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EIN BUCH ZUR BILDUNGSDEBATTE UND DEM SCHULAUSSTIEG Obwohl Annika Reuter Lehrerkind ist und Lehrer furchtbar findet, sitzt sie nach dem Abitur planlos im Lehramtsstudium mit dem ambitionierten Lebensentwurf einer Beamtinnenlaufbahn. Sie landet mit zwei Korrekturfächern an einem Gymnasium, aber die endlosen Verantwortungen und der riesige Druck belasten zunehmend ihre seelische und körperliche Gesundheit. Nach vierzehn Jahren Dauerkorrekturen beschließt sie die Entlassung aus dem Staatsdienst. Diese Entscheidung versetzt ihr gesamtes Umfeld in Aufruhr: Wie kann sie nur so einen sicheren Job aufgeben? Bürokratische Hürden, lähmende Glaubenssätze, toxische Strukturen, Unverständnis und ungefragte Meinungen pflastern ihren Weg und Annika Reuter erkennt, wie schwer es ist, mit Konventionen zu brechen. LESER:INNEN SAGEN: "Dieses Buch hilft Lehrkräften, sich nicht mehr rechtfertigen zu müssen." "Das ist das Buch, auf das ich gewartet habe." "Ein solches Buch gibt es bisher noch nicht." "Das Buch ist ein Geschenk für meine Seele." "Ich habe die ganze Zeit beim Lesen nur genickt." "Als hätte ich bei einer Selbsthilfegruppe mitgemacht." FÜR IMMER SCHULFREI ist kein klassisches Lehrer:innenbuch. Es ist ein schonungslos ehrlicher Blick hinter die Kulissen des Bildungssystems und eine Einladung zum Perspektivwechsel. Ob (ehemalige) Lehrkraft, Schüler:in, Elternteil oder einfach Veränderungssehnsüchtige:r: Dieses Buch erzählt hautnah vom Innenleben der Schule, vom Druck der Verbeamtung, von Kollegiumsdynamiken, Überforderung und Ausbruchsfantasien. Persönlich, bewegend und ermutigend zeigt FÜR IMMER SCHULFREI, warum so viele Lehrer:innen ausbrennen und warum es trotzdem Hoffnung gibt. Für mehr Verständnis. Für neue Wege. Für alle, die spüren: So wie es ist, darf es nicht bleiben. MEHR ÜBER BUCH UND AUTORIN unter WWW.FÜRIMMERSCHULFREI.DE
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Seitenzahl: 277
Veröffentlichungsjahr: 2025
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If you don’t see the book you want on the shelf: Write it! Beverly Cleary
Für mein früheres Ich: Liebe Annika, hier ist das Buch, das du dir damals sehnlichst gewünscht hättest.
Für alle Lehrer:innen voller Herzblut und Ideale, die trotz unglaublicher Bedingungen tapfer die Stellung halten: Ihr seid großartig!
Für alle kinderlosen Frauen, die sich schwertun mit der Partnersuche: Gebärt eure geistigen Kinder und zeigt ihnen mutig die Welt!
Für alle kritischen Geister und Pionier:innen, die laut hinterfragen, mutig denken und handeln: Danke, dass es euch gibt!
Für alle jungen Menschen voller Träume: Lasst euch nicht von denen klein kriegen, die vergessen haben, dass man nach den Sternen greifen darf!
Für Sven, der vor vielen Jahren zu mir sagte: „Du kannst mir dann dein erstes Buch widmen.“ Bitte sehr!
Für Abi, die mir mit aller Vehemenz sagte, dass ich eins schreiben muss. YAY! I really did it!
PROLOG
1. ETAPPE Mein Leben vor dem Lehramt: Schulzeit und Studium
Einmal Familienpackung
Einsteigen, bitte
2. ETAPPE Mein Weg in den Lehramtshimmel: Referendariat und Beamtung
Kampf im Rotstiftmilieu
Zwischenfälle auf der Zielgeraden
Wer ist hier der Boss?
Die Crème de la Crème
Bis dass der Tod uns scheidet
Dienstpflichten und Beziehungsgespräche
3. ETAPPE Endlich Beamtin: Schulalltag von 2011 bis 2018
Reformwahn
Die heilige Parasitenkuh
Von Helikoptern, Rasenmähern und Förderplänen
Einheitlichkeit und Recht und Freiheit
Karoshi
In der Anstalt
Digitale Belästigungen
Jahresbilanzen
Volle Festplatte
Exitstrategien
Ein Fest der Sinne
Fürsorgepflichten
Über dem Tellerrand
Kinderjoker
4. ETAPPE Fluchtwege: Die letzten zwei Jahre
Neue Wege
Heimatklänge
Loopings
Unbetretene Pfade
Zielvorkehrungen
Schluss mit lustig
Perfekte Leben
Stillstand
Warten auf das letzte Rennen
Detonation
5. ETAPPE: Mein Leben nach der Schule
Der krasseste Jetlag meines Lebens
Perspektivfragen
Ein neues Ich
Kollateralschönheiten
6. ETAPPE: Mein abschließender Blick auf das Schulsystem: Qualitätsanalyse
Blickwinkel und Niveaufragen
Im Geiste der Menschlichkeit
Lebenslänglich
Feuer und Flamme
Wie geschmiert
Freiheitsgedanken
Tragische Einzelfälle
EPILOG
DANKSAGUNGEN
QUELLENVERZEICHNIS
Obwohl Lehrpersonen noch bis Ende des letzten Jahrhunderts ein hohes Ansehen und Respekt genossen hatten, sehen sie sich heutzutage regelmäßig im Kreuzfeuer heftiger Kritik. Sie gelten als faul, auf hohem Niveau klagend und als Berufsgruppe, die anderen gegenüber viel zu bevorteilt ist, um sich ernsthaft beschweren zu dürfen. Insbesondere verbeamtete Lehrkörper haben Privilegien, von denen andere nur träumen können: eine komfortable Privatversicherung, ein dickes Monatsgehalt plus eine anständige Pension, absolute Jobsicherheit mit fortlaufenden Zahlungen, selbst bei langer Krankheit oder Frührente. Und zwölf Wochen Ferien im Jahr.
