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Das Unglaubliche ist geschehen: Die Phönixvogelwandlerin Ria wurde wiedergeboren. Dies ist ihre Chance auf ein neues Leben ohne Angst und Verfolgung. Aber kann sie die Klauenschar und ihre gesamte Vergangenheit einfach zurücklassen? Finn hat früh gelernt, dass er sich Respekt erkämpfen muss, aber niemals wollte er dafür über Leichen gehen. Als ihm nun das Gefängnis droht, weil ihm zu Unrecht der Mord an Ria angehängt wird, ahnt er, dass er auf die falschen Stimmen gehört hat. Aber gibt es für Menschen wie ihn überhaupt eine zweite Chance?
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Ines Plagemann
Schattenschwinge
Teil 2 der Vogelwandler-Dilogie
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www.ines-plagemann.de/buecher.
Ähnlichkeiten in diesem Buch sind zufällig oder eine Hommage. Die beschriebenen Orte habe ich verändert, wo es für die Geschichte besser passt.
© 2022 Ines Plagemann
Autorin: Ines Plagemann
c/o Fakriro GmbH / Impressumsservice
Bodenfeldstr. 9
91438 Bad Windsheim
Cover und Illustrationen: Anastasiia Orobko (Instagram: Anta Frirean @anta_arf)
Lektorat: Marieke Kühne, textzucker e. U. (www.textzucker.at)
Korrektorat: Tino Falke (www.tinofalke.de)
Sensitivity Reading: Nora Bendzko (norabendzko.com)
Satz: Ines Plagemann
EAN: 9783754689820
ASIN: B09DHW196Q
ISBN Hardcover: 978-3-98595-498-8
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Inhalt
Widmung
Die Welt der Alati – Auffrischungskurs
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Illustration: Ria
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Illustration: Lily & Ria
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Illustration: Phönix
Danksagung
Über die Autorin
Für alle, die Angst haben, einen neuen Weg einzuschlagen. Hab Vertrauen in dich, deine Flügel werden dich tragen.
Die Welt der Alati – ein Auffrischungskurs
Personengruppen & Wesen:
Alati – Vogelwandler (pl)
Alata – Vogelwandlerin (w)
Alatus – Vogelwandler (m)
Crura (m/w/pl) – Begriff der Alati für Menschen, die sich nicht in Vögel verwandeln können
Snagad – Schattenwesen. Haben einen nebligen schwarzen Körper, in dem manchmal Blitze aufleuchten (sehen also ein bisschen aus wie eine kleine Gewitterwolke). Sie ernähren sich von Energie, die sie meist aus Wärme ziehen – manchmal aber auch aus Lebewesen, was tödlich enden kann. Crura können sie nicht sehen, außer:
Crevi (pl), Creva (w), Crevo (m) – Crura, die Snagad sehen können (sehr ungewöhnlich)
Jäger (ugs) – Polizei der Alati
Die Klauenschar – die Bewohner*innen des Waisenhauses Villa Federklaue
Politisches:
Institut(e) – Regierungssitze der Alati. Der Verbund der deutschsprachigen Alati hat Regierungssitze in drei Städten: Wien, Zürich und Weimar.
WdS (Warte der Schatten) – Eine politische Gruppierung, die sich für die Gleichberechtigung aller Alati einsetzt.
FK (Formation der Klauen) – Eine extremistische Gruppierung von Alati, die unbegrenzte Macht für Greifvogel- und Rabenalati wollen.
Objekte & sonstige Begriffe:
Snagadizit – Mittel zur Abwehr der Snagad, entwickelt von Kosmo. Die Hauptzutat ist Kardamom.
Ornimorphologie – die Lehre der Vogelwandler, ein Schulfach in der Villa Federklaue
Der Federkurier – Tageszeitung der Alati
Der Zwitscherkanal – Radiosender der Alati
Alatimünze – eine Art Ausweis der Alati
Verwandlungsstopper – breite Metallarmreifen, die verhindern, dass Alati sich verwandeln können. Werden üblicherweise Verbrechern angelegt.
Die Klauenschar:
Ria(nne) (16) – Phönixalata
Jonas (18) – Mäusebussardalatus, inoffizieller Anführer der Klauenschar
Lily (17) – Grünspechtalata
Kosmo (17) – Staralatus
Tina (16) – Sumpfmeisenalata
Ronja (12) – Rabenalata, Zwillingsschwester von Max
Max (12) – Rabenalatus, Zwillingsbruder von Ronja
Tumnus – Snagad von Ronja und Max
Sonstige wichtige Figuren:
Finn (16) – Rabenalatus
Frau Schneifer (Birgit) – Leiterin der Villa Federklaue
Wilhelm (Willi, Herr Schneifer) – Leiter der Villa Federklaue
Herr Kelcher – Lehrer in der Villa Federklaue
Frau Reifenstein – Lehrerin in der Villa Federklaue
Hermann Peters (verstorben) – Phönixalatus, Rias Opa
Konrad Fahler (verstorben) – Phönixalatus, Rias Vater
Suzanne Odeyemi – Rias Mutter, Crura
Femke – beste Freundin von Ria, Crura und Creva
Dieter Bauer – Verteidigungsminister des Weimarer Instituts
Florian Bauer – Sohn von Dieter Bauer, Kumpel von Kosmo
Jochen Triefer – Verteidigungsabgeordneter des Weimarer Instituts
Kapitel 1
Die Schaukel quietschte bei jeder Bewegung. Es war ein vertrautes Geräusch. Finn fühlte sich wie der tragische Hauptdarsteller eines schlechten amerikanischen Films – der gemobbte Junge, der sich heulend und blutend auf den Spielplatz geflüchtet hatte. Die Schaukel war ein Symbol seiner Einsamkeit. Er hasste seine jämmerliche Existenz. Alles tat beschissen weh. Aber mit jedem Schwung, der ihn hoch in die Luft beförderte, wurde es besser. Vor und zurück.
Schaukeln fühlte sich ein bisschen wie Fliegen an – jedenfalls wenn man nicht gerade vor Schmerz kaum atmen konnte. Er liebte den Wind im Gesicht, die Schwerelosigkeit, wenn man den höchsten Punkt erreichte. Der Gedanke, einfach loszulassen und sich zu verwandeln, war verlockend. Aber in seinem Zustand würde er nicht weit kommen.
Je mehr sich die Wut verflüchtigte, desto weniger konnte er den Schmerz ignorieren. Er wurde langsamer, kauerte sich auf der Schaukel zusammen und legte die Stirn auf die Knie.
Als er das Knacken von Zweigen hörte, dachte er sofort an Marvin, dem er die blutige Lippe zu verdanken hatte, und riss den Kopf hoch. Er wäre von der Schaukel gesprungen, wenn seine Beine es zugelassen hätten. Stattdessen sah er Sterne und musste sich an den Ketten festhalten, um nicht herunterzukippen. Wenn es wirklich Marvin gewesen wäre, hätte er sich schlapp gelacht.
Es war aber nicht Marvin. Es war ein älterer Mann in einem schwarzen Anzug. Finns Blick fiel sofort auf die drei parallelen Risse in seinem Hemd auf Bauchhöhe, unter denen taubenweiße Haut hervorblitzte. Kurz fragte sich Finn, ob er Angst haben sollte. Ganz allein abends auf dem Spielplatz und ein unheimlicher Mann versteckte sich im Gebüsch – das Klischee war derart abgenutzt, dass er beinahe aufgelacht hätte. Wenn sein Leben ein Hollywoodfilm wäre, hätte er jetzt ein Problem.
„Hast du nicht genug davon?“, fragte der Mann.
„Hä?“
Der Typ war wenige Schritte entfernt stehen geblieben. Eine Strähne seines glatten grau melierten Haars hing ihm ins Gesicht, sein Blick war unheimlich stechend. Das hier nahm nun wirklich die Ausmaße eines Gruselfilms an. Unruhig sah Finn sich um. Obwohl sie sich mitten in einer gepflegten Wohngegend mit Einfamilienhäusern befanden, war vom Spielplatz aus niemand zu sehen, nur ein paar Fenster in den obersten Stockwerken waren beleuchtet. Die dichten Büsche verhinderten einen Blick zur Straße und die Schaukel lag ganz am Rand des Spielplatzes im Dunkeln.
„Der fehlende Respekt der anderen. Es ist Zeit, dass sich etwas ändert.“ Der Mann senkte den Kopf, wodurch sein Blick noch unheimlicher wurde. Er schien eine bestimmte Reaktion zu erwarten.
„Ich verstehe nicht …“, murmelte Finn.
Der Mann schnaubte. „Sicher verstehst du. Sieh dich doch an.“
Automatisch sah Finn an sich herunter, als wüsste er nicht, wie er aussah. Nun, genau genommen wusste er das wirklich nicht, er hatte schließlich keinen Spiegel dabei. Aber die Blutflecken auf seinem Shirt und die aufgeschürften Knöchel gaben ihm eine ziemlich gute Vorstellung davon. War schließlich nicht das erste Mal, dass er Marvins Gang in die Arme gelaufen war – oder eher in die Fäuste.
Der Mann redete, als wisse er genau, was sich abgespielt hatte, und auch, dass es nicht zum ersten Mal passiert war. Aber das konnte er doch nicht wissen. Ratlos schwieg Finn und rieb über das getrocknete Blut, das sich tiefrot vom blassen Rosa seiner Haut abhob.
