Über die Toten nur Gutes - Stephanie Carle - E-Book

Über die Toten nur Gutes E-Book

Stephanie Carle

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Beschreibung

In Shreveport, Louisiana, verübt ein Unbekannter Morde in den höchsten Kreisen. Dabei genügt es ihm nicht, seine Opfer einfach zu töten; die Leichen weisen Merkmale grausamer Folter auf. Zunächst scheinen die Getöteten wahllos ausgesucht, doch Detective Marc Williams glaubt nicht an solche Zufälle. Verzweifelt sucht er mit dem Team unter der Leitung von Captain Harper nach einem Zusammenhang - und nach dem Täter. Gerichtsmedizinerin Lynne Cooper besitzt Informationen, mit denen sie der Polizei bei der Lösung des Falls helfen könnte. Bleibt nur die Frage, ob sie das auch möchte... Die Fortsetzung zum ersten Shreveport-Thriller "Für Samantha" entführt seine LeserInnen in die düsteren Abgründe der High Society und in die Welt von Lynne Cooper und Marc Williams.

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Seitenzahl: 356

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Über die Toten nur Gutes

Über die Toten nur GutesPrologKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Epilog

Über die Toten nur Gutes

Für K. E. F.

Life isn’t about

waiting

for the storm to pass;

it’s about

learning

how to dance in the rain.

Prolog

Plötzlich war er gar nicht mehr so taff, der Mann, der eine Wahl um die nächste gewann und sich mit seinem spitzbübischen Lachen und den charmanten Witzen bei jeder Politshow in die Herzen der Einwohner des ‚Pelican State‘ schlich. ‚Pelican‘ wegen des langschnabeligen Wappenvogels, nicht wegen dieses vermeintlichen Spitzenpolitikers, der mit wild rudernden Armen eher einem sterbenden Schwan glich. In gewisser Hinsicht war er das auch.

„Was wollen Sie, um Himmels Willen?“, fragte er und die Panik stand ihm offen ins Gesicht geschrieben. Er beobachtete voll Genugtuung, wie der Mann, der durch das großzügige Auftragen von Haargel versuchte, seine fortschreitenden Geheimratsecken zu verstecken, nervös nach seinen Bodyguards Ausschau hielt. Nur leider würden die ihm nicht mehr zu Hilfe kommen. Einer von ihnen lag tot in der Hecke neben der Eingangstür, der andere neben dem Spülbecken in der Küche. Es ging doch nichts über das üppig angelegte und weit gedehnte Privatgelände eines reichen Politikers. Keine Nachbarn, die irgendeinen Verdacht schöpfen könnten. Die übrigen Sicherheitsleute hatten seine Frau und den Jungen in die Stadt begleitet. „Wollen Sie Geld?“, fragte der Mann und dunkle Flecken unter seinen Armen zeugten von seiner Aufregung.

„Ich will, dass du dich erinnerst“, sagte er ruhig.

„Wie bitte?“ Der Politiker war in dieser privaten Unterhaltung nicht sehr redegewandt. „Ich verstehe nicht…“

Er drückte ab. Es nervte ihn. Der Kerl wollte sich nicht erinnern? Was für ein Arschloch.

Der aus dem Fernsehen als überlegen bekannte und dafür geliebte Mann schrie auf und knickte ein. Seine Hände umfassten die Wunde am Knie, aus der nun unaufhörlich Blut floss. „Sind Sie wahnsinnig, Mann? Wissen Sie, was Sie da tun? Dafür wandern Sie in den Todestrakt!“

Er schoss noch einmal. Wozu hatte der Kerl schließlich zwei Knie?

„Ahhh.“ Prince Charming schrie wie ein kleines Mädchen. Außerdem hatte er nun – im wahrsten Sinne des Wortes – alle Hände voll zu tun, die Einschussstellen abzudecken. Wenigstens hielt er seine vorlaute Klappe.

„So fühlt es sich an, das Opfer zu sein“, erklärte er ruhig und ging einen Schritt näher an den am Boden kauernden Mann heran. Er musste sogar in die Hocke gehen, um seine Aufmerksamkeit zurückzuerlangen. Das Gesicht des gutaussehenden, sonst so mächtigen Mannes war schmerzverzerrt. Schweißperlen tropften ihm von der Stirn. Nein – nicht nur, er heulte. Er heulte tatsächlich. Das trieb nun doch ein kleines Lächeln auf sein Gesicht. „Woran denkst du, wenn du das Wort ‚Opfer‘ hörst“, fuhr er fort.

„Leck mich, Mann!“

Der Kerl war nicht nur von sich eingenommen, er war auch noch frech. Aber das würde sich noch ändern. Langsam holte er ein großes Fleischermesser aus dem Rucksack, den er bei sich trug. „Damit werde ich dich von deinem Lieblingsspielzeug befreien. Vielleicht hilft das deinem Erinnerungsvermögen auf die Sprünge.“

Prince Charming erbleichte. Schockiert schüttelte er den Kopf. „Nein… Bitte. Großer Gott. Ich mache alles, was Sie von mir verlangen. Nehmen Sie alles, was da ist und verschwinden Sie. Bitte, ich werde sagen, es war ein Unfall…“

Er versetzte ihm einen Schlag mit dem Pistolenlauf. „Hör auf Schwachsinn zu labern und erzähl mir stattdessen, was ich von dir hören will.“ Mit seinem Finger strich er zärtlich über die Klinge des Messers. „Je nachdem, wie gut mir deine Entschuldigung gefällt, werde ich dir die Eier vor oder nach deinem Tod abschneiden.“

„Ich habe die Schlampe nicht vergewaltigt! Das können Sie im Protokoll nachlesen. Ich wurde freigesprochen, weil ich zu Unrecht beschuldigt wurde.“

Das war nicht die Antwort, die er hören wollte. „Ich weiß, was im Protokoll steht“, erklärte er mit leicht genervtem Unterton, den er nicht länger unterdrücken konnte. Dieser Scheißtyp war wirklich das Letzte und seine Geduld mehr als am Ende. Zur Unterstreichung, dass er es tatsächlich ernst meinte, was Prince durchaus ‚charming‘, aber auch allem Anschein nach ‚schwer von Begriff‘ nicht verstehen wollte, schoss er ihm auch noch in die rechte Schulter. Die Pistole gab ja genug her.