Dass ich mich im Alter von vierzig Jahren und nach über vierzehn Jahren als Englisch- und Französischlehrerin im gymnasialen Schuldienst entamten ließ, stößt daher auf großes Unverständnis. Es fielen Aussagen wie „Die hat das einfach nicht geschafft“ oder „Das ist aber auch schlimm mit den Kindern heutzutage“.
Ist das Beamtentum nicht Luxus schlechthin? Und gab ich meinen unkündbaren, privilegierten Job während einer weltweiten Seuche überhaupt bei klarem Verstand und freiwillig auf? Immerhin stehe ich kurz vor der Midlife-Crisis. Moment mal - bin ich da eventuell schon mittendrin?
Lehrerkollege Rainer Werner schrieb im Februar 2022 in einem Onlineartikel: Um im Lehrerberuf erfolgreich zu sein, braucht man eine gehörige Portion Eigensinn, eine Mission für das Erzieherische, für die Formung junger Charaktere. Er ist überzeugt: Das Scheitern von Lehrern liegt häufig in ihrer Persönlichkeit und mangelndem Charisma begründet1. Ließ ich mich also vielleicht entamten, weil ich „mit den Kindern heutzutage“ überfordert war?
Fehlten mir wichtige persönliche Voraussetzungen? Oder sind Lehrer:innen doch belasteter, als bisher angenommen wurde? Tatsächliche Belastungen von Lehrer:innen sind nämlich nicht so richtig messbar, dafür werden zur Datenerhebung „QA-Teams“ (Mitarbeiter:innen der Bezirksregierung), mit „Beobachtungsbögen“ in die Schulen ausgesandt, um „Qualitätsanalysen“ durchzuführen. In „Qualitätstableaus“ kreuzen sie an, ob Aspekte der besuchten Unterrichtsstunden den Bewertungskriterien trifft in guter Qualität zu, trifft nicht in guter Qualität zu oder nicht beobachtet entsprechen.
Doch wer analysiert wo und wie die unmessbaren, unbeobachteten Zwischenräume und erfasst all diejenigen, die in Burnoutkliniken oder der Frühverrentung sitzen? Handelt es sich hierbei um allesamt gescheiterte Persönlichkeiten, die mit den Jobanforderungen nicht klarkamen?
Aber was ist denn nun die Wahrheit? Hatte ich nicht vormittags recht und nachmittags frei? War ich keine berufene Lehrkraft? Ich halte es mit Fox Mulder von Akte X: „Die Wahrheit ist irgendwo da draußen.“
1 Werner, Rainer: Auf die Persönlichkeit kommt es an. Cicero.
Warum ich eigentlich niemals Lehrerin werden wollte, auf Umwegen trotzdem im Lehramtsstudium landete und gleichzeitig nicht begriff, dass ich unterwegs in den Schuldienst war.
Ich komme aus einer Lehrerfamilie. Meine Eltern trennten sich als ich etwa vier Jahre alt war. Nach der Scheidung lernte meine Mutter einen neuen Mann kennen, der Tankwarte an einer Berufsschule ausbildete. Sie begann kurz darauf ihr Referendariat und wurde wegen ihres damals zu hohen Eintrittsalters nach überstandenem Examen mit Mitte dreißig als Gesamtschullehrerin für Sport und Englisch in der Sekundarstufe 1 nicht mehr verbeamtet. Meine Mutter arbeitete pausenlos, war dauerangespannt und saß in der Regel viele Stunden an simplen Vokabeltests im Arbeitszimmer oder am Esstisch.
Wenn sie es wieder nicht rechtzeitig aus der Schule zum Mittagessen schaffte, scherzte mein Stiefvater, sie wäre sicher bei ihrem „Schulfreund“ oder putzte noch Klassenräume.
Meine Schwester und ich kannten alle unterrichteten Kinder beim Namen, denn wir hörten regelmäßig lauter Geschichten aus der Schule. Auch die Namen der Väter und Mütter, die uns vollkommen ungeniert an Wochenenden oder abends anriefen, waren uns nicht unbekannt. Selbst, wenn die Anrufe erneut den gemeinsamen Spieleabend störten, hielt es meine Mutter nämlich nicht aus, das Telefon klingeln zu lassen.
Mein Vater unterrichtete Russisch und Englisch auf dem Gymnasium, das auch ich irgendwann besucht hatte. Obwohl er sich als Jugendlicher getraut hatte, mit Beatles-Langhaarfrisur zu schockieren, wollte er als junger Mann die lieben Eltern nicht enttäuschen und war im ungeliebten Job gelandet, den sein Vater nie hatte ausleben können.
In der Regel sah ich ihn nur an Wochenenden, ab und zu auf dem Schulflur oder sagte in der Pause am Lehrerzimmer „Hallo“.
Englischarbeiten und –klausuren korrigierte er mühelos im Rekordtempo, doch oft entlud sich sein Frust in Schimpftiraden über Schule, Eltern oder das unfähige Kollegium.
Lehrerin zu werden, war für mich daher verständlicherweise keine berufliche Option. Meine zahlreichen Ideen hinsichtlich der Zukunft variierten: Ich wollte Eis- und Süßigkeitenverkäuferin oder Kassiererin werden, weil mich das Kasse-Tippen faszinierte. Bereits seit der ersten Klasse schrieb ich Geschichten, liebte das Singen und träumte von der Teilnahme an der Miniplayback Show, in der Kinder durch Marijke Amados Wunderkugel schritten und im passenden Outfit ihre Lieblingsacts imitierten. Nach einem Musicalbesuch in der siebten Klasse plante ich eine Zeitlang die Karriere als Darstellerin bei Starlight Express. Die große Liebe für das Singen insbesondere englischer Musikstücke prägte schon früh mein Verlangen, Songtexte zu verstehen.
Begeisterung für die französische Sprache und ihre Lieder entwickelte ich jedoch erst mit dreizehn Jahren durch einen sechswöchigen Austausch mit einer Schule in Toulouse. Vorher hatte ich die Entscheidung meiner Mutter, mich in die Französischklasse zu stecken, oft verflucht. Denn erstens fand ich als pubertierende Schülerin Vokabel- und Grammatiklernen vollkommen unnötig und zweitens wollte ich wegen eines Jungens, in den ich verknallt war, lieber in der Lateinklasse sein.
