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Die perfekte Mischung aus Crime & Romance! »Du wirst nie wieder schlafen« - das verlangt ein psychophatischer Ehemann von seiner Frau. Ist sie ungehorsam, ist seine Strafe unerträglich... Detective Adrian Glover und sein Partner werden auf den Fall eines Serienmörders angesetzt, der in Shreveport im Bundesstaat Louisiana sein Unwesen treibt. Er tötet Frauen und hinterlässt am Tatort Nachrichten 'Für Samantha'. Doch wer ist diese mysteriöse Samantha? Und wer die apathische Frau im Krankenhaus, der ein Finger fehlt? Nie hätte Adrian gedacht, dass ausgerechnet die attraktive Putzfrau Tanya ihm bei der Lösung des Falls helfen kann...
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Seitenzahl: 357
Veröffentlichungsjahr: 2014
Stephanie Carle
Für Samantha
Thriller
Knaur e-books
Für alle,
die in der schlimmsten Zeit meines Lebens
für mich da waren und mir Kraft gaben.
Euch verdanke ich,
dass ich heute hier bin.
Für Kiara, Eliah und das kleine Zappelwesen in meinem Bauch –
ihr seid mein Leben, meine Hoffnung, meine Erfüllung.
Meine ganze Liebe gehört euch!
Samantha! Samantha! Du warst kein artiges Mädchen!«
Samantha war schlagartig wach. Scheiße. Ich bin eingeschlafen …
Die Stimme säuselte an ihrem Ohr. Er war nah. Viel zu nah.
Samantha riss die Augen auf und wappnete sich gegen den verhassten Anblick. Doch wie immer gelang es ihr nicht. Er stand vor ihr, hochgewachsen, mit nassen, blonden Haaren. Offenbar war er gerade aus der Dusche gesprungen und hatte sich in freudiger Erwartung ihres Gesichtsausdrucks, ihrer Angst nicht einmal die Zeit zum Föhnen genommen.
»Bitte, ich war artig. Ich … ich habe nicht geschlafen«, flehte Samantha heiser und schluckte. Ihr Mund war trocken. Sie hatte geschlafen.
Sein Lächeln war gutmütig. Und falsch. Die Eckzähne, die er dabei entblößte, glichen einem Raubtier, das gerade sein hilfloses Opfer in die Enge getrieben hatte und seine furchteinflößende Aura verstärkte diesen Eindruck noch mehr. Langsam ging er in die Hocke. Viel zu langsam. Berechnend.
Samantha verfolgte jede einzelne Bewegung genauestens. Sie war das in die Enge getriebene, hilflose Opfer. »John, ich bitte dich, glaub mir. Ich habe nicht geschlafen. Ich bin … umgekippt. Aber jetzt bin ich da, voll und ganz. Bitte.«
»Streck deine Hand vor«, forderte er und seine grünen Augen glänzten vor Erregung.
Samantha spürte, wie ein gewaltiges Zittern ihren Körper erfasste. Er hielt ein Werkzeug in der Hand, das Samantha als Feile identifizierte. Obwohl sie nicht wie eine Nagelfeile zu einer Spitze auslief, sondern in einer harten Kante endete, wirkte sie alles andere als stumpf. Panisch schüttelte Samantha den Kopf. »Nein«, stammelte sie. »Nein, John. Bitte, ich flehe dich an! Es wird nie wieder passieren. Ich werde von jetzt an artig sein.«
»Streck deine Hand vor!«, brüllte er.
Samantha gehorchte. Ihr Arm zitterte und heiße Tränen schossen ihr in die Augen. »Bitte, John …«, setzte sie noch einmal verzweifelt an, doch ihre Stimme brach unter ihrem Schluchzen. Ich kann nicht mehr. Ich kann einfach nicht mehr. Ihr Körper schrie nach Schlaf. Ich bin müde. So müde.
Blitzschnell packte der Mann ihre Hand und hielt sie fest. Samantha zuckte heftig zusammen. Dann drehte er sie unsanft auf den Bauch. Sie schrie auf. Er schleifte sie zu dem kleinen Holztisch; jede Bewegung fügte ihrem gepeinigten Körper neue Schmerzen zu. Lass mich doch einfach schlafen, flehte sie innerlich. Für immer schlafen.
Während er sich rittlings auf ihren Rücken setzte, so dass ihr durch sein Gewicht sämtliche Luft entwich, spreizte er ihren Zeigefinger ab und drückte ihn fest auf die Tischplatte. Ein Krächzen entfuhr Samantha. Er war schwer, sein Griff unbarmherzig wie eine Schraubzwinge um ihr Handgelenk geschlungen. Sie spürte, wie die Kante des Tischs in ihre Haut schnitt, doch so sehr sie sich auch gegen seine Kraft zu wehren versuchte, es gelang ihr nicht, sich zu befreien.
»John, bitte! Bitte, ich mach es wieder gut.« Das klang keineswegs überzeugend. Darüber hinaus gab es nichts, womit sie es wieder gut machen konnte.
Er hob die Feile in die Höhe und das Metall blitzte scharf und gefährlich im kühlen elektrischen Licht. Sie wollte die Augen schließen, wegsehen, doch wie gebannt blieb ihr Blick auf das grausame Folterwerkzeug geheftet. »John. John, John, John!« Samantha spürte, wie ihre Hand sich verkrampfte. Jeder einzelne Muskel war zum Bersten gespannt. Das konnte er doch nicht wirklich tun! Das konnte doch nicht sein Ernst sein!
Doch, kann es. Oder hat er dir je etwas vorgemacht? Er hat jede einzelne Drohung in die Tat umgesetzt. Jede.
»Wenn du dich wehrst, kann es sein, dass ich zweimal zuschlagen muss. Tut doppelt weh«, sagte er und es klang wie die schlichte Feststellung, dass das Wetter schlechter wurde.
Mit letzter Verzweiflung packte Samantha ihn mit der anderen Hand am Hosenbein. Auch hier war ihr Bewegungsspielraum viel zu klein. »Bitte John, ich mache alles, was du von mir verlangst. John, ich flehe dich an! Nur dieses eine Mal, bitte! Ich verspreche dir, ich werde nie wieder unartig sein. Ich werde nie wieder schlafen, ich schwöre es!« Die Tatsache, dass dieses Versprechen unmöglich zu realisieren war, verhöhnte Samantha noch mehr als ihre kläglich bettelnde Stimme.
»Ach Samantha«, sagte er und wirkte über ihre Verzweiflung höchst amüsiert. »Du wirst es sowieso wieder nicht schaffen.«
Unter einem Schleier aus Tränen blickte sie, so weit es die Situation zuließ, flehend zu ihm auf. »Gib mir noch eine Chance, John. Nur diese eine. Was hast du denn zu verlieren?«
»Spaß«, entgegnete er ihr ohne Nachzudenken. Er strich mit der Kante des Folterwerkzeugs an der Stelle entlang, wo Samanthas Zeigefinger mit dem Handrücken verwachsen war. Dann hob er abrupt zum Hieb an.