Jetzt jammerte der einflussreiche Politiker, als er sich über ihn beugte, um ihn seines Gürtels zu entledigen und die Hose aufzuknöpfen. Snoopy-Shorts. War das sein Ernst? Großer Gott, er konnte nur hoffen, dass die Medien vor der Polizei hier ankämen. Das würde das Foto des Jahrhunderts. Auf sämtlichen Titelseiten unter der Überschrift: ‚Prince Charming ist auf den Hund gekommen‘. Oder so ähnlich. Wahrscheinlich würde sich diese Klatschspalte besser verkaufen als die Sache mit dem bedauerlichen Ableben des Politikers. „Bitte, Sir! Ich habe Frau und Kind!“

Sir! „Das hat sie nicht und es ist deine Schuld, dass es so ist“, erwiderte er ungerührt. „Außerdem sind die besser dran ohne dich. Also, willst du nun deine Tat bereuen und ohne weitere Schmerzen sterben oder entscheidest du dich für den harten Weg der Qualen?“

Prince Charming schluckte. „Ich bereue es. Es tut mir leid. Bitte, lassen Sie mich leben!“

Er trat ihm gegen das Knie, so dass er aufheulte. „Nach dem letzten habe ich dich nicht gefragt! Bekennst du dich also für schuldig?“

„Ja“, schluchzte der Politiker. „Ja, für alles, was Sie wollen!“

„Schön. Nur leider wird sie das niemals hören. Jetzt überlege ich mir nur noch, ob mir der harte oder der einfache Weg für dich als passender erscheinen. Hm, lass mich mal nachsehen“, er blickte demonstrativ auf seine Armbanduhr, obwohl ihm die Antwort bereits klar war. Er hatte gewusst, dass es ihm eine Art Befriedigung verschaffen würde, den straflos davongekommenen Täter zur Strecke zu bringen, aber nie hatte er gedacht, dass es ihm eine derartige Genugtuung und Freude bereiten würde, diesen leiden zu sehen. „Ach, sei’s drum“, er zuckte die Schultern. „Ich habe noch etwas Zeit.“

Kapitel 1

Kapitel 1

Sonntag, 18. Oktober, 7.30 Uhr

Lynne war in Eile. Hastig band sie die noch feuchten Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen, bei dem einige Strähnen an den Seiten herausfielen. Zum Föhnen war keine Zeit mehr. Du bist einfach zu gutmütig, wies sie sich selbst zurecht. Als ob du unter der Woche nicht schon genug Arbeit hättest! Aber Nigel war ein alter Freund und während ihrer Assistenzzeit in der Kinderklinik immer für sie da gewesen. „Alle sind krank, Lynne. Ich halte hier alleine die Stellung. Morgen ist Sonntag, du weißt, wie es da in der Notfallambulanz zugeht. Ich könnte wirklich deine Unterstützung gebrauchen.“

Also hatte sie eingewilligt. Es gab ja keinen, den es störte, wenn auch ihr Wochenende dem Beruf geopfert wurde und in der Gerichtsmedizin war zwar immer etwas zu tun, doch der Stress hielt sich zurzeit in Grenzen. Hauptsächlich hatte sie die letzten Monate damit zugebracht, ausstehende Fälle abzuschließen und sie in schriftlichen Berichten festzuhalten.

Während sie noch einen eiligen Schluck von ihrem mittlerweile kalt gewordenen Kaffee nahm, zog Lynne sich im Hinausgehen ihren Mantel über und die knallpinke Wollmütze auf den Kopf. Zugegeben, so kalt war es noch nicht, aber mit frisch gewaschenen Haaren fröstelte sie um diese frühe Uhrzeit doch. Na prima, es regnet. Das perfekte Erkältungswetter. Noch mehr ‚Notfälle‘…

Lynne schlug ihren Kragen hoch und rannte zu ihrem silbernen Chevrolet Malibu. Das war ein gewisser Vorteil an ihrem Sieben-Tage-die-Woche-Job: Das Auto gehörte vollkommen ihr; keiner Bank, keinem Finanzunternehmen oder sonstigem Geldverleiher. Ebenso wie die behagliche Penthousewohnung in der Babylon Street, die doppelt so groß war wie das Häuschen, in welchem sie mit ihren Eltern gelebt hatte. Bis zum Sutton Children’s Medical Center am St. Mary Place waren es knapp fünf Meilen und bei der morgendlichen Verkehrslage in dieser Stadt würde Lynne dafür fast zwanzig Minuten brauchen.

Sonntag, 18. Oktober, 8.00 Uhr

Schlag acht Uhr passierte sie die sich automatisch öffnenden Glastüren des Kinderkrankenhauses und war keine zehn Minuten später in die freundlich hellblaue Ärztekluft gestiegen.

„Man könnte meinen, diese Kleider seien extra für dich entworfen worden. Die Farbe spiegelt exakt den Himmel in deinen Augen wieder.“

Lynne musste unweigerlich lächeln. „Alter Charmeur! Das sagst du doch nur, weil ich dir mal wieder deinen alten Hintern rette“, erwiderte sie neckend und umarmte Nigel zur Begrüßung.

„Ach Lynnie, du kennst mich einfach zu gut.“ Der grauhaarige Mann zwinkerte ihr zu und richtete sein Stethoskop neu, das von der Umarmung anscheinend ein wenig von seinem Platz verrutscht war. Nigel war ein äußerst pingeliger Mensch, was seine Doktorangewohnheiten betraf. „Eigentlich wäre es die Aufgabe eines jungen, attraktiven…“, er suchte nach dem passenden Wort, „Chirurgen, so etwas zu dir zu sagen. Oder nein – lass es lieber einen Anästhesisten sein.“

„Du meinst ein Drogenabhängiger ist besser als ein Alkoholiker?“, fragte Lynne scherzhaft.

Nigel seufzte. „Ich sage dir, Mädchen, wir Kinderärzte sind die einzigen rechtschaffenen Menschen auf diesem Planeten.“

„Ich bin Rechtsmedizinerin.“

„Ach was“, Nigel winkte ab. „Deine Ausbildung hast du hier zur Kinderärztin gemacht. Das Leichenauseinanderschnippeln kam erst später dazu. Im Grunde deines Herzens bist du dem anständigen Beruf immer treu geblieben. Was denkst du, warum du heute wieder hier bist?“

„Weil ich dir aus der Patsche helfe, du alter Besserwisser!“, erklärte Lynne und warf ein paar Untersuchungshandschuhe nach ihm. Wäre Nigel ihr Vater gewesen, dann wäre wohl vieles besser gewesen. „Komm schon, was hast du für mich?“

„Die Notfallambulanz“, sagte Nigel ohne Umschweife. „Ich habe zurzeit zwei Problemkinder auf Station. Leukämie und Dialyse. Ich hoffe heute noch auf eine neue Niere. Und auf eine Knochenmarkspende.“

„Beides an einem Tag? Du bist entweder vollkommen verrückt oder immer noch viel zu idealistisch.“

„Wie ich bereits sagte: Die letzten rechtschaffenen Menschen, Lynnie.“ Mit diesen Worten verließ er den Umkleideraum, um sich an die Arbeit zu machen.