„Es muss sich was ändern. Willst du nicht, dass sich etwas ändert?“
„Was soll sich ändern?“
„Sie lernen nicht dazu, also werden wir es ihnen beibringen müssen. Respekt.“
„Wem?“
Der Typ zog ekelhaft die Nase hoch und spuckte auf den Boden. „Diesen hochnäsigen Bälgern zum Beispiel, wie heißen sie? Marvin irgendwas. Stefan Hefiger. Und die anderen beiden. Willst du ihnen nicht den Respekt beibringen, der dir zusteht?“
Finn war derart überrumpelt, dass er kein Wort herausbrachte. Woher wusste der Mann so viel? War das ein Scherz? Er sah sich wieder um, aber niemand war zu sehen, auch keine feixenden Jugendlichen in den Büschen, die einen Passanten für einen dummen Streich bestochen hatten.
„Na, was ist?“, fragte der Mann und schnippte sich ungeduldig die Strähne aus dem Gesicht.
„Wie sollte ich das denn anstellen?“ Der Gedanke war absurd. Es war schließlich nicht so, als hätte er es nicht versucht. Davon zeugten seine schmerzenden Hände, während der Rest seines grün, blau und rot geschlagenen Körpers bewies, dass der Versuch erfolglos gewesen war. Was sollte er allein gegen vier ältere Alati ausrichten?
„Bist du nicht größer, wendiger? Was sind sie schon? Ein Sperling, eine Wacholderdrossel.“
Finns Brustkorb zog sich zusammen. Fast genau dieselben Worte hatte ihm letztes Jahr sein Vater vor die Füße gespuckt. Seine Finger krampften sich um die Schaukelkette. „Was wissen Sie schon? Die sind zu viert!“
Das Lachen des Mannes ging in ein Krächzen über, als er sich rasend schnell verwandelte. Erstarrt blickte Finn auf den riesigen Kolkraben, der mit flatternden Schwingen vor ihm in der Luft flog. Sein Gefieder war zerrupft und auf der Brust hob sich eine weiße Feder ab, wie Schnee auf Asche. Kaum hatte Finn seinen Anblick erfasst, verwandelte der Mann sich wieder zurück. „Siehst du? Ich bin wie du. Ich weiß, wovon ich spreche“, sagte er.
Finn musste mehrmals schlucken, bevor er wieder ein Wort hervorbrachte. „Trotzdem komme ich nicht gegen Marvin an.“
Der Mann verharrte, ein seltsam zufriedenes Glühen in den Augen. „Du meinst also, du hast nicht die Kraft, um Marvin Respekt vor einem Raben beizubringen?“
„Nein?“ Es klang mehr wie eine Frage als wie eine Antwort. Eingeschüchtert wippte Finn auf der Schaukel vor und zurück. Er schämte sich für seine Hilflosigkeit und die Wut kehrte zurück. Was wollte dieser Typ überhaupt von ihm?
Der Mann lächelte. Es war kein Lächeln der fröhlichen Sorte, sondern eher ein drohendes, das gut in die Kategorie Gruselfilm passte. „Du wirst schon sehen.“
Während Finn noch die Worte verarbeitete, verwandelte sich der Mann erneut in seine Rabengestalt. Ein rauschender Flügelschlag und er war verschwunden.
An diesem Tag hatte Finn Theodor Korvus kennengelernt. Es dauerte nur eine Woche, bis er den Namen erfuhr. Aber es dauerte Monate, bis er begriff, was diese Begegnung mit ihm angerichtet hatte.
Bis heute wusste er kaum etwas über Korvus. Er ahnte, dass er von einer langen Linien von Kolkraben abstammte, denn sein Nachname war eindeutig an Corvus corax, den wissenschaftlichen Namen für Kolkraben, angelehnt. Und Finn wusste, dass Korvus davon besessen war, das Institut zu stürzen. Aber das Ausmaß seiner Besessenheit hatte er zu spät begriffen. Alles war aus dem Ruder gelaufen und Finn hatte sich mitreißen lassen.
Seine Gedanken kehrten wieder und wieder zu diesem Tag auf dem Spielplatz zurück, dem Anfang vom Ende. Ein Teil von ihm wollte sein jüngeres Ich anbetteln, von der Schaukel aufzustehen und zu gehen. Zurück zu seinen Eltern, fort von Korvus und den Lügen und Verführungen.
Vielleicht kam das Karussell seiner Gedanken auch von den Schmerzen, die genau wie damals in seinem Körper wüteten. Ruhelos drehte er sich auf die Seite, nur um sogleich wieder auf den Rücken zu sinken, als die Schmerzen in den Himmel aufstiegen. Seine Rippen, sein Schädel, seine Schultern, seine Arme, alles tat weh. Und er konnte nicht mal sauer auf diese verflixten Jugendlichen aus der Federklaue sein, die ihn derart zugerichtet hatten. Denn stets, wenn er an sie dachte, tauchte das Gesicht des Mädchens vor ihm auf. Ihre sanften Augen mit diesem gejagten Ausdruck. Ihr Lächeln an der Eisdiele. Ihre stolze, flammende Phönixgestalt, kurz bevor sie starb.
Stattdessen war er wütend auf Korvus. Und auf Olaf, diesen Kotzbrocken, der alles versiebt hatte. Wenn er Riannes Amulett nicht gesehen hätte, dann hätte nie jemand mit Sicherheit gewusst, dass Ria der Phönix gewesen war. Dann hätte Korvus nicht erfahren, dass Finn … Er konnte den Gedanken nicht zu Ende denken. Er ertrug es nicht, wo alles hinführen könnte – hinführen musste.
Das Geräusch von Fingern, die über Metallstäbe strichen, riss ihn aus dem Strudel seiner Gedanken. Sein Herzschlag stockte. In den drei Tagen, die er schon hier war, hatte ihn noch niemand besucht – außer dem Arzt und den Angestellten, die das Essen brachten, aber die zählten nicht. Er hatte angenommen, Besucher wären nicht erlaubt. (Nicht, dass es jemanden gäbe, der ihn besuchen wollte.)
Mühsam stützte Finn sich hoch und lehnte sich an die Wand. Für einen Moment war er nur damit beschäftigt, gegen den Schmerz in seinen Rippen anzuatmen. Dann sah er durch das vergitterte Fenster der Zellentür auf der gegenüberliegenden Seite des kleinen Raumes. Es dauerte einen Moment, bis er den Ausschnitt des Gesichts auf der anderen Seite zuordnen konnte. Es war Lily. Finns Herz machte einen schmerzhaften Satz in seine Kehle hinauf.
Ihr Blick war kalt. Die Alata hatte stets ernst gewirkt, aber der Schmerz in ihren Augen verstärkte den Eindruck noch. Außer ihrem Gesicht und den blonden Locken, die strähniger erschienen als sonst, konnte er geradeso ihre mit schwarzem Stoff verdeckten Schultern sehen. Dumpf fragte er sich, ob heute die Beerdigung war.
„Du kannst froh sein, dass du da drinnen bist, sonst würde ich dein elendes Rabengesicht zerreißen.“ Ihre Stimme war leise und rau, als hätte sie letzte Nacht zu viel geschrien. „Die ganze Zeit spielst du uns vor, du wärst in sie verliebt gewesen, dabei hast du nur auf eine Gelegenheit gewartet, sie zu töten.“
Ihre Worte entsprachen dem Gegenteil der Wahrheit und dennoch bohrten sie sich wie Eissplitter in Finns Herz.
„Du bist erbärmlich. Wenn die Gitterstäbe nicht wären, ich würde deine Kehle langsam und schmerzhaft …“ Ihre Stimme brach und eine Träne rann über ihre Wange – ein seltsamer Anblick auf ihrem starren Gesicht, ein einzelner Auslass des Sturms, der hinter ihren Augen tobte.
Es tut mir leid, wollte Finn sagen, aber kein Wort kam über seine Lippen. Schon war Lily wieder verschwunden, nur noch graue Wand war durch das Fenster zu sehen. Aber ihre Präsenz hing weiter wie ein Geist im Raum und schichtete Felsbrocken der Schuld auf seine Brust.
Finn schloss die Augen und wieder sah er den Jungen auf der Schaukel. Es war leichter, als den toten Phönix zu sehen.
***
„Hast du die Phönixalata Rianne Peters erschossen?“
Nach den endlosen Minuten des Schweigens zuckte Finn zusammen, als der Jäger die Frage stellte. Es war, als hätte jemand einen Ballon zum Zerplatzen gebracht und die Wirklichkeit war hereingebrochen. In der Stille des Verhörraumes war sich Finn wie in einem Traum vorgekommen. Von weit weg betrachtete er seinen eigenen Körper, der unter den kalten, verurteilenden Blicken der Jäger immer kleiner wurde. Aber die Frage brachte ihn ruckartig zurück.
„Nein“, antwortete Finn krächzend. Er hatte fest und sicher klingen wollen, aber seine Stimme betrog ihn.
Der Mann starrte ihn an und Finn wand sich. Er hatte nie besondere Angst vor den Jägern – wie die Polizei der Alati genannt wurde – gehabt. Da er aus einer angesehenen Rabenfamilie kam, hatte es dafür bisher keinen Grund gegeben. Aber jetzt gab es einen und Finns Herz raste. Seine Hände schwitzten derart, dass er sie gern irgendwo abgewischt hätte. Aber er war angewiesen worden, sie auf dem Tisch zu lassen, also ließ er es bleiben.
