitibesprühten Wänden hinabführte. Sie stoppte keuchend. In der Senke saßen zwei Snagad und verformten sich von stacheligen Bällen zu tastenden Schattenarmen. Ria fuhr herum. Sie saß in der Falle.
Realität vermischte sich mit Erinnerung und Ria konnte nicht mehr atmen. Die Welt bestand aus wabernden Schatten, Ausgeburten ihrer schlimmsten Albträume. Sie schnappte nach Luft und meinte, das Beißen des Rauches zu spüren, raues Holz unter ihren Fingern. Sie wurde träge, als sich Tentakel nach ihr ausstreckten. Oder war es die Panik, die sie lähmte? Die Luft vor ihr flirrte von den Bewegungen der Snagad, eine einzige Masse aus Dunkelheit. Die Kälte kroch in sie, ihr Herz pochte hilflos dagegen an.
Die Nacht war totenstill, aber in Ria fauchte das Feuer. Es zündelte durch ihre Adern und drängte die Kälte zurück. Das Brennen in ihr ließ auch die Angst auflodern.
„Nein“, hauchte sie.
Ein Snagad berührte sie am Arm, die Kälte bohrte sich in ihre Haut, Eiseskälte. Sie konnte das Feuer nicht mehr halten. Die Venen ihres Arms glühten rot, Flammen schossen daraus hervor und fraßen die Kälte hinfort. Der Snagad zuckte zurück und sie ebenfalls. Rasende Bewegung entstand, als Ria stürzte und die Schattenwesen auswichen. Ein Glucksen wie von einem Gebirgsbach rauschte durch die wabernden Körper und schlagartig war es vorbei.
Ria landete auf dem Rücken und der Rucksack federte ihren Sturz ab. Snagad schossen an ihr vorbei in alle Richtungen davon. Nur einen Wimpernschlag später war keine Spur von ihnen zu sehen. Sie hörte den Flügelschlag eines Vogels. Es wurde still bis auf ihren eigenen keuchenden Atem.
An die Wand gekauert saß sie da und wartete, bis das Feuer in ihrer Brust sich beruhigt hatte. Das entfernte Licht einer Straßenlaterne malte Schatten auf den Boden. Aber diese Schatten waren leblos und leer. Nichts rührte sich. Was war eben passiert?
Sie war knapp davor gewesen, sich zu verwandeln. Hier, mitten in der Stadt! Da könnte sie sich auch gleich von den Snagad fressen lassen. Wenn Opa das wüsste, würde er einen Herzinfarkt bekommen. Ria atmete tief durch. Ihre Beine fühlten sich an wie zu lange gekochte Nudeln und ihr Atem wollte sich nicht beruhigen. Dennoch zwang sie sich dazu aufzustehen.
An der Wand entlang schob sie sich aus der Senke zurück auf die Straße. Alles sah wieder normal aus. Die Schatten waren substanzlos, ihre Schwärze frei von Dämonen. Fröstelnd hetzte Ria zur Bushaltestelle und holte ihren Koffer, der immer noch auf dem Gehsteig lag. Es gab keine Spur der Weltuntergangsstimmung, der sie soeben entkommen war. Fast könnte man meinen, sie hätte es sich eingebildet. Ria hatte noch nie davon gehört, dass die Schattenwesen in so großen Zahlen auftauchten – außer damals.
Ihre Hände zitterten so sehr, dass sie drei Anläufe brauchte, um die Wegbeschreibung auf ihrem Handy erneut aufzurufen. Sie überquerte eine Ampel und die Straßen wurden etwas belebter. Unbekümmert schlenderten Crura, wie Alati normale Menschen nannten, durch die Gegend, nicht ahnend, dass Snagad existierten. Sie konnten die Schattenwesen nicht sehen. Wie oft hatte Ria sich gewünscht, eine von ihnen zu sein – eine einfache Jugendliche wie Femke. Stattdessen war sie eine Alata. Und als ob das nicht schon für genug Komplikationen gesorgt hätte, war sie selbst unter ihresgleichen eine Besonderheit. Das Leben war nicht fair.