Lynne seufzte. Sie selbst hatte damals genau aus dem Grund eine andere medizinische Richtung eingeschlagen. Eltern sagen zu müssen, dass ihr Kind die Krankheit nicht überleben wird, war einfach zu belastend. Oder das Wissen, misshandelte Kinder wieder in die Obhut der Menschen geben zu müssen, die ihnen diese grauenvollen Dinge überhaupt erst angetan hatten.

Die sonntägliche Notfallambulanz war da vorteilhafter. Wenn die Sache wirklich todernst war, dann konnte sie die Kinder mitsamt ihren Eltern in den OP schicken und damit auf Station und in andere ärztliche Hände überweisen.  In den übrigen, glücklicherweise zahlreicheren Fällen von Löchern in Köpfen, hohen Fieberattacken oder plötzlicher Erkältungssymptome, war man als Notfallarzt meistens der Held des Tages.

In dieser Überzeugung raffte Lynne sich auf. Sie grüßte die Schwester am Empfang, die seit eh und je dasselbe lustige gelbe Shirt mit der aufgedruckten Ente in Doktoruniform trug und wie eh und je freundlich und viel zu laut „Guten Morgen, Dr. Cooper“ quäkte, als sei das Bild auf ihrem Oberteil eine Fotografie ihrer selbst. Lynne grüßte ebenso freundlich, nur mit gedämpfterer Stimme zurück und verzog sich schnell in das Behandlungszimmer. Ein Blick in den Warteraum hatte ihr gezeigt, dass noch keine Patientin gekommen waren, insofern war es entweder eine ruhige Nacht gewesen oder der zuständige Kollege hatte gute und effektive Arbeit geleistet.

Lynne war froh, ihre Unterlagen mitgebracht zu haben. Auf diese Weise konnte sie wenigstens noch einen Teil ihrer eigentlichen Arbeit erledigen, so dass sie in der kommenden Woche nicht wieder jeden Tag bis spät abends in der Rechtsmedizin festsaß. Wobei… zu Hause wartete ja keiner auf sie.

Sonntag, 18. Oktober, 12.30 Uhr

Der Vormittag gestaltete sich als weitaus stressiger als angenommen und bis zur Mittagszeit war Lynne keine Akte weit gekommen. Ständig waren neue Elternteile mit ihren kleinen Patienten eingetroffen und Lynne war nur mit Abhören und Rezepteschreiben beschäftigt.

Als sie gerade die Tür öffnete, um sich einen kleinen „Sonntagsimbiss“, eine von Woche zu Woche wechselnde Spezialität aus der Cafeteria zu besorgen – dem einzigen Ort, den sie in ihrem neuen Job vermisste – stand schon wieder ein Vater mit seinen zwei blassen Jungs am Anmeldetresen. Der Größere der beiden hustete beinahe keuchend, während der Kleinere, der auf dem Arm des Vaters saß, stumm vor sich hin fröstelte.

Lynne verdrehte genervt die Augen. Da geht sie hin, meine Mittagspause. Den Sonntagsimbiss gab es leider nur bis um eins. Vielleicht hätten die Jungs es auch überstanden, eine halbe Stunde im Wartezimmer auf ihre Behandlung zu warten, doch irgendwo besaß Lynne eine selbstzerstörerische Ader und deshalb schloss sie die Tür wieder und gab der durch die Seitentür eintretenden ‚Entenschwester‘ Bescheid, dass sie die Patienten hereinbitten konnte.

Leider bevor sie sich die auf den Akten vermerkten Namen angesehen hatte und als die Aufgerufenen hereintraten, traf Lynne beinahe der Schlag.

Glücklicherweise schien es ihrem Gegenüber genauso zu ergehen.

„Dean, was machst du denn hier?“, stotterte Lynne.

Der Angesprochene lächelte freundlich und um den Mund bildeten sich dabei vereinzelte Fältchen. „Dasselbe könnte ich dich fragen. Ich wusste nicht, dass du Kinderärztin bist…“

„Bin ich nicht“, sprudelte es aus Lynne heraus und sie biss sich sofort auf die Lippen. Scheiße, was redest du denn da? Natürlich bist du Kinderärztin!

Der Mann mit den rötlichen Haaren zog die Brauen hoch. Mit dem Daumen zeigte er in Richtung Tür. „Aber… das ist doch die Kinder-Notfallambulanz, oder? Man hat mich hier hereingeschickt.“

„Ja, das ist auch richtig“, erklärte Lynne und spürte, wie ihre Hände feucht wurden. Wie lange hatte sie ihn nicht mehr gesehen? Zwölf Jahre? Sie war damals sechzehn gewesen. „Ich helfe hier aus.“

„Aber du bist schon Ärztin?“, rückversicherte er sich mit fragendem Blick.

Lynne senkte verschämt ihren Blick. „Ja. Zumindest steht auf meinem Schild ‚Lynne Cooper M.D.‘“

Er lachte. Herzhaft. Ehrlich. „Wow. Das ist toll. Es freut mich, dass es dir gut geht.“

„Ja“, sagte Lynne gedehnt und nickte dann zu dem kleineren Jungen. „Er sieht dir sehr ähnlich.“

„Ja, nicht wahr? Aber der Große ist das Abbild von Jennifer.“ Er plauderte wie alte Bekannte das für gewöhnlich taten. Nur, dass sie eben mehr als nur Bekannte gewesen waren.

„Was fehlt ihnen denn?“, fragte Lynne und versuchte, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.

„Ich hoffe, das kannst du uns sagen. Sie haben Schüttelfrost und husten beide.“

„Fieber?“

Dean nickte. „Ja. Mein kleiner Clark noch höher als sein Bruder.“

Lynne begann mit der Routineuntersuchung, hörte die Jungen ab und schaute ihnen in Mund und Ohren. „Ich dachte, du lebst jetzt in…“, sie stockte. Sie wusste es nicht. Hatte es nie erfahren.

„…Europa?“, vollendete er ihren nicht zu Ende gesprochenen Satz.

„Ja.“

Er schüttelte bedauernd den Kopf. „Nein. Ich bin so weit gereist, um auf einem fernen Kontinent zu studieren, und schließlich habe ich dort doch nur eines gefunden: Eine Frau aus Amerika.“ Er lachte, während vor seinem inneren Auge die Erinnerungen noch einmal als Film abzulaufen schienen. „Naja. Sie kommt aus New Orleans, ist das nicht total komisch? Jetzt bin ich also wieder hier gelandet. Im guten, alten Shreveport.“

Sehr komisch. Wirklich. Verzeih, wenn ich nicht vor lauter Komik einen Lachanfall bekomme. Lynne schluckte einen bissigen Kommentar hinunter und konzentrierte sich darauf, den Plastikaufsatz auf das Fieberthermometer zu stecken. Sie stellte sich dabei äußerst ungeschickt an. Momentan war ihr eher nach Heulkrampf zumute.