Samantha weinte nun haltlos. »Nein! Bitte, nicht! Um Himmels Willen, John! Ich habe dich geliebt!«
Die Feile fuhr mit atemberaubender Geschwindigkeit nach unten und Samantha hörte ihren eigenen, gellenden Schrei lange bevor das Werkzeug die Tischplatte erreichte.
Du solltest wirklich diesen Thunfisch-Bagel probieren«, sagte Adrian kauend, auch wenn er gelernt hatte, dass es unhöflich war, mit vollem Mund zu sprechen. »Einfach fantastisch«, fügte er hinzu und biss noch einmal herzhaft in sein Mittagessen.
Marc verzog das Gesicht und stocherte weiter in seinem grünen Salat herum, bei dem er sowohl gebratene Putenstreifen, als auch Dressing abbestellt hatte. »Carla würde mich umbringen. Zehn Kilo müssen runter, sagt sie. So lange setzt sie mich auf Diät. Und das gilt nicht nur fürs Essen«, fügte er bitter hinzu.
Adrian schüttelte verständnislos den Kopf. Dass sein bester Freund sich von dieser Frau so behandeln ließ. Es gab genügend andere gutaussehende Frauen, die einen Detective nicht von der Bettkante stoßen würden. Aber gut, das war Marcs Sache. Ihn ging das eigentlich nichts an. Von daher gesehen war es gut, keine feste Beziehung zu haben: Seinen Bagel verbot ihm keiner. »Heute hat es Herbie wirklich gut gemeint mit der Soße«, berichtete er genüsslich schmatzend, als ein paar Tropfen des roséfarbenen Dips auf die vor ihm ausgebreitete Serviette fielen. »Aber die Mischung«, Adrian küsste seine Finger, »ein Gedicht!«
»Kannst du endlich mal damit aufhören?«, fragte Marc und wirkte tatsächlich genervt. Missmutig warf er die Gabel in das kaum angerührte Grünzeug vor ihm und bestellte sich noch ein Wasser ohne Kohlensäure.
Es gelang Adrian kaum ein Grinsen zu unterdrücken, doch um keinen Streit zu provozieren verbarg er sein Schmunzeln hinter der Serviette und täuschte vor, sich den Mund abzuwischen. Miese Stimmung unter Partnern war immer schlecht und Adrian spürte instinktiv, dass man ihnen bald einen neuen Fall zuteilen würde. Die Ruhe vor dem Sturm währte einfach schon zu lange.
Zwei Tische weiter entstand ein unübersehbares Gerangel, als zwei etwa zehnjährige Jungen sich um einen großen Becher Coke stritten. Die viel zu junge Mutter war mit der Situation vollkommen überfordert und noch ehe Adrian sich die Frage stellen konnte, weshalb die Kids in ihrem Alter und bei ihrer Figur überhaupt so viel von dem ungesunden Zeug trinken durften, fiel der Becher samt dem nebenstehenden vollen Pastateller scheppernd zu Boden, verschüttete seinen Inhalt auf dem Fußboden und tränkte die von der dicken Soße pappigen Nudeln.
»Tanya! Schnell, Tisch fünf!«, rief eine Frauenstimme vom Tresen her. Man hörte Herbie eindeutig an, dass sie das Kommandieren gewohnt war. Während sie weiter zwei Bier mit zu wenig Schaum zapfte, kam aus der Tür, die zu den Waschräumen führte, die Gerufene mit Putzeimer und Wischlappen heraus.
Die junge Frau eilte zu ›Tisch fünf‹, kniete sich neben die Bank und sammelte Nudeln, Pappbecher und Tellerscherben auf, bevor sie sich daran machte, die klebrige Pfütze aufzuwischen. Ihre langen, blondierten Haare fielen ihr dabei immer wieder über die Schultern und sie strich sie genervt und ungeschickt mit rosa behandschuhten Händen aus dem Gesicht. »Mann, wieso können wir uns nicht alle so eine Putzfrau leisten?«, fragte Adrian, während er fasziniert – wie jedes Mal, wenn Tanya auftauchte –, mit den Augen förmlich an ihrem wohlgeformten Hinterteil hing.
Marc wandte sich kurz um und verdrehte dann die Augen. »Iss deinen Bagel, bevor du ihn komplett vollsabberst«, sagte er.
»Entschuldige, ich habe keine so pedantisch eifersüchtige Verlobte wie du. Ich darf mir knackige Hintern von jungen Frauen ansehen und dabei träumen«, verteidigte sich Adrian. Tanya hatte wirklich einen geilen Arsch. Wäre sie nicht Russin, stumm und Putzfrau in diesem billigen Diner, hätte er sie vielleicht mal zum Essen ausgeführt. Als One-Night-Stand würde sie sich zwar allemal eignen, doch langsam kam auch Adrian, der Highschool-Playboy in ein Alter, in dem ›Mann‹ sich auch eine Frau zum Reden wünscht. »Ich werde alt«, seufzte er und griff wieder nach dem letzten Rest Bagel.
»Wie kommst du denn plötzlich darauf?«, fragte Marc verwirrt. »Ich wette, dir ist eben beinahe einer abgegangen, so wie du dir die Finger nach Tanya geleckt hast.«
»Ach, halt doch die Klappe«, sagte Adrian.
Tanya hatte ihre Arbeit beendet. Sie eilte in die Küche, um den Müll zu entsorgen und frisches Wasser zu machen. Verdammt, wieso weiß ich das so genau? Adrian schüttelte den Kopf, um wieder einen klaren Gedanken fassen zu können. Was hatte diese Frau nur an sich, dass sie ihm derart den Kopf verdrehen konnte? Er stand überhaupt nicht auf Blond. Weder in der natürlichen, noch in der künstlichen Art.
»Was ist denn nun mit dem Ring? Hast du ihn schätzen lassen? Oder verscherbelst du ihn bei eBay?«, erkundigte sich Marc und leerte sein Wasserglas mit einem Zug.
Adrian zuckte die Achseln. Seine Aufmerksamkeit war schon wieder auf die Küchentür gelenkt, aus der Tanya gerade herausschlüpfte, den Eimer fest in der einen, einen sauberen Lappen in der anderen Hand. Elfengleich huschte sie an den Gästen vorbei, die zur Hälfte durchaus Notiz von ihr nahmen, während der Rest sie glatt übersah. Die eine Hälfte war männlich, die andere weiblich. Adrian zog das antike Schmuckstück aus der Hosentasche. »Er ist so hässlich«, stellte er wieder einmal fest. »Dad meinte, Grandpa habe immer gewollt, dass ich ihn eines Tages bekomme. Ich weiß auch nicht, offenbar hatte der Mann eine komplette Geschmacksverirrung.«
Jetzt war der Zeitpunkt, zu dem er aufblicken musste, um Tanyas schüchternen Gruß eines angedeuteten Kopfnickens nicht zu verpassen. Die gesamte Wache des Shreveport Police Departments war hier Stammgast und sie war stets freundlich, aber scheu. Irgendetwas verbarg sie, da war Adrian sicher, denn sie schien äußerst bedacht darauf, dass die Polizisten ihr zwar freundlich gesinnt waren, jedoch nie tiefergehendes Interesse bekundeten. Nun, sie war russischer Herkunft und arbeitete als Putzfrau in einem Diner. Da lag der Verdacht doch sehr nahe, dass ihre Einreisepapiere nicht allzu gültig waren … Egal, sie hatte einen tollen Hintern und auch sonst war ihre körperliche Attraktivität nicht von der Hand zu weisen.