Im Gehen wählte sie die Nummer von zu Hause. Ihr Opa hob bereits nach dem ersten Klingeln ab.
„Peters?“
„Opa! Bitte, ich will nach Hause!“ Sie wusste genau, wie weinerlich sie gerade klang, aber das war ihr egal.
„Ria, Mäuschen! Bist du schon in Weimar?“
„Im Waisenhaus meinst du?“
Ihr Opa seufzte tief am anderen Ende der Leitung. Er klang abgelenkt und sie hörte Papier rascheln, als würde er nebenbei etwas suchen. „Es tut mir leid, Mäuschen. Das gefällt mir ganz und gar nicht, aber im Moment ist es die einzige Lösung. Dort bist du am sichersten. Frau Schneifer ist eine mächtige Alata.“
„Kennst du sie etwa?“ Der Gedanke machte ihr ein wenig Hoffnung.
„Wen?“, fragte Opa abwesend.
„Frau Schneifer! Du hörst gar nicht richtig zu.“
„Oh, tut mir leid, Mäuschen. Nein, ich kenne sie nicht, aber ich habe schon von ihr gehört. Ria, ich muss Schluss machen. Pass auf dich auf und gib der Federklaue eine Chance, okay?“
„Warte, Opa!“, rief Ria, bevor er auflegen konnte. „Ich wurde von Snagad angegriffen!“
Schlagartig wurde es am anderen Ende der Leitung still. Sie stellte sich vor, wie Opa sich auf das durchgesessene Sofa fallen ließ und entsetzt ihre Worte verarbeitete. Aber als er weitersprach, klang er nicht besonders überrascht. „Snagad“, murmelte er.
„Ja, es waren Hunderte! Direkt am Bahnhof in Weimar! Ich hätte mich fast verwandelt, um zu fliehen, aber dann …“
„Du hast dich verwandelt?“
„Nein, ich sagte doch fast.“
„Gut.“
Wieder hörte sie im Hintergrund Geraschel. Wie konnte er ihr bei so einer Nachricht nicht richtig zuhören? „Du findest es gut, dass ich von Snagad angegriffen wurde?“, hakte sie ungläubig nach. „Ist etwas passiert, Opa?“
„Grundgütiger, nein! Die Snagad … Sie sollten noch nicht … Tut mir leid, Mäuschen, ich muss wirklich auflegen. Sei vorsichtig und verwandle dich auf gar keinen Fall!“
„Weiß ich doch. Aber, Opa –“
„Opa hat dich lieb, Mäuschen, gute Nacht!“
Fassungslos starrte Ria auf ihr Handy. Er hatte einfach aufgelegt! Angst und Müdigkeit ließen sie schwindeln. Bis jetzt hatte sie es erfolgreich verdrängt, aber sie wusste, dass Opa sie niemals ohne Grund fortschicken würde. Und wenn sie in Gefahr war, dann war es ihr Opa auch. Sie wünschte nur, er würde ihr sagen, was los war! Alles in ihr drängte danach, umzukehren und zurück nach Hause zu fahren. Aber Ameland war Stunden entfernt. Selbst wenn sie flog, würde sie erst morgen früh dort ankommen. Mutlos lief sie weiter.
Die Schillerstraße war eine hübsche Allee in der Fußgängerzone. Die alten Häuser und das Kopfsteinpflaster hatten etwas Gemütliches, auch wenn es eine Qual war, den Koffer über den unebenen Boden zu zerren. Schillerstraße 22, 17 … Ria stutzte. Die Reihenhäuser auf der ungeraden Seite endeten in einem verfallenen Altbau. Verwirrt lief sie an einer Querstraße vorbei zur anschließenden Häuserreihe – ein Einkaufszentrum, Schillerstraße 11. Also musste das alte Haus die 13 sein. Aber der Bau war eine halbe Ruine und sah eindeutig nicht bewohnt aus. Graffiti und Plakate bedeckten die Wände im Erdgeschoss, der Putz bröckelte ab und ein Teil der Fenster war eingeschlagen. Das Haus wirkte wie ein Alien zwischen den hübschen Altbauten in der Allee.