„Und du? Hast du hier Medizin studiert?“, erkundigte er sich mit ehrlichem Interesse.

Lynne schüttelte den Kopf. „Chicago“, presste sie hervor. Du bist verheiratet? Du hast Kinder? Du bist glücklich?

„Wow“, sagte er anerkennend. „Und am Ende zieht es einen doch immer wieder hierher zurück, nicht wahr? Dein… Mann?“

Wieder schüttelte sie den Kopf. „Meine Arbeit“, verbesserte sie ihn, noch immer kurz angebunden, um nicht zu viel von ihr zu offenbaren. Er brauchte nicht zu wissen, dass sie ihm viele Jahre lang hinterhergetrauert hatte. Ihm war es offensichtlich anders ergangen.

„Und, was fehlt meinen Mäusen?“, fragte er nach einer schweigsamen Pause.

„Es ist gut, dass du hergekommen bist. Der Kleine steht kurz vor einer Lungenentzündung. Ich schreibe ihm etwas auf, aber du solltest morgen trotzdem gleich zu eurem Kinderarzt gehen. Er muss Clarks Zustand kontrollieren. Wenn es schlimmer wird, sollte er in ein Krankenhaus kommen.“

„So schlimm?“ Dean rutschte unsicher auf seinem Stuhl herum.

„Wahrscheinlich ist es morgen schon viel besser“, versuchte Lynne ihn zu beruhigen. „Wenn die Medikamente anschlagen, ist die Sache in wenigen Tagen ausgestanden. Louis benötigt kein Antibiotikum. Ich verschreibe ihm etwas Homöopathisches. Es wäre mir aber trotzdem recht, wenn dein Hausarzt sich auch ihn noch einmal anschaut.“

„Danke“, sagte Dean und nahm die zwei rosafarbenen Rezeptblätter entgegen. Kurz vor dem Hinaustreten hielt er inne und drehte sich noch einmal zu ihr um. „Hey, jetzt wo wir beide wieder hier sind, könntest du uns doch mal besuchen. Ich würde mich sehr freuen. Wir wohnen im Aspen Circle…“

„Ich weiß“, würgte Lynne ihn schnell ab und zeigte erklärend auf die vor ihr liegende Akte. „Ich überlege es mir.“

Kapitel 2

Kapitel 2

Montag, 19. Oktober, 3.30 Uhr

„Scheiße Mann, weißt du überhaupt, wie spät es ist?“, Adrians Stimme klang durch das Telefon äußerst müde und gequält.

„Schaff deinen Arsch aus dem Bett, Glover, gib deiner Liebsten einen Kuss und werf dich in Schale. Ich bin in zehn Minuten bei dir“, sagte Marc und lenkte seinen Wagen auf die um diese Uhrzeit menschenleere Straße. Von Sonntag auf Montag war wahrscheinlich die einzige Nacht, in der die Stadt wirklich schlief. Entweder die Bewohner waren so müde vom durchfeierten Wochenendpartygetöse oder sie wollten für den beginnenden Arbeitsalltag ausgeschlafen sein. Marc konnte das nur Recht sein. Captain Harper hatte am Telefon alles andere als geduldig gewirkt. Ein Mord in der High Society von Shreveport war nicht gerade eine wünschenswerte Sache und keine gute Publicity, gerade jetzt, wo die Wahlen bevorstanden. Öffentliche Drohungen gegen Politiker waren da an der Tagesordnung, doch hier ging es um einen toten Politiker und das war ein himmelgroßer Unterschied.

„Nur weil du froh bist, Carlas Betttyrannei zu entkommen, heißt das nicht, dass jeder mitten in der Nacht abhauen will“, grummelte Adrian, klang aber deutlich wacher. „Ich meine, es gibt Menschen, die haben tolle Beziehungen, einen tollen Partner und wirklich tollen Sex…“

„Ja, ja, bla, bla. Wie gesagt, zehn Minuten für dich, Sexgott.“ Marc drückte den Anruf weg. „Telefonieren am Steuer führt zu grober Unaufmerksamkeit und dem erhöhten Risiko eines Unfalls“, so lautete die offizielle Begründung für das Zwanzig-Dollar-Knöllchen, das man sich einhandelte, wenn man dabei erwischt wurde. Eine Lappalie im Vergleich zu der Schimpftirade, die er sich von seiner Verlobten Carla anhören musste. Irgendwie hatte Marc das Gefühl, er liebte das Telefonieren während der Autofahrt gerade deshalb so sehr, weil Carla es verabscheute. Er liebte auch seine blondierten Rasta nur aus diesem einen Grund und wenn er ehrlich war, rasierte er sich auch nur deswegen jeden Morgen. Insgeheim fände er sich mit einem verwegenen Dreitagebart auch viel sexier.

Und seit sein bester Freund und Partner nun seit geraumer Zeit der Liebe seines Lebens begegnet war und die wunderhübsche Samantha mit dem unleugbar sexy Hintern bei ihm eingezogen war, verstärkten sich Marcs Zweifel nur noch. Nicht, dass er Adrian das Glück nicht gönnte, im Gegenteil; er und Samantha waren das glücklichste Paar, dem er je begegnet war und sie waren wie füreinander geschaffen. Nur jetzt, da er diesen glücklichen, strahlenden, zufriedenen, ausgeglichenen Adrian jeden Tag ertragen musste, führte ihm diese Tatsache immer mehr vor Augen, was seiner Beziehung zu Carla fehlte. Leider ein bisschen zu spät, Detective Williams!, beendete er seinen Gedankengang. Du musstest ihr ja einen Antrag machen.

Adrian verströmte den Duft von herbem Duschgel mit einer leicht sinnlichen Note, nach der bald der ganze Wagen roch. „Hätte ich gewusst, dass du in Parfum badest, hätte ich dir ein paar Minuten mehr Zeit gegeben, damit du besser unter die Dusche springen kannst“, beschwerte sich Marc und begrüßte innerlich die mittlerweile zur Gewohnheit gewordene schlechte Laune über seinen aufblühenden Partner. Das Schlimme war, dass Adrian genau wusste, wo der Schuh ihn drückte und ihm schon sein halbes Leben vorbetete, dass Carla nicht die Richtige für ihn war und er den Absprung schaffen sollte, solange es noch möglich war. Vielleicht hätte Marc einmal auf ihn hören sollen. Jetzt war es zu spät.