Heute verharrte ihr Blick ein klein wenig zu lange an seinem Tisch und irgendetwas veränderte sich in ihren Augen, als sie den Ring sah, den Adrian nervös in den Fingern drehte. Doch noch ehe er sich Gedanken darüber machen konnte, war der Moment auch schon wieder vorbei und die elfengleiche Frau in den Waschräumen verschwunden. Adrian erwog kurz, ebenfalls etwas zu verschütten, um noch einmal ihr prachtvolles Hinterteil zu sehen, verwarf die Idee jedoch schleunigst. Sie war eine Frau und kein Pop-Up-Covergirl!
»Wahrscheinlich verticke ich ihn bei eBay«, sagte Adrian und spürte als er gerade nach seiner Sprite greifen wollte, das Vibrieren seines Mobiltelefons in der Hosentasche.
»Glover?«
»Hey ihr Zwergnasen«, ertönte die genervte Stimme seines Chefs, Conrad Harper. »Seht zu, dass ihr euren Lunch beendet und eure Arschbacken auf der Stelle hierher schafft. Es gibt Arbeit. Und sagt vorsorglich alle Wochenendtermine ab!«
»Aye, Captain«, sagte Adrian und deutete Marcs Geldbeutelzücken als ›Hab verstanden, wir sollen uns beeilen‹. Am anderen Ende der Leitung schnaubte ein noch genervterer Harper, da ihm dieser Scherz laut eigener Aussage mittlerweile aus den Ohren herauskam und es dem Team gerade deswegen umso mehr Spaß bereitete, ihn immer wieder damit aufzuziehen. Während Adrian sich die Adresse notierte, griff Marc nach seinem Jackett. Fast vierzig Grad im Schatten und ein neuer Fall zwangen sie aus dem ventilatorengekühlten Diner hinaus in die sengende Sonne. Und das in Hemd und langen Hosen. »Wir haben einen Scheißjob, Partner«, stellte er fest und stand auf.
»Wartet, bis ihr hier seid, dann wisst ihr, wie scheiße unser Job wirklich ist«, verabschiedete sich Harper aus dem Handy und beendete die Verbindung.
Harper sollte Recht behalten. Nachdem sie auf Grund der Verkehrslage auf dem stets überfüllten E. King’s Highway entgegen der geschätzten zwanzig Minuten die doppelte Zeit gebraucht hatten, um den ausgewiesenen Parkplatz des Muddy Lake zu erreichen, taten die zahllosen Fliegen ihr Übriges den neuen Fall, noch bevor er richtig begonnen hatte, zu einem Scheißfall werden zu lassen.
»Ach herrje, ist das heiß hier«, beschwerte sich Marc und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Und was tun all diese Schmeißfliegen hier?«
»Und wieso bitte hat die Leiche keiner vor uns entdeckt?«, mischte sich eine neue Stimme in ihr Gespräch ein. Conrad Harper hatte die dunkelblaue Krawatte gelockert und wischte sich ebenfalls Schweißperlen von der Stirn. »Was das ganze Ungeziefer hier will, kann ich dir sagen«, erklärte er mit einem Kopfnicken in Richtung der Stelle, an der sich bereits zahlreiche Menschen versammelt hatten.
Marc rümpfte die Nase. »Ich glaub, ich will es gar nicht wissen«, murmelte er missmutig.
»Hey, da ist ja mein Lieblingsteam! Die Detectives Black & White mit vertauschten Haaren«, begrüßte sie ein schlanker Mann in weißem Overall.
»Schnauze, Tom!«, bellte Marc und warf seine aufgehellte Rastapracht absichtlich offensiv zurück.
»Also meine Haare sind echt«, grinste Adrian und handelte sich dafür ebenfalls einen vernichtenden Blick seines Partners ein.
»An deiner Stelle würde ich mir die Scheiße sparen und uns aufklären, was ihr hier gefunden habt«, blaffte Marc. »Deinem weißen Arsch ist in diesem weißen Ganzkörperanzug bestimmt mächtig heiß.«
Tom Bishop zuckte die Achseln. Dann wies er sein Team von der Spurensicherung an, einen kleinen Gang für die Detectives frei zu machen. »Ihrem weißen Arsch geht’s bedeutend schlechter«, stellte er fest, als sie vor der Leiche zum Stehen kamen – oder dem, was von ihr übrig war.
»Shit«, maulte Marc und hielt sich ein Taschentuch vor die Nase.
Der Gestank war wirklich ekelerregend. Ebenso wie das Bild, das sich ihnen darbot.
Die braunen Haare der Frau waren blutverklebt, ansonsten waren jedoch auf den ersten Blick keine weiteren Blutspuren zu erkennen. Ihr Mörder hatte sie wohl woanders getötet und lediglich hier abgelegt. Das Gesicht der Frau war unmöglich zu erkennen, die Hitze und das Getier an diesem feucht-warmen Ort hatten ihre Arbeit gründlich erledigt. Sie war zwar nicht nackt, doch was wahrscheinlich einmal Kleidung gewesen war, hing in Fetzen an ihrem ausgelaugten Körper.
»Wie lange liegt sie schon hier?«, erkundigte sich Adrian.
Tom blies Luft aus. »Schwer zu sagen, White.« Ein Seitenblick auf seinen Partner bestätigte Adrians Vermutung, dass dieser wenig Begeisterung für den Spitznamen übrig hatte und Adrian konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Angesichts der Sommerhitze wahrscheinlich noch gar nicht so lange.«
»Und das bedeutet?«, hakte Marc schroff nach.
»Hey, das wird euch die heiße Braut von der Gerichtsmedizin mitteilen. Ihr wisst genau, dass ich keine Vermutungen abgebe«, verteidigte sich Tom, während sein Kollege mit der Kamera Bilder vom Gesicht des Opfers schoss. »Und nein, ich spekuliere auch nicht über die Todesart. Auch wenn mit großer Wahrscheinlichkeit davon auszugehen ist, dass es mit dem Blut an ihrem Kopf zu tun hat. Aber das gehört einfach nicht in meinen Bereich. Und wir haben bisher keine Patronenhülsen gefunden, falls das eure nächste Frage wäre.«
»Wofür werdet ihr Schneemänner überhaupt bezahlt?«, fragte Marc und zog sich zwei Paar Latexhandschuhe über.