Stöhnend rieb sich Ria die Augen. Das durfte doch nicht wahr sein! Wahrscheinlich gab es das Waisenhaus gar nicht mehr. Als sie näher kam, sah sie ein verrostetes Schild über einer maroden Tür, auf dem die Nummer 13 gerade noch zu sehen war.
„Verdammter Mist!“, presste Ria zwischen den Zähnen hervor.
Sie machte sich nicht einmal die Mühe, an die Tür zu klopfen, sondern ging um das Haus herum. Vielleicht geschah ein Wunder und der eigentliche Eingang lag auf der Rückseite. Ria ging um die Ecke und sog unmittelbar die Luft ein. Was war das gerade gewesen? Es hatte sich angefühlt, als wäre sie durch einen Wasserstrahl gelaufen. Im ersten Moment durchzuckte sie Panik. Waren die Snagad zurück? Sie drückte sich gegen die Wand und sah sich um. Bis auf eine Gruppe Jugendliche am Ende der Straße rührte sich nichts.
Geduckt entfernte sie sich vom Haus, auf der Suche nach einer Bedrohung. Als sie nichts entdeckte, wandte sie sich wieder dem verfallenen Gebäude zu, und ihr fiel die Kinnlade herunter. Was zur Hölle war gerade passiert?! Kein Graffiti, keine Poster, nein – die Wände hatten einen makellosen orangen Anstrich.
Sie umkreiste langsam das Haus und betrachtete es erstaunt. Es sah aus wie jedes andere auf der Schillerstraße. Altmodische Verzierungen, Erker, gläserne Schaufensterfronten, und über der Tür mit der Hausnummer 13 stand in verschnörkelter Schrift: Villa Federklaue.
Zögernd trat Ria auf die Eingangstür zu, an der sie eben, ohne sie eines zweiten Blickes zu würdigen, vorübergegangen war. Dieses Haus war eine Ruine gewesen, das hatte sie sich doch nicht eingebildet! Aber jetzt … Sie erinnerte sich an etwas, das ihr Opa gesagt hatte: „Frau Schneifer ist eine mächtige Alata.“ War das hier das Werk der Waisenhausleiterin? Verschleierungsmagie? Wenn dem so war, hatte Opa nicht übertrieben.
Ria gab sich einen Ruck und drückte auf die Klingel. Ein Glockenspiel wie von einer Kirchturmuhr hallte durch das Innere des Hauses. Sie konnte hören, wie es sich in der Tiefe der Gänge und Räume verlor. In ihrem Kopf wurde das Haus hinter der Tür zu einem Labyrinth, zu verschachtelten Höhlen, die sie verschlingen und nie wieder gehen lassen wollten.
Der letzte Glockenschlag verklang und Ria wartete immer noch. Mit jeder verstreichenden Sekunde wurde sie nervöser. Schritte erklangen, hallten wie ein Echo des Glockenspiels. Schlagartig fiel ihr ein, dass sie sich gar keine Geschichte zurechtgelegt hatte, warum sie hier war. Zu spät, die Tür wurde aufgerissen und Ria sah sich einem finster dreinblickenden Jungen gegenüber. Unter seinem Blick verlor sie spontan die Fähigkeit zu sprechen. Er war komplett schwarz gekleidet, das leuchtende Weiß seiner Haut und die dunkelblonden raspelkurzen Haare bildeten einen starken Kontrast dazu.
„Ja? Was willst du?“, schnauzte er sie an, offensichtlich ungehalten über die Musterung oder ihre Sprachlosigkeit oder die Welt im Allgemeinen.
„Ähh …“, stammelte Ria.
Der Typ verschränkte die Arme und seine Muskeln spannten sich unter den Ärmeln seines T-Shirts. Ria schluckte.
„Ich suche nach den … Verantwortlichen oder so? Frau …“
Mister Unfreundlich zog die Augenbrauen hoch und brummte: „Schneifer.“
Ria verzog das Gesicht. Vogelschiss, war das peinlich! „Genau, Frau Schneifer!“
Der Typ verdrehte die Augen und stieß die Tür auf. Ohne ein weiteres Wort verschwand er im Hausflur. Sollte sie ihm folgen? Oder warten?