Im Anschluss an eine insgesamt nicht so steile Unter- und Mittelstufenkarriere entdeckte ich in der Oberstufe endlich meinen Fleiß, nachdem ich meine Hassfächer Physik und Chemie abwählen und selbstbestimmt einen neuen Fokus legen konnte.
Inzwischen spielte ich mit dem Gedanken, Pilotin zu werden, schloss diese Berufsoption allerdings schnell wieder aus, denn sie war später schlecht mit meinen Plänen von Familie und Kindern zu vereinbaren. Also träumte ich mit meinem beschränkten Horizont erstmal nicht mehr vom Fliegen, dafür von einer Mutterschaft mit spätestens dreißig, widmete mich voller Elan, Ehrgeiz und Struktur meinen Leistungskursfächern Englisch und Französisch und hegte den Plan, zügig an die Côte d’Azur auszuwandern.
Nach einem Campingurlaub am Mittelmeer standen die Chancen dafür ausgesprochen gut, denn ein waschechter Franzose hatte sich schwer in mich verknallt. Die Fernbeziehung zu dem älteren Sportstudenten feuerte Sehnsucht und Sprachenleidenschaft weiter an. Ich fand es unheimlich aufregend, einen Freund in Frankreich zu haben und paukte für die Liebesbriefe sogar freiwillig Grammatikregeln. Nach intensivem Schriftverkehr, einem Besuch in Frankreich und seinem Gegenbesuch in Deutschland war mein Interesse abgeflaut und ich brach sein französisches Herz. Das tat meiner Liebe für die Sprache allerdings keinen Abbruch und sein Antwortbrief voller Kummer, weil er wegen mir niemals mehr lieben könne, vertiefte noch einmal meine Sprachkenntnisse, aber setzte vorerst einen Schlussstrich unter das Kapitel Fernweh.
Nach einer kurzen Berufsberatung in der Oberstufe und dem Abitur sollte ich auf einmal wissen, wo ich hingehörte. 1999 machten die Jungs noch Zivil- oder Wehrdienst, für Mädchen waren Freiwilligenjahre, Au-Pair-Dienste oder Work And Travel nach dem Schulabschluss unüblich.
Ohne eine Vorstellung, wie es weiter gehen sollte, rüttelte es mit dem Reifezeugnis in der Hand von allen Seiten an meiner bekannten Welt. Ich hatte doch gerade noch sorglos die Wochenenden durchgefeiert und plötzlich wurde von mir erwartet, dass ich meine Richtung kannte und wusste, was und wer ich sein wollte.
Zumindest hatte ich eine recht übersichtliche Liste mit Berufen, die ich zu keiner Zeit gedachte auszuüben:
Krankenschwester
Lehrerin
Wie mein Vater, der nebenbei beim Radio arbeitete, begeisterte ich mich für Journalismus und begann überstürzt ein Praktikum bei RTL-Punkt 12. Morgens um halb sieben saß ich im Zug nach Köln und arbeitete bis sechs Uhr spät. Alles war neu, anstrengend, und der unbekannte Rhythmus machte mich völlig fertig. Ich erkundigte mich halbherzig über Karriereoptionen beim Fernsehen, und da es damals noch nicht so viele mediale Studiengänge gab, verlangte man ein beliebiges Studium als Voraussetzung für ein anschließendes Volontariat bei Zeitung, Funk oder Fernsehen. Eine so unkonkrete Zielformulierung schien mir nicht schlüssig. Als mich selbst Katja Burkhard auf meine riesigen Stresspickel ansprach und der Herpes meines Lebens folgte, hing ich das Praktikum samt Journalistinnenkarriere nach knapp zwei Monaten an den Nagel.
Wenigstens hinsichtlich der Beziehungsebene war schon alles in trockenen Tüchern: Ein solider katholischer Junge aus meinem Jahrgang hatte bereits auf unserer Abifahrt in meine Arme gefunden. Er war bodenständig, unaufgeregt, ohne große Visionen oder Abenteuerlust und kam aus einer heilen Familie.
Bei meinem familiären Durcheinander genoss ich es, von Schatzis Mama bürgerlich bekocht zu werden und nach einem anstrengenden Praktikumstag und einer riesigen Portion Kartoffelgratin mit ganz viel Sahne und guter Butter im bequemen Jogginghosen-Pärchen-Modus vor dem Fernseher abzuhängen.
Im Anschluss an mehrmonatige Kellnerinnenjobs und bedrängt von meinen Eltern, entschloss ich mich dann für das damals einzig Logische: ein Studium meiner Lieblingsfächer Englisch und Französisch.
Doch was machte man außer Dolmetschen und Übersetzung mit einem Sprachstudium? Damals gab es die Optionen Lehramt oder Magister.
Ich wusste von der Schwester einer Freundin, dass man mit einem abgeschlossenen Magisterstudium alles und nichts in der Tasche hatte und die Sucherei nach einer Richtung im Anschluss wieder von vorne losging. Ich sehnte mich aber nach Kontrolle und klarer Orientierung und war plötzlich trotz überschaubarer Anti-Berufe-Liste für das Lehramtsstudium eingeschrieben und absolvierte sprachliche Einstufungstests.
Meine Eltern warnten mich zwar vor den Korrekturen bei zwei Hauptfächern, aber Eltern nimmt man leider schon aus Prinzip nicht ernst. Daher ignorierte ich ihre Warnung lächelnd und entschied mich ganz pragmatisch wegen des später höheren Gehalts für das Lehramt „Gym/Ge“ mit „Sek 2“, der Lehrbefähigung für die Oberstufe an Gymnasien und Gesamtschulen. Da würde ich schließlich später besser bezahlt werden!