„Erzähl uns, was an jenem Abend passiert ist.“
Finn brauchte einen Moment, um seine Gedanken zu sortieren. Unter den Blicken der Jäger weigerte sich sein Kopf, klare Sätze zu bilden. Sein Bericht der Ereignisse wurde derart wirr, dass er selbst kaum durchblickte. Er erzählte von seinem Angriff mit den Snagad, den Kampf gegen die Jugendlichen, wie Jonas und Lily ihn zurückgedrängt hatten, von Kosmo und seinem verdammten Snagadizit. Als er zum Ende kam, stockte er. Erneut durchlebte er das Gefühl, als sich seine Krallen in Fleisch gruben. Ein Echo von Lilys schmerzerfülltem Kreischen erfüllte seinen Kopf. Erneut sah er Rias Phönixgestalt, gebrochen und leblos auf dem Boden. Finns Hände zitterten derart, dass die Handschellen über dem Verwandlungsstopper an seinem Handgelenk klapperten. Er schlang die Hände ineinander, um das Geräusch zu stoppen.
„Weiter“, verlangte der Jäger erbarmungslos.
Also erzählte Finn von Ria, wie sie sich in den Phönix verwandelt und seine Snagad hinfortgefegt hatte. Noch immer konnte er die Hitze und die Machtlosigkeit spüren, als die Snagad aus seiner Gewalt gerissen worden waren. Er hatte nicht einmal gewusst, dass ein Phönix solche gigantischen Kräfte besaß. Korvus hatte es nie erwähnt. Vielleicht hatte er es selbst nicht gewusst.
„Und dann?“, drängte ihn der zweite Jäger weiter. Finn kannte ihn, es war Jochen Triefer, der Verteidigungsabgeordnete und Befehlshaber der Weimarer Jäger. Der Typ wäre ihm sogar ohne Jägeruniform unsympathisch. Sein arrogant erhobenes Kinn und die herablassend verzogenen Mundwinkel waren genug, um Brechreiz zu verursachen.
Sein Kollege – das Namensschild wies ihn als C. Berger aus – war auf eine andere Art einschüchternd. Abgesehen von seinem emotionslosen Gesichtsausdruck und den kalten Augen hatte er etwas an sich, das Finn nicht ganz zuordnen konnte. Er hielt Bergers Blick nicht mehr stand, sah an die graue Wand hinter ihm und dann auf den Metalltisch zwischen ihnen, aber es gab nichts, an dem sich sein Blick festhalten konnte. Alles war kalt und grau.
„Sie wurde erschossen“, presste Finn hervor. Seine Fingernägel gruben sich in seine Haut, aber er nahm es kaum wahr. Jeder Muskel in seinem Körper fühlte sich an, als wäre er aus porösem Stein. Wenn ihn jetzt jemand anstieße, würde es ihn nicht wundern, wenn er einfach zerbräche.
„Details bitte.“
Er wollte sich nicht erinnern. Sie war tot, reichte das nicht? „Sie hat sich verwandelt und da war überall Feuer –“
„Das erzähltest du bereits.“
Hilflos verzog er das Gesicht. Schweiß rann seine Schläfe hinab, obwohl es bitterkalt war und er gleichzeitig am ganzen Körper zitterte. Er wollte den Schweiß wegwischen, doch prompt erinnerte ihn ein schneidender Schmerz an die Handschellen um seine Gelenke. Er krallte die Hände wieder ineinander. Alles in ihm drängte danach, wegzulaufen, der Situation zu entfliehen. Aber er konnte nicht und das nahm ihm jede Luft zum Atmen. Finn hatte noch nie eine Panikattacke gehabt und er fragte sich, ob das seine erste war.
„Ich warte“, sagte Berger gelangweilt.
Bebend holte er Luft und konzentrierte sich auf seine Lunge, das Atmen. Finn wollte hier raus, aber dafür musste er den Jägern ihre Fragen beantworten. Er hätte nicht gedacht, dass er sich nach seiner Zelle sehnen könnte. „Sie ist gelandet“, sagte er schließlich. „Auf dem Sofa, glaube ich. Und dann hat man einen Schuss gehört und sie ist gestürzt.“ Finn redete schnell, zwang sich, die Emotionen fortzudrücken. „Ich war immer noch in Rabengestalt auf dem Boden.“
Triefer zog höhnisch die Augenbrauen hoch. „Weil man in Rabengestalt eine Pistole bedienen kann.“
„Ich habe sie nicht umgebracht!“, platzte er heraus, doch die Jäger schienen nicht beeindruckt. Die Erkenntnis sickerte zu ihm durch, dass sie nicht hier waren, um die Wahrheit zu hören. Ihr Urteil war bereits gefasst. Sie würden ihn nicht gehen lassen, bevor er gestanden hatte. Aber das konnte er nicht, denn er hatte Rianne nicht erschossen. Sie würden ihn niemals gehen lassen. Er würde hier sitzen bleiben, Stunde um Stunde, und er konnte nicht atmen.
Vor Finns Augen drehte sich alles. Rias brennende Phönixgestalt, ihr lebloser Körper, Lilys Schrei, Bergers teilnahmsloser Blick, Triefers Hohn und dazwischen Korvus, kalt und erbarmungslos. Es war alles zu viel.
Kapitel 2
In einem Wald am Rande eines Dorfes in Thüringen, weit entfernt vom hektischen Wuseln der Welt, hatte ein mächtiger Sturm eine Buche aus der Erde gerissen. Mit halb entblößten Wurzeln lag sie an einem Hang, nichts Besonderes, nicht wirklich – anderen Bäumen erging es ähnlich. Für den kleinen Zaunkönig jedoch war sie der Mittelpunkt der Welt. Ihr tief liegendes Geäst bot ihm vor größeren Vogelkollegen Zuflucht. Dort hüpfte er von Zweig zu Zweig, einmal schnatternd und dann wieder lauschend, ob seine Liebe in der Nähe war.
Nebenan trällerte ein Waldlaubsänger. Sein lauter und schneller werdender Gesang trat in den Vordergrund, als der Zaunkönig mit einem Mal schwieg. Er legte das winzige Köpfchen schief und hüpfte im Kreis. Sein Schwänzchen ragte steil auf und gab ihm einen energischen Eindruck. Erst zaghaft, dann eilig sprang und flog er den Stamm seiner Buche hinab. Im Sturz hatte die Buche ihre Wurzeln aus der Erde gerissen, sodass sie nun zum Himmel ragten, statt sich in den Boden zu graben. Dort sprang der Zaunkönig hinauf, bis auf die höchste Wurzelspitze. Von hier aus blickte er auf die mächtigen Buchen- und Eichenstämme seiner Nachbarschaft. Irritiert wippte er mit dem Schwanz. Alles war wie gehabt, dennoch erfüllte ein merkwürdiges Gefühl sein Herz, ein Gefühl, das er kannte und das doch nicht hierher passte – nicht in diese Zeit. Der Zaunkönig flatterte zurück auf den Stamm, aber nur zwei Flügelschläge weiter rief ihn das Gefühl zurück.
Leise und zart hallte ein Knacksen durch die Morgenluft. Dort unten, wo die Wurzeln der Buche eine Mulde in den Waldboden gerissen hatten, geschützt unter dem Wurzelschirm, brach ein Vogelei entzwei. Ein Stück der Schale, so groß wie der Zaunkönig selbst, fiel hinab in das weiche Moosbett. Ein weiteres, dreimal so groß, wurde durch Drücken und Schieben von innen zur Seite geklappt, wo es hängen blieb wie ein Baumpilz am Stamm.
Ein Vogelkind, nackt, ungelenk und voller Leben, drängte sich in die Welt. Lebenssäfte klebten auf seiner Haut und spannten Fäden. Tapsig dehnte es die Flügel in der neuen Freiheit und riss den Schnabel auf, um einen erstaunlich melodischen ersten Ruf in die Welt zu schicken.
Von der Tundra bis ins Outback, von den Anden bis in die Alpen stellten die Vögel für einen winzigen Moment jeden Gesang, jedes Krächzen ein. Sie verharrten im Flug, unterbrachen das Schnappen nach Insekten, zogen den Kopf unter dem Flügel hervor.
Wie ein warmer Windhauch streifte der Ruf des Vogelkindes die Vögel dieser Welt und sie verharrten in Ehrfurcht. Alle wussten, was der Ruf bedeutete, und dennoch kehrten sie nach einem kurzen Moment der Freude zu ihrem Tagesablauf zurück. Flügel wurden geschlagen, Äuglein geschlossen und Insekten aus der Luft geschnappt.
Einige Vögel jedoch spürten ein Drängen in sich, wie das Ziehen eines unsichtbaren Fadens, das sie dazu veranlasste, sich in die Lüfte zu erheben oder ihre Flugbahn zu ändern. Mit kräftigen, stetigen Flügelschlägen eilten sie in ein Waldgebiet in einer einsamen Gegend Thüringens.
Der Zaunkönig war schon dort, als Erster, noch bevor der Waldlaubsänger kam und dann die erste Ringeltaube, drei Krähen, ein Rabenpärchen, ein Trauerschnäpper, ein Schwarzspecht, ein Rotmilan und viele, viele mehr. Der Zaunkönig war der Erste, der hinabflatterte und in den weit aufgerissenen Schnabel des Vogelkindes blickte. Noch bevor er es erreichte, drehte er um. Er flog zur Brombeerhecke bei der gebrochenen Eiche, denn er wusste sofort, was zu tun war. Es war ein uralter Instinkt, mit dem jeder Vogel, ein jedes Wesen, geboren wird, und der Zaunkönig folgte dem Instinkt mit der Selbstverständlichkeit eines erprobten Vaters.