Adrian tat es ihm nach, verkniff sich aber einen Kommentar über die Vorgehensweise der Spurensicherung, die lediglich ihrer Arbeit nachkam. Wo keine Spuren waren, ließen sich eben nur schwer welche finden.
»Habt ihr Finger gefunden?«, fragte Marc plötzlich und lenkte Adrians Aufmerksamkeit auf die linke Hand der weiblichen Leiche. »Oder ist das den gefräßigen Viechern hier zuzuschreiben, die auch nach meinem Blut gieren?« Zur Unterstreichung seiner Aussage schlug er sich ein paar Mal mit der flachen Hand in den Nacken.
»Haben wir Finger gefunden?«, gab Tom die Frage in die Runde weiter. Sein Team antwortete mit stillem Kopfschütteln. »Nein, haben wir nicht«, fasste Tom die stumme Verneinung in Worte, was ein erneutes Augenrollen von Marc zur Folge hatte.
Adrian ging in die Hocke, um die Hand der Leiche genauer betrachten zu können. Er achtete dabei akribisch darauf, keine Spuren zu verwischen oder dem Kameramann die Sicht zu versperren. »Das waren auf jeden Fall keine Tiere«, stellte er klar. »Das ist ein sauberer Schnitt. Wenn sie sich nicht selbst verstümmelt hat, dann war es wahrscheinlich ihr Mörder. Vielleicht solltet ihr euer Augenmerk darauf lenken, ob er an der Stelle Spuren hinterlassen hat. Und dann wäre es natürlich nicht schlecht, wenn wir die Finger finden würden.«
»Na, Jungs, habe ich euch zu viel versprochen?«, trat Harper in die Runde. Offenbar war er aufgehalten und in ein Gespräch verwickelt worden. Adrian wunderte es ohnehin, dass die Presse noch nicht auf den Plan getreten war. »Irgendwelche neuen Erkenntnisse?«
»Du meinst, abgesehen davon, dass die Schneemänner von der Spurensicherung überbezahlt sind?«, fragte Marc spitz. »Ihr fehlen zwei Finger. Zeigefinger und Mittelfinger um genau zu sein, aber unsere Overall-Jungs konnten sie bisher leider nicht entdecken.«
»Das ist ja interessant«, sagte Harper und es wirkte wie lautes Nachdenken. »Die Kollegen sind gerade an einem ähnlichen Fall dran. Parkers Team. Sie haben vor zwei Tagen eine junge Frau ins Krankenhaus gebracht, der ein Finger fehlt. Momentan wird sie psychologisch betreut. Genaueres weiß ich leider nicht, bei unserem wöchentlichen Bierchen hat er nicht mehr erzählt. Vielleicht solltet ihr euch mit den Kollegen in Verbindung setzen. Ich werde Hope Bescheid geben, dass sie die Vermisstenanzeigen durchforsten soll. Vielleicht haben wir ja ausnahmsweise mal Glück und es wurde tatsächlich kürzlich eine junge Weiße als vermisst gemeldet. Mann, Mann, Mann, ich hasse Jane Does …«
Adrian nickte, froh über die offizielle Erlaubnis, von diesem Heizofen zu verschwinden. »Hier gibt es für uns ohnehin momentan nichts mehr zu tun.« Gekonnt streifte er die Handschuhe ab und nickte Marc zu. »Du telefonierst.«
Als ich mich bei der Coastal Carolina University immatrikulierte, fühlte ich mich zum ersten Mal wirklich frei. Die Zeit im Kinderheim lag hinter mir und jetzt konnte es nur besser werden. Ich besuchte meine Kurse regelmäßig, hielt mich aus Partys und sonstigen Ablenkungen heraus und paukte stattdessen in meiner Freizeit, um bald die Zwischenprüfung abzulegen und in das Hauptstudium überzugehen. Die Prüfungen meisterte ich mit Bravour und ich konnte es kaum erwarten, mein erstes Seminar über Kunstgeschichte zu besuchen.
Und da stand er.
Zuerst dachte ich, er sei ein Kommilitone. Er wirkte so jung und athletisch. Ich war hin und weg, verloren in seinen moosgrünen Augen. Dann begann er zu sprechen und stellte sich als Seminarleiter Professor Dr. Dexter vor und ich lauschte seiner angenehmen Stimme so intensiv, dass ich vom Inhalt der ersten Stunde nichts mitbekam. In der zweiten Sitzung verteilte er die Seminararbeitsthemen und ich meldete mich für das erstbeste, nur um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Nach der dritten Stunde rief er mich zu sich und erkundigte sich nach dem Stand meiner Informationsbeschaffung und lud mich ein, mir ein paar Tipps und Tricks und Hintergrundinformationen zu liefern, da ihm das Thema sehr am Herzen lag und er bereits selbst einige Veröffentlichungendazu verfasst habe. Noch am selben Tag raste ich in die Bibliothek und holte mir sämtliche Werke zur Abendlektüre. Ich erfuhr, dass er Anfang vierzig und damit beinahe doppelt so alt wie ich war. Doch aus irgendeinem unerfindlichen Grund störte mich das überhaupt nicht. Im Nachhinein glaube ich, dass es daran lag, dass er der erste erwachsene Mensch war, der mir mehr Aufmerksamkeit und Interesse zukommen ließ, als ich bis zu diesem Zeitpunkt jemals in meinem Leben von irgendeiner Person erhalten hatte.
Nach unserem ersten offiziellen Treffen bot er sich als mein persönlicher Mentor an und versprach mir, mir auch in anderen Kursen unter die Arme zu greifen. Wir trafen uns bald jede Woche und ich machte mich jedes Mal unnötig schick. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals, wenn ich ihn sah, und ich hoffte nur, dass meinen Mitstudenten mein bescheuert kindliches Verhalten nicht auffiel. Schließlich wurde ich seine studentische Aushilfskraft, regelte den Papierkram für ihn, bereitete seine Vorlesungen vor und, was für mich die Hauptsache war, ich war praktisch den ganzen Tag in seiner Nähe.
Wenn wir in den nächsten Wochen ausgingen, waren die Treffen und Orte privater, dennoch verhielt er sich zuvorkommend und zurückhaltend, ganz wie ein Gentleman der alten Schule. Als wir an mehreren Abenden hintereinander lange aus waren und ich vor Aufregung und kaum fassbaren Glücksgefühlen erst spät oder gar keinen Schlaf fand, passierte es mir tatsächlich, dass mir in seinem Seminar die Augen zufielen. Er tobte wie ein Berserker und beschimpfte mich vor dem versammelten Kurs, doch ich redete mir ein, dass er ebenfalls fürchtete, die anderen könnten von unserer besonderen Beziehung Wind bekommen, wenn er sich mir gegenüber rücksichtsvoller verhielt als gegenüber den übrigen Studenten.