„Los jetzt! Ich habe nicht ewig Zeit!“, schallte es zu ihr.
Eilig hetzte sie dem Jungen nach. Der Flur war – anders als in ihrer Vorstellung – ein ganz normaler Hausflur, wenn auch aus Zeiten, in denen man das Treppenhaus mit Buntglas verziert und hölzerne Geländer mit verschlungenen Streben wertgeschätzt hatte. Der Läufer war passend durchgescheuert, als stamme er aus dem letzten Jahrhundert. Oder er war schlicht Opfer einer Horde Waisenkinder geworden.
Der Junge, dem Ria folgte, überragte sie locker um einen Kopf, sodass sie für jeden seiner Schritte zwei brauchte. Als wäre sie heute nicht schon genug gerannt! Natürlich machte der Typ auch keinen Finger krumm, um ihr mit dem Koffer die Treppe hoch zu helfen.
„Beschissenes Timing“, murrte er, sobald sie zu ihm aufgeschlossen hatte.
Ria war viel zu sehr außer Atem, um etwas zu erwidern. Mal davon abgesehen, dass sie sowieso nicht sonderlich schlagfertig war. Vor einer doppelflügeligen Holztür unterbrach der Typ seinen Sprint und hämmerte dagegen. Er wartete gerade lange genug, bis ein Ja aus dem Inneren ertönte, um die Tür aufzustoßen und Ria mitsamt Koffer hineinzuschieben. Mit einem Knall flog die Tür hinter ihr ins Schloss. Blinzelnd stand Ria da und versuchte zu verarbeiten, was passiert war. Ein freundliches Willkommen sah auf jeden Fall anders aus. Vor ihr befand sich ein riesiger Schreibtisch, an dem eine alte Frau mit strengem Dutt und scharfem Blick saß. Daneben stand ein Mann, gebeugt vom Alter. Beide sahen mindestens ebenso verwirrt aus, wie Ria sich fühlte.
„Guten Abend“, brachte sie mit piepsiger Stimme hervor.
Die Frau setzte sich aufrechter hin und faltete die Hände auf dem Tisch. Ihr Gesicht nahm einen geschäftigen Ausdruck an. „Guten Abend. Wie können wir dir helfen?“
„Ich … ich wollte fragen, ob …“ Ria holte zitternd Luft und begann erneut: „Kann ich bei Ihnen wohnen?“
Zwei Augenpaare musterten sie und Ria zupfte unruhig an ihren Haaren.
„Setz dich doch, mein Kind“, sagte der Mann schließlich und schenkte ihr das erste freundliche Lächeln, das sie in diesem Haus zu sehen bekam.
Erleichtert kam Ria der Aufforderung nach und ließ sich auf einen der Sessel vor dem Schreibtisch sinken. Der Mann zog sich den zweiten heran und setzte sich mit langsamen, steifen Bewegungen.
„Wie ist dein Name?“, fragte die Frau.
„Rianne Peters.“
„Nun gut, herzlich willkommen. Ich bin Birgit Schneifer und das ist mein Mann Wilhelm.“ Sie reichten ihr beide die Hand. „Bevor wir dich in die Federklaue aufnehmen können, musst du uns etwas über dich erzählen. Was führt dich hierher?“
Rias Kehle wurde trocken und ihre Hände schwitzig. Sie kam sich vor wie bei einem Vorstellungsgespräch. Dabei wollte sie eigentlich nur ein Bett zum Schlafen haben – inzwischen war sie so müde, dass sie sogar mit einer Decke auf dem Boden einverstanden wäre. Trotzdem gelang ihr die Transformation zu Rianne, dem Phönixmädchen undercover, ohne Probleme. Sie legte einen inneren Schalter um und da war es: ihr Arsenal an Schauspielkunst und Lügen.
„Ich kann nicht mehr nach Hause“, sagte sie und starrte auf ihre Hände. Der verzweifelte Unterton in ihrer Stimme war nicht gespielt.
„Was ist passiert?“, fragte Wilhelm.
