Für Fortgeschrittene - Alek Popov - E-Book

Für Fortgeschrittene E-Book

Alek Popov

4,8

Beschreibung

Ein großer Spaß: Diese Geschichten triefen von schwarzem Humor und abgründigem Witz. Ein Mann stolpert eines Morgens über eine Annonce, in der jemand auf dem freien Markt, der in Bulgarien Einzug gehalten hat, seine Dienste als Scharfrichter anbietet. Der Mann ist neugierig und fünfzig US-Dollar sind schließlich nicht viel für eine einmalige Erfahrung - auch wenn es um das Leben geht. Viktorija wiederum kostet die Liebe den Kopf: Was als Romanze per E-Mail beginnt, endet in einer Schachtel im Kühlschrank ... Apropos: Was macht man in Bulgarien, wenn der Kühlschrank leer ist und der Hunger droht? Nicht weiter schlimm, solange es Opa noch gibt ... Wozu hat man schließlich eine Großfamilie? Wundern Sie sich nicht, in Bulgarien ist vieles anders, aber längst nicht alles verkehrt. Und genau davon handeln die Geschichten, die Alek Popov so wunderbar zu erzählen weiß und die dieses Buch versammelt. Wo bei anderen der Spaß aufhört, beginnt bei Alek Popov der Irrwitz. Er ist ein begnadeter Satiriker, scharfsinnig und unterhaltsam, ein Meister des Slapstick, der über den Abgründen tanzt. Das ist gnadenloser Humor: Humor Für Fortgeschrittene.

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Alek Popov

Für Fortgeschrittene

Aus dem Bulgarischen von Alexander Sitzmann

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografischeDaten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

www.residenzverlag.at

© 2014 Residenz Verlagim Niederösterreichischen PressehausDruck- und Verlagsgesellschaft mbHSt. Pölten – Salzburg – Wien

Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten.Keine unerlaubte Vervielfältigung!

ISBN ePub:978-3-7017-4471-8

ISBN Printausgabe:978-3-7017-1525-1

INHALT

Russisches E-Mail

Wie man sich bettet

Die Dienstleistung

Der Stipendiat

Für Fortgeschrittene

Der Fall Anjuta

Ninive

Auf nach Syrakus!

Bericht abgeliefert

… Kontrolle ist besser

Keine leichte Beichte

Derrida kommt!

Simić ist tot

Perlen vor die Säue

Der Krautzyklus

Auf der Insel der Koprophagen

Der Unabhängigkeitstag

Saubere Arbeit

Onkels unschuldige Hände

Die anderen Lichter

RUSSISCHES E-MAIL

Viktorija und ich schreiben uns seit einem halben Jahr. Sie ist einundzwanzig und lebt in Moskau, behauptet sie zumindest. Sie arbeitet in der Werbeabteilung eines großen Unternehmens, und in ihrer Freizeit widmet sie sich ihrer Website. Sie führt dort ein Tagebuch, in dem sie über verschiedene Details ihres Privatlebens Auskunft gibt. Für mein Gefühl ist das, was sie schreibt, irgendwie zu scharfsinnig und zu witzig, um wahr zu sein. Aber wie dem auch sei, von der Wahrheit allein kann man wohl nicht leben. Das Layout der Seite ist einfach, der Inhalt erneuert sich fast jede Woche. Am unteren Ende gibt es ein Icon in Form eines Briefkastens für Feedback.

Wie und warum ich auf diese Seite gestoßen bin, tut nichts zur Sache. Wichtiger ist, dass ich immer wieder dorthin zurückgekehrt bin, bis es mich schließlich in den Fingern zu jucken begann und ich beschloss, ihr eine Nachricht zu schicken – es war ein linguistischer Cocktail aus russischen und englischen Wörtern, der Sprache Anthony Burgess’ in »A Clockwork Orange« nicht unähnlich. Ich habe ihr das Gleiche gesagt, was ich auch hier sage: Dass das, was sie schreibt, zu scharfsinnig und zu witzig ist, um wirklich wahr zu sein. Und sie hat geantwortet: Von der Wahrheit allein kann man nicht leben. So hat alles begonnen.

Während dieses halben Jahres haben wir uns mehr als hundert E-Mails geschrieben: manche davon ganz kurz, andere – sehr ausschweifend. Es gelang uns, einander alles zu sagen, ohne dass wir einander überdrüssig wurden. Sie schickte mir ein Bild von sich, ein jpg. Es war mir bewusst, dass das nicht ganz den Regeln des Spiels entsprach, aber ich bedauerte es nicht. Nach dem Foto zu urteilen, war Viktorija ein bemerkenswertes Geschöpf. Ich erschrak richtiggehend! Bestimmt hatte sie das Bild von der Seite einer Modelagentur heruntergeladen. Aber dieser Gedanke beruhigte mich nicht, dafür war es schon zu spät. Echt oder nicht, das Bild schob sich über die Vorstellung, die ich von ihr hatte, und es gab nichts, was die Vorstellung von dem Bild wieder hätte trennen können. Viktorija bestand darauf, dass ich ihr ein Bild von mir schicke. Ich zögerte. Sollte ich mir nicht auch ein attraktiveres Äußeres geben? Aber es schien mir nicht richtig, ich hatte doch keine Komplexe, also zeigte ich ihr mein wahres Gesicht. Sie schrieb mir, dass ich schön sei, očeń krasivyj – sehr schön sogar. Mir fiel ein Stein vom Herzen.

Unser Kontakt wurde intensiver. Die intellektuelle Beziehung gewann schnell an Intimität. Immer glühendere Post, immer pikantere Details. Wir hatten keine Geheimnisse mehr voreinander. Was folgte, folgte logisch und unausweichlich: Cybersex. Wider jede Vernunft, ich weiß. Aber so ist das eben mit Russinnen.

Bis sie dann eines Tages in Sofia landen. Ha-ha!