Ansonsten hatte ich wenig Ahnung und erfuhr erst in der Einführungsveranstaltung vor Semesterbeginn wichtige Eckdaten. Zum Beispiel, dass ich als Lehramtlerin Erziehungswissenschaften, also Pädagogik, begleitend studieren musste. Es gab für jedes Fach ein Heftchen, in dem stand, welche Kurse mit welchen Nachweisen beziehungsweise „Scheinen“ ich bis zum Examen benötigte. Die Regelstudienzeit des Grund- und Hauptstudiums betrug jeweils vier Semester, also zwei Jahre.
Nach dem Sammeln aller erforderten Scheine des Grundstudiums meldete man sich für die Zwischenprüfung seiner Hauptfächer an, deren Bestehen Voraussetzung für das Hauptstudium war. Für die mindestens achtzigseitige Staatsarbeit in einem Hauptfach und die Vorbereitung auf das abschließende Examen in allen drei Fächern wurde ein weiteres Jahr einkalkuliert.
Wenn alles glatt lief, konnte ich also mit spätestens fünfundzwanzig Examen machen, mich fürs Referendariat bewerben und – zack – fertig war die Lehrerin, dann kurz arbeiten und die erfolgreiche Befruchtung anstreben! Mit diesem Überblick stellte ich ab da jedes Semester selbstständig meinen Stundenplan zusammen. Insgesamt war meine Weitsicht gefragt, denn einige Kurse hatten Teil eins und zwei, setzten bestimmte Qualifikationen voraus oder fanden immer gleichzeitig statt. Im Grundstudium besuchte ich pro Fach aufeinander aufbauende Grammatik- und Übersetzungskurse, ein Seminar in Literatur- und Sprachwissenschaft, Pflichtkurse in Altfranzösisch und Mittelenglisch sowie in Pädagogik frei gewählte Themen.
Für manche Scheine reichte ich am Ende eine mindestens zwölfseitige schriftliche Abhandlung ein, schrieb eine Klausur oder legte für den Nachweis in Phonetik in Englisch eine kurze Ausspracheprüfung ab, in der ich einen Text vorlas und in Lautschrift übertrug.
Für Französisch benötigte ich den Nachweis über eine weitere romanische Sprache und wählte für ein Semester Spanisch.
Bei Vorlesungen reichte es, sie am Semesterende einfach in die Unterlagen einzutragen, ohne jemals dagewesen zu sein. Ich durfte allerdings nicht vergessen, schon im Grundstudium in allen Fächern rechtzeitig Seminare mit dem Vermerk „Sekundarstufe 2“ zu absolvieren. Die waren nämlich Voraussetzung für die Zulassung zur fünfzehnminütigen mündlichen Zusatzprüfung im Staatsexamen. Und ohne die durfte man später nicht in der Oberstufe unterrichten und wurde schlechter bezahlt.
Mir gefiel am Studium nicht nur das beeindruckende Schlossgebäude mit seinen weiten Fluren, großen Sälen, ausladenden Treppen, verwinkelten Dachkammern und geistreichen Sprüchen an den Klotüren – sondern vor allem, dass sich ganz logisch ein Schritt nach dem nächsten ergab. Ich tauchte zur richtigen Zeit am richtigen Ort auf, war regelmäßig da oder entschuldigte mich zuverlässig, hielt gegebenenfalls einen Vortrag, bestand zum Schluss eine Prüfung oder gab eine Hausarbeit ab.
Die Struktur meines Studiums zeigte mir wie einem Zugwaggon auf festen Schienen eine klare Richtung. Es war wie bei Harry Potter, wo alle an der King’s Cross Station in den Hogwarts Express stiegen und mit Volldampf bis direkt vor die Schule fuhren. Ich wusste allerdings nicht, dass ich „Verteidigung gegen die dunklen Künste“ für meine weitere Fahrt dringend brauchen würde.
In dieser Zeit verschlang ich Biografien von inspirierenden Persönlichkeiten wie Ingrid Betancourt, der kolumbianischen Politikerin und Freiheitskämpferin, Sabine Kügler, die mit ihren Eltern bei einem Kannibalenstamm im Urwald auf Papua-Neuguinea aufwuchs oder Frank McCourt, der mit Eigenantrieb und Zielstrebigkeit seinen ärmlichen Familienverhältnissen in Irland entkam und sich in den USA ein neues Leben aufbaute.
Über Ausbrüche zu lesen, reichte mir anfangs auch, bis ich zumindest ins vierzehn Kilometer entfernte Bonn ziehen wollte.
Das ging aber nur im Pärchenmodus mit meinem Schatzi, der ebenfalls in Bonn studierte. Er jedoch wollte bei seinen Eltern wohnen bleiben und daher tat ich dasselbe.
Also genoss ich noch ein paar weitere Jahre Familienchaos kombiniert mit großer Bequemlichkeit.
Oft brütete ich ganz vertieft an meinem Schreibtisch, denn rundum umsorgt, lenkte mich nichts vom Studium ab. Auch die kontemplative Atmosphäre der Universitätsbibliotheken ließ mich beim systematischen Vorbereiten von Vorträgen und Handouts oder dem Durchdringen von Grammatik- und Textstrukturen Zeit und Raum vergessen. Tauchte ich für Recherchen in die teilweise in schummrig beleuchteten Kellern liegenden Gänge und hohen Regale ein, überkam mich oft ein wohliges Kribbeln in Gedenken an Teenie-Horrorfilme und Indiana-Jones-Abenteuer.
Im großen Seminar für Anglistik belegte ich Kurse bei den lockeren Native Speakers. Bei starren, unflexiblen Professoren, die monoton sprachen und gedanklich ausschließlich um ihr eigenes Spezialgebiet kreisten, konnte ich nämlich oftmals kaum die Augen aufhalten; doch auch derartige Martyrien dauerten maximal ein Semester.
Im kleinen Fachbereich für Französisch kam man allerdings nur bei Grammatik- und Übersetzungskursen in den Geschmack von Muttersprachler:innen. Zumindest akustisch, denn es wurde zwar viel erklärt, aber Sprachaustausch gab es kaum. Alles andere leiteten deutsche Dozenten auf Deutsch und forderten Hausarbeiten trotz der fremdsprachigen Originalquellen meist auch auf Deutsch ein.