Ria schielte zu den beiden hoch. Wilhelm lächelte sie aufmunternd an, aber der Gesichtsausdruck seiner Frau blieb starr. „Meine Mutter hat mich rausgeworfen.“
„Ist das zum ersten Mal passiert oder schon häufiger?“ Frau Schneifers Tonfall verriet, dass sie solche Geschichten öfters hörte.
Angestrengt durchkramte Ria ihren Kopf nach einer guten Lüge oder wenigstens Halbwahrheit. „Zum zweiten Mal. Wir kommen nicht so gut miteinander klar. Aber diesmal kann ich wirklich nicht zurück!“ Sie blinzelte, als würde sie Tränen zurückhalten – das hatte sie heute schon zu Genüge geübt.
Wilhelm legte ihr eine Hand auf den Arm. „Ganz ruhig, mein Kind, erzähl uns, was passiert ist.“
Das hier war anders als die Besuche auf dem Amt. Ria brauchte eine bessere Lügengeschichte. Ihr Kopf rauchte, aber der geniale Einfall wollte nicht kommen. Also griff sie nach der erstbesten Idee, die ihr kam. „Meine Mutter ist sehr gläubig und deswegen kommt sie nicht damit klar.“ Sie blinzelte nervös und ängstlich zu den beiden hoch.
Wilhelm tätschelte ihren Arm. „Du kannst uns alles erzählen, Kind. Frei heraus.“
Ria nickte, schluckte und flüsterte: „Ich habe mich in ein Mädchen verliebt.“ Eilig sprach sie weiter: „Meine Mutter wird das nie akzeptieren, sie war so wütend. Bitte, Sie müssen mir glauben! Ich kann nicht dorthin zurück!“ Ria dachte an ihren Opa und Trauer und Angst ließen sie schluchzen.
Jetzt erst wagte es Ria aufzusehen. Der Teil mit ihrer Homosexualität war nicht gelogen, aber sie wusste, dass sie sich mit ihrer Geschichte auf dünnem Eis bewegte. Sie war sich nicht einmal sicher, ob ihre Mutter Mitglied in einer Kirche war. Noch weniger konnte sie voraussehen, wie die Schneifers auf das Thema Homosexualität reagieren würden. Das alte Ehepaar schien jedoch nicht im Mindesten beeindruckt. Kein Entsetzen, keine Abneigung, einfach nur gelassenes Verständnis.
Frau Schneifer seufzte. „Im Affekt sagen Menschen so einiges, was sie später bereuen. Du solltest noch einmal mit deiner Mutter reden.“
Erschrocken fuhr Ria hoch und wollte etwas erwidern, aber die ältere Dame hob die Hand und sagte: „Später.“ Sie deutete auf den Sessel und Ria ließ sich zurückfallen. „Fürs Erste kannst du hierbleiben. Aber ich erwarte von dir, dass du in den nächsten Tagen zu deiner Mutter zurückkehrst, um mit ihr zu reden.“
„Okay“, hauchte Ria.
„Hast du deine Münze dabei?“
Ria sprang auf, um ihr Portemonnaie zu holen, in dem sie – sicher mit einem Klebestreifen hinter ihrem Personalausweis angebracht – ihre Alatimünze aufbewahrte.
Die Münze war der Ausweis der Alati, bereits zur Geburt bekam man sie ausgehändigt – wenn man sich denn registrierte, wozu man laut den Gesetzen der Alati verpflichtet war. Die Münze diente nicht nur zum allgemeinen Ausweisen als Alatus oder Alata, sondern enthielt auf einem versteckten Chip auch persönliche Informationen. Um keine Aufmerksamkeit zu erregen, hatten sich Ria und ihr Opa an die Regeln gehalten und bei jedem Umzug brav ihre neuen Daten mitgeteilt – nur ihre wahre Vogelgestalt hatten sie mit allen Mitteln verborgen. Auf den ersten Blick sah die Münze aus wie ein normales Zwei-Euro-Stück. Aber die Motive wichen ab. Auf der einen Seite war ein Vogelschwarm abgebildet, auf der anderen ein verschnörkeltes A. Die fremd anmutende Schrift darum herum konnte leicht als Länderbezeichnung interpretiert werden. Nur Eingeweihte wussten, was sie bedeutete: InternationaleVereinigung der Alati, Symposium der Institute 2001.