Als ich begriff, dass Viktorija vorhatte, hierher zu kommen, war ich nicht gerade erfreut, nicht ein bisschen! Sich face to face gegenüberzustehen, ist so eine Sache (man denke nur an den gleichnamigen Roman von Phillip Finch). Sie schien mein Zögern zu spüren und fragte mich, ob ich mich denn nicht freute, dass wir unsere Phantasien nun wahr werden lassen könnten. Über diesen Aspekt des Problems hatte ich gar nicht nachgedacht. Und wenn das Bild echt war? Es gab keine andere Möglichkeit, es herauszufinden. Also gut, schrieb ich ihr, komm nur. Ich rannte also los, mietete eine kleine Wohnung – nicht besonders gemütlich, aber geräumig, mit einem stabilen und breiten Bett. Zu mir nach Hause konnte ich sie wegen meiner Frau und unserem Kind nicht einladen. Ich verheimlichte das nicht vor ihr, aber es hatte nicht den Anschein, als ob es ihr besonders viel ausmachte. Viktorija hatte selbst einen Freund, der ihren Worten nach zu nichts zu gebrauchen war. Sie würde nur eine Woche bleiben, informierte sie mich, so lange dauere ihr Urlaub. Das war immerhin beruhigend.

Und da stand ich dann auf dem Flughafen, mit einem dämlichen Grinsen im Gesicht und mit einem Blumenstrauß in der Hand. Ich schaute auf die Anzeige: Das Flugzeug aus Moskau war vor fünf Minuten gelandet. Gnade dir Gott, wenn du nicht so aussiehst wie auf dem Bild! dachte ich, während ich im Warteraum auf und ab ging. Ich trank Kaffee, ich rauchte. Als die Reisenden aus Moskau irgendwann begannen, in der Ankunftshalle zu erscheinen, mischte ich mich unter die Begrüßenden – an exponierter Stelle! Ich starrte in die Menge und suchte die Geliebte mit scharfem Blick. Sie hatte mein Bild, es bestand keine Gefahr, dass wir uns nicht erkennen würden. Aber sie war nicht dabei. Nur eine endlose Reihe von Tanten, die überfüllte Wägelchen mit Gepäck vor sich her schoben. Und wenn sie gar nicht kommt?, schoss es mir durch den Kopf. Vielleicht hat sie kalte Füße bekommen, weil sie mich mit dem Bild getäuscht hatte. Na und? Sie begann mir Leid zu tun, und ich war bereit, ihr alles zu verzeihen. In diesem Moment spürte ich eine Hand auf meiner Schulter.

– Eto vy, Saša. Sind Sie es, Sascha?, fragte mich die weiche Stimme eines Mannes.

Ich drehte mich um, als hätte hinter mir ein Blitz eingeschlagen. Vor mir stand ein stattlicher Blonder, knapp über vierzig, mit langem Gesicht und durchdringenden blauen Augen. Er hatte kein Gepäck außer einer leichten Reisetasche, die er über der Schulter trug, und einer Schachtel, in der offenbar einmal eine Kaffeemaschine verpackt gewesen war. Er faltete einen Zettel auseinander, den er in der Hand hielt, und nickte.

– Da, eto vy. Ja, Sie sind es!

Er hatte sich mein Foto ausgedruckt.

Der Blumenstrauß in meinen Händen verwelkte von einer Sekunde auf die andere. Er spürte meine riesenhafte Verwirrung und sagte:

– Machen Sie sich keine Sorgen, ich werde Ihnen alles erklären.

Wir entflohen dem Gedränge und ließen uns auf den Sitzen an der Wand nieder. Er stellte die Schachtel vorsichtig auf dem Boden ab, musterte mich und sagte:

– Ich heiße Šlisť. Ich bin Viktorijas Vater und freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen.

Das konnte ich von mir nicht behaupten, deshalb schwieg ich. Er wühlte in seinen Taschen und zog ein kleines Bild hervor.

– Und das ist meine Tochter, seufzte Šlisť.

Von dem Bild lachte mir ein Mädchen mit Sommersprossen und Zöpfen ausgelassen entgegen.

– Da ist sie zwölf, fügte er hinzu. – Und jetzt ist sie dreizehn.

Ich klammerte mich immer noch dümmlich an den Blumenstrauß. Šlisť öffnete den Reißverschluss seiner Tasche und zog einen Packen Papier hervor. Er gab ihn mir: Es war ein Ausdruck unserer gesamten Korrespondenz.

– Sie trifft natürlich keine Schuld, fuhr er ruhig fort. – Sie hat Sie an der Nase herumgeführt. Unsere Viktorija kommt jetzt in die Pubertät, ihre Fantasie ist sehr lebhaft. Leider ist uns das außer Kontrolle geraten, Sie wissen ja, moderne Eltern, die wir sind. Sie haben auch Kinder, nicht?

– Eines, sagte ich fast ohne Stimme.

– Ich nehme an, dass Sie sich schrecklich fühlen, bemerkte er mit einem Anflug von Mitleid. – Aber das konnte so nicht weitergehen. Ich habe beschlossen, dass es das Beste ist, wenn wir uns treffen, face to face, wie man so sagt, um die Situation zu klären. Außerdem habe ich in Bulgarien zu tun, fügte er unbestimmt hinzu.

Ich wusste einfach nicht, wohin mit mir vor Scham. Meine Ohren glühten wie eine Heizspirale.

– Hören Sie, Sascha, fuhr Šlisť unbeirrt fort, kann ich so lange in der Wohnung bleiben, von der Sie geschrieben haben? Sie steht doch jetzt ohnehin leer. Ich will mich nicht in ein Hotel einquartieren, wenn es nicht sein muss. Nur für vier Tage! Ich werde es Ihnen auch bezahlen, wenn Sie darauf bestehen.

Der Vorschlag kam unerwartet, und eigentlich gefiel er mir gar nicht. Aber ich war momentan viel zu verwirrt, um vernünftig zu reagieren.

Wir gingen zu der Wohnung.

Er inspizierte den halbleeren Raum skeptisch. Er ging zum Fenster und zog den Vorhang ein wenig zur Seite. Dann setzte er sich aufs Bett.

– Hier wollten Sie meine Viktorija also herbringen?, flüsterte er, während er die Matratze gedankenverloren prüfte. – Wie romantisch!

– Es ist wirklich nicht sehr wohnlich, stammelte ich.

Insgeheim hoffte ich, er würde verschwinden. Seine Kleidung und die Samsonite-Tasche legten nicht unbedingt nahe, dass er sich kein Hotel leisten konnte. Aber Šlisť dachte nicht daran zu gehen.