Damals hätte ich es bereits ahnen müssen. Und das Weite suchen sollen.
Stattdessen heiratete ich ihn.
Ach komm schon, Tanya. Wie schlimm kann es denn werden?« Wenn Sara etwas wollte, konnte sie ganz schön hartnäckig sein.
Tanya wickelte den Handtuchturban ab und schüttelte ihre langen blonden Haare. Blond. Noch immer hatte sie sich an die Farbe nicht gewöhnt. Sie wirkte so falsch an ihr. »Ich weiß nicht. Ist es nicht deine Aufgabe herauszufinden, warum sie nicht schlafen kann? Du bist doch die Psychologin!«
»Aber du kennst dich aus mit Schlafstörungen«, redete Sara beharrlich weiter auf sie ein. Dabei drehte sie nervös immer wieder eine blonde Strähne zwischen den Fingern. Nur dass ihre Haare echt blond waren. »Als wir uns kennen lernten, hattest du ständig welche. Und immer noch siehst du ab und zu müde aus.«
Ab und zu? Das war die Untertreibung des Jahrhunderts. Es gab keine Nacht, in der sie nicht von Schlafstörungen geplagt wurde. Nicht einmal ›ab und zu‹!
»Hm«, brummte Tanya unentschlossen und stellte den Föhn auf höchste Stufe, um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen, doch ihre Freundin redete einfach über den Lärm hinweg.
»Heißt das, du kannst momentan auch nicht schlafen? Tanya, brauchst du irgendwas? Soll ich dir ein Rezept ausstellen lassen?« Sie klang aufrichtig besorgt.
Nein, Pillen machen die Sache nur noch schlimmer. Mir kann niemand helfen. Tanya seufzte und schaltete den Föhn aus, obwohl ihre Haare noch genauso nass waren wie zuvor. Wenn er ihr nicht half, sich vor den Wortattacken ihrer besten Freundin zu schützen, dann war er unnötig; es war wirklich nicht annähernd so kalt, dass man sich die Haare künstlich trocknen musste. »Nein, mir geht es gut«, log Tanya und wunderte sich selbst, wie leicht ihr diese Lüge mittlerweile über die Lippen ging. Sie klang sogar in ihren Ohren überzeugend.
»Dann komm doch bitte mit. Vielleicht kannst du meiner Patientin ja auch helfen, damit es ihr bald wieder gut geht«, drängte Sara und bediente sich selbst an der ›Saftbar‹, die Samantha auf einem kleinen Regal neben dem Wohnzimmertisch aufgebaut hatte. »Es ist wirklich wichtig für mich«, fuhr sie fort und mischte sich einen Maracuja-Kirschsaft, der sich zu einer unappetitlich aussehenden Masse entwickelte. »Weißt du, Kollegen von mir schwören darauf, dass Menschen mit ähnlichen Schicksalen sich manchmal besser helfen können als wir außenstehende Psychologen.«
Mit ähnlichen Schicksalen? Du hast ja keine Ahnung! »Das glaube ich gerne«, konnte Tanya sich einen bissigen Kommentar nicht verkneifen. »Und warum studiert ihr dann so lange?«
Sara ging nicht darauf ein, setzte stattdessen ihren Hundebettelblick auf und saß einfach abwartend da. Tanya seufzte schwer. »Na gut«, gab sie schließlich nach und fand sich gleich darauf in der festen Umarmung ihrer besten Freundin wieder.
Erst während der Fahrt rückte Sara damit heraus, dass die Patientin, um die es ging, nicht zu ihr in die Praxis kam, sondern derzeit stationär im Krankenhaus lag.
Du kleines Miststück, schimpfte Tanya in Gedanken. Du wusstest genau, dass ich niemals zugestimmt hätte, wenn ich das auch nur geahnt hätte! Tanya hasste Krankenhäuser. Und sie hasste es, sich allzu lange an öffentlichen Orten aufzuhalten. Aber vor allen Dingen hasste sie im Augenblick Sara.
Trotz ihrer Gefühle fügte Tanya sich stumm in ihr Schicksal, denn diese Fähigkeit beherrschte sie mittlerweile bis zur Perfektion, und stolperte hinter Sara in den Aufzug des Willis-Knighton-South-Hospitals. Miss Psychologin Sara Parker drückte auf den Knopf neben dem Schild ›Center for Women’s Health‹ und der Aufzug setzte sich in Bewegung. Tanya hasste auch Aufzüge. Eng und keine Fluchtmöglichkeiten. Doch zum Glück war dies ein modernes, schnelles Modell und so dauerte es keine fünf Sekunden bis die Türen mit einem Pling wieder aufgingen.
Die beiden Frauen stiegen aus, wandten sich Richtung Rezeptionspult und meldeten sich an. Das hieß, Sara meldete sie an, während Tanya wortlos danebenstand und sich darüber ärgerte, dass ihr Name auf einem offiziellen Formular festgehalten und aufbewahrt wurde. Sie bedachte Sara mit einem bitterbösen Blick und fragte sich nicht zum ersten Mal, wie eine ausgebildete Psychologin mit den exzellentesten Abschlussnoten so unsensibel sein konnte. Kommentarlos folgte Tanya ihr um zwei weitere Ecken und blieb dann wie angewurzelt stehen, als sie der Anwesenheit des Polizisten gewahr wurde, der neben einer Zimmertür postiert war und gelangweilt in einem Automagazin blätterte.
Mensch Sara, was soll der Quatsch? Wenn Tanya eines noch mehr hasste als Öffentlichkeit, Psychologinnen, Krankenhäuser und Aufzüge, dann war es die Polizei. Nicht die Polizisten an sich, die einfachen Männer, denen sie jeden Tag im Diner hinterher wischte, nein – die Institution Polizei, die sich in alle Angelegenheiten einmischte, die sie nichts angingen, während sie sich stattdessen lieber um die wirklich wichtigen Fälle kümmern sollte, die sie nicht einmal bemerken würde, wenn sie vor ihrer Nase geschahen.
»Was ist los?«, fragte Sara mit Unschuldsmiene. Tanya biss sich auf die Zunge, um keine biestige Antwort zu geben und hob stattdessen ebenso unschuldig fragend die Augenbrauen. Sara zuckte die Achseln, wechselte ein paar freundliche Worte mit dem Polizisten und hielt Tanya charmant die Tür auf. Tanya ihrerseits nickte dem Mann in Uniform im Vorbeigehen kurz zu, senkte dabei aber ihren Blick und huschte durch die Tür.
»Du hast von Schlafstörungen gesprochen, nicht von einer Staatsaffäre«, zischte sie ihrer Freundin zu.