Frau Schneifer hielt die Münze an ein kastenförmiges Lesegerät und studierte die darauf gespeicherten Informationen an ihrem Computer. Nervosität überkam Ria. Sie benutzte die Münze so selten, dass sie sich nicht mehr sicher war, welche Details über ihr Leben Frau Schneifer gerade zu Gesicht bekam. Wie viel Wahrheit und wie viel Verschleierung.
„Wohnhaft bei Hermann Peters“, las Frau Schneifer vor und ihr scharfer Blick fixierte Ria.
Sie schluckte. „Das ist mein Opa, aber zu ihm kann ich gerade auch nicht.“
„Warum –“ Das Telefon unterbrach sie. Ria war selten so dankbar über einen Anruf gewesen. Rasch griff Frau Schneifer nach dem Hörer und Anspannung huschte über ihr Gesicht.
„Wie viele? Unmöglich! Natürlich, sofort!“ Sie legte auf und tauschte einen besorgten Blick mit Wilhelm. „Ehringsdorf, dasselbe Phänomen.“
„Heiliges Schüppchen!“
„Bring sie zu Tina!“ Im Rausgehen sagte sie zu Ria: „Wir haben im Moment ein Platzproblem, deswegen schläfst du erst einmal bei ihr im Zimmer.“ Schon war sie zur Tür hinaus.
Wilhelm erhob sich langsam und winkte Ria, ihm zu folgen. „Die Zimmer sind alle ein wenig eng. Es ist eben ein Altbau.“
Sie liefen die Treppe hoch in das zweite Obergeschoss und Wilhelm führte sie zur letzten Tür auf dem Gang. Dahinter befand sich aber kein Schlafzimmer, sondern eine Rumpelkammer.
„Hier kannst du dir eine Matratze mitnehmen“, sagte Wilhelm und zerrte an einer ebensolchen. Ria beeilte sich, ihm zu helfen. Aus einem Sack zog er Decke, Kissen und Bettwäsche.
Die Matratze und ihren Koffer hinter sich her schleifend lief Ria hinter Wilhelm zurück den Gang entlang. Gespannt wartete sie darauf, vor welcher Tür sie stehen bleiben würden. Jede sah anders aus, an manchen klebten Poster oder Sticker, eine ganz vorne war in schönem Hellblau gestrichen, das sie an ihr Zimmer auf Ameland erinnerte. Wilhelm stoppte direkt gegenüber. Ein Filmposter von Narnia verzierte die Tür, was Ria sofort sympathisch war.
Sie traten ein, ohne zu klopfen. Niemand war hier. Das Zimmer war tatsächlich winzig. Hinter der Tür befand sich ein Kleiderschrank, gegenüber davon ein schmaler Tisch. Neben dem Bett waren das die einzigen Möbelstücke. Wilhelm bückte sich, um ein T-Shirt vom Boden aufzusammeln. Der Platz vor dem Bett reichte geradeso für Rias Matratze. Nur eine schmale Stelle neben dem Nachtschränkchen blieb, wo sie ihren Rucksack ablegen konnte. Der Koffer musste unter dem Tisch bleiben.
„Wird schon gehen, nicht wahr?“, fragte Wilhelm.
„Ja, danke.“
„Dann lasse ich dich mal allein. Frühstück gibt es von sieben bis neun Uhr. Ach ja, das Bad ist nebenan.“
Wenig später war Ria allein. Es war merkwürdig, im Zimmer eines fremden Mädchens zu schlafen. Wusste Tina überhaupt, dass sie hier war? Trotz ihrer Müdigkeit lag Ria noch lange wach und wartete nervös auf die Rückkehr ihrer Bettnachbarin. Im Haus war es still, es gab keine Hinweise auf die Anwesenheit anderer Kinder. Schließlich gewann ihre Müdigkeit die Oberhand und Ria driftete in tiefen Schlaf hinüber.
