Der Zwillingsring - Stephanie Carle - E-Book

Der Zwillingsring E-Book

Stephanie Carle

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Beschreibung

Nach dem letzten Weltkrieg ist auf der Erde nicht viel mehr übrig als ein kleiner Restkontinent, auf dem der selbst ernannte Herrscher King Lear archaische Verhältnisse wiederhergestellt hat. Dunkelhäutige Männer werden versklavt und zur Arbeit gezwungen, die Frauen im Land unterdrückt und gedemütigt. Das einzige, was seine Alleinherrschaft noch gefährden könnte, ist der mächtige Zwillingsring, der jedoch vor langer Zeit in zwei Hälften zerbrochen ist. Ringträgerin Anjella begibt sich in die Gefangenschaft der Soldaten unter Leutnant Hjundrash, um den zweiten Auserwählten zu finden, den sie unter den Sklaven vermutet. Doch aus dem anfänglichen Hass zu dem überheblichen Leutnant wächst nach und nach ein Gefühl, das Anjella nie zuvor gekannt hatte. Wird sie trotz allem das Abenteuer bestehen und den zweiten Ringträger finden, um dem Land den Frieden zu bringen?

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Seitenzahl: 175

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Der Zwillingsring

Der ZwillingsringPrologKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14

Der Zwillingsring

Die andere Zeit

Diese innerliche Zerrissenheit,

die tiefe triste Dunkelheit.

Die aufgetanen Wunden in der Seele,

welchen Weg man auch wähle.

Die Angst sich zu entscheiden,

welche Schmerzen werden bleiben?

Unweigerlich ändert sich das

Hier und Jetzt,

und weicht dem wirren Gedankennetz.

Sich das Leiden einzugestehen,

bedeutet einen Schritt weiter zu gehen.

Die Entschlossenheit seine innere Stimme zu fragen,

um nicht an der Qual zu verzagen.

An seine Überzeugungen zu glauben,

sich nicht seiner selbst zu berauben.

Auch in den schwersten aller Stunden,

sein Gewissen neu zu erkunden.

Seine inneren Werte wieder finden,

das starre Leitbild überwinden.

Den Glauben an sich selbst bewahren,

und seine Stärke neu erfahren.

Kein Falsch und kein Richtig,

nichts erweist sich als so wichtig,

als dass das eigene Selbst erkennt,

in welche andere Richtung, das Leben uns lenkt.

(Alecs Fellar)

Prolog

Romulus und Remus gründeten die Stadt Rom im April 753 vor unserer Zeitrechnung. Jetzt haben wir wieder April, nur knapp dreitausend Jahre später.

Rom gibt es nicht mehr. Nach dem letzten Weltkrieg war nichts mehr davon übrig. Eurasien gibt es nicht mehr, ebenso wenig Afrika und Australien. Was die Atombomben nicht gleich zerstörten, starb an den Folgen der Katastrophe und schließlich blieb uns nichts anderes übrig, als die alte Welt in der Tiefsee zu versenken.

Alles, was auf dieser Erde noch lebt, ist hier im ehemaligen Amerika. Ein letzter Kontinent, eine einzige zusammenhängende Landmasse; so hat es vor vielen Milliarden Jahren angefangen mit Pangaea, dem Urkontinent. Nach ihm benannten wir unser letztes verbliebenes Stück Land, unsere neue Heimat, die es eigentlich gar nicht mehr hätte geben dürfen. Gegen alle Widrigkeiten ist es uns dennoch irgendwie gelungen zu überleben und einen Neuanfang zu wagen. Doch hier in Pangaemerika ist nichts mehr wie zuvor…

Romulus und Remus hätte es eigentlich gar nicht geben dürfen. Um zu verhindern, dass in seines Bruders Familie Nachkommen entstünden, schickte Amulius Silvius seine Nichte Rhea in den Tempel, um dort Vestalin zu werden. Doch Mars, der Kriegsgott, durchkreuzte seine Pläne – so wie Kriege das immer tun. Er stieg vom Olymp herab und vergewaltigte Rhea. Schließlich gebar sie Zwillinge, die man ihr nach der Geburt entriss. Als ein Hirte einen Weidenkorb aus dem Tiber fischte, fand er darin zwei nackte Jungen und einen funkelnden Ring.