Und so erging es den Tauben und Raben, den Schnäppern und Bussarden, sie alle eilten aus, um ihrem Vogelkind Nahrung zu bringen. Sie brachten Fliegen und Nüsse, Mäuse und Beeren und, als nach drei Nächten der Steinadler aus den Alpen zu ihnen stieß, brachte er sogar ein Kaninchen. Das Vögelchen aß alles, selbstverständlich, denn es war das Kind aller Vögel und so wuchs es auch auf.
Das Einzige, das es niemals zu essen bekam, waren kleine Vögel. In einer stummen Übereinkunft, die nicht einmal die Vögel selbst erklären konnten, unterbrachen die Greifvögel ihre gewohnte Jagd auf ihre kleineren Verwandten. Es waren friedliche Tage in diesem Thüringer Wald.
Am zweiten Morgen spross bereits weißer Flaum auf der Haut des Vogelkindes. Es öffnete zum ersten Mal die Augen und sie waren schwarz und braun wie das Fell eines Rehs. Voller Neugier und Zuneigung erblickte es die Uhudame, die ihm eine tote Maus vor die Klauen legte. Die Vögel hatten ihm ein Nest aus Moos, Zweigen und Federn gebaut, zu dem jeder etwas beigetragen hatte. Das war das Erste, was das Vogelkind erblickte: das braun-graue Gefieder des Uhus, seine goldenen Augen und die Federn aller Farben zu seinen Füßen. Sie schillerten und leuchteten mit dem Himmel um die Wette, der sein schönstes Morgenkleid angezogen hatte. Eine endlose Faszination erfüllte den jungen Vogel.
Er verzehrte die Maus und dankte der Uhudame. Sie blieb eine Weile bei ihm sitzen, um ihn zu wärmen, aber eigentlich wärmte das Vögelchen sie. Trotz der frischen Herbstnacht fror es niemals. Gemeinsam beobachteten sie das Aufhellen des Himmels. Als die Wolken wie Feuer leuchteten, erwachte der Zaunkönig und die Uhudame zog weiter.
Die Vögel kamen und fütterten und flogen. Niemals war das Vogelkind allein, behütet vergingen seine ersten Tage. Als in der vierten Nacht der Fuchs vorbeikam, dachte er nicht einmal daran, sich dem Vögelchen zu nähern, so zahlreich war die Schar seiner Beschützer.
Am achten Morgen kam der Zaunkönig und das Vogelkind verspeiste mit einem Happs die Fliege, die er brachte. Er flog davon und das Vogelkind schlug die Flügel und folgte. Es trällerte begeistert. Die Luft trug es hinauf und nach dem ersten Schlingern hatte es den Zaunkönig überholt. Aufgeregt klapperte er mit dem Schnabel und der Mäusebussard, der Steinadler, der Trauerschnäpper, die Krähen, ja sogar die Uhudame und der Waldkauz, sie alle kamen heran, um ihr Kind fliegen zu sehen. Hinauf und hinauf flogen sie und die Federn des Vögelchens leuchteten mit der Sonne um die Wette, tiefrot, orange und gelb. Es streckte die Flügel und ließ sich gleiten, seine Schwingen waren elegant und gemacht für das Segeln. Der Wind streichelte über sein Gefieder und das Vogelkind verspürte eine Euphorie wie niemals zuvor. Seine Freude brach in Flammen aus seiner Seele hinaus. Strahlend weiß und gesäumt mit blauen Spitzen umtanzten sie sein Gefieder.
Am selben Tag veränderte sich das Vogelkind. Es ächzte und trällerte und streckte seine Glieder. Seine Federn verschwanden zuerst. Sie verzogen sich in glatte braune Haut wie die junge Rinde einer Kiefer. Dann dehnten sich seine Flügel und Beine, sie wurden länger und dicker. Und der Kopf schwoll an, sodass die erschrocken zusehenden Vögel meinten, der dünne Hals könne ihn kaum noch halten. Das Kind ächzte von der Anstrengung und dann weinte und lachte es. Es besah seinen neuen Körper und seine Vogeleltern. Alles war matter und verschwommen, aber gleichsam spannend und neu.
Die Vögel hüpften und flatterten um es herum. Statt Federn trug es den Kopf voll klein gelockter Haare, aber ihre Farbe war noch immer rot und orange und gelb. Es war ihr Kind, doch voller Erstaunen erkannten sie, dass es auch ein Kind der Menschen war. Doch sie gewöhnten sich schnell an den neuen Ruf ihres Kindes und verziehen seine ungeschickt greifenden Hände. Sie waren sich einig, es war noch immer ihr Kind, sie würden es füttern, wie sie es bisher getan hatten.
Die Tauben und Spatzen wussten, was zu tun war. Sie flogen voran und die Vögel folgten, aus dem Wald hinaus, über das Feld zu den Steinnestern der Menschen. Dort fanden sie, was sie brauchten. Die Krähen und Raben waren am geschicktesten und zeigten den anderen Vögeln, wie sie in die Nester kamen, wie sie widerspenstiges Essen aus der Hülle holten. Der Eichelhäher und die Falken waren am wachsamsten und am schnellsten und passten auf, dass die Menschen nicht in ihre Flugbahn gerieten.
So kam es, dass die Vögel sich vereinten, um Futter für das Menschenkind zu besorgen. Das Kind aller Vögel mochte nicht mehr aussehen wie eines der ihren, aber es wuchs noch immer in gleicher Geschwindigkeit heran. Seine Glieder wurden mit jedem Tag schlanker und eleganter, sein Körper definierter. Es lernte, seine Gestalt zu kontrollieren, sich mal als Vogel durch die Lüfte zu schwingen, mal auf Menschenfüßen über die gestürzte Buche zu balancieren.
Vor allem aber wuchs das Kind im Kopf heran. Gedanken tauchten auf, Fragen. Es bemerkte, dass es nicht nur ein Menschenkind war, sondern ein Menschenmädchen. Es sah, dass keiner der anderen Vögeln sein Gefieder brennen lassen konnte und dass keiner seiner Eltern so aussah wie es selbst. Niemand konnte seine Fragen beantworten und so lebten sie weiter in seinem Kopf. Sie wurden zu einem beständigen Wirbel aus Rätseln.
Wie alle Kinder, egal welcher Gattung, war das Mädchen der Vögel neugierig. Wann immer es hinausflog und seine Kreise dabei stets weiter zog, wurden seine Vogeleltern nervös und riefen es zurück. Wenn es jedoch auf seinen Menschenbeinen durch den Wald stakste, waren sie unbesorgt. So lernte das Mädchen, dass die Welt für Vögel seiner Art gefährlich war und für Menschenkinder weniger.
Eine Unruhe fiel über das Kind herein, die es sich nicht erklären konnte. Wenn es aus dem Schlaf erwachte, richtete sich sein Blick sofort auf seine Umgebung, als erwarte es, etwas Bestimmtes zu sehen. Das Mädchen wusste, dass etwas fehlte.
Immer weiter lief es in den Wald hinaus, gezogen von Rastlosigkeit und unsichtbaren Fäden. Diese Fäden hingen an Gefühlen und Dingen, deren Abwesenheit wie schwarze Löcher in ihm lebte. Wie ein Flimmern im Augenwinkel, das, so sehr es auch den Kopf drehte, stets seiner Sicht entfloh.
Immer weiter lief es hinaus und eines Tages kehrte es nicht mehr zurück. Die Vögel waren unbesorgt, denn das war das Schicksal eines jeden Vogelkindes. Und so flogen sie zurück in ihr vorheriges Leben. Sie jagten wieder nur für sich selbst und nicht selten einander. Das Gefühl, das sie für eine Zeit lang vereint hatte, war verflogen wie ihr Kind. Nicht einmal Trauer blieb zurück, denn das war nicht die Art der Vögel. So sicher wie der Tag auf die Nacht folgte, so sicher wussten sie, dass ihr Kind seinen eigenen Weg finden musste.
Das Mädchen trat aus dem Wald und sah eine schattenhafte, wabernde Gestalt.
***
„Warum hattest du eine Schusswaffe bei dir, wenn du nicht vorhattest, sie zu benutzen?“
Finn starrte auf Bergers Hände. Sie waren lang und feingliedrig, geformt von Büroarbeit, nicht von Handwerk – anders als Triefers, die garantiert an vielen Prügeleien beteiligt gewesen waren. Legalen Prügeleien natürlich, wie es bei Jägern üblich war. Finn könnte wetten, dass Triefer danach war, dieses „Handwerk“ an Finn zu üben. Nur dass das in dieser Situation nicht legal wäre, schade aber auch.
Inzwischen hatte Finn eine fast perfekte Imitation von Bergers gleichgültigem Tonfall drauf, als er zum gefühlt Hundertsten Male erklärte, dass er für Riannes Tod nicht verantwortlich war. „Ich hatte die Pistole nur zur Sicherheit dabei. Ich kann nicht mal damit umgehen.“
Schuldbewusstsein durchbohrte ihn wie ein Speer, obwohl die Worte der Wahrheit entsprachen. Die Schuld schien in jeder Ecke seines Geistes zu lauern, bereit hervorzuspringen, sobald er nur an Rianne dachte. Sein Innerstes fühlte sich rau an, aufgerieben von all den Emotionen. Er hatte sie nicht umgebracht, aber wenn Berger und Triefer weiter auf ihn einredeten, würde er bald selbst daran glauben.