Das Zimmer war wie jedes Krankenhauszimmer steril weiß gestrichen und karg eingerichtet. Tanya fiel auf, dass keinerlei private Dinge im Raum vorzufinden waren. Nicht einmal Blumen hatte die Patientin bekommen. Langsam und beinahe ehrfürchtig schritt sie näher an das Bett heran, in dem eine junge Frau mit starr geradeaus gerichtetem Blick lag. Ihre braunen Locken klebten verschwitzt an ihrem Kopf, aber das war bei der Hitze hier drinnen auch kein Wunder. Die Frau war vollkommen reglos. Mein Gott, Sara. Wo hast du mich da bloß hineingezogen?
Tanya ging noch zwei weitere Schritte, bis sie im Blickfeld der Frau stand. Sie wirkte müde, ausgemergelt und apathisch. Drei Zustände, die Tanya nur allzu vertraut waren. Ihre Blicke fanden sich spontan und Tanya spürte einen Stich, als die Pupillen der jungen Frau sich für einen kurzen Moment weiteten und jede der beiden Frauen zu verstehen schien, was der anderen widerfahren war. Tanyas Herz raste. Oh mein Gott! Unwillkürlich suchten ihre Augen die linke Hand der Patientin. Ihr fehlte der Zeigefinger. Tanya überkam fürchterliche Übelkeit und ein so starkes Schwindelgefühl, dass sie sich an der Bettkante abstützen musste.
Im selben Augenblick wurden Stimmen vom Flur her laut und dann sprang die Tür auf und gab den Blick auf zwei weitere Polizisten frei. Sie trugen keine Uniform im eigentlichen Sinne, doch Tanya erkannte ihre Gesichter. Wie schlimm kann der Tag noch werden?
Detective Glover und Detective Williams schienen ebenfalls überrascht und leicht verwirrt über Tanyas Anwesenheit. Doch in ihrer Professionalität hatten sie sich schnell wieder im Griff, begrüßten Sara mit Handschlag und tauschten belanglose Freundlichkeiten aus.
Tanyas Magen revoltierte und sie war heilfroh, dass sie ihren üblichen Bagel, den Herbie ihr immer zum Abendessen mitgab, wie so oft ihrem Nachbarn Mr. Sterling geschenkt hatte. Dann wandte Detective Glover sich ihr plötzlich mit forschendem Blick zu und streckte die Hand aus. Nach kurzem Zögern ergriff Tanya sie, wagte jedoch nicht, ihm in die Augen zu sehen, während er sie begrüßte.
»Detective Glover«, stellte er sich vor und wies dann auf seinen farbigen Kollegen. »Mein Partner, Detective Williams.«
Williams nickte freundlich, aber distanziert.
Tanya wusste, was von ihr erwartet wurde, doch die Situation war äußerst verzwickt. Die Kunden von Herbie K’s hielten sie für stumm und das war auch gut so und sollte so bleiben. Sara jedoch würde sie für extrem unfreundlich halten, wenn sie ihrerseits nicht ihren Namen nannte. Verdammt, ich will hier weg. Bitte, werd einfach unsichtbar oder versinke im Boden! Aber natürlich geschah nichts davon und Glover wartete noch immer auf eine Antwort.
»Tanya Alexandrova«, übernahm schließlich Sara das Wort und entschärfte damit die peinlich angespannte Situation. »Meine Freundin ist ein wenig schüchtern«, fügte sie erklärend und entschuldigend hinzu.
»Schüchtern?«, wiederholte Glover. »Ich dachte stumm.«
Bitte Boden, tu dich auf und verschling mich! Letzte Chance!
»Stumm?«, wunderte sich Sara nun und suchte mit verdattertem Gesichtsausdruck eine Erklärung in Tanyas Gesicht.
»Ich … muss hier raus«, brachte diese stammelnd hervor und setzte zum Gehen an, doch Sara hielt sie auf.
»Du kannst jetzt nicht verduften«, sagte sie. »Wissen Sie, Detectives, bevor Sie auf den Plan getreten sind und hier Verwirrung stifteten, wäre Tanya beinahe zu der Patientin durchgedrungen. Die Frau zeigte zum ersten Mal Reaktionen. Ich bin sicher, wenn sie noch ein wenig Zeit mit ihr verbrächte …«
»Nein«, unterbrach Tanya sie entschlossen. »Ich kann nicht, Sara. Ich verschwinde besser. Ihr habt hier zu tun.«
»Das ist wirklich interessant, Ms. Alexandrova«, mischte Glover sich ein. Seine Stimme klang langsam und bedacht. »Ich hätte schwören können, Herbie sagte, Sie seien stumm.«
Was sollte sie darauf erwidern? Herbie glaubte, sie sei stumm. Verdammt, jeder glaubte, sie sei stumm. Außer Sara und Mr. Sterling. Und ausgerechnet Erstere war jetzt anwesend. »Herbie bezahlt mich nicht fürs Sprechen, Detective«, sagte Tanya ausweichend.
»Das stimmt. Sie bezahlt sie fürs Putzen«, bestätigte Glover.
»Was?«, fragte Sara erschrocken und Tanya schlug innerlich die Hände über dem Kopf zusammen. »Du hast gesagt, du arbeitest dort im Service!«
»Findest du nicht, dass es zum Service eines Restaurants gehört, alles sauber zu halten?«, giftete Tanya und fühlte sich schutzlos in die Enge getrieben wie schon lange nicht mehr.
»Woher kommen Sie, Tanya?«, fuhr Glover mit seiner Befragung fort.
»Was?«, Tanya richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihn. »Aus Russland«, antwortete sie schnell.
Glover grinste. »Das dachte ich mir schon. Russland ist groß, Tanya, wo genau kommen Sie her? Ich kenne mich in Europa sehr gut aus, meine Familie ist früher viel gereist.«
Tanya biss sich auf die Unterlippe. Dann entschied sie sich zum Gegenschlag. »Soll das ein Verhör sein, Detective Glover? Ich glaube nämlich, dass Sie eigentlich eine andere Aufgabe hier haben. Ich sollte nämlich gar nicht hier sein.«
»Nun ja, da haben Sie eigentlich Recht«, gab er zu. »Aber als ehemaliger Ermittler bei der Einwanderungsbehörde, wundert es mich doch ein wenig, wie eine Einwanderin so akzentfreies Englisch sprechen kann. Sie sind doch russische Einwanderin, wenn Sie aus Russland kommen, nicht wahr, Tanya?« Er betonte den Namen übertrieben.
»Ich lebe legal in diesem Land, falls das der Hintergrund Ihrer Frage ist«, sagte Tanya. »Und wenn es Ihnen Recht ist, dann werde ich jetzt gehen.«
»Ich würde zu gerne noch kurz Ihre Personalien aufnehmen«, sagte Glover und stellte sich ihr in den Weg. Seine große Erscheinung, die dunklen Haare und die brennend grauen Augen wirkten autoritär.
Tanya schluckte. »Wozu soll das nötig sein?«, fragte sie, doch in ihrer Stimme schwang Unsicherheit mit, die einem ausgezeichneten Spürhund wie Glover nicht entgehen konnte.