– Gibt es hier einen Kühlschrank?, fragte er sachlich.

Ich zeigte ihm den Kühlschrank. Zu meiner großen Überraschung stellte er die Schachtel mit der Kaffeemaschine hinein. Darauf klopfte er vielsagend gegen die Champagnerflasche, die ich vor Tagen eingekühlt hatte. Meine Ohren wurden von neuem rot.

– Wenn Sie keine Einwände haben, werde ich mich ein bisschen ausruhen, sagte er. – Ich will Ihnen wirklich keine Umstände machen. Wenn ich abreise, werde ich den Schlüssel einfach beim Nachbarn abgeben. Einverstanden?

Ich nickte. Sein blasses Gesicht erstrahlte in einem kühlen Leuchten, ich wollte nichts wie weg.

Die nächsten Tage waren ein einziger Alptraum. Ich fühlte mich wie erschlagen und ekelte mich vor mir selbst. Ich hätte Lust gehabt, mich mit der kleinen Hexe in Verbindung zu setzen und ihr zu sagen, was ich von ihrem schmutzigen Spielchen hielt, konnte mich aber nicht dazu aufraffen. Ich las unsere ganze Korrespondenz von neuem. Die Täuschung war perfekt.

Am vierten Tag ging ich, den Schlüssel von den Nachbarn holen, wie wir es ausgemacht hatten. Sie sagten mir, dass der Russe noch am nächsten Morgen abgereist sei. Er war nur einen Tag geblieben! Das kam mir seltsam vor, und so beschloss ich, einen Blick in die Wohnung zu werfen.

Die Champagnerflasche stand gut sichtbar auf dem Tisch. Sie war leer. Daneben lag ein Brief, die Buchstaben waren aus einer Zeitung ausgeschnitten und sorgsam aufgeklebt.

Dorogoj Saša, lieber Sascha, stand da, ich habe Sie ein klein wenig zum Narren gehalten. Zuerst habe ich Sie erschreckt, dass Viktorija ein Mann sei, und dann habe ich Sie glauben gemacht, sie sei ein Kind. Aber die Wahrheit ist weitaus banaler. Viktorija ist nicht dreizehn Jahre alt, sondern einundzwanzig. Und sie ist nicht meine Tochter, sondern meine Ehefrau. Sie hatte tatsächlich eine lebhafte Phantasie, aber das habe ich leider zu spät begriffen. Sie hatte vor, mit meinem ganzen Geld durchzubrennen, und das ist, glauben Sie mir, nicht eben wenig. So war ich also gezwungen, gewisse Maßnahmen zu treffen. Ich nehme an, dass Sie der Gedanke quält, ob sie wirklich die Frau von dem Foto ist, das sie Ihnen geschickt hat. Ich schlage vor, dass Sie die Schachtel im Kühlschrank öffnen. Überzeugen Sie sich selbst.

Ihr Šlisť

WIE MAN SICH BETTET

Als ich letztes Jahr in London war, landete ich aus Gründen, die nicht allein mit mir zu tun haben, auf der Straße … Ich hatte keine große Wahl, also beschloss ich, unter einer der Themsebrücken zu übernachten. Es war ungewöhnlich warm für die Jahreszeit, und in meinem Rucksack hatte ich einen ganzen Liter Wodka, den ich in weiser Voraussicht im Duty-free-Shop am Flughafen in Bulgarien gekauft hatte.

Ich hatte außerdem zur Vorsicht einen dicken Wintermantel mitgenommen, der mir jetzt, wie ich dankbar feststellte, als Decke dienen konnte. Es gab keinen Grund, Trübsal zu blasen.

Um die Wahrheit zu sagen, ich halte mich nicht oft bei Einbruch der Dunkelheit an solchen Orten auf, deshalb war ich auf der Hut. Das kulturelle Umfeld, in dem ich gelandet war, hat seine Besonderheiten. Überall lagen Bierdosen herum, die Wände und Metallträger waren mit Graffiti übersät. Es roch ein wenig nach Fäkalien. Bald entdeckte ich, dass ich nicht alleine war … Der Mann hatte sein Biwak in einer der Nischen zwischen den Metallrippen aufgeschlagen. Er trug einen dichten, gescheckten Bart und war mächtig von Gestalt. Er war nicht alt, aber die Furchen auf seiner Stirn zeugten von einer ständigen gedanklichen Anstrengung, die ihn schneller hatte altern lassen. Er saß auf einer durchgescheuerten Matratze, das eine Bein untergeschlagen, die Schultern entspannt, und ließ seinen Blick über den Fluss streifen.

– Hier wird nicht gepinkelt, hörte ich ihn mit deutlich schottischem Akzent sagen.

– Ich habe auch nicht die Absicht, hier zu pinkeln, entgegnete ich leicht gekränkt mit deutlich slawischem Akzent.

Ich machte es mir in der Nische nebenan bequem. Ich streckte mich auf meinem Wintermantel aus und holte den Wodka hervor. Ich hatte einen Plastikbecher aus dem Flugzeug mitgenommen, sodass ich mich gepflegt bedienen konnte. Und so trank ich Wodka Gorbatschow – weich und glatt im Geschmack, die Wellen plätscherten gegen die Brückenpfeiler, und weit entfernt über meinem Kopf zischten die Reifen der Autos über den regennassen Asphalt. Sowie ich eingeschlummert war, empfing ich einen undeutlichen Reiz an den Rändern meiner Wahrnehmung. Ich ignorierte ihn, aber er drängte sich erneut in mein Bewusstsein … Es vergingen einige Sekunden, bis ich begriff, dass der Typ die Flasche mit sengenden, gierigen Blicken anstarrte. Solche Begehrlichkeiten sind gefährlich und ich bin nicht knauserig, also sagte ich zu ihm:

– Gib mir deinen Becher, Alter!