Triefer atmete geräuschvoll aus. Die Befragung schien ebenso an seinen Nerven zu zehren wie an Finns. Seine Lippen wurden immer schmaler und seinen Augen glühten unheilvoll. Berger dagegen wirkte, als hätte er einen Liter Baldriantropfen zum Frühstück geext. Seine Finger waren ineinander verschränkt und lagen locker auf dem Tisch, weder zitterten sie wie Finns, noch waren sie verkrampft wie Triefers. Ohne einen Hauch von Ungeduld stellte er immer wieder dieselben Fragen. Finn experimentierte mit seinen Antworten, aber egal, wie er sie formulierte, Berger war niemals zufrieden. Wie lange sollte das noch so weitergehen?
„Woher hattest du die Waffe?“
„Theodor Korvus hat sie mir gegeben.“
Auch das hatte er schon mehrmals erklärt, aber sie glaubten ihm nicht. Sie glaubten nicht, dass Korvus existierte. Sie hatten ihn in keiner Datenbank gefunden. So musste Finn nicht einmal ein schlechtes Gewissen haben, dass er ihn verraten hatte. Denn für Berger und Triefer war Korvus nichts weiter als ein Hirngespinst. Im ersten Moment war er beinahe erleichtert gewesen, aber das Gefühl war mittlerweile von Wut verdrängt worden. Er war wütend, dass ihm nicht geglaubt wurde. Wütend, dass er sich vor Korvus’ Rache fürchtete. Dabei hatte er gewusst, dass sie ihn treffen würde, seit er beschlossen hatte, Rianne zu beschützen.
Als er sie zum ersten Mal im Park mit dem Buch über Phönixe gesehen hatte, hatte er bereits einen Verdacht gehabt. Aber Ria war weder furchteinflößend noch in Lumpen gekleidet gewesen, ganz anders, als er sich Phönixalati stets vorgestellt hatte. Es war so leicht gewesen, den Verdacht zu ignorieren. Sie war so nett und unkompliziert gewesen und Finn hatte sich seit Wochen mit niemandem in seinem Alter unterhalten.
Später, als er in die Federklaue eingebrochen war und ihre Akte gesehen hatte, war aus dem Verdacht Gewissheit geworden. Und dennoch hatte er es vor Korvus abgestritten. Mit jeder Lüge über Ria, über den Phönix, war das Eis unter seinen Füßen dünner geworden. Als Korvus von ihm verlangt hatte, Ria anzugreifen, war Finn kurz davor gewesen, ihm und seiner FK – der Formation der Klauen - den Rücken zu kehren. Er erinnerte sich noch genau daran, wie der innere Konflikt an ihm gezehrt hatte. Er hatte das dunkle Glühen in Korvus’ Augen gesehen und zum ersten Mal richtig Angst vor ihm bekommen.
Der Auftrag war ein Test gewesen und Finn hatte bestanden. Er hatte Rianne angegriffen. Sie hatte sich nicht verwandelt und ihm damit das beste Argument geliefert, Korvus von ihrer Unschuld zu überzeugen. Der Phönix hätte sich gegen die Snagad gewehrt. Die Erinnerung fraß sich wie Säure durch seine Seele. Er hatte die FK verraten, ihre Mission gefährdet und es hatte nicht einmal etwas gebracht. Ria war tot. Und Finn würde dafür hinter Gitter kommen. Für lange, lange Zeit.
Wieder spielte sich der Moment vor seinen Augen ab. Er hörte Olafs Stimme, die dumpf aus Korvus’ Handy schepperte, als er ihm verriet, dass Ria der Phönix war. Er sah Korvus’ stahlharten Blick zu sich schnellen. Alles in ihm fiel zu einem eisigen Klumpen zusammen. Als Korvus zu der Waffe griff, war sich Finn sicher, er würde die Pistole auf ihn richten. Stattdessen hielt er ihm den Griff hin.
„Töte sie.“
Die Waffe war kalt, schlüpfrig in Finns schweißnassen Händen. Wie ein Blitz schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, wie sehr Korvus von sich selbst überzeugt sein musste, um keine Sekunde zu befürchten, dass Finn abdrücken könnte. Aber warum sollte Finn? Er gehörte doch zur FK. Korvus gab ihm eine Chance, sein Vergehen zu berichtigen.
Doch tat er das wirklich? Korvus wusste, dass Finn es niemals schaffen würde, sicher zu zielen. Er war kein Schütze, sondern ein Rabenalatus und ein Jugendlicher noch dazu. Seine Waffe waren die Snagad. Korvus stellte sicher, dass Finn eine Pistole bei sich haben würde. Und indem er sie annahm, schaufelte Finn sich sein eigenes Grab.
Es war egal, dass die Kugel nicht aus seiner Waffe kam. Es war egal, dass die Schussentfernung nicht stimmte. Niemand konnte das untersuchen, denn die Leiche war verbrannt und Finn der einzige Tatverdächtige mit einer Pistole in der Tasche.
Ein panisches Lachen brodelte in ihm, aber ein Blick in Bergers Augen reichte, um es zu unterdrücken. Quietschend schabte Bergers Stuhl über den Boden, als er aufstand. „Die Gerichtsanhörung findet am kommenden Freitag statt. Vielen Dank für deine Kooperation.“
Sein Lächeln war falsch und anteillos. Triefers Blick zeigte dagegen seine Verachtung. Er machte klar, dass Gerichtsanhörung nur ein anderes Wort für Verurteilung war. Aber das wusste Finn auch so. Korvus hatte alles daran gesetzt, ihn loszuwerden, um sein eigenes Gefieder weiß zu halten. Und Finn war nichts weiter als eine Fliege im Netz seiner Intrigen.
Kapitel 3
Zu dem wabernden Schatten gesellte sich ein zweiter. Lustig flogen sie umeinander herum, bevor sie hinter der Brombeerhecke verschwanden. Unstillbare Neugierde erfüllte das Mädchen, die schwarze Leere in ihr pulsierte. Es fand eine Lücke in der Brombeerhecke und kletterte hindurch. Zaghaft setzte es einen Fuß vor den anderen, bemüht, den Dornen auszuweichen.
Auf der anderen Seite der Hecke war das Gras kurz. Die zwei Schatten flogen um eine Gestalt herum, die war wie sie. Sie sahen sich an und zum ersten Mal hatte das Mädchen ein Bild davon, wie sich Gefühle auf einem menschlichen Gesicht abzeichneten. Obwohl es das zum ersten Mal sah, konnte es die Gefühle sofort entziffern: Überraschung, Verwirrung, Neugierde. Genauso musste es auf seinem eigenen Gesicht aussehen.
„Warum bist du nackt?“, fragte das fremde Mädchen in einer Sprache, die ganz anders klang als die der Vögel.
Es sah an sich herab, musterte ihr Gegenüber und verstand sofort, was es meinte. Voller Verwunderung hörte es sich auf dieselbe Weise antworten, als hätte es niemals etwas anderes getan, als Luft zu Worten zu formen: „Ich bin so geboren.“
Das andere Mädchen lachte. „Und wie heißt du?“
„Ria“, sagte das Mädchen und wusste sogleich, dass es stimmte. Das war ihr Name.
„Ich bin Sina.“ Die Schattengestalten flogen nach wie vor um den Kopf des Mädchens herum, buntes Licht pulsierte in ihrem Inneren.
Neugierig streckte Ria eine Hand nach den dunklen Wesen aus und sie erstarrten in der Luft. Ihr Leuchten erinnerte sie an ihr eigenes Feuer, wenn Euphorie es aus ihrem Blut über ihr Gefieder tanzen ließ. Ein Schatten schwebte näher heran und ein Hauch von Kälte streifte Rias Hand. Beide zuckten zurück. Wie eine aufgeregte Schwalbe wirbelte das Wesen um Sina herum und das zweite fiel mit ein. Sie hob beschwichtigend die Hände. „Beruhigt euch!“ Es dauerte einen Moment, dann setzten sie sich auf Sinas Handflächen und pulsierten wieder in einem langsamen, stetigen Rhythmus. Das Mädchen kniff die Augen zusammen und musterte Ria. „Du kannst sie sehen?“
Ria nickte.
„Und sie scheinen Angst vor dir zu haben. Dabei haben Snagad nie Angst.“
„Snagad“, wiederholte sie. Das Wort hatte einen bekannten Klang, es glitt mühelos von ihren Lippen. Eines der Löcher in ihrem Inneren schloss sich und die Welt erschien ein winziges bisschen vollständiger.
„Wie alt bist du eigentlich?“, fragte Sina.
Ria dachte über die Frage nach und konnte keine Antwort finden. Also zuckte sie mit den Schultern – eine Bewegung, die Ahnungslosigkeit ausdrückte, begriff sie im selben Moment.
„Du weißt das nicht? Kannst du nicht zählen? Also ich bin fünf.“
„Fünf?“
Sie blinzelte und Ria blinzelte zurück. „Fünf Jahre.“
Langsam nickte sie und überlegte, wie viele Morgen das wohl waren. Mehr, als sie sich vorstellen konnte. Aber Ria war eineinhalb Köpfe größer als das andere Mädchen. Hieß das nicht, dass Ria sogar noch mehr Jahre alt sein sollte? Ein Rascheln unterbrach ihre Gedanken. Ein Sperling war im Apfelbaum neben ihnen gelandet und sie grüßte ihn freundlich. Der Vogel grüßte zurück.