Kapitel 3
Am nächsten Morgen erwachte Ria von dem Geräusch leiser Stimmen. Orientierungslos starrte sie an die altrosa gestrichene Wand vor ihrer Nase. Dann kehrten die gestrigen Ereignisse zu ihr zurück und schlagartig beschleunigte sich ihr Herzschlag. Vorsichtig tastete sie nach ihrer Brille und erhob sich. Ihr erster Blick galt dem Bett neben ihr. Es war leer, aber die Decke zurückgeschlagen, als wäre eben erst jemand darunter hervorgekrochen. Die Stimmen kamen vom Flur.
Ria sprang auf und nutzte den unbeobachteten Moment, um sich umzuziehen. Vor dem Spiegel am Kleiderschrank ordnete sie ihre krausen Locken. Vom Schlaf und wahrscheinlich auch von dem Geheule gestern waren ihre Augen aufgequollen. Die Brille half wenig, um das zu verdecken. Sie zuckte mit den Schultern – was soll’s. Dann holte sie tief Luft, ging zur Tür und trat aus dem Zimmer. Die zwei Mädchen auf dem Gang verstummten mitten im Gespräch und wandten sich ihr zu.
„Guten Morgen, ich bin Rianne“, sagte sie und streckte ihnen erwartungsvoll die Hand entgegen.
Ein Mädchen ergriff sie sofort und lächelte sie freundlich an. „Hi, ich bin Tina.“
Tinas zerzauste braune Haare und der übergroße Pulli mit der Aufschrift Better Bird than Furred ließen darauf schließen, dass sie wirklich soeben dem Bett entstiegen war.
Ihre Gesprächspartnerin dagegen war bereits komplett gestylt. Ihre schulterlangen blonden Haare lockten sich elegant. In Verbindung mit Bluse und karierten Shorts, unter denen sie eine Strickstrumpfhose trug, sah sie aus wie die jüngere Version einer Schauspielerin aus den 30ern.
„Lily.“ Das Mädchen schüttelte ihr verhalten lächelnd die Hand, wandte sich ab und lief die Treppe hinab.
Unsicher sah Ria zu Tina, die herzhaft gähnte, bevor sie sagte: „Ich hoffe, ich habe dich letzte Nacht nicht geweckt. Wir sind erst spät zurückgekommen.“
„Nein, ich habe geschlafen wie ein Stein. Was habt ihr denn so spät gemacht?“, fragte Ria, um das Gespräch am Laufen zu halten.
Tina zögerte sichtlich. „Waisenhausdinge. Nichts Wichtiges.“
Sofort war Ria auf der Hut – das roch nach einem Geheimnis. Bevor sie nachhaken konnte, lief Tina an ihr vorbei ins Zimmer.
„Ich ziehe mich eben an, dann zeige ich dir, wo es Frühstück gibt.“
Schon blickte Ria auf die geschlossene Tür. Also machte sie einen Abstecher ins Bad und als sie wieder herauskam, wartete Tina bereits auf sie.
Während sie die Treppe ins erste Geschoss hinunterliefen, fragte Tina sie fröhlich aus. „Von wo kommst du? Ich kann deinen Akzent nicht zuordnen.“
„Ursprünglich komme ich aus einem Dorf bei Köln. Aber die meiste Zeit habe ich in den Niederlanden gelebt.“
„Wie kommt man von den Niederlanden nach Weimar?“
„Meine Mutter lebt in Erfurt.“
„Oh, warum kannst du nicht bei ihr wohnen?“
Ria erzählte ihr die Geschichte, die sie gestern Abend den Schneifers aufgetischt hatte. Kopfschüttelnd legte Tina ihr einen Arm um die Schultern.
„Warum sind manche Eltern nur so mies? Vergiss, was deine Mutter gesagt hat. Unser Wert ist nicht von den Urteilen anderer abhängig.“
Dankbar und ein bisschen überrumpelt lächelte Ria sie an. Durch eine offene Tür betraten sie das Esszimmer. In der Mitte des Raumes stand ein Tisch, an dem Lily gemeinsam mit zwei Jungen saß. Einer davon war der Typ, der ihr gestern die Tür geöffnet hatte. Sofort kehrte Rias Unruhe zurück. Die drei sahen bei ihrem Eintreten nur kurz auf, bevor sich die Jungen wieder ihrem Gespräch zuwandten und Lily in ihrer Zeitung blätterte.