Kurz vor den Zwischenprüfungen, die jeweils aus einer Grammatik- und Übersetzungsklausur bestanden, wurden alle um mich herum nervös. Man durfte nur zweimal durchfallen und viele trauten sich nur eine Prüfung gleichzeitig zu. Ich aber hatte einen straffen Zeitplan und mich sofort zu beiden angemeldet.
Zwei Tage vor der Französischprüfung bekam ich zwar eine ungenügende Probeklausur in Grammatik zurück, nahm sie am Folgetag allerdings in Ruhe auseinander, zählte Punkte, Fehler und übte alles, was ich noch nicht kapiert hatte. Am nächsten Tag trat ich etwas aufgeregt zur richtigen Prüfung an. Das Ergebnis: Meine Eins in Grammatik glich die mangelhafte Leistung im Übersetzungsteil aus!
Viele Mitstudierende begaben sich vor dem Hauptstudium als Assistenzlehrkraft für ein Semester ins Ausland, doch mein Ziel war nicht sprachlicher Feinschliff, sondern eine für mich effiziente Lebensplanung! Ich arbeitete also weiter systematisch mein Pensum ab, ging im gesamten Studium auf keine einzige Studentenparty, hielt jede Deadline ein, bestand Klausuren und sammelte Scheine.
Einzureichende Hausarbeiten umfassten mittlerweile zwischen zwanzig und dreißig Seiten. Am Ende zählte zwar allein das Staatsexamen mit der Staatsarbeit und allen Prüfungen, doch mir waren gute Noten einzelner Kurse trotzdem wichtig.
Die Erziehungswissenschaften, zu denen als verpflichtendes Untergebiet auch Psychologie zählte, interessierten mich sehr, und ich lernte mit Begeisterung über Rousseaus Emile oder Fallbeispiele von Kindern namens Monika M. oder Max W. mit ödipalen Komplexen, Waschzwang und Kleptomanie.
In Französisch hatte ich mittlerweile meinen großen aktiven Alltagswortschatz verlernt, konnte aber dafür Texte über Literaturtheorien übersetzen.
Die einzigen Vorbereitungen auf den Schuldienst waren die wenigen verpflichtenden Seminare zur Fachdidaktik, den Lehrund Lernprozessen der Fächer. Die Inhalte waren ausschließlich theoretisch und wurden allesamt von männlichen Dozenten vermittelt, die einst selbst im Schuldienst tätig gewesen waren, aber definitiv Schwierigkeiten mit dem pädagogischen Geschick hatten. Und ein einziges mehrwöchiges Praktikum an einer Schule für den Schein in „Schulpraktische Studien“ in Anglistik, bei dem ich hauptsächlich hinten in Klassenräumen saß, notierte, was mir auffiel, und meine erste Französischstunde durchführte.
Ansonsten genoss ich weiterhin das akademische Arbeiten, doch kurz vor dem Ersten Staatsexamen war ich das erste Mal extrem gestresst. Grund dafür waren mehrere unangenehme Vorfälle auf einer Kursfahrt in meinem letzten Semester. Und das mit meinem Literaturprofessor, den ich als Hauptprüfer auserkoren hatte.
Während der einwöchigen Fahrt mit täglichen Workshops und Theaterbesuchen war der Professor mir und auch anderen Studentinnen auf unangenehme Art und Weise zu nahegekommen. Er hatte zweideutige Bemerkungen gemacht, körperliche Grenzen überschritten und mit allen Mitteln um meine Aufmerksamkeit gebuhlt. Obwohl wir das Verhalten des Professors täglich angewidert untereinander diskutiert hatten, war es von allen und selbst seinen studentischen Hilfskräften toleriert worden.
Auch, wenn ich mir der wohlwollenden Examinierung durch diesen Professor sicher sein konnte, begab ich mich im Anschluss an die Fahrt zum Büro der Gleichstellungsbeauftragten der Uni und machte eine Aussage zu den abstoßenden Avancen.
Ich erfuhr von der bereits sehr langen Beschwerdeliste von Studentinnen, Kolleginnen und Mitarbeiterinnen und erklärte mich bereit, meine Aussage durchzuziehen. Es gab mehrere sehr unangenehme Gespräche, eins davon mit dem Dekan, der das peinliche Benehmen seines Kollegen mit einem Gockel in der Paarungszeit verglich.
Einige Tage später fand das Nachtreffen der Fahrt statt. Der Professor polterte ungehalten herein und berichtete aufgebracht von seiner unerfreulichen Konversation mit der Universitätsleitung und dem üblen Rufmord, der von jemandem in der Gruppe begangen worden war. Nach diesem Shakespeare würdigen Trotzanfall verschwand er wutschnaubend mit knallender Tür.
Ich outete mich daraufhin als Whistleblowerin und sorgte für betretenes Schweigen. Die weiblichen Hilfskräfte klärten mich auf, dass ich gar keine Ahnung von Belästigung hatte. Eine von ihnen war nämlich schon mal wirklich belästigt worden. Die Antwort auf die Frage, warum ich auf der Fahrt wegen meiner „Probleme“ nicht zu ihnen gekommen war, erübrigte sich hiermit.
Meine Kampfentscheidung brachte enorme Auswirkungen, denn zusätzlich zur großen Belastung durch den gesamten Konflikt veränderten sich gezwungenermaßen die Umstände für mein Erstes Staatsexamen: Sowohl für meine Staatsarbeit als auch die Abschlussprüfung musste ich Alternativprüfer mit anderen für mich ungünstigen Schwerpunkten wählen. Kein Wunder, dass ich in dieser Zeit meine ersten Panikattacken bekam.
Ich manövrierte mich trotzdem einigermaßen souverän durch die sechs Klausuren sowie mündlichen Prüfungen in Französisch, Pädagogik und - wie der prüfende langbärtige Professor es aussprach – „Tschüschologie“.
In der siebzigminütigen Englischprüfung bestand der betagte Ersatz-Professor hauptsächlich auf spezifische Jahreszahlen und Zitate, die ich nicht liefern konnte, und für die Lehrbefähigung in der Sekundarstufe 2 fragte mich ein anderer, wie man Shakespeare in der Schule unterrichtete.