„Warst du das eben?“, fragte Sina.
„Was?“
„Du hast gezwitschert wie ein Vogel. Wie hast du das gemacht?“
Ria runzelte die Stirn und zwitscherte noch einmal, diesmal eine andere Tonfolge, um den Sperling nicht zu verwirren.
Das andere Mädchen jauchzte und schlug die Hände aneinander. Das klatschende Geräusch ließ den Sperling davonflattern. „Bringst du es mir bei?!“
Das Mädchen versuchte, dem anderen zu zeigen, wie es die Laute formte, doch es gelang nicht so recht. Bei Ria kam das Zwitschern ohne Anstrengung, aber Sina scheiterte daran.
Ein Geräusch lenkte die Aufmerksamkeit der Kinder auf ein steinernes Gebilde hinter ihnen. Ein Haus, fiel Ria ein.
Sina sprang auf die Beine und griff nach ihrer Hand. „Komm mit! Das musst du unbedingt meinen Eltern zeigen!“
Ria ließ sich von dem Mädchen zum Haus ziehen. Ihr Blick wanderte an der geraden Wand hinauf. Sie fragte sich, ob sie Angst haben sollte. Sie blickte über die Schulter, aber es war kein Vogel in Sicht, den sie hätte fragen können. Also musste sie dem Gefühl vertrauen, das sie weiterzog. Freudige Aufregung flutete sie.
Sina stieß die Holzplatte … nein, die Tür auf und ihre nackten Füße berührten Steinplatten. Die Kälte war unangenehm. Sie vernahm einen Geruch, den sie noch nie zuvor gerochen hatte und der ihr doch bekannt vorkam. Der Strudel in ihrem Kopf wirbelte auf der Suche nach Wörtern. Rastlosigkeit nagte an ihr, als sie sie nicht zu greifen bekam, obwohl sie direkt an ihr vorbeizuflattern schienen.
An der Hand des Mädchens tapste sie über etwas Weiches – einen Teppich – und betrat einen schmalen Gang. Am anderen Ende wurde in eben diesem Moment eine Tür geöffnet. Eine Frau trat herein. Sie stieß einen spitzen Schrei aus und ließ fallen, was sie eben noch in der Hand gehalten hatte. „Sina! Wer –“
„Mama! Dieses Mädchen ist bei uns im Garten aufgetaucht und meine Snagad mögen sie nicht, aber sie kann sie sehen und sie kann mit den Vögeln reden!“ Sie zog an Rias Hand. „Los, mach es vor!“
Also zwitscherte Ria den Begrüßungsruf der Spatzen und die Augen der Frau weiteten sich noch mehr. Sie schüttelte den Kopf. „Was … Woher kommst du?“
Die Frage schien an sie gerichtet und der Tonfall sorgte dafür, dass sie den Kopf einzog. „Aus dem Wald.“
„Warum trägst du keine Kleidung?“
Zum zweiten Mal heute blickte Ria an sich hinab. „Ich habe keine.“ Sie sah die Gegenstände, die die Frau fallengelassen hatte, und der Strudel in ihrem Kopf spuckte wahllos Wörter aus: Tüten. Einkaufen. Apfel. Spaghetti. Speichel sammelte sich in ihrem Mund. Sie hatte schon lang nichts mehr gegessen.
„Wo sind deine Eltern?“, fragte die Frau.
Ihre Stimme war drängend und Ria schwitzte auf der Suche nach der richtigen Antwort. Doch egal, wie sehr sie nachdachte, sie fand sie nicht. Also sagte sie das Einzige, was ihr in den Sinn kam: „Die Vögel sind im Wald.“
Sie konnte an den Augen der Frau sehen, dass die Antwort falsch war. Aber was war die richtige Antwort? Mutter. Vater. Eltern. Der Strudel wirbelte so stark, dass ihr Kopf sich drehte. Fotos. Meer. Insel. Familie.
„Sina, komm zu mir!“, rief die Frau alarmiert.
Das andere Mädchen lief zu ihr. Als es zu Ria zurücksah, wirkte es besorgt. Ihre Mutter drückte es an sich, wirkte … mehr als besorgt. Rias Kopf suchte nach dem richtigen Ausdruck dafür, doch es war alles zu viel. Zu viele Gefühle, zu viele Wörter. Ihr Kopf hörte auf, sich zu drehen, aber dafür drehte sich die ganze Welt. Sinas Schrei erfüllte den Raum und das Letzte, was Ria dachte, war, dass sie doch so ähnlich schreien konnte wie ein Vogel.
***
Als Ria erwachte, lag sie in einem weichen Nest. Sie öffnete die Augen und sah sich um. Kein Wurzelteller, keine Buchen und Eichen, keine Vögel um sie herum. Stattdessen vier von Menschen geformte Wände. Sie lag in einem Bett.
Sina stand davor, daneben ihre Mutter und ein Mann – wahrscheinlich Sinas Vater. Für einen Moment musterten sie sich gegenseitig, schließlich räusperte sich der Mann und trat einen Schritt näher. Langsam ging er in die Hocke, als wolle er sie nicht verschrecken. Aber sie war unbesorgt, denn sie war ein Kind der Vögel, so sehr wie sie ein Kind der Menschen war, und wenn es ihr zu viel wurde, konnte sie wegfliegen.
„Wie heißt du?“, fragte der Mann. Seine Stimme war tief und angenehm, ganz anders als das Zwitschern der Vögel.
„Ria“, sagte sie.
„Hallo, Ria, ich bin Edward“, sagte er und lächelte. „Das hier sind meine Frau Sabine und meine Tochter Sina. Wie wäre es, wenn du dich anziehst, und dann reden wir, okay?“
Ria setzte sich auf und nickte. Ein Stapel Kleidung lag auf dem Bett. Sie griff nach dem obersten Stück und entfaltete ein T-Shirt. Fasziniert streichelte sie über den violetten Stoff.
„Es ist dir vielleicht ein bisschen zu groß“, sagte Sabine.
Die drei gingen aus dem Zimmer und Ria stand auf. Sie breitete die Kleidungsstücke auf dem Bett aus. Shirt, Hose, Socken, Unterhose. Sie betrachtete sie eine Weile, bis sie meinte, die Reihenfolge, in der sie zu tragen waren, begriffen zu haben. Dann erst zog sie eines nach dem anderen an.
Sie sah sich im Zimmer um, wie auf der Suche nach etwas. Ihr Blick fiel auf einen Spiegel. Zielgerichtet ging sie darauf zu und stellte sich davor. Es war, als hätte sie sich schon Tausende Male zuvor betrachtet. Fasziniert drehte sie sich im Kreis. Die Hose war zu lang und rutschte und das Shirt hatte sie fast nicht über den Kopf bekommen, jetzt flatterte es um ihren Körper. Am meisten faszinierten sie ihre Haare. Sie waren ganz anders als die von Sina und ihrer Mutter. Die beiden hatten glatte Haare, Sinas waren schwarz und Sabines blond. Rias waren gelockt und rot, sie umgaben ihren Kopf wie ein Kokon in Flammen. Die Farbe war das Einzige, was ihr an ihrem Anblick fremd erschien.
Sie raffte die Hose am Bund zusammen und verließ das Zimmer. Die Tür führte sie auf einen Gang, der an einer Treppe endete. Von unten hörte sie Stimmen, also lief sie in diese Richtung. Die Stimmen kamen aus einem Zimmer direkt gegenüber der Treppe. Als Ria eintrat, verstummte die um den Küchentisch versammelte Familie. Prüfend wanderten Blicke ihren Körper auf und ab.
Sina lachte. „Ein bisschen zu groß.“
„Setz dich doch. Willst du Tee?“, fragte Sabine.
Ria nickte. Tee – das Wort hatte einen ansprechenden Klang.
„Wie alt bist du?“, fragte Edward.
Langsam trat Ria um den Tisch herum und wählte einen Platz schräg gegenüber von ihm. Von hier aus konnte sie durch ein Fenster nach draußen blicken. Dort, in einem Kirschbaum, saß ein Grünfink. Um das Haus gegenüber tanzten Schwalben. „Ich weiß nicht“, antwortete sie schließlich leise. Zwölf Morgen. Tage. Aber sie wusste, mit der Antwort stimmte etwas nicht.
„Hast du dein Gedächtnis verloren? Deine Erinnerungen?“
Ria runzelte die Stirn und nickte. Ja, sie hatte ihre Erinnerungen verloren. Die Lücken, der Strudel in ihrem Inneren, das musste es sein. War es normal, dass man mit verlorenen Erinnerungen geboren wurde?
„Hattest du einen Unfall?“
„Nein. Ja. Ich bin mir nicht sicher.“
Sabine stellte eine Tasse vor ihr ab. Ria legte die Hände darum. Ein angenehmer Duft lullte sie ein.
„Ich hoffe, du magst Kamillentee.“
Ria lächelte.
„Kann sie bei uns bleiben?“, fragte Sina.
„Wir müssen herausfinden, von wo Ria kommt“, meinte Sabine. „Kein Mädchen kommt einfach so aus dem Wald.“
Ich schon, dachte Ria. Aber sie sagte nichts.