Als der Krieg vor vierzig Jahren sein blutiges Ende fand, war niemand mehr übrig außer ein paar Tausend Amerikanern, die um das nackte Überleben kämpften. Der Naturzustand hatte sich wieder eingestellt mit nur einer einzigen Regel: Der Stärkere überlebt.

Jetzt sitze ich hier am Bett meiner Tochter, meiner unschuldigen, kleinen Tochter, die nichts von all dem Elend und den Grausamkeiten, die sich zugetragen haben und die ich mitgetragen habe, ahnt. Wie sollte sie auch? Ich habe ihr nichts davon erzählt.

Wie hätte ich ihr auch sagen sollen, dass ihr Großvater das Fischen wiederentdeckte und dabei einen Ring aus dem Meer zog? Einen Ring, der in zwei Teile zerbrochen war. Und dass über diesen ein erneuter Kampf entbrannte; ein Kampf, obwohl es so nötig gewesen wäre, dass die Menschen zusammenarbeiteten. Sie hatten aus dem grauenvollen Krieg nichts dazu gelernt. Statt sich zusammenzuschließen und für ein gemeinsames Ziel zu kämpfen, teilten sich die Völker und der einzige Mann, der es mit meinem Vater hätte aufnehmen können, zog mit seiner Hälfte des Schmuckstücks und der dunkelhäutigen Bevölkerung Richtung Süden, während mein Vater sich hier im Norden zum König krönte.

Dieselbe Zwietracht, die auch Romulus und Remus kannten: Sie stritten sich um die Stadt, die sie gemeinsam gegründet hatten. So lange bis Romulus seinen Bruder erschlug. Vor seinem gewaltsamen Ende klammerte sich Remus hilfesuchend an die Kette, die sein Bruder um den Hals trug, mit dem einzigen Andenken an ihre leibliche Mutter. Während Remus fiel, zog er die Kette mit sich; sie fiel zu Boden und der ringförmige Anhänger zerbarst in zwei Teile. Was auch immer Romulus in Zukunft versuchte, der Ring ließ sich nicht mehr zusammensetzen.

Wir haben keine Autos mehr und auch keine Flugzeuge. All das ist Geschichte. Unsere Umwelt ist so belastet, dass wir selbst mit dem geringsten CO2-Ausstoß unser eigenes Todesurteil unterschreiben würden. Es gibt vereinzelt Untergrundbahnen, die auf Magnetismus und Elektrizität basieren, doch hauptsächlich im mittleren Teil Pangaemerikas – den früheren Nordstaaten der USA. Denn während mein Vater und sein Rivale in ihrer gegenseitigen Feindseligkeit gefangen waren, erhob sich unmittelbar vor ihren Augen, doch von ihrem hassgeblendeten Blick unbemerkt, ein neuer Feind, der immer größer und mächtiger wurde.

Er nennt sich King Lear, in Anlehnung an die gute alte Zeit und zu Ehren des Schriftstellers Shakespeare, der wohl einmal sehr bekannt gewesen war. Heute kennen wir seine Werke jedoch nur noch vom Hörensagen. King Lears Ziel ist es, den Zustand von Amerika wieder herzustellen, der vor dem Sezessionskrieg herrschte. Seine Vorgehensweise ist ebenso simpel wie grausam, aber effektiv. Im Grunde besteht sie aus drei Grundregeln. Erstens: Schwarze Männer werden versklavt, um billige Arbeitskräfte zu sichern. Zweitens: Schwarze Frauen werden getötet, um ihre Vermehrung zu stoppen und sie auszurotten, sobald das Land in seinem Sinne wiederaufgebaut ist. Drittens: Weiße Frauen werden unterdrückt, ihre Rechte aberkannt und unterstehen fortan gänzlich dem Willen der höheren weißen männlichen Rasse. Seine Krieger sind gut ausgebildet und sein Einflussbereich dehnt sich von Tag zu Tag weiter aus.

Und ich sehe meiner wunderschönen Tochter beim Schlafen zu. Beobachte, wie friedlich sie atmet,  wie unbesorgt sie ist. Es bricht mir das Herz zu wissen, dass ich sie vor all den Gräueln nicht beschützen kann. Im Gegenteil: Je länger ich in ihrer Nähe bin, desto größer ist die Gefahr, in der sie schwebt. Denn sie ist die Auserwählte, die Eine, der ich meine Hälfte des Zwillingsrings vermachte. Die Eine von zwei Menschen, die von King Lear gejagt werden wird bis in den Tod, denn nur die Macht des geeinten Ringes vermag die Menschheit noch zu retten und seine tyrannische Herrschaft zu stoppen. 