Ich hatte überhaupt keine Lust, dass er mir den Flaschenhals einspeichelte – wer weiß, was alles in seinem Mund gedieh. Ich konnte nicht einmal blinzeln, schon hielt mir der Drecksack ein Colaglas unter die Nase, large size. Ich goss ihm ein paar Finger hoch ein, damit er Ruhe gab, aber er ließ sich neben mir nieder. Jetzt will er auch noch Gesellschaft, dachte ich mit wachsender Feindseligkeit, als mir sein Geruch in die Nase stach …

Ich erwartete, dass er zu schwatzen anfangen, mich mit der faden Prosa seines Lebens unterhalten würde, aber er schaute mich nicht weiter an. Er saß schweigsam da und trank aus seinem riesigen Glas. Mir ging ebenfalls mehr als genug im Kopf herum und ich brannte nicht darauf, meine Zunge zu wetzen. So verging beinahe eine Stunde. Der Verkehr auf der Brücke ließ allmählich nach, zwei Drittel vom Wodka waren dahin, und ich gewöhnte mich langsam an den Gestank meines Nachbarn. Ich fand sogar etwas Tröstliches in seiner Nähe … Ich machte Anstalten, ihm nachzuschenken, aber er zog sein Glas weg. Entschlossen erhob er sich und trat an den Rand der Plattform. Einige Sekunden stand er da und starrte ins schwarze Wasser hinunter. Dann sprang er.

Er sprang, verflucht!

Ein dumpfes Platsch, und das war’s. Ich hatte Glück, dass ich betrunken war und so langsam reagierte, denn sonst hätte es mir einfallen können, ihn retten zu wollen … Ich kroch an den Rand der Plattform und schaute hinunter. Der Fluss roch nach Schlamm. An den Brückenpfeilern bildeten sich Wasserstrudel, von dem Unglücklichen fehlte jede Spur. Was sollte ich jetzt machen? Ich wollte nichts mit der Polizei zu schaffen haben, ich sah keinen besonderen Vorteil darin. Sie würden mich lang und breit ausfragen, was ich um diese Zeit unter der Brücke verloren hatte … sie würden es nicht verstehen … und sie würden mir etwas anhängen. Nein, danke! Mein Verstand, so viel mir davon noch geblieben war, riet mir, meine Siebensachen einzusammeln und mich von den Socken zu machen. Aber wer vertraut schon auf seinen Verstand! Stattdessen begann ich, in den Abfällen des Unbekannten zu wühlen, in der Hoffnung, etwas über ihn in Erfahrung zu bringen. Einen Namen, irgendein Detail, eine Erklärung für seine verrückte Tat. Schließlich hatten wir fast einen ganzen Liter Wodka miteinander getrunken … Seine Matratze war verklumpt und knisterte seltsam. Ich machte mit dem Feuerzeug etwas Licht. Der Bezug war an einer Ecke aufgetrennt, und aus dem Inneren hing ein Fetzchen Papier. Ich zog es heraus. Es war eine Banknote. Fünfzig Pfund. Wow! sagte ich zu mir. Ich fuhr fort, in dem Loch herumzustochern. Kurz darauf hatte ich ein ganzes Bündel davon in der Hand …

Die Matratze war vollgestopft mit Geld!

Plötzlich näherten sich heisere Stimmen. Aus der Dunkelheit tauchten zwei hagere Schatten auf, die wie Gespenster schwankten.

– Derek, schläfst du?

Ich wusste nicht, was tun, also schmiegte ich mich an die Matratze und harrte aus.

– Er ratzt, der Hurensohn …, stellte der andere fest. – Er hat sich ordentlich vollaufen lassen …

Der Wodka zog sofort ihre Aufmerksamkeit auf sich. Ich nutzte das zu meinem Vorteil und zog mir Dereks Lumpen über den Kopf. Ich war wie Rob Roy, der sich in dem verwesenden Kadaver einer Kuh vor den Engländern versteckte … Ich lag auf Unmengen von Geld und fragte mich, wie dieser arme Schlucker wohl an so viel Kohle gekommen war?! Und warum er sie nicht genutzt hatte, statt sich in die eisige Umarmung der Themse zu stürzen? … In meinem Kopf ging es rund. Von Zeit zu Zeit horchte ich auf, um zu belauschen, worüber sich die zwei unterhielten. Aber in dem Mix aus Cockney, Bier und Wodka konnte ich nichts verstehen … Ich tat, als schliefe ich, bis ich am Ende wirklich schlief.

Ich wachte auf, von einem Alptraum geplagt: Irgendjemand hatte die Matratze unter mir weggezogen, und ich lag starr vor Kälte auf dem nackten Boden … Ich sah sofort nach, Gott sei Dank, die Matratze war an Ort und Stelle, prall und hart. Von den beiden Herumtreibern keine Spur. Die Sonne stand hoch am Himmel, es ging auf halb elf zu. Ein Boot, randvoll mit Touristen, fuhr gerade unter der Brücke durch. Offenbar sorgte ich für einen malerischen Anblick, denn sofort richteten sich Dutzende Photoapparate und Kameras auf mich. Das machte mich nervös, ich war nicht scharf auf Öffentlichkeit. Ich wollte nur die verfluchte Matratze zusammenrollen und an einen sicheren Ort bringen, und das war nicht so einfach, wie es aussah. Der Stoff war ziemlich dünn, stellenweise sogar zerschlissen, und ich wollte nicht riskieren, dass die Matratze aufriss und das Geld sich überall verteilte. Deshalb schien es mir vernünftiger, es in einen Sack umzupacken. Nur dass ich keinen Sack hatte! Auch unter Dereks Hab und Gut fand sich nichts Passendes, und meine Reisetasche und mein Rucksack waren lächerlich klein. Erst jetzt, angesichts dieser Schwierigkeiten, wurde mir das Ausmaß der Summe bewusst. Es war unglaublich! In der Matratze steckten sicher zwei Millionen Pfund. Ich setzte mich, um sie unter mir zu spüren. Ich brauchte Säcke!

– He, Derek!

Ich erblickte eine Uniform und erstarrte.

– Wo ist Derek? fragte der Mann.

Es war kein Polizist, er sah eher aus wie ein Angestellter der Stadtverwaltung.

– Naja … – Ich zuckte die Schultern.

– Klar, nickte er. – Er ist weg. Er hat sich ohnehin ziemlich lange gehalten …

Er schien nicht überrascht zu sein. Im Gegensatz zu mir.

– Gab es denn einen anderen vor ihm?!, fragte ich verwirrt.