So schloss ich mein Studium mit insgesamt befriedigenden Noten und unzufrieden ab, war aber schon kurz darauf bereit für die nächste Etappe in meinem Lebensplan.
Warum ich für mein Referendariat zuhause auszog, aber mich trotzdem nicht abnabelte, ich lernte, mehr oder weniger erfolgreich mit dem Strom zu schwimmen, beinahe alles hinschmiss und dann doch den Staat heiratete.
Zwischen meinem Ersten Staatsexamen und dem Beginn des Referendariats lagen nur ein paar Monate. Doch ich preschte weiterhin blind nach vorne; schließlich war ich schon fünfundzwanzig und so im Sog, dass an dieser Gelenkstelle eine längere Pause oder Reise für mich nicht infrage kamen. Das Höchste der Gefühle waren zwei Wochen pauschaler Pärchenurlaub auf Kreta, dann ging es sofort weiter zur nächsten Lebenshaltestelle: dem Referendariat. In meiner Vorstellung bedeutete das: An einem Studienseminar lernen, wie man lehrte und an einer Schule, wie man unterrichtete.
Also bewarb ich mich auf die Studienseminare in näherer Umgebung. Man konnte die „Zuweisung des Dienstortes“ durch den Nachweis seiner „Ortsgebundenheit“ beeinflussen. Während andere so schlau waren, einen gemeinsamen Wohnsitz mit ihrem Nachbarn eintragen zu lassen, zog ich aus Gesetzestreue nicht mal auf dem Papier zu Schatzi.
Also folgte das nächste Drama, denn mir wurde meine Viertwahl zugeteilt; ein Gymnasium im Bergischen Land, sage und schreibe fünfzig Kilometer von meinem Heimatort entfernt! Ein furchteinflößender Sprung aus der Komfortzone. Hin und zurück hundert selbstgefahrene Kilometer mit viel Autobahn besorgten mich dermaßen, dass ich gezwungenermaßen flügge wurde und mit Schatzi in die erste gemeinsame Wohnung im selben Ort wie meine Ausbildungsschule zog. Ich hatte schweren Herzens meine beiden Kater zurückgelassen und wir fuhren regelmäßig am Wochenende zurück in die Heimat.
Im Studienseminar wurde ich schon bald mit lauter anderen aufgekratzten Referendar:innen mit Hand auf dem Herzen als „Beamtin auf Wiederruf“ für die nächsten zwei Jahre vereidigt.
Hui! Alle waren auf die zum Seminargebiet gehörenden Gymnasien und Gesamtschulen aufgeteilt und ich lernte die anderen drei eingeschworenen „Refis“ kennen, die mit mir durch eine harte Schule mussten.
Im Lehrerzimmer hatten wir Refis nicht nur einen eigenen Tisch, sondern auch regelmäßige Treffen mit unseren AKO, den Ausbildungskoordinatoren: Zwei Lehrer:innen, die Abläufe vor Ort und die Kommunikation zwischen Schule und Seminar steuerten. Sie erklärten uns zum Beispiel, wie man ein Klassenbuch führte, Fehlstunden eintrug, dass sich der Körper im Referendariat erstmal gegen alle Schulkeime grundimmunisierte oder die Schulleiterin bei allen sehr unbeliebt war.
Am Studienseminar, das knapp vierzig Kilometer von der Schule entfernt lag, fanden meine beiden Fachseminare nachmittags im Zwei-Wochen-Rhythmus statt und das Hauptseminar alle paar Wochen ganztägig.
Die Fachseminare umfassten Einzelheiten für den Fachunterricht von Lehrwerk, Lektüren bis hin zu Klassenarbeiten und Richtlinien, im Hauptseminar jedoch ging es um „das Grobe“: Wie es uns an der Schule, im Unterricht, mit den Fachlehrer:innen oder Schulleitungen erging, wie wir Eltern und schwierige Schüler:innen handhabten, Einzel-, Partner- und Gruppenarbeiten durchführten oder Unterrichtsentwürfe schrieben.
Wir probierten Methoden aus und bewerteten alles im Anschluss mit bunten Klebepunkten oder Zetteln und Sprechblasen, die mit Magneten an Whiteboards befestigt und dann verschoben wurden. In gefühlt jeder Sitzung sprachen wir über „Watzlawicks Kommunikationsmodell“ mit den „vier Ohren einer Botschaft“, weil man niemals nicht kommunizierte und alles, was man von sich gab, eine sachliche, emotionale, appellative und selbstoffenbarende Ebene beinhaltete. Oder über die „zehn Gütekriterien“ für „guten Unterricht“ von Starpädagoge Hilbert Meyer:
klare Strukturierung des Lehr-Lernprozesses
intensive Nutzung der Lernzeit
Stimmigkeit der Ziel-, Inhalts- und Methodenentscheidungen
Methodenvielfalt
intelligentes Üben
individuelles Fördern
lernförderliches Unterrichtsklima
sinnstiftende Unterrichtsgespräche
regelmäßige Nutzung von Schüler-Feedback
klare Leistungserwartungen und -kontrollen
In den ersten sechs Monaten des zweijährigen Schulvorbereitungsdiensts hospitierten wir anderen Fachunterricht und führten dort erste Stunden selbstständig durch. Anschließend erteilten wir zwei Halbjahre je neun eigenverantwortliche Wochenstunden im bedarfsdeckenden Unterricht, gaben aber auch in Fremdkursen weitere Stunden, damit uns Fachlehrer:innen begutachten und Seminarleitungen bewerten konnten.
In jedem der drei Seminare mussten fünf Unterrichtsbesuche gezeigt werden. Dabei handelte es sich um Stunden in verschiedenen Klassenstufen, die - auch terminlich - gründlich geplant, schriftlich ausgearbeitet, vorgeführt und im Anschluss mit den Seminarleitungen besprochen wurden. Es war sehr wichtig, die fünfzehn Unterrichtsbesuche rechtzeitig vor der Examensphase zu absolvieren. Die stand nämlich im Fokus; schließlich bildete der Tag des Zweiten Staatsexamens die Hälfte der Endnote, die kombiniert mit der Note des Ersten Staatsexamens später über Einladungen zu Vorstellungsgesprächen für feste Stellen entschied.