Der Ring ist gut versteckt, so dass niemand ihre Bestimmung erkennen und sie verraten kann. Mein kleines Mädchen. Sie war so tapfer, als ich ihr die Handfläche mit einem kurzen Schnitt auftrennte, um den Ring zu implantieren. Auch als ich die Wunde zunähte, gestattete sie sich nicht eine einzige Träne. Ich greife nach ihrer linken Hand und sehe nur noch eine feine Narbe, die sich in filigranen weißen Linien mit den Furchen im Handteller verbindet.

Sie ist einzigartig, meine Tochter, und sie besitzt Mut und Stärke; ich weiß, dass sie King Lear stürzen kann. Eines Tages, wenn sie demjenigen begegnet, der die andere Hälfte des Ringes bei sich trägt. Sie wird es schaffen; ich muss es einfach glauben. Sonst ist mein Opfer umsonst.

Sire, es wird Zeit.

Ich zucke zusammen. Mein Diener hat Recht. Höchste Zeit. Schon viel zu lange verweile ich an ihrer Seite. Warum nur fällt es mir so schwer, das Richtige zu tun? Es muss sein. Um ihretwillen.

Wenn die Ringe sich vereinen, werden die Ketten brechen und die Waffen bersten. So steht es eingraviert in dem wertvollen Schmuckstück, welches allein die Menschheit noch retten kann. Ich flüstere ihr die Worte noch einmal in ihre Träume, obwohl ich weiß, dass sie sie nie vergessen wird.

Sie wird Opfer bringen müssen, große Opfer und ich weiß nicht, ob sie daran zerbrechen wird. Doch mir bleibt einzig der Glaube an ihre Stärke. Es zählt nur, dass du am Leben bleibst, flüstere ich – mein eigenes Opfer vor Augen, ohne dich ist die Prophezeiung wertlos und die Welt verloren.

Sire!

Ich erhebe mich widerstrebend. Mein Herz ist schwer. Ein Kuss zum Abschied auf ihre zarte, weiße Stirn. Ich streiche ihr ein letztes Mal die Haare aus dem Gesicht und beginne, mich mit meinem unabwendbaren Schicksal abzufinden. Das ist nun einmal die Rolle, die ich in dem Ganzen spiele.

Leb wohl, mein Mädchen. Leb wohl, Anjella.

Kapitel 1

Die letzten Männer waren fort – und das nun schon so lange, dass keiner mehr an eine Rückkehr glaubte. Anjella hatte nie Hoffnungen gehegt; sie wusste, dass King Lears Streitmächte auch ihr Dorf eines Tages finden würden und womöglich rückte dieser Tag mit dem Untergang ihrer letzten Beschützer in greifbare Nähe. Sie wusste, dass es so kommen musste, denn – wenngleich sie kaum Erinnerungen an ihren Vater hatte – so mahnte sie der kaum durch die Hautfläche schimmernde Ring in ihrer Handfläche doch jeden Morgen an seine Worte. Das Heer würde kommen und sie mitnehmen – jede einzelne Frau, jedes einzelne Mädchen – und was sie in NeuAmerika erwartete, konnte Anjella sich nur vage vorstellen.

Doch Valessas Schmerz berührte sie zutiefst. Ihre beste Freundin hatte bis ans Ende verzweifelt daran festgehalten, dass die Männer zurückkamen. Vor allem Salmonn, der in letzter Zeit zu mehr als ‚nur ein Freund‘ für sie geworden war. Seit zwei Tagen war sie ohne Unterlass am Weinen und weder ihre drei Jahre jüngere Schwester Sarinja noch Anjella vermochten sie zu trösten.

Anjella war vor der Stadtmauer Kräutersammeln gegangen. Zwar war das eigentlich nicht nötig, weil der Boden innerhalb der Dorfgrenzen genauso fruchtbar war wie hier und eine ebensolch reichhaltige Ernte hervorbrachte, doch irgendwie fühlte Anjella sich außerhalb der kühlen, langsam in sich zusammenfallenden Steinmauern auf seltsame Weise frei.