– O ja, nickte der Angestellte energisch. – Ich glaube, er hieß Bob, aber er ist nur zwei Wochen geblieben. Dann kam Derek. Dieser Platz bleibt nie leer … Hey, hat er dir verraten, dass du das eine oder andere Pfund verdienen kannst, wenn du hier sitzt? – Seine Stimme bekam einen geschäftlichen Unterton.

Ich schüttelte verneinend den Kopf. Der Mann zeigte auf die gegenüberliegende Seite der Brücke, die im morgendlichen Dunst über dem Fluss nur undeutlich zu sehen war. Trotz der vergleichsweise frühen Stunde wimmelte es dort vor Menschen.

– Also, die Sache ist die … Dort drüben sind gebührenpflichtige Fernrohre montiert, solche für Touristen, die für Kleingeld durchschauen wollen … Was es da zu glotzen gibt, wusste ich auch nicht, bis wir vor zwei Jahren eine Untersuchung durchgeführt haben. Das Ergebnis war verblüffend. Kannst du dir vorstellen, was sie so interessant finden?

– Naja, den MI5 …, murmelte ich mit einer unguten Vorahnung.

– Von wegen!, sagte er mit Nachdruck. – Die Obdachlosen! Bedauerlicherweise sind nicht viele von ihnen übriggeblieben. Wir haben sie wohl in letzter Zeit zu sehr verwöhnt, und niemand will mehr unter einer Brücke leben. Und die Touristen sind enttäuscht. Perverses Gesindel! Das wirkt sich natürlich drastisch auf unsere Einkünfte aus …

– Du meinst, dass … dass sie mich gerade beobachten? fragte ich entsetzt.

– Ganz genau!, nickte der Angestellte der Stadtverwaltung freudig. – Du kannst ihnen winken, wenn du willst … Ich gebe dir zehn Pfund am Tag, wenn du hier sitzen bleibst. Aber du rührst dich nicht von der Stelle! Wenn du etwas brauchst, werde ich es dir besorgen. Wenn du mal musst, gehst du dort die kleine Treppe runter … Und pass auf, dass du nicht ins Wasser fällst, es ist rutschig! Im Sommer kannst du hier in der Sonne liegen und bekommst noch fünf Pfund dafür. Na, was sagst du?

Was sollte ich schon sagen? … Ich nahm das Angebot ohne überschäumenden Enthusiasmus an und bat ihn, mir etwas zu essen zu holen – ich war ziemlich ausgehungert.

– Bei der Gelegenheit kannst du auch ein paar Plastiktüten mitbringen …, fügte ich beiläufig hinzu.

– Plastiktüten? fragte er unruhig.

Ich schaute mich um und sagte:

– Naja, für den Müll …

Hal (das war sein Name) sah mich tadelnd an.

– Es ist gut, wie es ist … authentisch …

Ich schwieg, und er ging weg, um einzukaufen.

Ich wusste ohnehin nicht, wie es gelingen sollte, unter den Augen von einem Dutzend Fernrohre zwei Millionen Pfund in Säcke zu stopfen … Ich würde bis heute Abend warten müssen. Verfluchte Touristen! Ich streckte ihnen meinen Mittelfinger entgegen, als Hal gerade mit den Einkäufen zurückkam.

– Du machst dich, großartig! lobte er mich.

Er hatte ein gebratenes Huhn mitgebracht, in Folie gewickelt, ein Baguette und sechs Dosen Bier, die billigste Sorte. Er warnte mich, dass am Nachmittag ein Polizist namens Ed vorbeikommen würde, ich solle nicht erschrecken. Er ließ mich auf dem Kassenbeleg unterschreiben und wünschte mir einen schönen Tag. Überhaupt, Hal war ein kultivierter Mensch. Ich aß, trank zwei Dosen Bier und streckte mich auf der Matratze aus. Es war ein angenehmes Gefühl.

Ich war satt und zufrieden.

Ich dachte an all das Geld, das unter mir lag, auf dem ich lag, daran, wie ich es zu meinem eigenen Wohl verwenden würde. Was ich mir kaufen würde, was für Vergnügungen ich mir leisten würde! Ich wollte diesen neuen Gedanken in meinem Gehirn so viel Platz einräumen, wie sie verdienten. In meinem Gedächtnis klafften Lücken. Ich erinnerte mich schon überhaupt nicht mehr, warum ich nach London gekommen war und wie es kam, dass es mich an diesen seltsamen Ort verschlagen hatte. Und es interessierte mich auch nicht mehr … Alle meine Pläne hatten sich verflüchtigt. Gott höchstselbst sagte zu mir: »Werde reich!« Und das war kein Angebot, sondern ein Befehl.

Gegen drei am Nachmittag kam Ed vorbei. Offensichtlich war er über meine Anwesenheit informiert, denn er legte nicht die für seinen Beruf typische Neugier an den Tag, sondern nickte nur und ging weiter. Ich trank noch ein Bier; dabei fiel mir ein, dass ich Zigaretten im Rucksack hatte, und ich rauchte, wobei ich sehr darauf achtete, dass ich die Matratze nicht in Brand steckte. Ich konnte nicht aufhören, an die Dinge zu denken, die ich mit ihrem Inhalt machen würde. Träume, Sehnsüchte, Wünsche, die herrenlos herumschwirrten, kamen jetzt in Schwärmen zu mir, landeten auf dem metallischen Skelett der Brücke und gurrten einladend. Die Stimmen meiner eigenen Wünsche wurden inmitten ihres Geschreis immer schwächer. Die Dinge, auf die ich wirklich Wert legte. Die Dinge, die ich zuerst erledigen musste. In meinem Kopf herrschte Chaos. Ich wusste nicht, wo ich beginnen sollte.

Allmählich wurde es dunkel. Auf der anderen Seite gingen die Lichter an, während mein Wohnort langsam im Schatten versank. Ich überlegte, ob ich zu irgendeinem Geschäft rennen sollte, um Säcke zu kaufen, aber nach kurzem Zögern verwarf ich die Idee. Es schien mir zu riskant, die Matratze unbeaufsichtigt zu lassen.