„Du bist ja mal wieder bestens gelaunt“, stellte Adrian fest und band sich die Schuhe, bevor er sich anschnallte. „Und was gibt es so dringendes, das uns mitten in der Nacht auf die Straße führt?“

„Toter Politiker“, sagte Marc kurz und wechselte die Spur.

„Aha. Hätte der nicht bis morgen warten können?“

„Sehr witzig.“

Adrian klappte die Sonnenblende herunter und durchwühlte seine Haare, während er in dem kleinen Spiegel prüfte, ob sie so zum Liegen kamen, wie er es wünschte.

„Bist du über Nacht zur Tussi geworden?“, fragte Marc.

Adrian grinste. „Sam steht auf wuschelige Haare“, erklärte er. Dann breitete sich sein Grinsen noch aus und mit einem schelmischen Gesichtsausdruck fügte er zu Marc blickend hinzu: „Und das andere, auf das sie sogar noch mehr steht, ist ganz und gar nicht Tussi-like.“

Marc verdrehte die Augen, sparte sich jedoch einen Kommentar.

„Wo fahren wir hin?“, erkundigte sich Adrian nach einigen Minuten Stille.

„Lakeshore Drive.“

Adrian fuhr herum und starrte Marc ungläubig an. „Was? Jetzt sag bitte nicht, dass der tote Politiker ‚Prince Charming‘ ist?“

„Woher kommt bloß dieser beschissene Spitzname?“, fragte Marc. „Der Kerl ist überhaupt nicht charming.“

„Und mit großer Sicherheit auch kein Prinz“, stimmte Adrian ihm zu. „Aber wenn er wirklich der Tote ist, dann wird meine Laune gleich genauso schlecht wie deine.“

„Ich hab’s befürchtet“, seufzte Adrian, als Marc den Wagen in der parkähnlichen Hoffeinfahrt der Politikervilla parkte. „Diese Journalisten sind echte Geier.“

Tatsächlich wimmelte es von Kameras, Mikrofonen und Menschen, die Kameras umhertrugen oder in Mikrofone sprachen. Direkt hinter Marc fuhr gerade ein mobiler Fernsehwagen eines sehr bekannten regionalen Senders an.

Marc nickte in Richtung Eingangstür, wo ein einzelner Officer alle Hände voll zu tun hatte, die neugierige Meute draußen zu halten. „Armer Kerl.“

„Hm. Na, komm schon, kämpfen wir uns zu dem Aas vor, bevor die da das Haus stürmen und nichts mehr von ihm übrig ist“, beschloss Adrian und Marc folgte ihm wortlos auf den Fersen.

Verschieden Varianten ein und derselben Frage stürmten in den unterschiedlichsten Stimmen auf sie ein, nachdem die Pressemeute sie als Ermittler erkannt hatte. Marc schob mit einem stets freundlichen „Kein Kommentar“ kunterbunte Mikrofone zur Seite, während Adrian etwas ruppiger die Journalisten auf Distanz zu halten versuchte und anstelle der zwei üblichen Worte böse Blicke austeilte. Beide Verhaltensweisen führten nicht zu dem erwünschten Ergebnis, denn Papparazzi waren nun mal anhänglich und informationsgeil. Jeder wollte der erste sein.

Schließlich gelang es ihnen aber doch, sich bis zur Haustür durchzukämpfen und der genervte junge Officer ließ sie passieren. „Da seid ihr ja endlich! AM, hier her!“ Das war Conrad Harper. Der Captain des Teams. Mitte fünfzig, zuweilen mürrisch und sehr ausfallend, wenn ‚Journalistenschweine‘ – sein Lieblingswort – in der Nähe waren. „Diese Journalistenschweine rauben mir noch den letzten Nerv. Wie kommt es, dass die immer so schnell Lunte riechen? Wer bestellt diese Aasgeier hierher?“

„Conrad!“, erklärte eine freundliche, aber bestimmte Stimme, die von der jungen Detective aus dem Hintergrund herrührte. „Officer Baker hat doch alles unter Kontrolle. Warne lieber Adrian und Marc vor, das hier drinnen ist wirklich kein schöner Anblick.“ Hope Cromworth sah so fit aus, als wäre es mitten am Tag und nicht mitten in der Nacht, doch ihre sonst so strahlend blauen Augen wirkten angespannt.

„Wieso? Was ist mit unserem Prince Charming?“, erkundigte sich Adrian.

Hope zuckte die Achseln und ihre langen, schwarzen Locken wippten dabei wie Sprungfedern. „Sagen wir es so, er ist nicht mehr ganz so ‚charming‘.“

„Hey, Black Blondie! Das da ist was für dich“, begrüßte Tom Bishop Marc wie immer mit einem neuen schmeichelnden Kosenamen.

„Wenn du darüber lachst, bring ich dich um“, drohte Marc seinem Partner, der die Mundwinkel schon wieder zu einem Grinsen verzogen hatte. „Weiß überhaupt jemand, wie du ohne deinen Schneeanzug aussiehst?“, wandte er sich dann an den Leiter der Spurensicherung und betrat dabei das gigantisch große Wohnzimmer des Politikerhauses.

„So lebt also die High Society“, murmelte Adrian hinter ihm, anscheinend ebenso perplex über diesen Prunk wie Marc.

Der Großteil der Möbel war antik und bestimmt sündhaft teuer. Ebenso wie die exklusiven Drinks in der überdimensionalen, von LED-Lämpchen in verschiedenen Farben beleuchteten Vitrine an der hinteren Wand. Links von Marc zog ein großer Flachfernseher die Aufmerksamkeit auf sich, mindestens 55 Zoll Bildschirmdiagonale, was Adrian ein anerkennendes Pfeifen entlockte. Die gesamte Breite des Wohnraums war verglast, jedoch hatte jemand die Rollos zugezogen, entweder um neugierige Journalisten draußen zu halten oder um zu verhindern, dass jemand ihm beim Morden zusah. Ein Punkt, der noch zu klären blieb.

In der Mitte lag ein toter Körper auf einem Perserteppich, wie Marc vermutete, der jedoch durch die blutige Rotfärbung einiges an Wert eingebüßt hatte. „Das sieht ja aus, wie in einem Schlachthaus“, stellte er fest. „Der Mörder hatte offensichtlich Spaß.“

„Sehe ich genauso“, meldete Tom sich wieder zu Wort. „Ein Schuss ins erste Knie, ein Schuss ins zweite Knie und schließlich einer in die Schulter. Netter Zeitvertreib. Politikerschießen.“

Marc kam näher, achtete dabei aber genau auf seine Schritte. Es war wirklich verdammt viel Blut. Zu Füßen der Leiche kam er zum Stehen und betrachtete das Blutbad, während er seinen Blick von unten nach oben über den toten Mann gleiten ließ. An seiner männlichsten Stelle jedoch hielt er inne und spürte, wie sich sein Magen umdrehte. „Schande… Wo ist…“ Er würgte und musste sich wegdrehen. Auch sein Partner war blass geworden.