Sie würde nie frei sein, dessen war sie sich bewusst; jeden Tag erinnerte sie die kaum wahrnehmbare Naht in ihrem Handteller mit immer neuer Grausamkeit daran. Sie würde niemals ein unbeschwertes Leben führen, denn ihre ganze Existenz stand untergeordnet zu dem großen Auftrag, den ihr Vater ihr als Erbe hinterlassen hatte. Ganz gleich welche Opfer du bringen musst, es zählt nur, dass du am Leben bleibst. Ohne dich ist die Prophezeiung wertlos und die Welt verloren.

Das Mantra hatte sich so tief in ihr Bewusstsein gegraben, dass sie ständig daran dachte. Seitdem sicher war, dass die Männer nicht zurückkehren würden, verstärkte sich dieses Wissen noch.

Anjella erhob sich seufzend. Es begann bereits zu dämmern und ewig konnte sie Valessas Verzweiflung nicht aus dem Weg gehen. Bedächtig klopfte sie sich den Staub von den Jeans und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Der Tag war nicht übermäßig heiß gewesen, ein durchschnittlicher Apriltag, aber dennoch schien sich am Himmel ein Gewitter zusammenzubrauen.

Nein – Anjella blieb wie angewurzelt stehen. Sie schluckte, während sie versuchte, die Tragweite dieser dunklen Wolke zu erahnen.

Sie kamen.

Das Feuer kündigte sie an.

Wenn sie Glück hatten, würde es bis morgen dauern, bis das Dorf angegriffen wurde. Womöglich ahnten die Soldaten nicht, dass sie ihrem Ziel bereits so nahe waren, dass ihr Feuer sie ankündigte. Oder es war ihnen schlichtweg egal, weil sie wussten, dass niemand ihnen entkam, niemand sie aufzuhalten vermochte, niemand die Mittel besaß, sich ihnen in den Weg zu stellen.

Es kostete Anjella große Überwindung, nicht einfach Richtung Wald davonzulaufen, was ihrer ersten Eingebung zufolge die einzige Rettung sein konnte. Aber das durfte sie nicht. Dieser Tag war nun einmal Teil ihrer Bestimmung und auch wenn sie sich dieser Tatsache stets bewusst gewesen war, so hatte sie doch nicht erwartet, dass er so plötzlich kommen würde.

Es war die erste Nacht, in der Anjella nicht das verzweifelte Schluchzen ihrer besten Freundin vom Schlafen abhielt, sondern ein seltsames Gefühl der Angst und Ungewissheit. Tatsächlich war Valessa ungewöhnlich schnell eingeschlafen und Sarinja war ohnehin ein Murmeltier.

Würden die Soldaten in der Nacht kommen? Oder warteten sie bis zum Morgengrauen?

Anjella befiel ein leichtes Schuldbewusstsein, weil sie die anderen nicht gewarnt hatte. Sie trugen nicht dieselbe Bürde wie sie es tat und eigentlich verdienten sie es, eine Wahl zu haben. Doch aus irgendeinem Grund vermochte Anjella nicht, eine Warnung auszusprechen. Vielleicht weil sie insgeheim die Hoffnung hegte, durch friedliche Unterwerfung die Verluste so gering wie möglich halten zu können. Immerhin waren die Dorfbewohnerinnen wie eine große Familie.

Anjella schloss die Augen. Zweifellos würde es Verluste geben. Ganz gleich wie aussichtslos die Lage war, einige Bürgerinnen würden sich nicht kampflos in ihr Schicksal ergeben. Sie würden den Tod einem Leben in Unterdrückung vorziehen.

Anjella wünschte, sie hätte auch eine Wahl.

Aber Selbstmitleid half nichts; das Schicksal hatte sie auserwählt und dagegen war sie machtlos. Ihre Wahl belief sich darauf, sich zu fügen oder zuzulassen, dass die Welt um sie herum versank.

 Irgendwann musste Anjella eingeschlafen sein, denn das aufgeregte Treiben um sie herum ließ sie hochschrecken. Valessa rüttelte wild an ihrem Arm. „Reiter“, zischte sie. „Steht auf!“

Anjella spürte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte. Mit einem Ruck war sie aus dem Bett. Und wenn sie sie erkannten? Was, wenn man es in ihrem Gesicht ablesen konnte? Ihre Augen sie verrieten? Dann war alles umsonst und ihre Freundinnen und das ganze Dorf verloren.