„Deine Eltern vermissen dich bestimmt.“
Vermissen. Ein unangenehmer Druck baute sich in ihrer Brust auf. Konnte es sein, dass sie jemand vermisste, an den sie sich nicht erinnerte? Konnte sie jemanden vermissen, an den sie sich nicht erinnerte? Tief atmete sie den Kamillenduft ein und verdrängte die aufwirbelnden Gedanken.
„Wenn du willst, kannst du erst einmal hierbleiben“, sagte Edward. „Heute ist es schon etwas spät, aber morgen, wenn ich von der Arbeit zurückkomme, fahren wir mit dir zur Alativerwaltung. Vielleicht wissen die, woher du kommst. Dann können wir dir auch passende Kleidung besorgen.“
„Okay“, sagte Ria und fügte schnell hinzu: „Danke.“
Sina freute sich. Ungeduldig hüpfte sie auf ihrem Stuhl herum, bis Ria ihren Tee getrunken hatte. „Spiel mit mir!“
Ria ließ sich von ihr in das Wohnzimmer mitziehen, wo die Snagad auf sie warteten. Gemeinsam spielten sie, bis es wenig später Abendessen gab – Spagetti mit Lachs-Sahne-Soße. Noch nie hatte Ria so etwas Gutes geschmeckt. Jedenfalls nicht, soweit sie sich erinnerte.
Für eine Zeit lang hielten ihre Gedanken still. Am nächsten Morgen war Sina im Kindergarten und Edward arbeitete. Ria half Sabine bei der Gartenarbeit. Das konnte sie fast allein, ganz ohne Anleitung. „Du hast das bestimmt schon oft gemacht“, sagte Sabine.
Nicht in diesem Leben, dachte Ria. Laut fragte sie: „Kann es sein, dass Menschen mehr als ein Leben haben?“
Sie warf ihr einen nachdenklichen Blick zu. „Bist du religiös? Vielleicht bist du das. In vielen Religionen glauben die Menschen an Wiedergeburt.“
„Woran glaubst du?“
„Ich denke, man lebt nur einmal und sollte sein Leben genießen. Was nach dem Tod kommt, wissen wir erst, wenn es schon zu spät ist.“
Die Snagad tanzten um sie herum und Ria streckte die Hände nach ihnen aus, so wie Sina es stets tat. Aber bei ihr wichen sie zurück.
„Sind die Snagad da?“, fragte Sabine. „Ich habe mich immer gefragt, ob sie bleiben, wenn Sina fort ist.“
Verwirrt blickte Ria zu ihr. „Kannst du sie nicht sehen?“
„Nein. Ich bin eine Crura.“ Sie lächelte nachsichtig.
Es dauerte einen Moment, bis ihr Kopf die Bedeutung dafür aus dem Strudel fischte. „Das heißt, du bist kein Vogel?“
„Nein, ich kann mich nicht in einen Vogel verwandeln. Edward auch nicht.“
„Aber Sina?“
„Ja. Merkwürdig, nicht?“ Sabine hackte auf eine harte Stelle im Gemüsebeet ein.
„Warum?“
„Es passiert nicht häufig, dass Alati von Cruraeltern geboren werden. In meiner oder Edwards Familie muss es wohl einmal Rabenalati gegeben haben und die Gene haben einfach ein paar Generationen übersprungen. Das war ein schöner Schreck, als wir es herausgefunden habe, das sage ich dir. Plötzlich saß ein Rabenjunges im Kinderzimmer und unser Mädchen war fort! Zum Glück hat sie sich sofort zurückverwandelt, wer weiß, was wir sonst getan hätten.“
„Ein Rabenmädchen.“
„Ja.“ Sabines Mundwinkel hoben sich zu einem liebevollen Lächeln. „Deswegen sind ihre Haare wohl auch schwarz. Wir haben uns schon gewundert. Man munkelt im Dorf, wir hätten das Kind adoptiert.“
Wenig später kam Sina aus dem Kindergarten zurück und nahm Ria in Beschlag. Sie spielten Verstecken mit den Snagad. Das Rabenmädchen, die Schattenwesen und das Phönixmädchen – darin lag eine Ironie, die Ria nicht begreifen konnte. Aber irgendwo saßen die Zeitenweber und lachten.
Kapitel 4
Als Sabine nach einer halben Stunde Fahrt in der Innenstadt parkte, war Ria müde. Gähnend folgte sie der Familie über die Straße zur Haustür. Verwaltung für Ornithologie stand neben dem Klingelschild. Sina streckte sich und hielt eine Münze darüber. Es klackte und die Tür schwang auf.
„Wenn irgendetwas ist, ruft an, okay?“ Sabine wirkte nervös.
„Kommt ihr nicht mit rein?“, fragte Ria.
„Nein, es sind nur Alati erlaubt.“
„Komm schon, Ria.“ Sina nahm ihre Hand und zog sie in den dunklen Hausflur.
Die Tür fiel zu und schnitt sie von Edward und Sabine ab. Ein automatisches Licht ging an. Zielstrebig führte Sina sie durch die erste Tür auf der linken Seite. Eine Frau sah vom Tresen auf. Sie lächelte.
„Guten Tag, Sina, wie kann ich euch helfen?“
„Wir suchen Rias Eltern!“ Das Mädchen zeigte auf Ria und sie lächelte verlegen.
„Darf ich eure Münzen sehen?“
„Ich habe keine“, sagte Ria, während Sina sich streckte, um ihre auf den Tresen zu legen.
„Sie hat sie bestimmt verloren, wie ihr Gedächtnis“, sagte Sina.
„Oh?“ Die Frau hielt Sinas Münze gegen ein Gerät. Mit einem Zwinkern gab sie sie danach zurück. „Danke dir. Alles noch aktuell.“ Sie stand auf. „Wartet bitte kurz.“
„Die Leute hier kennen dich“, sagte Ria, als die Frau durch eine Tür neben dem Tresen verschwunden war.
„Sie helfen mir immer, weil doch meine Eltern nicht mit rein dürfen.“
Die Tür ging wieder auf und die Frau winkte sie heran. „Herr Kamm erwartet euch.“
Der Verwaltungsmitarbeiter war ein rundlicher Mann mit Halbglatze. Er lächelte breit und streckte erst Sina, dann Ria die Hand hin. „Hallo, ihr zwei! Wie geht es dir, Sina?“
„Alles flügge!“, rief Sina und sie lachten.
Herr Kamm holte einen extra Stuhl heran und sie setzten sich vor seinen Schreibtisch. Der Tisch quoll über von Papier. Ein altmodischer Computer brummte leise. Die Situation kam Ria vage bekannt vor.
„Frau Zunder meint, du suchst deine Eltern.“ Herr Kamm musterte Ria freundlich. „Was ist passiert?“
„Ich weiß nicht.“ Der Mann zog die Augenbrauen hoch und sie versuchte, ins Detail zu gehen: „Ich komme aus dem Wald. Von den Vögeln. Ich weiß nicht, wo meine Menscheneltern sind. Oder ob ich welche habe.“
„Jeder hat Eltern, mein Kind.“ Er legte die Hände auf die Tastatur. „Wie ist dein vollständiger Name?“
„Mein vollständiger Name?“
„Ja. Ria ist dein Vorname und dein Nachname ist …?“
Ihr Nachname. Ria überlegte. „Ria. Ria … Fahler?“ Es klang nicht falsch, aber auch nicht richtig.
Herr Kamm tippte den Namen in den Computer ein, suchte jeden Buchstaben mit ausgestrecktem Zeigefinger. „Ria Fahler … Mit h, ja?“
Ria nickte und hielt gespannt den Atem an. Ihr Herz klopfte. Würde sie erfahren, wer ihre Eltern waren? Konnte sie eine weitere ihrer Lücken füllen?
Herr Kamm runzelte die Stirn und beugte sich nahe an den Bildschirm heran. „Hhm. Kein Eintrag unter diesem Namen. Bist du sicher, dass das dein Name ist?“
Nein, sie war sich nicht sicher. Irgendetwas stimmte nicht. Sie wiederholte ihn in ihrem Kopf. Ria Fahler, Ria Fahler, Ria Fahler. Ria …
„Rianne! Rianne Fahler.“
„Oh! Ria ist nur eine Abkürzung. Daran könnte es gelegen haben, ja!“ Erneut machte sich Herr Kamm an das Eintippen des Namens.
Ria starrte auf seinen Finger und mit jedem Mal, mit dem er auf eine Taste drückte, beschleunigte sich ihr Atem. Ihre Hände fühlten sich schweißnass an. Die Maschine erwachte zum Leben. Bitte, bitte.
Herr Kamms Mundwinkel zogen sich herunter. „Nein, auch nicht. Die einzigen Fahlers im System sind ein Lukas Fahler, der ist etwas jung, Markus und Sybille Fahler, die sind bereits über achtzig, und einige bereits Verstorbene. Niemand in deinem Alter und niemand, der als Elternteil infrage kommt.“
Er drehte den Bildschirm herum, sodass Ria Fotos der Genannten sehen konnte. Sie kamen ihr alle nicht bekannt vor. Enttäuscht sackte sie in sich zusammen.