„Das ist das Tolle an der Sache“, plapperte Tom aufgeregt weiter, als ob es reinste Routine war, einen halbzerstückelten Menschen zu finden. „Diesmal haben wir nämlich den elften Finger direkt am Tatort gefunden.“ Er lachte. Adrian zog geräuschvoll die Nase hoch, machte auf dem Absatz kehrt und verließ das Zimmer. „Okay, der war schlecht“, gab der Spurensicherer zu.

„Der war unterste Schublade“, kommentierte Marc. Und vollkommen fehl am Platz. Zugegeben, Adrian hatte die schreckliche Mordserie in diesem Frühjahr, bei der er fast seine geliebte Samantha verloren hätte, mittlerweile recht gut verkraftet, doch keiner konnte erwarten, dass er jemals einen Scherz über abgetrennte Gliedmaße ertragen konnte. Und gerade bei diesem fehlenden Körperteil hier, war Marc alles andere als nach Lachen zumute. „Jemand hat unseren Prince Charming ganz schön gehasst.“

„Könnte man so sagen“, stimmte Harper ihm zu, der sich offensichtlich wieder beruhigt hatte.

„Wer hat ihn gefunden?“

„Seine Frau“, sagte Hope. „Sie ist im Schlafzimmer ein Stockwerk höher. Bertram ist bei ihr.“

„Ich würde mich auch gern mit ihr unterhalten“, sagte Marc. Harper nickte, ohne ihn dabei direkt anzusehen. „Da ist noch etwas, stimmt‘s?“

Harper wand sich; schließlich erklärte Hope: „Unser Märchenprinz hat einen Sohn. Er ist fünf. Er hat seinen Dad gefunden.“

„Fuck.“ Mehr fiel Marc dazu nicht ein.

„Nach Angabe der Mutter lief dröhnend laute Musik im Wohnzimmer und sie bat ihren Sohn, diese abzustellen“, fuhr Hope fort. „Die Nachbarn haben den Lärm bestätigt. Es sei jedoch nichts Ungewöhnliches gewesen. Prince Charming hat wohl öfter Party gemacht. Besonders wenn seine Frau nicht zu Hause war.“

„Dann ist sie unschuldig“, kommentierte Adrian, den Marc überhaupt nicht zurückkommen gehört hatte.

„Was?“, fragte Hope verwirrt.

Adrian zog Schultern und Brauen hoch. „Keine fürsorgliche Mutter würde ihrem Kind einen solchen Anblick zumuten. Demnach hat sie nichts davon gewusst, also ist sie wohl unschuldig.“

Seine Argumentation klang logisch. Mit einer Ausnahme. „Wer hat gesagt, dass sie eine ‚fürsorgliche‘ Mutter ist?“, fragte Marc.

„Ist das nicht jede Mutter?“, fragte Adrian zurück.

Marc seufzte. „Du hast eindeutig keine Ahnung von der Welt, verwöhntes Muttersöhnchen.“ Er scannte den Raum auf weitere Dinge, die eventuell von Bedeutung sein könnten, doch spontan sprang ihm nichts ins Auge. „Gibt es sonst noch etwas, das ich wissen sollte, bevor ich mir die Frau vorknöpfe?“, erkundigte er sich. „Gab es keine Security?“

„Doch“, mischte sich Tom wieder ein. Er war wie eine verfluchte Schmeißfliege, die man einfach nicht loswurde. „Zwei, um genau zu sein. Wir haben sie draußen im Gebüsch gefunden. Zweimal sauberer Kopfschuss. Ich würde sagen, unser Mann versteht etwas von Waffen. Und vom Schießen. Naja, entweder sie haben ihn überhaupt nicht bemerkt oder er war so verdammt schnell, dass sie gar keine Zeit hatten, ihre eigenen Waffen zu ziehen.“

„Oder sie kannten den Täter“, dachte Marc laut nach. „Ich würde sagen, wir sprechen jetzt gleich mit der Frau. Los, Glover, Abmarsch ins Schlafzimmer.“ Noch während er die Worte aussprach, erwartete er eine Antwort nach dem Motto ‚Wenn Sam das sagt, hört es sich tausendmal erotischer an‘, doch Adrian schien die ganze Sache zu stark mitzunehmen, als dass er noch zu Scherzen aufgelegt war.

„Hey Bertram“, grüßte Marc den ältesten Teamkollegen, der zwar selten Worte fand, aber in seinem Gesicht deutlich erkennen ließ, dass er froh war, abgelöst zu werden. Mit einer angedeuteten Geste an einen imaginären Hut erhob er sich, verabschiedete sich mit einem kurzen Satz von der in Tränen aufgelösten Frau, die auf dem Bett saß, und flüsterte im Vorbeigehen: „Mrs. Chesterway gehört euch, Jungs.“

„Unser aufrichtiges Beileid“, sagte Marc, während er die Reaktion der Frau genauestens beobachtete. Sie war jung, fast zu jung für ein fünfjähriges Kind, doch vielleicht täuschte auch nur die Menge an Schminke über ihr wahres Alter hinweg. Sie war perlenbehängt und ihr pfefferminzfarbenes Kleid umspielte die üppigen Kurven ihres Körpers wie ein Windhauch. Ihre rotgefärbten Haare hatte sie in einer kunstvollen Frisur nach oben gesteckt und die Diamanten an ihren Ohren kosteten wohl mehr als Marc in seinem ganzen Leben als Detective verdienen würde. Sie war durchaus eine Frau, die ein Mann wie Prince Charming vorzeigen konnte.

Mrs. Chesterway zeigte ein angedeutetes Nicken.

„Dürfen wir uns setzen?“, fragte Marc.

Wieder ein Nicken.

„Mrs. Chesterway, wir würden Ihnen gern ein paar Fragen stellen“, fuhr er dann fort und diesmal kam ihr Nicken zögerlicher.

„Wer tut so etwas Grauenvolles?“, fragte sie in den Raum hinein und klang dabei ehrlich erschüttert. Das war das Problem bei guten Schauspielern, man merkte nicht, dass sie spielten. Und in den Kreisen, in denen die Chesterways verkehrten, war es durchaus überlebenswichtig, gewisse Schauspielerqualitäten zu besitzen.

„Das wollen wir herausfinden“, sagte Adrian mit sanfter Stimme und suchte den Augenkontakt der jungen Frau. „Würden Sie uns dabei helfen?“

„Ja“, erklärte sie mit erstickter Stimme, kramte ungeschickt ein Taschentuch aus der vor ihr liegenden Verpackung und putzte sich mit zitternden Händen die Nase. „Ich habe Ihrem Kollegen eigentlich schon alles erzählt, was ich weiß…“

„Erzählen Sie es uns einfach noch einmal“, ermutigte Marc sie zum Weitersprechen.