„Was willst du frühstücken? Brot? Müsli?“
„Müsli“, entschied Ria und Tina zeigte ihr, wo sie Berge an Cornflakes-Packungen finden konnte.
Sie setzten sich zu den anderen und Ria warf ein „Guten Morgen“ in die Runde. Der Junge, den sie noch nicht kannte, grüßte sie mit einem „Hi“, die anderen beiden ignorierten sie. Das fing ja gut an. Der fremde Junge musterte sie zwar neugierig, aber anscheinend war sein Gespräch wichtiger, denn der Moment hielt nicht lange an. Ein Seufzen unterdrückend löffelte Ria ihr Müsli.
Das Heimweh drückte ihr schwer auf den Magen. Sie wünschte sich, sie könnte jetzt bei Opa in ihrer gemütlichen Küche sitzen statt bei Menschen, die sie offensichtlich nicht hier haben wollten. Sie wollte Femke sehen und sich die ganzen Ängste von der Seele reden. Nur dass sie nicht einmal Femke alles erzählen könnte.
Die anderen hatten tuschelnd ihre Köpfe zusammengesteckt und Ria tat so, als würde es sie nicht interessieren. Sie aß möglichst langsam, um den Moment hinauszuzögern, an dem sie wieder mit den anderen interagieren musste. Die Uhr an der Wand zeigte halb neun an. Die Schattenschnitte zweier Vögel kreisten an ihren Zeigern umeinander. Der Minutenvogel war gerade mal fünf Minuten weitergerückt, da war sie trotz aller Mühe bereits fertig mit dem Essen.
Zwei Kinder kamen den Gang hinab zur Küche. Ria hatte sie schon lange vorher diskutieren gehört. Kaum waren sie eingetreten, schnauzte Mister Unfreundlich sie an: „Geht’s auch ein bisschen leiser?!“
Der Typ war Ria wirklich unsympathisch. Aber das Mädchen und der Junge verdrehten nur die Augen. Ria schätzte sie auf zwölf Jahre. Sie hatten beide dieselben struppigen schwarzen Haare und sahen sich auch sonst sehr ähnlich. Waren es Zwillinge?
Die Kinder musterten sie mit unverhohlener Neugier und das Mädchen trat mit schnellen Schritten auf sie zu. „Wer bist –“
Mit einem Schrei sprang Ria auf die Beine und ihr Stuhl fiel krachend zu Boden. „Snagad!“
Das schattenhafte Wesen, das soeben hinter dem Kopf des Mädchens auf seine Schulter gekrochen war, verharrte. Reflexartig griff sich Ria eine Müslipackung und schlug danach. Das Mädchen schrie, duckte sich, Ria verfehlte. Der Snagad japste auf, Stacheln schossen aus seinem kleinen, haarigen Körper. Ria konnte seine Kälte spüren, die Erinnerung an die Horde Snagad letzte Nacht ließ sie erschaudern. Alles in ihr verlangte nach Flucht, aber sie konnte das Mädchen nicht zurücklassen! Der Snagad krallte sich an sein angstverzerrtes Gesicht, es stolperte zurück.
„Vorsicht!“, brüllte Ria und eilte todesmutig hinterher. Wenn das Mädchen nicht stehen blieb, konnte Ria den Snagad nicht –
Das Mädchen sprang hinter Mister Unfreundlich. Ria stieß ihn zur Seite. Er griff nach ihr, aber verfehlte. Sie hörte ihn schreien, seine Worte vermischten sich mit dem Gebrüll des Mädchens. Der Snagad war vor ihr, Ria schlug zu. Glucksend und zischend schoss das Schattenwesen in die Luft, neblige Stacheln streiften sie eiskalt und es war fort. Sie fuhr herum und sah, dass es zu dem kleinen Jungen geflogen war und sich an seine Brust krallte. Er war aschfahl.
Entsetzt folgte Ria, aber sie kam nicht weit. Mister Unfreundlich packte sie am Arm, sein Griff stahlhart.