Zu Beginn des Refs war ich noch einigermaßen locker, bereitete meine Stunden so gut wie möglich vor, hatte Spaß in der Zusammenarbeit mit anderen Fachlehrer:innen und steckte viel Mühe in ansprechende Arbeitsmaterialien. Ich tat mir jedoch schwer mit der Ausarbeitung einzelner Stunden und ganzer Unterrichtsreihen. Für das Erreichen der groß- und kleinschrittigen Lernziele auf methodischer, sozialer, emotionaler, sprachlicher und inhaltlicher Ebene mussten wir zu jedem Zeitpunkt wissen, an welcher Stelle der Themenplanung wir uns genau befanden. Eine Lerngruppe gehörte bis ins Detail voranalysiert, um jede Schwierigkeit und Reaktion auf die geplanten Schritte mit entsprechender Minutenzahl zu antizipieren, und bei Abweichungen nötigenfalls flexibel und mit Methodenvielfalt zurück in die richtige Spur zu lenken. Jede Frage hatte eine ausgearbeitete Intention und erwartete Antwort, jede Arbeitsmethode Belege anhand der Unterrichts- oder Kommunikationstheorien. In die zur Verfügung stehenden fünfundvierzig Minuten wurde die exakt richtige Menge an Lerninhalten gepackt und im Idealfall war mit dem Gong das ausformulierte Ziel, wenn möglich mit einem „Aha-Moment“ bei den Lernenden, erreicht. Natürlich gab es Alternativszenarien, falls das nicht funktionierte.
Mich brachten die seitenlangen Entwürfe nicht nur zeitlich an meine Grenzen. Auch in Erinnerung an einige meiner alten Lehrer sagte meine Mutter dazu oft: „Das Wichtigste ist doch, dass die Stunden bei deinen Schülern keine bleibenden Schäden hinterlassen!“
Während andere im Seminar offenbar mit Leichtigkeit auf sprühende Floskeln, Zitate vom präferierten Didaktiklehrwerk und bevorzugte Methoden der Seminarleitung zurückgriffen, ließ ganz sicher keiner meiner Theorieergüsse irgendein Herz höherschlagen.
Doch der Klassenraum war mein Element, ich hatte ein Händchen für den Umgang mit Schüler:innen. Mein eigener Unterricht gefiel mir, ich bemerkte schon früh die Grenzen der Lehrbücher und entwarf zusätzliche Materialien, damit alle Freude am Lernen hatten. Kein Zwischenfall brachte mich aus dem Konzept, und ich beeindruckte meinen Hauptseminarleiter bei einem Unterrichtsbesuch, als ich eine dicke Hummel souverän mit dem Mülleimer aus dem Raum beförderte, während die ganze siebte Klasse schrie wie am Spieß.
Der Fachleiter in Englisch war jedenfalls alles andere als beeindruckt von mir. Er war ein schlaksiger Typ, ganz frisch im Job, und wurde in unserem Lehrerzimmer selbst im Anzug regelmäßig für einen neuen Referendar gehalten. Sein erstes Seminar bestand neben mir aus weiteren fünf Refis, unter anderem meiner neuen Freundin Charly, die mit mir an derselben Schule eingesetzt war.
Als Hausaufgabe bereiteten wir seitenweise Texte und Referate über Methoden vor, die wir in der Gruppe analysierten und präsentierten. Wir besprachen spezifische Fachinhalte und lasen Curricula, also Kernlehrpläne, damit wir wussten, wie viele Wörter in Klausurtexten zulässig waren.
Ich hatte mich anfangs noch über den „ganz frischen“ Fachleiter gefreut, doch er war wenig flexibel, sehr ernst und ließ keine kritischen Anmerkungen oder Hinterfragungen von Inhalten zu.
Charly und ich konnten unsere mangelnde Begeisterung bei so wenig Souveränität nicht verstecken und tauschten bei absurden Arbeitsaufträgen immer öfter entgeisterte Blicke aus.
Aber schon bald sollte ich für meinen eigenen Englischkurs die erste Oberstufenklausur meines Lebens allein konzipieren. Das Erstellen und auch die Korrekturzeichen wurden im Fachseminar schnell abgehandelt, ebenso die Frage: „Wie korrigiert man eigentlich eine Englischklausur?“ Logische Antwort: „Sie haben doch alle Englisch studiert. Dann wissen Sie doch, was richtig und falsch ist!“
Mit diesem Vorwissen begab ich mich an meine first Oberstufenklausur ever und gab im Anschluss wie üblich drei der Prachtexemplare bei der Schulleiterin ab.
Ihre mangelnde Popularität war kein Geheimnis. Im Lehrerzimmer verstummten Gespräche, sobald sie eintrat, und wir hatten schon eine Konferenz erlebt, in der vier Lehrer:innen aufgestanden waren und gesagt hatten, sie ließen sich wegen ihr an andere Schulen versetzen.
Nun zitierte mich die Schulleiterin also in ihr Büro und erklärte, dass sie meine Korrekturen mit nach Hause genommen und ihren Ehemann, einen emeritierten Universitätsprofessor für Anglistik, mit Bleistift nachkorrigieren lassen hatte. Aufgrund der großen Menge an von mir übersehenen Fehlern sollte ich mich nun zu meiner Unfähigkeit äußern. Meine entsetzten AKO erklärten mir im Anschluss, dass das alles nicht rechtens war, und kontaktierten die Seminarleitung.
Einige Zeit später kam die Schulleiterin in der Pause zu mir und flötete mit süßer Stimme: „Frau Reuter, mir ist zu Ohren gekommen, Sie wären sprachlich inkompetent. Ich muss Ihren Unterricht dringend hospitieren, um zu sehen, ob Sie überhaupt Englisch sprechen können!“ Den Vorwurf der Inkompetenz in Französisch hätte ich noch verstanden, in Englisch war er jedoch absurd. Kurz darauf hatte ich das fragwürdige Vergnügen, die Schulleiterin, die weder Englisch sprach noch verstand, mit Verstärkung des Vorsitzenden der Englischfachschaft, dem dies unfassbar peinlich war, in meinem Unterricht zu begrüßen.