„Anjella, nun komm schon“, drängte Valessa und warf ihr die Kleider zu, die sie bereits am Tag zuvor getragen hatte. Ein einfaches Paar Jeans, das mittlerweile zu einer echten Rarität geworden war, weil es keine Fabriken mehr gab, die die Kleidung herstellten. Dann streifte Anjella sich hastig ein einfaches dunkelgrünes Baumwollshirt über den Kopf und zog die langen, hellbraunen Haare, die von zahlreichen rötlichen Strähnen durchzogen waren, aus dem Ausschnitt hervor, so dass sie ihr in langen Wellen über den Rücken fielen. Valessa warf ihr noch das Paar abgetragener Schuhe zu und packte dann Sarinjas Arm, um das erschrockene Mädchen aus der Hütte zu führen.

Sarinja war erst vierzehn und damit drei Jahre jünger als ihre Schwester und Anjella. Da ihre Mutter schon lange gestorben war, hatte Valessa sich immer verantwortlich für ihre kleine Schwester gefühlt. Die beiden glichen einander so sehr, dass jeder Außenstehende sie für Zwillinge gehalten hätte. Dieselben haselnussbraunen Augen, die kleine Nase, zarte und ebenmäßige Gesichtszüge und schmale Lippen. Nur das dunkle, fast schwarze Haar, welches Valessa weit über die Schultern reichte, trug Sarinja lediglich kinnlang.

„Anjella!“ Valessa war noch einmal zurückgekommen und ihre Stimme war schneidend. Das Glitzern in ihren Augen verriet ihre Panik.

Was sollten sie denn tun? Sich auf dem Hof versammeln, damit die Soldaten sie nicht erst zusammentreiben mussten?

Widerwillig erhob Anjella sich ein zweites Mal, nachdem sie sich zum Schuhebinden wieder auf die Bettkante gesetzt hatte.

„Das ganze Dorf ist in Aufruhr“, erklärte Valessa. „Einige sind schon weg, wir müssen uns beeilen.“

Weg? Glaubten sie tatsächlich, dass sie King Lears Häschern entkommen konnten? Niemals. Keiner war ihnen je entkommen. Jedenfalls gab es keine Berichte über Geflohene. „Wo willst du denn hin?“, fragte Anjella.

Valessa blickte sie entgeistert an. „Weg natürlich. In den Wald,  uns verstecken, ganz egal, Hauptsache weit weg von den Soldaten.“

Anjella schüttelte ungläubig den Kopf. „Du denkst nicht im Ernst, dass wir vor ihnen fliehen können…“

„Würdest du nicht so viel Zeit verschwenden, wären wir schon längst fort!“

Valessa meinte es ernst und Anjella war klar, dass ihr daran gelegen war, unter allen Umständen ihre Schwester zu beschützen. Aber wenn sie davonliefen, würden die Soldaten sie mit Sicherheit töten.

Noch bevor Anjella diesen Gedanken weiterverfolgen konnte, wurde der Lärm draußen lauter und mit bleichem Gesicht stand Sarinja in der Tür. „Sie kommen von allen Seiten“, berichtete sie atemlos. „Diejenigen, die geflohen sind, treiben sie vor sich her wie Vieh. Wir werden alle sterben!“ Ihre Stimme überschlug sich und Valessa eilte zu dem schluchzenden Mädchen, um es tröstend in die Arme zu schließen.

„Wir werden ihnen keinen Grund geben uns zu töten“, sagte Anjella. „Folgt einfach ihren Anweisungen, dann werden sie uns nichts tun.“ Sie wusste nicht, ob das stimmte, aber ihre Worte schienen Sarinja ein wenig zu beruhigen.

„Alle Bewohner dieses Dorfes haben unverzüglich ihre Hütten zu verlassen und sich auf dem großen Platz einzufinden!“

Die Stimme, die laut und irgendwie blechern von draußen hereindröhnte, ließ keinen Widerspruch gelten. „Wer sich nicht zeigt, wird mit seinem Haus verbrennen.“

Sarinja weinte erneut. „Ich habe Angst“, wimmerte sie.