Sina tätschelte ihren Arm. „Bist du dir sicher, dass das dein Name ist?“
Sie zögerte, dann sagte sie: „Ich denke schon.“ Rianne Fahler. Der Name war matt und dunstig, als wäre er verblasst. Vielleicht war er das. Vielleicht war ihre Zeit vor dem Leben bei den Vögeln so lange her, dass es ihre Eltern nicht mehr gab. Dass es sie nicht mehr gab.
„Schon okay, du kannst einfach weiter bei uns wohnen“, meinte Sina.
Mit einem Male setzte sich Herr Kamm aufrecht hin. „Aber du bist eine Alata. Oder nicht? Oje, daran muss es liegen – wenn du eine Crura bist, kann das System dich gar nicht finden!“
Sina riss die Augen auf. „Du bist keine Alata? Aber ich dachte … weil du meine Snagad sehen kannst …“
„Eine Alata?“, wiederholte Ria verschreckt.
„Kannst du dich in einen Vogel verwandeln?“ Herr Kamm schlug die Hände zusammen. „Meine Güte, wenn nicht, solltest du gar nicht hier sein!“
„Natürlich kann ich mich in einen Vogel verwandeln.“
Herr Kamm hielt inne. „Tatsächlich? In was für einen Vogel?“
Ein Gedanke und der Raum erstrahlte in schillernden Farben, ihre Sicht schärfte sich und ihr Körper fühlte sich schwerelos an. Ria schüttelte ihr Gefieder. Erleichterung überkam sie. Sie hatte nicht bemerkt, wie sehr sie ihre Vogelgestalt vermisst hatte.
Die überraschten Blicke der anderen ließen ihre Anspannung zurückkehren. Herr Kamm runzelte schon wieder die Stirn. Schnell verwandelte sie sich zurück. „Stimmt etwas nicht?“
„Ich habe noch nie so einen Vogel gesehen“, sagte Herr Kamm.
„Ich auch nicht!“, rief Sina.
„Definitiv etwas Seltenes. Diese Farben!“ Mit neuem Elan wandte er sich zurück an den Computer. „Das muss doch zu finden sein! Mal sehen, Alati nicht-heimischer Vogelformen ihm Großraum Thüringen.“ Der Computer ratterte besorgniserregend. „Ein Papagei? Nein. Wellensittich? Eher nicht. Ein Aguja? Hmm.“
Sina und Ria traten um den Schreibtisch herum, um ihm bei seiner Suche über die Schulter schauen zu können. So kurz nach ihrer Rückverwandlung fiel Ria auf, wie unscharf ihre Sicht in Menschengestalt war. Sie musste die Augen zusammenkneifen, um den Vogel zu erkennen, der auf dem Bildschirm zu sehen war. Er war bläulich und ein Greifvogel.
„Kein Aguja“, urteilte Herr Kamm.
Er scrollte weiter durch eine Liste, aber keiner der Vögel schien zu Ria zu passen. Ihre anfängliche Hoffnung verflog.
„Merkwürdig, sehr, sehr merkwürdig. Vielleicht war deine Familie zu Besuch hier?“
Mutlos zuckte Ria mit den Schultern.
„Also, das tut mir leid, aber ich fürchte, da kann ich nichts machen. Ich werde die Vermisstenanzeigen durchgehen, aber wenn dein Name nicht im System auftaucht, habe ich kaum Hoffnung.“
„Danke für Ihre Mühe“, murmelte sie.
„Dafür bin ich da.“ Er faltete die Hände auf dem Schreibtisch und beugte sich vor. „Wir suchen dir jetzt erst einmal eine Bleibe für die Nacht, dann spreche ich mit Frau Rüttel vom Familienamt. Wenn wir mit der Suche nach deinen Eltern nicht weiterkommen, findet dir Frau Rüttel ein nettes Zuhause. Keine Sorge, das wird schon werden.“
Mit jedem seiner Worte sank Ria etwas weiter in ihrem Stuhl zusammen.
Sina dagegen richtete sich auf und rief: „Aber sie kann doch bei uns bleiben! Das haben Mama und Papa gesagt.“
Herr Kamm runzelte die Stirn. „Haben sie das?“
„Ja!“ Sina ergriff Rias Arm und hielt sie fest.
„Zumindest für die Übergangszeit wäre das natürlich netter als ein Hostel.“ Herr Kamm schien kurz nachzudenken, bevor er sich entschlossen hochstemmte. „Nun gut, ich komme eben mit raus und rede mit deinen Eltern. Wäre das für dich in Ordnung, Rianne?“
Am liebsten wollte Ria in ihren Wald zu den Vögeln zurückzukehren. Dort war die Welt einfacher. Allerdings hatte sie keine Ahnung, ob sie von hier allein dorthin zurückfinden würde, und sie hatte auch nicht das Gefühl, dass Herr Kamm die Idee gutheißen würde. Also nickte sie bedrückt.
Zusammen verließen sie das Institut. Draußen warteten wie versprochen Edward und Sabine auf sie. Herr Kamm nahm die beiden sofort in Beschlag, um mit ihnen die Situation zu besprechen. Ria blendete ihr Gespräch aus, bis Sabine ihr zulächelte und sagte: „Du kannst gern noch eine Weile bei uns bleiben. Vielleicht kommen deine Erinnerungen von ganz allein zurück.“
Ria nickte dankbar.
Herr Kamm verabschiedete sich mit dem erneuten Versprechen, alles in die Wege zu leiten, um Rias Eltern zu finden, dann kehrte er ins Institut zurück. Ria, Sina und deren Eltern schlenderten noch etwas durch die Stadt, um Kleidung für Ria zu kaufen. Es war dunkel, als sie wieder zu Hause ankamen, und Ria war müde. Schrecklich müde. Sie kuschelte sich in ihr Bett und ließ sich von den schwarzen Löchern in ihrem Inneren verschlucken. Sie versuchte, in sie vorzudringen, sie zu erforschen, doch vergebens. Irgendwann schlief sie ein und ihre Träume waren genauso schwarz wie ihre Erinnerungen.
Doch dann veränderte sich das Bild. Aus der Schwärze wuchsen Formen, die waberten und blitzten. Sie wurden zu Snagad. Tausenden von Snagad. In ihrem Traum schrie Ria. Sie schrie und schrie und konnte nicht mehr aufhören. Die Snagad erschienen ihr wie ein entsetzliches Bild des Grauens. Als sie endlich aus dem Traum erwachte, setzte sie sich keuchend auf und sah sich um.
Der Mond schien in ihr Zimmer. Es war angenehm warm und ihre Decke war weich. Der Ozean aus Snagad in ihren Gedanken löste sich auf. Stattdessen erinnerte sie sich an Sina und ihre zwei Snagad, die sich freudig glucksend an sie kuschelten. Ria lachte. Was für ein absurder Albtraum.
***
„Weißt du, Ria, ich finde es schön, dass du hier bist. Für Sina ist es manchmal schwierig, dass sie keine anderen Alati um sich hat, mit denen sie sich austauschen kann.“
„Immerhin hat sie die Snagad.“ Ria nahm einen Stapel Teller von Sabine entgegen und verteilte sie auf dem Tisch. Sie konnte nicht aufhören, an ihren Albtraum zu denken. Jetzt, bei Tageslicht, erschien er ihr noch absurder. Dennoch fragte sie sich, ob nicht ein Funken Realität dahintersteckte. „Wo sind sie eigentlich hergekommen?“
„Sina sagt, sie waren schon immer da.“
Bei der Vorstellung von Sina als Baby, schlafend, mit je einem Snagad an jeder Seite, wurde ihr mulmig zumute. „Findet ihr das nicht ein bisschen komisch? Was sagt Herr Kamm dazu?“
„Er meinte, es komme vor, dass Snagad sich zu Kolkrabenalati hingezogen fühlen. Es scheint ihn nicht zu besorgen. Und es ist schließlich nie etwas passiert.“ Sabine holte die Lasagne aus dem Ofen, sog den verführerischen Duft ein und lächelte Ria zu. „Es gibt mir ein gutes Gefühl, dass sie da sind. Sie beschützen Sina.“
„Wovor?“
„Früher gab es diesen Jungen, der ihr auf dem Spielplatz ständig Streiche gespielt hat. Eines Tages ist er wie von der Tarantel gestochen davongelaufen und hat sich nicht mehr in ihre Nähe getraut. Niemand wusste warum, aber ich bin mir sicher, dass die Snagad damit zu tun hatten. Und einmal waren wir in diesem Freizeitpark und plötzlich war Sina verschwunden. Diesen Schrecken werde ich niemals vergessen! Aber nach einer Viertelstunde war sie wieder da. Die Snagad haben sie zurückgeführt.“ Sabine rief die Familie zum Essen.
Als hätte sie hinter der Tür gewartet, kam Sina hereingerannt. Die Snagad flogen hinter ihr her. „Lasagne!“, rief sie begeistert.
„Mmh, das duftet herrlich“, meinte auch Edward, der nach ihr eintrat. Bei Rias Anblick zog er die Augenbrauen hoch. „Kind, bist du gewachsen? Es ist, als würdest du jeden Tag eine Handbreit größer werden.“
„Eine Handbreit am Tag?“ Sabine schüttelte lachend den Kopf.
„Sie ist mittlerweile größer als du. Und die Hose ist ihr auch zu kurz! Schau, Sabine. Das gibt’s doch nicht! Gestern hat sie noch gepasst.“
Alle blickten zu Rias Knöcheln, die unter den Hosenbeinen hervorschauten.
„Vielleicht haben wir die falsche Größe mitgenommen“, murmelte Sabine.