Ich fühlte mich schrecklich erschöpft, als hätte ich den ganzen Tag über Steine gewälzt. Mir war schwindlig und übel. Ich hatte zu nichts Lust. Meine ganze Energie war in diesem lärmenden Durcheinander der Wünsche verpufft … Ich saß mit ausgestreckten Beinen da und ließ den Blick schweifen, während ich mit meinem Hintern wie ein Briefbeschwerer auf einem Haufen von Geld thronte. Der Fluss schleppte sich lautlos unter der Brücke dahin, stellenweise glatt wie Glanzpapier, an anderen wieder von Wirbeln und Strömungen aufgeworfen. Ich dachte an Derek und wo er jetzt wohl sein mochte. Und an den anderen, der vor ihm dagewesen war, Bob … Ob nicht auch er ins trübe Wasser gesprungen war? Dieser Platz bleibt nie leer, hatte Hal gesagt. Gab es vielleicht noch andere? Zum ersten Mal erfasste mich etwas wie Angst …

Vielleicht war mir deshalb ein wenig leichter, als sich ein Pärchen unter die Brücke verirrte und zu knutschen begann. Ich verhielt mich ruhig, aber sie bemerkten mich und erschraken für einen Augenblick. Ich hörte, wie sie tuschelten, dann lachten sie … Sie würden mich wohl zum Zeugen eines klassischen Seitensprungs machen. Sie klammerten sich erneut aneinander, noch lauter und schamloser als zuvor. Es war irgendwie nicht der passende Zeitpunkt, um sie Säcke kaufen zu schicken. Ich fragte mich, ob sie es unter der Brücke taten, weil sie kein Geld für ein Hotel hatten, oder ob es ihnen gefiel, an einem öffentlichen Ort zu vögeln. (Wenn man dieses Drecksloch hier so nennen konnte …) Eine Zeitlang beobachtete ich sie mit Interesse: Der weiße, dralle Hintern der Frau schaukelte in der Dunkelheit. Das ging eine ganze Ewigkeit so weiter, sodass ich gar nicht mitbekam, wann sie gegangen waren. Am Morgen fand ich eine leere Flasche Wein und ein zusammengeknotetes Präservativ … Ich warf es in den Fluss.

Die Touristen hatten bereits ihre Positionen eingenommen. Hal kam kurz nach zehn vorbei, er war sichtlich zufrieden. Er gab mir ein wenig Kleingeld und ging Proviant holen. Ich wagte es nicht, ihn wegen der Säcke noch einmal zu fragen, um keinen Verdacht bei ihm zu erwecken. Am Nachmittag kam Ed vorbei, adrett gekleidet und sauber, nach Lavendel duftend wie eine Nonne. Ich hatte den Gestank Dereks aufgesogen, auch den von Bob und allen seinen Vorgängern im Amt, mein Bart war gewachsen, und ich sah vollkommen authentisch aus. Wir begrüßten uns wie alte Bekannte. Bisher hatte ich noch kaum über den Ursprung des Geldes nachgedacht, auf dem ich mich schon den zweiten Tag herumwälzte. Es war wohl schwerlich sauber. Ich dachte, dass ich vielleicht eine Belohnung bekäme, wenn ich es der Polizei übergab, aber ich verwarf diese Möglichkeit sofort wieder …

Das Geld gehörte mir und Punkt!

Ich verbrachte den ganzen Tag damit, mir vorzustellen, wie ich es ausgeben würde. Es war aufregend, zwischen Traum und Wirklichkeit zu balancieren, die Süße meiner Träume zu schmecken, noch bevor sie mit allen daraus entstehenden Bitternissen und Enttäuschungen gereift. Ich fühlte mich so übersättigt, dass ich am Abend, als mich die länger werdenden Schatten vor den neugierigen Blicken der Menge verbargen, erneut keine Kraft hatte, etwas Entscheidendes zu unternehmen. Später kamen die zwei wieder vorbeigeschneit, die mich am ersten Abend für Derek gehalten hatten. Robin und Tom hießen sie. Jetzt gab es keinen Grund mehr, so zu tun, als sei ich er. Ich hatte inzwischen seinen Platz eingenommen, sozusagen offiziell. Ich schlug ihnen vor, zu diesem Anlass einen zu trinken, gab ihnen ein paar Pfund, um Bier zu kaufen, wobei ich ihnen auftrug, so beiläufig wie möglich, auch Säcke mitzubringen. Sie ließen sich nicht mehr blicken … Es machte mir wenig aus, zumindest solange sich die Matratze noch unter meinem Hintern befand.

So vergingen einige Tage. Alle Versuche, mich mit Säcken zu versorgen, scheiterten kläglich, und mir wollte nichts Besseres einfallen. Ich wagte es nicht, mich mehr als zehn Schritte von der Matratze zu entfernen. Ich war panisch, ich schwitzte und taumelte zurück, als hinge ich an einer Leine. Selbst wenn ich aufs Klo ging, war ich unruhig. Oft unterbrach ich meine Beschäftigung und rannte die Stufen nach oben – nicht dass jemand die Matratze geschultert hatte. Besonders fürchtete ich mich vor der Müllabfuhr. Diese finsteren Männer mit ihren reflektierenden Westen, die aus dem Nebel kamen, noch bevor der Morgen graute, und alles, was ihnen unterkam, in riesige schwarze Säcke mit dem Stempel der Stadtverwaltung stopften … Sie sahen für meine Zwecke ideal aus. Ich bat sie, mir zwei Säcke zu überlassen, war natürlich bereit, dafür zu bezahlen, aber sie lachten nur verächtlich. Einer von ihnen drohte mir sogar mit dem Finger:

– Pass auf, dass wir dich nicht im Sack mitnehmen!

Als er erfuhr, dass sie da gewesen waren, zog Hal ein finsteres Gesicht und riet mir, mich nicht mit diesen Typen einzulassen. Zwischen ihm und den Müllmännern bestand offenbar eine seltsame Feindschaft, deren Grund ich nie erfuhr.