Valessa schob sie sanft aus der Tür hinaus. „Ich werde dich beschützen, das weißt du doch. Wir machen es wie Anjella gesagt hat. Wir sind gehorsam und bleiben unauffällig, dann werden sie uns am Leben lassen.“

Anjella schloss die Augen und sandte ein kurzes Stoßgebet zum Himmel. Sie konnte nur hoffen, dass ihr Vorschlag wirklich den gewünschten Erfolg erzielte.

Die frühmorgendliche Aprilsonne stand so ungeschickt über den Hausdächern, dass Anjella zunächst schützend die Hand an die Stirn legen musste, um die blendenden Strahlen abzuschirmen. Nachdem ihre Augen sich an die Helligkeit gewöhnt hatten, nahm Anjella die Reiter wahr, deren Zahl sie spontan auf etwa dreißig schätzte. Während sie langsam hinter Valessa zur Mitte des Platzes ging, wo sich bereits ein großer Pulk Bewohnerinnen versammelt hatte, versuchte sie die Lage zu überschauen.

Ein dunkelhaariger Mann saß aufrecht und mit wachem Blick auf einem stattlichen Schimmel, dessen Mähne in prächtiger Weise geflochten und mit allerlei Schmuck verziert war. Dieser Mann hatte das Sagen, er musste der Anführer sein, denn während die übrigen Reiter damit beschäftigt waren, die Menschen zusammenzuhalten und Flüchtige zurückzutreiben, machte der Dunkle sich seine Hände nicht schmutzig. Er überblickte die Szenerie von oben herab.

Dann ergriff ein anderer das Wort und zog damit Anjellas Aufmerksamkeit auf sich. Sie erkannte an seiner Stimme denjenigen, der zuvor die Forderung ausgesprochen hatte, alle mögen sich unverzüglich hier versammeln. Sie machte seine Person als hochgewachsenen Mann aus, ein schlanker, junger Reiter von stattlicher Figur. Die blonden Haare trug er sehr kurz und der stoppelige Dreitagebart verlieh seinem Aussehen etwas Verwegenes. Unwillkürlich wandte Anjella sich ab.

„Alle knien sich in einer Reihe nebeneinander und senken ihren Blick“, befahl er und diesmal klang seine Stimme nicht so blechern.

„Ich habe Angst“, weinte Sarinja von Neuem und Valessa strich ihr zärtlich über den Arm. Dann lotste sie ihre Schwester zu der Stelle, an welcher die ersten Frauen dem Befehl Folge leisteten, und drückte sie sanft zu Boden.

Anjella tat es ihnen gleich. Das Wichtigste war es jetzt, nicht aufzufallen, keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, stillhalten.

Vom anderen Ende der Schlange hört Anjella wütende Stimmen. Ein Tumult machte sich breit, sofort waren Soldaten zur Stelle und ihre Pferde scharrten unruhig mit den Hufen. Anjella schloss die Augen. Sie hatten doch bereits verloren, was versprachen die Frauen sich von ihrer Weigerung?

Es bedurfte nur zweier Schüsse, vereinzelte kurze Schreie und jeglicher Ungehorsam war gebrochen. Neben sich spürte Anjella das Zittern der weinenden Sarinja, die verzweifelt versuchte, ihre Tränen und ihre Angst in den Griff zu bekommen. Anjella zwang sich, tief einzuatmen, bevor sie die Augen wieder öffnete. Auf der anderen Seite schleppten zwei vom Pferd abgestiegene Soldaten die Leichen der Aufrührerinnen unter den entsetzten Blicken der Knienden beiseite und warfen sie dann achtlos in einen Hauseingang.

„Möchte noch jemand den Helden spielen?“, fragte der Blonde und Anjella entging das fiese Grinsen des Dunklen auf dem weißen Pferd nicht. Die beiden waren ein eingespieltes Team.

Nachdem keine der noch Übrigen denselben Fehler begehen wollte, sprang der Blonde von seinem Pferd und lief langsam die Reihe der knienden Frauen ab, während er hin und wieder ein wenig länger an einer Stelle verweilte und die ein oder andere am Kinn packte, um ihr ins Gesicht zu sehen.

Anjella spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach. Ihre Handflächen waren sofort tropfnass. Sie ballte die Fäuste an ihren Seiten und zwang sich zur Ruhe. Nicht auffallen! Gib ihnen keinen Grund, dich näher zu beobachten!