Mrs. Chesterway holte tief Luft. „Ich fahre jeden Sonntag mit Christopher zu meiner Mom. Sie wohnt drüben, in Minden. Percy kommt nicht mit. Die beiden… verstehen sich nicht sonderlich gut.“

Marc und Adrian tauschten vielsagende Blicke aus.

Die junge Witwe putzte sich ein weiteres Mal die Nase, bevor sie weitersprach. „Normalerweise bleiben wir über Nacht, weil Christopher seine Grandma über alles liebt. Nur gestern Abend bat Percy mich, nicht bis morgen wegzubleiben, weil er seinen ultrawichtigen Fernsehtermin hat und da sollte ich dabei sein. Deshalb bin ich mit Christopher zurückgefahren.“ Ihre Worte wurden unter Schluchzen und Tränen undeutlicher und weil sie das selbst zu merken schien, hielt sie inne und versuchte sich zu sammeln.

„Mrs. Chesterway“, begann Marc langsam. „Als Sie nach Hause kamen, ist Ihnen irgendetwas verdächtig vorgekommen? War etwas anders als sonst?“

Sie überlegte kurz. Dann sagte sie: „Die beiden Bodyguards meines Mannes standen nicht vor der Tür, wie das normalerweise nachts üblich ist. Aber ich habe mir darüber keine Gedanken gemacht, denn ich hörte ja die laute Musik aus dem Wohnzimmer. Percy hört oft Musik, wenn er nicht schlafen kann, und ich wusste, wie nervös er vor dem Interview morgen war.“

„Worum sollte es denn in dem Interview gehen?“, hakte Adrian nach, um die Frau am Sprechen zu halten.

„Um Politik“, lachte sie bitter. „Der Wahlkampf. Sie wissen schon, dass demnächst die Wahlen anstehen?“

Marc nickte. „Ist es richtig, dass Ihr Sohn die Leiche seines Vaters gefunden hat?“

„Ja“, sie brach wieder in Tränen aus. „Ich habe ihn geschickt, die Musik leiser zu machen. Mein Gott, ich konnte doch nicht ahnen…! Und dann hat er geschrien und ich bin zu ihm gerannt und… Oh Gott, oh Gott…“ Sie brach ab.

Mit einem angedeuteten Kopfschütteln bedeutete Adrian Marc, dass es keinen Sinn machte, in dieser Richtung weiter zu forschen. Die Frau schien wirklich am Ende zu sein und keiner hatte etwas davon, wenn sie völlig zusammenbrach. Ganz besonders nicht der kleine Christopher, der sie jetzt wahrscheinlich dringender als je zuvor brauchte. „Nur noch eine Sache, Mrs. Chesterway“, sagte Marc. „Politiker haben viele Gegner, viele Neider, viele Feinde… Gibt es irgendjemanden, der Ihrem Mann tatsächlich schaden wollte?“

Die Angesprochene dachte offensichtlich über die Frage nach. Schließlich schüttelte sie den Kopf. „Gegner sind die Demokraten, Neider die Möchtegernpolitiker, die keine Wahl gewinnen; aber richtige Feinde… Leute, die ihn töten wollen… Nein – nein.“ Das klang entschieden.

„Danke, Mrs. Chesterway“, beendete Adrian das Gespräch. „Ich schlage vor, Sie nehmen Ihren Sohn, wir rufen Ihnen ein Taxi und Sie fahren zu Ihrer Mutter nach Minden. Wenn Sie Officer Thai“, er zeigte zur Tür, vor der der genannte Polizist postiert war, „die Adresse geben, unter der wir Sie bitte jederzeit erreichen können, halte ich es für das Beste für Sie und Ihren Sohn, wenn Sie nicht alleine sind, bis Sie die Sache verarbeitet haben.“

Sie nickte dankend. „Wir melden uns bei Ihnen“, versprach Marc, bevor sie das Schlafzimmer verlassen hatte. „Was denkst du?“, wandte er sich an seinen Partner, als die Tür hinter ihr wieder ins Schloss gefallen war.

„Puh, für mich hörte sich das ehrlich an“, begann dieser nachdenklich. „Ich würde mich gerne noch mit dem Sohn unterhalten, aber Hope sagt, Grace und Dr. Parker sind bei ihm und die Hexe wird uns sicher nicht jetzt schon zu ihm lassen.“

Marc grinste. Adrian hatte also seinen Humor nicht vollkommen verloren. „Das verrate ich Sam, dass du ihre beste Freundin als ‚Hexe‘ bezeichnest“, drohte er scherzhaft.

„Dann sage ich Carla, dass du sie mit Lynne betrügst.“

„Bitte was?“, fragte Marc, der glaubte, sich verhört zu haben. „Ich betrüge Carla mit überhaupt niemandem!“

„Na und“, sagte Adrian leichthin. „Wenn sie es glaubt, bist du sie wenigstens los.“

Kapitel 3

Kapitel 3

Montag, 19. Oktober, 5.50 Uhr

Nachdem es mit Prince Charming so gut geklappt hatte, sollte sein zweiter Coup auch keine großen Probleme mit sich bringen. Immerhin hatte er lange recherchiert und genauestens Buch darüber geführt, wann die besten Tage für die einzelnen Hinrichtungen waren. Jetzt war die große Reinemache angesagt und sein Vorhaben wollte er zu Ende bringen, bevor die Polizei ihn stoppte. In seiner Gänze zu Ende bringen: alle vier. Und dann den Feigling. Der war die Krönung.

Dass die Polizei ihn stoppen würde, daran zweifelte er nicht; die Detectives arbeiteten gut und waren ein eingespieltes Team. Doch noch wanderte er unerkannt durch die Straßen des frühmorgendlichen Shreveport. Sonntag war Prince Charmings Tag gewesen. Montag war der Tag von Nummer Zwei und auch für ihn bedurfte es noch einiges an Vorbereitungen.

Montag, 19. Oktober, 6.20 Uhr

Auch nachdem Lynne sich bei ihrem Kuschelkater Jerry ausgeheult hatte, hatte sie keinen Schlaf finden können. Die ganze Nacht hindurch hatte sie sich von einer Seite auf die andere gewälzt und sich gefragt, wieso er Frau und Kinder hatte. War er so schnell über sie und die ganze Sache hinweggekommen? Hatte sie einfach so hinter sich gelassen? Vergessen?