Hal war mein Mann. Wäre er nicht gewesen, wäre ich vor Hunger und Durst umgekommen. Manchmal war ich versucht, ihm mein Geheimnis anzuvertrauen. Ihm eine gewisse Summe vorzuschlagen, wenn er mir dabei half, die Matratze an einen sicheren Ort zu bringen. Aber ich wusste nicht, wie er beim Anblick von so viel Geld reagieren würde. Vielleicht würde er die Hälfte verlangen. Vielleicht würde er auch nichts verlangen, idealistisch wie er war … Es hätte mich nicht gewundert, wenn er alles für die Instandhaltung der Brücke gespendet hätte. Das ist das Schlechte an den Idealisten: Sie machen keinen Unterschied zwischen Mein und Dein. Das Geld war meins, zum Teufel! Meins!

– Das kann nicht dein Ernst sein, Hal. Vergiss die Brücke, um Gottes Willen! Kauf dir von mir aus einen Jaguar und fertig!

Aber er wollte ums Verrecken nicht! Schüttelte den Kopf wie ein Metronom, und seine Wirbel knackten im Takt. Er sagte, wir würden eine Stiftung gründen und die ganze Brücke vergolden, damit sie aus der Ferne glänzt. Sie wäre so schön, dass alle Verliebten dieser Welt kommen würden, um sich auf ihr photographieren zu lassen.

– Häng dich doch an deiner verfluchten Brücke auf, du Trottel! schrie ich ihn an, völlig außer mir.

Und dann wachte ich auf. In letzter Zeit träumte ich nur noch solchen Unsinn.

Die Matratze trug mich weiter auf den Flügeln des Verlangens, über Schlösser und Parks, über Inseln und Yachten … Die herrlichsten Schönheiten der Welt winkten mir von unten zu, aber ich landete nicht. Ich ging in den Sturzflug über, zischte im Tiefflug über die üppigen Speisen, die zu meinen Ehren zubereitet worden waren, sog ihren Duft ein und flog weiter zu den nächsten Verlockungen. Am Ende lud mich die Matratze wieder unter der Brücke ab. Ich blieb liegen, starrte auf die Metallpfeiler und Bögen, während der Fluss den Bodensatz der Wünsche wegspülte, der sich in meiner Seele abgesetzt hatte.

Und so ging es Tag für Tag …

Ich wusste schon nicht mehr, wovon ich träumen sollte. Die Schlösser und Parks hatte ich längst hinter mir gelassen, der appetitliche Geruch war verflogen. Jetzt trug mich die Matratze über eine trostlose Wüste, vor mir ein Vorhang aus undurchdringlichem Nebel. Ich wehrte mich, ich wollte den Kurs wechseln. Anker in einer Oase werfen und über die einfachen Freuden des Lebens meditieren. Aber dazu hatte ich zu viel Geld, viel zu viel. Wenn du alles haben kannst, begreifst du allmählich, dass du nichts brauchst. Das ist der Fluch der Reichen! Genau besehen waren meine Bedürfnisse nicht groß. Ich konnte problemlos von dem Gehalt, das mir die Stadtverwaltung bezahlte, leben, ohne den Inhalt der Matratze anzurühren. Was längst nicht bedeutete, dass ich bereit war, mich davon zu trennen … O nein! Die Geschichte von dem Dummkopf, der seinen Reichtum an die Armen verteilt, war nicht meine Geschichte. Ganz im Gegenteil, ich war sparsam. Ich lag auf meinem Geld und machte einen auf toter Mann. Ich brauchte nichts und konnte mir kein besseres Leben vorstellen. Hallo, mein Alter. Hallo, Hal, sind heute Touristen da? Werfen sie ordentlich Kleingeld ein? Aber ja, und wie! Hallo, Ed, hallo, ihr anderen! Wie ist es denn dort unter der Brücke? Ein bisschen feucht, aber ich kann nicht klagen. Ein Bier, mein Freund? Danke. Etwas anderes? Nein, danke, es geht mir gut.

Auch nach Säcken schaute ich mich nicht mehr um. Was für einen Sinn würde es machen zu übersiedeln, wohin sollte ich schon gehen? Ins Ritz? Ha, ich hätte gern gesehen, wie ich mit zwei Taschen voller Geld im Hotel auftauche und die Präsidentensuite buche. Es war nicht so einfach, wie es einem die Hochglanzzeitschriften weismachen wollen. Die Gesellschaft hatte Regeln. Ich müsste mich mit den Banken auseinandersetzen, mit dem Finanzamt, mit einem Haufen lästiger Cousins, die aus ihren Löchern gekrochen kämen. Von den Frauen ganz zu schweigen, den Kellnern, den Designern, den Börsenmaklern, den Wohltätern, den Gesellschaftsreportern und allen anderen, die sich von fremdem Blut ernähren. Und wenn ich dann auch noch an die Anwälte dachte, war mir direkt zum Weinen. Nein, danke! Besser, ich verfaulte hier, als dass ich durch diese Mühle ging! Und so faulte ich vor mich hin, ohne Wünsche, ohne Träume, ohne irgendwas … Manchmal fragte ich mich, warum, zum Teufel, ich überhaupt noch lebte? Und sofort fiel mir der unglückliche Derek ein. Die Logik seines Schrittes war mir jetzt klarer. Freilich wurde es davon auch nicht besser. Mir liefen kalte Schauer über den Rücken!

Mittlerweile war ich ebenso reich an Läusen wie an Geld … Hal war so liebenswürdig und brachte mir eine Lotion, wobei er mir mit allem Nachdruck empfahl, sie zu verwenden, weil die Stadtverwaltung nicht bereit wäre, einen Ansteckungsherd auf ihrem Territorium zu tolerieren. Sie hätten zwar nichts gegen Obdachlose, aber verlauste Obdachlose seien nicht nach ihrem Geschmack. Gesetz ist Gesetz, also schmierte ich mich von Kopf bis Fuß ein. Es stank widerlich, und mir wurde sofort schwindlig. Vor meinen Augen tanzten violette Punkte, und ich begann, allerlei verdächtige Geräusche zu hören … Hatte ich es mit der Dosierung übertrieben? Mir war hundeelend. Ich kroch zum Fluss und kotzte meine Gedärme aus.