»Etwas rein Formelles, versteht sich«, erklärte dieser routiniert, doch sein Blick war aufmerksam und er analysierte jede Regung, die Tanya unwillkürlich aussendete. »Das hier ist unser Fall und wir halten alle Namen fest. Fürs Protokoll.«
»Nun, meinen Namen haben Sie doch«, sagte Tanya.
Er lächelte abschätzend. »Ja, und jetzt hätte ich gerne noch Ihren Führerschein oder Ihr Visum, damit wir die Sache hier abschließen können. Dann können Sie auch gehen.«
Tanya tappte unruhig von einem Bein auf das andere. So ein verdammter Mist. Wie komme ich aus dieser Sache bloß wieder raus? »Ich habe ihn momentan nicht bei mir«, flüsterte sie und hielt ihren Blick auf einen imaginären Fixpunkt am Fußboden gerichtet.
»Oh, das ist schade«, sagte Glover leichthin. »Dann muss ich Sie leider bitten, am Montag zu uns aufs Revier zu kommen und ihn mir vorzulegen.«
»Kann ich dann jetzt bitte gehen?«, fragte Tanya, ohne auf seine Aussage einzugehen.
»Vorerst ja«, entschied Glover. »Aber Montag werden Sie bei uns vorstellig. Sonst muss ich leider annehmen, dass es sich doch lohnt, in Ihrem Fall weitere Nachforschungen anzustellen.«
Er machte einen Schritt zur Seite, so dass Tanya an ihm vorbeigehen konnte. Sie verlor keine Zeit und eilte aus dem Zimmer, das ihr mittlerweile wie ein Gefängnis vorkam. Sie schaffte es gerade noch, den Aufzug zu erreichen, ehe die Tränen sich ihrer bemächtigten und nachdem die Türen sich geschlossen hatten, fiel sie gegen die Wand und schluchzte heftig. Diesmal war es eher ein Fluch, dass der Aufzug so schnell war und sie hatte sich noch nicht ganz im Griff, als sie ausstieg und sich unter die Menge mischte. Da dies jedoch ein Krankenhaus war, konnte es alle möglichen Gründe haben, dass eine verweinte junge Frau durch die Flure irrte, insofern vermieden es die Leute um sie herum sie anzusprechen, sondern schenkten ihr lediglich mitfühlende Blicke.
Als Tanya gerade an die frische Luft gekommen war, hörte sie jemanden ihren Namen rufen und eilige Schritte hoher Stöckelschuhe. »Warte, Tanya! Hey!« Widerwillig hielt Tanya an. Sara erreichte sie und war vollkommen außer Atem. »Was war das denn bitte?«
»Warum hast du mir nicht gesagt, dass der Frau ein Finger fehlt?«, fuhr Tanya die Schweratmende an.
»Was?«, Sara schüttelte verwirrt den Kopf. »Hast du jetzt ein Problem mit behinderten Menschen oder was? Ich habe dich wegen ihrer Schlafstörungen hergeholt. Was soll das eine mit dem anderen zu tun haben?«
Tanya lachte bitter auf. Gott, Frau Dr. Psych! Sie haben ja wirklich keine Ahnung! Keine Ahnung! »Ich habe kein Problem mit behinderten Menschen, aber verdammt, du hättest es mir sagen müssen!«
»Und du hättest mir sagen müssen, dass du stumm bist und als Putze arbeitest!«, gab Sara zurück und klang dabei ebenso laut und wutgeladen wie Tanya.
Eine kurze Weile standen sie einander gegenüber und duellierten sich mit Blicken. Schließlich sagte Tanya: »Weißt du was, Sara? Mach deinen Scheiß in Zukunft selbst und lass mich und mein Leben in Ruhe! Und wag es ja nicht, mich in den nächsten Tagen anzurufen!« Mit diesen Worten machte sie auf dem Absatz kehrt und hastete in Richtung Bushaltestelle davon.
Zum Glück stand der Bus schon bereit, als Tanya gehetzt am Einstiegsplatz ankam. So musste sie sich nur noch in den Sitz fallen lassen und hoffen, dass sie bald zu Hause war, wo sie sich in ihr kuscheliges Sofa schmiegen und den Tränen freien Lauf lassen konnte.
Adrian wusste, dass es unschicklich war, die Person, deretwegen sie eigentlich hergekommen waren, bisher vollkommen vernachlässigt zu haben, und sein schlechtes Gewissen meldete sich zu Wort. Aber diese verflixte Sache mit Tanya! Warum muss diese Frau nur so einen geilen Arsch haben? Es war ihm herzlich egal, ob sie illegal in die USA eingewandert war oder – nach ihrem perfekten akzentfreien Englisch zu urteilen – schon immer hier gelebt hatte, aber aus irgendeinem Grund kränkte ihn die Tatsache zutiefst, dass sie ihm so lange vorgespielt hatte, stumm zu sein.
Marc schien damit besser zurechtzukommen, denn er war bereits zu der Patientin ans Bett getreten. Seinem Beispiel folgend schickte auch Adrian sich an näherzukommen. Seine geübten Polizistenaugen scannten sofort die Fakten, um sie mit dem Hintergrundwissen und damit eventuell mit der toten Frau vom Muddy Lake in Zusammenhang zu bringen: Zeigefinger der linken Hand abgetrennt, äußerlich unverkennbare Ähnlichkeit mit der weiblichen Leiche; nicht in dem Sinne, dass die beiden Verwandtschaft zueinander aufwiesen, doch beide hatten in etwa dieselbe schlanke Figur und braune Haare. Beide waren schätzungsweise zwischen zwanzig und dreißig, beide weiß und namenlos. Der einzige Unterschied war, dass die eine bereits tot war. Wobei er den Zustand der apathisch durch sie hindurch ins Leere blickenden Gestalt im Krankenhausbett auch nicht als lebendig bezeichnet hätte.
»Es tut mir Leid, dass wir uns bisher noch nicht bei Ihnen vorgestellt haben«, versuchte Marc ein Gespräch aufzunehmen. »Vielleicht haben Sie ja schon mitbekommen, dass wir von der Polizei sind. Ich bin Detective Williams und mein Kollege ist Detective Glover. Wir würden uns gerne mit Ihnen unterhalten.«
Sie könnte ebenso gut tot sein, schoss es Adrian durch den Kopf. Die Worte prallten an ihr ab und auch die Anwesenheit der beiden Polizisten schien sie nicht im Geringsten aus ihrer Traumwelt herauszubringen. Adrian näherte sich ihr vorsichtig ein paar weitere Schritte und beobachtete sie dabei eindringlich; keinerlei Reaktion. »Miss …«, begann er langsam, abwartend, doch wie zu erwarten war, ging die Frau nicht auf seine unausgesprochene Aufforderung ein. »Es wäre einfacher für uns, wenn Sie uns Ihren Namen nennen könnten.«
»Sie spricht nicht, Detective«, meldete sich eine Frauenstimme mit leicht beleidigtem Unterton zu Wort und Adrian musste nicht hinsehen, um zu wissen, dass Dr. Parker zurückgekehrt war.