„Eigentlich suchen wir nur die Auserwählte“, begann der Mann mit den klugen, blauen Augen, während er weiterging und immer näher in ihr Blickfeld kam. „Ich bin sicher, ihr habt von ihr gehört. Die Prinzessin aus dem Nordland. Ist sie hier?“ Er blieb vor Magride stehen, die kaum zwei Jahre älter war als Anjella, und zwang ihr Gesicht nach oben. „Wie heißt du?“

„M… Magride“, stammelte die junge Frau.

„Magride, Sir!“, verbesserte der Soldat sie streng.

Magrides Unterkiefer zitterte. Lediglich fünf Frauen trennten sie von Anjella. „Sir“, wisperte sie, gefolgt von einem Schluchzen.

„Nun, Magride, wenn ich dir sage, dass ich dich verschonen werde, wenn du mir sagst, wer von deinen Freundinnen hier die ist, die ich suche“, begann er langsam und stellte sicher, dass sie ihn verstand. „Was würdest du sagen?“

Magride zog geräuschvoll die Nase hoch. „Diese Frau ist nicht hier“, sagte sie dann mit bebender Stimme und fügte ein ersticktes „Sir“ hinzu.

Egal wie viele Frauen er direkt ansprach, keine würde ihm die Person seiner Begierde zeigen. Anjella hatte viele Jahre unter diesen Menschen gelebt, doch niemandem, nicht einmal Valessa hatte sie ihre wahre Identität offenbart. Es war zu deren eigenem Schutz. Und zu ihrem.

„So, so“, sagte der Mann vielsagend, ließ aber von ihrem Kinn ab. Er ging ein paar Schritte weiter und als er erneut zum Sprechen ansetzte war seine Stimme so unglaublich nah, dass Anjella glaubte, er hätte ihr mit diesen wachen Augen direkt in die Seele geblickt. „Vielleicht bist du ja die Auserwählte“, sagte er und es dauerte einige Augenblicke bis Anjella realisierte, dass er mit Sarinja sprach.

Sarinja versteifte sich, schüttelte dann heftig den Kopf und brach in jämmerliches Weinen aus.

„Bitte Sir“, meldete Valessa sich sofort zu Wort. „Sie ist meine Schwester und weder eine Prinzessin, noch die Auserwählte. Sie hat einfach nur große Angst.“

Sein Blick flog in Valessas Richtung und Anjella vermochte nicht zu sagen, ob der Ausdruck auf seinem Gesicht Ärger oder Achtung war.

„Sir, ich schwöre Euch, es gibt hier keine Prinzessin. Wir sind allesamt einfache Bürgerinnen“, setzte Valessa beharrlich ihre Rede fort.

Anjella bewunderte ihren unerschütterlichen Mut, für ihre Schwester einzustehen ohne den geringsten Gedanken daran zu verschwenden, welche Konsequenzen ihre Unverfrorenheit für sie selbst nach sich ziehen könnte.

Eine Weile angespannten Wartens folgte. Quälend lange Augenblicke, in denen der Blonde anscheinend abwog, ob er Valessas Worten Glauben schenken oder sie für ihre dreiste Respektlosigkeit bestrafen sollte. Schließlich wandte der Krieger sich ab und schritt wortlos in Richtung seines Pferdes zurück.

Er kam etwa zwanzig Schritte weit. Dann meldete der Hauptmann auf dem stolzen Schimmel sich zu Wort. „Diese Lüge lässt du dir auftischen?“

Der Blonde blieb abrupt stehen und in seinem Gesicht war Überraschung zu lesen. Offenbar erntete er nur selten Kritik von seinem Vorgesetzten. Jedenfalls interpretierte Anjella seine Reaktion so. „Sie ist nur ein Kind“, sagte er ernst mit einem Kopfnicken zu Sarinja, deren zarter Körper auch in der Obhut der schützenden Umarmung ihrer Schwester noch immer von Schluchzen geschüttelt wurde. „Sie kann es unmöglich sein.“

Der Anführer grinste und wirkte dabei äußerst verschlagen. „Sie soll es beweisen“, forderte er und fixierte den Blonden.

„Ich glaube ihr“, entgegnete der sachlich. „Die Kleine ist zu jung, um die Auserwählte sein zu können.“