Der Frühling war gerade angebrochen, über dem Wasser waberte ein dünner Nebel. Die Wellen trugen Narzissen mit sich, die an den Ufern am Oberlauf der Themse ins Wasser gefallen sein mussten. Und dann sah ich sie … die Köpfe. Sie schwankten inmitten des Nebels wie Bojen, die gerade aufgetaucht waren. Es mussten fünf oder sechs sein. Der von Derek war mir am nächsten – blutunterlaufen, grün, mit Haarbüscheln, die auf dem bloßen Schädel klebten. Die anderen kannte ich nicht, aber sie sahen noch schlimmer aus … Derek bewegte seine unförmigen Lippen, spuckte einen braunen kleinen Fisch aus und raunte mit gluckernder Stimme:

– Flieh, du Dummkopf, oder du wirst enden wie wir! Hörst du? Nimm, soviel du tragen kannst, und verschwinde!

– Flieh! Flieh!, wiederholte ein misstönender Chor.

Es hat nicht viel gefehlt und ich wäre in den Fluss gefallen.

Im nächsten Augenblick waren die Köpfe wieder verschwunden. Die Strömung trug die Narzissen fort … was danach geschah – ich weiß es nicht. Ich kam erst auf der Matratze wieder zu Bewusstsein, es war dunkel. Mein Gedächtnis war wie mit einer Walze frisch ausgemalt. Ich spürte, dass ich nicht allein war, und das machte mich nervös …

Der Mann tauchte unerwartet auf. Er hatte einen großen Metallkanister mit, der verdächtig nach Diesel roch. Es war ein junger Mann um die dreißig, seine Schläfen waren schon grau. Er sah seltsam fröhlich aus, pfiff vor sich hin, und als er mich bemerkte, brach er in ein nervöses, helles Gelächter aus …

– Sowas! Seit wann bist du denn hier, mein Freund?

Am liebsten hätte ich ihm geantwortet, dass ihn das einen Dreck anginge, aber ein Gefühl sagte mir, vorsichtiger zu sein. Ich brummte ausweichend, dass ich unter der Brücke lebte, seit ich denken konnte. Das war immerhin nicht weit von der Wahrheit entfernt. Er nickte voll Verständnis.

– Ich habe ebenfalls gewisse Erfahrungen mit dem Leben unter Brücken …, erwiderte der Mann lässig. – Und zwar genau hier!, fügte er noch hinzu.

Instinktiv zog ich die Beine an und klammerte mich an die Matratze.

– Ich sitze da!, zischte ich finster.

– Das sehe ich, lächelte der Unbekannte. – Ich habe auch einmal da gesessen. Aber ich habe den Absprung geschafft, bevor es zu spät war …

– Was willst du damit sagen?

– Kommst du da nicht von alleine drauf?, fragte er vielsagend.

Ich presste die Zähne zusammen und schwieg.

– Ich weiß noch immer nicht, wie mir das gelungen ist, schüttelte er den Kopf. – Ich kann mich nicht mehr erinnern … Es kam plötzlich. So als hätte sich eine Feder in mir entspannt. Mir wurde klar, wenn ich jetzt nicht wegging, dann würde ich es nie tun. Ich stopfte den Rucksack voll und rannte davon, ohne mich umzudrehen. Endlich war ich frei. Zumindest dachte ich das …

Ich wurde das Gefühl nicht los, dass er mit meiner Stimme sprach. Zum Teufel, wer hatte den wieder geschickt! Ich roch, es würde Komplikationen geben. Vielleicht wollte er vorschlagen zu teilen? Ein Schauer lief mir über den Rücken. Keine Chance! Er hatte seinen Teil bekommen. Er hatte seinen Posten verlassen, hatte es nicht ausgehalten … Ich hatte Lust, es ihm auf eine besonders gehässige Weise zu sagen.

– Du bist also da, um deine Taschen wieder aufzufüllen?

Der Mann behielt seine Selbstbeherrschung. Er blickte mir in die Augen und sagte:

– Das Geld ist falsch.

Ich verstummte. Einige Minuten vergingen. Ich bemühte mich, zum Sinn seiner Botschaft vorzudringen, aber es fiel mir schwer zu akzeptieren, was er gesagt hatte.

– Ist dir der Gedanke noch nie gekommen? fragte er hämisch. – Wer würde schon so viel Geld unter einer Brücke liegenlassen? Jetzt streng dich mal ein bisschen an!

– Woher willst du das wissen? sträubte ich mich.

– Na, ich habe es ausprobiert!, lachte er auf. – Noch am gleichen Tag. Und noch am gleichen Tag haben sie mich geschnappt, schon im ersten Laden! Gott sei Dank hatte ich den Rucksack in einem Schließfach an der Victoria Station gelassen. Sie haben bei mir nur ein paar Fünfziger gefunden und beschlossen, dass ich ein kleiner Fisch sei. Wer weiß, wie viele Jahre sie mir sonst aufgebrummt hätten …

– Warum bist du dann hier?

– Ich war mir sicher, dass die Matratze noch da ist. Ich wollte sehen, wer der Blödmann ist, der jetzt darauf brütet. Und ihm sagen, dass er nur seine Zeit vergeudet. Weil er nur auf Spielgeld sitzt …

– Ich glaube dir kein Wort!, rief ich verzweifelt.

– Es ist Falschgeld!, wiederholte er. – Und ich werde es dir beweisen!

Der Mann stand entschlossen auf, öffnete den Kanister und leerte etwas von der Flüssigkeit auf die Matratze.

– Pass auf!

Ich fuhr entsetzt hoch.

– Wie heißt du? fragte er plötzlich.

– Tommy, sagte ich reflexartig.

– So ein Zufall, ich heiße auch Tommy … – Er wunderte sich sichtlich ein wenig und blinzelte mir komplizenhaft zu. – Willst du?

– N-n-n-n-ein …, stotterte ich.

Dann lachte er auf, zündete das Streichholz an und warf es auf die Matratze.

Es gab eine Stichflamme, die bis zur Brücke hochschlug. Ich bedeckte meine Augen mit der Hand. Tom begann, mit ausgebreiteten Armen auf einem Bein zu hüpfen und vor Begeisterung zu wiehern. Es wurde heiß. Die Luft war erfüllt von einem Gestöber verkohlter Papierschnipsel. In der Ferne war das Heulen einer Sirene zu hören.

– Lass uns abhauen! schrie Tom. – Jetzt bist du frei, Tommy. Ciao!, trällerte er theatralisch, dann wurde er eins mit der Dunkelheit.

Mir blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen.

Ich sah ihn nie wieder.