Trotzdem zog ich die Stunde souverän durch. Im Anschluss säuselte die Schulleiterin: „Frau Reuter, Entwarnung. Das war ja richtig gut!“
Abgesehen von gelegentlichen Zwischenfällen wurden wir im Seminar mit Hausaufgaben überhäuft. Es war fast unmöglich, sich auf die eigenen Stunden oder wichtigen Unterrichtsbesuche zu konzentrieren. Unklar blieb auch, wie genau wir selbst bewertet wurden. Oder wie wir später mit einer vollen Stelle und fast dreimal mehr Wochenstunden den Überblick über Noten und Unterlagen oder einfach nur den Verstand behielten.
Seminarveranstaltungen überschritten nicht selten das offizielle Ende. Einmal platze es aus einer wütenden Referendarskollegin im Hauptseminar heraus: „Wieso sollen wir eigentlich Zeitmanagement lernen, wenn Sie regelmäßig die Seminare überziehen?“
Für diese Diskussion war leider keine Zeit mehr, nur für eine „Blitzlichtrunde“. Die fand immer am Ende einer Sitzung statt und bedeutete, dass die Teilnehmenden einen einzigen kurzen Satz, also Subjekt, Prädikat, Objekt, zur Evaluation, also der Abschlussbewertung, sagten. Zum Beispiel: „Das war ein Scheißtag!“ Kurze, untermalende Adjektive, Adverbien und ein knapper Nebensatz waren auch okay: „Das war ein völlig unnötiger Scheißtag, weil ich wirklich besseres zu tun habe!“ In einem Raum voller studierter Menschen blieb diese simple Arbeitsanweisung bis zum Schluss trotzdem weitestgehend ignoriert. Für die meisten bedeutete einen Satz sagen: Bitte wiederholen Sie das zuvor Gesagte ausführlich mit anderen, aber mit Ihren eigenen Worten und fügen Sie eine persönliche Bewertung hinzu, damit das Seminar noch länger dauert.
Das sah dann häufig etwa so aus: „Also, ich schließe mich meiner Vorrednerin an und finde auch, dass … Außerdem denke ich genauso wie X, dass das Seminar heute ganz wertvoll war, weil …“
Der einzige Lichtblick am Studienseminar war meine Französischfachleiterin, eine resolute, ältere, authentische Halbfranzösin mit scharfem Blick und Struktur. Sie kommunizierte klar mit mir, ohne, dass ich mich herabgesetzt fühlte, führte mir deutlich meine Stärken und Schwächen vor Augen, so dass ich dazulernen, Dinge überdenken und verändern konnte. Sie sah meine Verbesserungsbereitschaft und Entwicklungsfähigkeit, machte mir Mut und hob Fortschritte hervor. Bis heute erinnere ich mich an ihre Worte, die später zu einem Grundsatz in meinem Unterricht wurden: „Vergessen Sie niemals, die Schüler zu loben!“ Ein weiterer wichtiger Rat:
„Lassen Sie sofort Ihren Namen aus dem Telefonbuch löschen!“ Die Probleme zwischen mir und dem Fachleiter waren mittlerweile sehr greifbar. Er wich Konfrontationen aus und hielt sowohl im Seminar als auch den Besprechungen meiner Stunden den Blick auf Schwächen gerichtet, kritisierte unpräzise, geschlossene Fragestellungen und fehlende Zielführung, erwähnte Fortschritte und Verbesserungen aber nicht, fragte weder nach Schwierigkeiten noch, warum es schlecht lief.
Obwohl Nachbesprechungen der Stunden üblich waren, ließ er mich nach zwei Unterrichtsbesuchen sogar mit den Worten „Ich muss jetzt schnell weiter!“ stehen.
Inzwischen arbeitete ich on top an der mittlerweile abgeschafften Zweiten Staatsarbeit, in der man eigene Praxiserfahrungen zu einem vorher definierten Thema monatelang beobachtete, auf mindestens dreißig Seiten beschrieb und wissenschaftlich belegte.
Ich schlief schon lange nicht mehr, bekam nach Unterrichtsbesuchen inzwischen heftige Kopfschmerzattacken und wurde vor allem in Englisch von einer blockierenden Panikwelle überrollt, sobald neue Besuche oder das Fachseminar anstanden.
Ich erbat ein persönliches Beratungsgespräch mit dem Fachleiter und erst, als ich mehrfach deutlich nach meinen Noten fragte, rückte er kleinlaut mit der Sprache heraus: Er hatte meine letzten drei Stunden, die dazugehörigen Vorbereitungen und Durchführungen mit mangelhaft bewertet! Wieso zur Hölle war ich nicht umgehend nach meiner ersten schlechten Stunde in Kenntnis gesetzt worden? Warum erfuhr ich diese für meine Vornoten sehr wichtigen und offensichtlich lange bekannten Minderleistungen erst jetzt?
Andere schienen durch das Referendariat zu schweben, aber ich hatte stark abgenommen, schmiss Kopfschmerztabletten wie Vitaminpillen ein und musste zu meiner ersten Magenspiegelung, weil ich nachts immer mit schlimmen Bauchschmerzen aufwachte.
Mein Bruxismus, das Zähneknirschen zum Druckabbau, lief auf Hochtouren, und während ich im Schlaf bereits zwei Zahnschienen kaputt gebissen hatte, gab es Leute, die nach den Sommerferien sagten: „Endlich ist wieder Seminar, ich habe euch alle so vermisst!“
Obwohl sich die Zeit vor dem Zweiten Staatsexamen anfühlte, als würde sie niemals enden, träumte ich regelmäßig vom Leben danach: Ich würde Kinder bekommen. Mutterschaft war in meinen Augen die gesellschaftlich anerkannte Alternativoption zum Arbeiten.
Eine Mitreferendarin wurde bereits während des ersten Ausbildungsjahrs schwanger und erklärte uns, dass man mit Elternzeit das Referendariat mehrere Jahre bezahlt hinziehen konnte. Das war für mich absolut keine Option. Meine