Er drehte sich auf den Absätzen zu ihr um und lächelte. »Ist es nicht eigentlich Ihre Aufgabe, Frau Doktor, diesen Zustand zu ändern?«, fragte er spitz.
Sie lächelte feindselig zurück. »Nun, ich hatte gerade einen Durchbruch, den Sie mir durch Ihr plötzliches Auftreten verdorben haben, Detectives. Was tun Sie überhaupt hier?«
»Schon gut, Dr. Parker«, mischte Marc sich beschwichtigend ein und versuchte der gespannten Situation die Schärfe zu nehmen. Der Blick, den er Adrian zuwarf, bedeutete unmissverständlich: Reiß dich zusammen, Glover! Und halt die Klappe. »Sie haben vollkommen Recht, wir arbeiten momentan an einem ganz anderen Fall, doch auf Grund bisher nicht öffentlicher Fakten haben wir Grund zu der Vermutung, dass er eventuell in Beziehung zu Ihrer Patientin stehen könnte. Aber es ist richtig, wir hätten uns vorher anmelden sollen.«
Dr. Parker neigte ihren Kopf zur Seite und schürzte die viel zu kräftig geschminkten Lippen. »Ja, das hätten Sie«, sagte sie etwas ruhiger.
»Gibt es denn schon irgendwelche Erkenntnisse über die Frau?«, hakte Marc vorsichtig nach.
»Nein«, antwortete Dr. Parker mit Bedacht. »Nichts, abgesehen von den offensichtlichen Fakten. Wir haben keinen Namen, keine Verwandten, keine Bekannten oder Freunde. Keine Vermisstenanzeige, jedenfalls nicht, wenn man Ihrem Kollegen vor der Tür Glauben schenken kann. Weder den Ärzten, noch der Polizei, noch mir ist es bisher gelungen, zu ihr durchzudringen.«
Marc nickte verständnisvoll. »Würden Sie uns vielleicht benachrichtigen, sobald Sie etwas in Erfahrung bringen oder der Zustand Ihrer Patientin sich verbessert?«, bat er höflich.
»Wie bereits gesagt, hatte ich vorhin gehofft, dass meine Freundin ein Gespräch mit ihr aufbauen könnte«, streute sie noch einmal Salz in die Wunde, »aber so wie Sie sich ihr gegenüber verhalten haben, fürchte ich, dass diese Option nun ebenfalls wegfällt. Sie werden sich also wahrscheinlich gedulden müssen. Apathien wie diese hier verschwinden nicht von heute auf morgen. Es kann Monate, sogar Jahre dauern. Es tut mir wirklich leid, Detectives.«
Adrian stieß sich von der Wand ab, an die er sich gelehnt hatte, um sich zurückzunehmen und seinem Partner das Wort zu überlassen. »Ich frage mich nur, wie sie überhaupt auf die Idee kamen, dass eine Putzfrau Ihre Arbeit besser erledigen kann als Sie, Frau Doktor?«
Marc rollte genervt die Augen.
»Tanya ist meine Freundin«, korrigierte Dr. Parker ihn und fixierte ihn dabei mit vernichtendem Blick. »Sie wissen gar nichts über sie.«
»Sie anscheinend auch nicht«, gab Adrian zurück und hob dabei die Augenbrauen.
Ihre Kiefer mahlten, doch sie ging auf seine Provokation nicht weiter ein. Stattdessen reichte sie Marc die Hand und sagte: »Detective Williams, ich melde mich bei Ihnen, sobald ich hier in irgendeiner Weise weiterkommen sollte, aber warten Sie nicht darauf, dass die Informationen Ihren aktuellen Fall lösen könnten. Dafür werden wir einfach noch zu viel Zeit benötigen. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag und viel Kraft, damit Sie Ihren Partner ertragen können.« Damit machte sie auf dem Absatz kehrt, warf die Haare zurück und stolzierte aus dem Zimmer.
Marc seufzte. »Lass uns gehen, hier kommen wir nicht weiter«, schlug er vor.
»Warte noch einen Augenblick«, bat Adrian und musterte die junge Frau eingängig. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass sie nichts von alldem mitbekam, was um sie herum geschah. Er musste einfach einen weiteren Versuch wagen. »Miss, ich weiß, sie wollen nicht hören, was um sie herum vorgeht und wahrscheinlich kann ich nicht einmal im Ansatz erahnen, weshalb das so ist, aber wir haben heute die Leiche einer jungen Frau gefunden. Ihr fehlten zwei Finger. Einer davon war der linke Zeigefinger, genau wie bei Ihnen«, er hatte das Gefühl, dass ihre Pupillen sich kurz vergrößert hatten, als er auf die Sache mit dem Finger zu sprechen kam, doch der Moment war so kurz gewesen, dass er sich nicht sicher war, ob es nicht lediglich sein Wunschdenken gewesen war. »Können Sie mir vielleicht sagen, wie Sie Ihren Finger verloren haben?«, fragte er mit sanfter Stimme und setzte sich vorsichtig auf die Bettkante, um ihre Hand zu greifen.
Noch bevor seine Hand die ihre erreichte, brach die Frau in heftige Schreie aus undefinierbaren Lauten aus und ein mächtiges Zittern schüttelte ihren Körper. Erschrocken fuhr Adrian hoch. Sofort sprangen sämtliche Lämpchen an den Monitoren an, an welche die Frau angeschlossen war, und schrille Alarmtöne erklangen durch den Raum. Nur Sekundenbruchteile später wurde die Tür aufgerissen, eine aufgescheuchte Menge an weiß- und blaubekittelten Menschen drängte sich an dem Beamten vor der Tür vorbei und stieß Adrian und Marc unsanft zur Seite. Eine Krankenschwester im lila Dress kam mit Flaschen angerannt, eine weitere mit einem Wagen, auf dem diverse Medikamente und Instrumente lagen.
»Prima, ganz großes Kino, Glover«, fluchte Marc, während er sich an Adrians Seite aus dem Krankenzimmer drückte und schwer damit beschäftigt war, keinem auf die Füße zu treten.
Adrian musste ihm im Stillen Recht geben. Ganz großes Kino, Glover. Aber immerhin hatte er damit den Beweis erbracht, dass die Frau sehr wohl registrierte, was um sie herum geschah.
Es klopfte an die Tür.
Diese Tatsache an sich war schon seltsam, denn es klopfte niemals jemand an ihre Tür. Wer sollte sie auch besuchen? Sie hatte ja niemanden. Verwandte hatte es nie gegeben und ihre Freunde konnte sie an zwei Fingern abzählen. Was für ein Scheißvergleich.