Warum bist du zurückgekommen, Dean? Diese Frage beschäftigte sie auch noch als sie die Stufen zur Rechtsmedizin hinunterging und das zu einer Uhrzeit, zu der nicht nur die Toten noch schliefen. Da Captain Conrad Harper, Leiter der Ermittlungsabteilung für Kapitalverbrechen am Shreveport Police Department, bereits um fünf Uhr auf ihrem Handy angerufen und sie gebeten hatte, wegen eines außerordentlich wichtigen neuen Falls heute früher anzufangen, hatte Lynne immerhin diese dringliche Aufgabe als Vorwand für ihr frühzeitiges Aufstehen und konnte somit vor sich selbst rechtfertigen, dass sie wieder einmal bewusste Überstunden herbeiführte.

Der typisch sterile und ein wenig gewöhnungsbedürftige Geruch einer rechtsmedizinischen Einrichtung begrüßte sie bereits bevor sie die Tür zu den eigentlichen Obduktionsräumen aufgeschlossen hatte. Sie war schon bald nach ihrer Einstellung zur Leiterin aufgestiegen. Dr. Sutton, ein alter Kerl mit übelstem Humor, war zu dem Zeitpunkt bereits weit über siebzig gewesen und in den erzwungenen Ruhestand geschickt worden, wo er wenige Monate später verstarb. Lynne seufzte. Wahrscheinlich würde es ihr irgendwann genauso gehen. Seit sie hier war, lebte sie nur für ihre Arbeit.

 Als das Licht mit einem leisen Surren des Bewegungsmelders anging, stellte Lynne zufrieden fest, dass man die Leiche bereits hergebracht hatte. Ein neuer Tag, neue Arbeit und hier sollte Dean doch nicht auftauchen.

Nachdem sie sich zwei Paar Latex-Handschuhe übergestreift und das Diktiergerät auf Funktionsfähigkeit überprüft und schließlich angestellt hatte, zog Lynne den Reißverschluss des schwarzen Sacks auf, schlug ihn zur Seite und erstarrte. Diese Augen! Sie würde sie nie vergessen.

Wankend wich sie einige Schritte vor dem Leichnam zurück, als könnte der Mann plötzlich zum Leben erwachen, herausspringen und… Reiß dich zusammen!, rügte sie sich, schloss die Augen und zwang ihren Atem wieder in ruhigere Bahnen. Nachdem sie sicher war, dass sie sich wieder unter Kontrolle hatte, ging sie zurück zum Obduktionstisch, um sich noch einmal zu vergewissern, dass ihr müdes Gehirn ihr nicht nur einen Streich gespielt hatte. Nein, er war es, zweifellos. „Percy Chesterway“, murmelte sie gedankenverloren. „Hast du also endlich gekriegt, was du verdienst.“

Erst nachdem sie die Worte ausgesprochen hatte, wurde ihr blitzartig bewusst, dass das Aufnahmegerät lief und sie griff sofort danach, um die gerade neu angelegte Datei zu löschen. Was machte sie eigentlich? Er war eine Leiche wie jede andere und es war ihre Aufgabe, nach der Todesursache und möglichen Hinweisen auf den Verursacher zu suchen, nicht über die Tat oder den verstorbenen Menschen zu richten! De mortuis nil nisi bene, belehrte sie sich selbst in Erinnerung an die Lateinvorlesungen während ihres Studiums. Und wenn ihr über diesen Toten nunmal nichts Gutes einfiel, dann sollte sie besser schweigen.

Lynne startete das Aufnahmegerät also noch einmal von neuem und machte sich endlich an die Arbeit.

Jemand schien in der Tat wütend auf den gutaussehenden, erfolgreichen Politiker gewesen zu sein. In vier Schussverletzungen fand sie Kugeln, die sie als 9mm identifizierte. Der zeitlich letzte Schuss in den Kopf stellte die Todesursache dar. Was sie unter den Fingernägeln herauskratzte, verpackte sie in Tüten, um sie ins Labor zu schicken. Ebenso die Kugeln, jede einzeln eingetütet mit der Aufschrift der jeweiligen Eintrittswunde. Während ihre Hände zu Beginn der Obduktion noch stark gezittert hatten, war sie nun glücklicherweise ganz in ihre Routine verfallen und wenn sie es mied, dem toten Mann ins Gesicht zu sehen, dann war er einfach wie jeder andere Tote auch.

Montag, 19. Oktober, 14.00 Uhr

Es tat gut nach aufmerksamer Präzisionsarbeit mehrerer konzentrierter Stunden wieder lebendige und lebensfrohe Menschen zu treffen. Nachdem Lynne die kompletten Obduktionsergebnisse vorliegen, sortiert und in Zusammenhang gebracht hatte, war sie auch wieder in der Lage, den Detectives gegenüber zu treten und ihnen Rede und Antwort zu stehen. Wie sie gehofft hatte, waren es Marc und Adrian, die ihr einen Besuch abstatteten und langsam glaubte sie wirklich daran, dass Marc sich ein ganz klein wenig darum riss, diesen Job zu übernehmen, obwohl er sich immer wie ein quengelndes Kind anstellte, wenn er längere Zeit in den geschlossenen Räumen der Rechtsmedizin zubrachte.

„Hey Lynne, Hübsche, was hast du für uns?“, grüßte Adrian fröhlich. Seit er in festen Händen war, war er viel charmanter und deutlich ausgeglichener als zuvor.

„Eine ganze Menge“, sagte sie. „Hallo erstmal.“ Sie küsste Adrian zur Begrüßung auf die Wange. Weil Samantha sie gebeten hatte, ihre Seminararbeiten auf Rechtschreibung und Inhalt zu prüfen, hatte Lynne schon manchen Abend bei ihr zugebracht und es war irgendwie schön, sich mit Adrian auch über Themen außerhalb der Arbeit zu unterhalten. Lynne hatte, abgesehen von den freiwillig erzwungenen Zusatzkursen, in denen sie sich für das Wahlfach Kunstgeschichte entschieden hatte, nicht viel Ahnung von der Materie, mit der Samantha tagtäglich zu tun hatte, doch sie hatte sich dennoch geschmeichelt gefühlt, dass Samantha ihr so viel Vertrauen entgegenbrachte. Mittlerweile waren sie beinahe Freundinnen; zumindest etwas, das über einfache Bekanntschaft hinausging. „Hi Marc.“

„Kriegt der etwa kein Küsschen?“, fragte Adrian keck. „Er konnte es kaum abwarten, hierher zu kommen.“

„Glover, merkst du nicht, dass du nervst?“, blaffte Marc ihn an. Seine Laune schien exponentiell zu Adrians aufsteigender Laune zu fallen. „Hi Lynne, lange nicht gesehen. Also, was hast du für uns?“

Er schenkte ihr nicht einmal einen flüchtigen Blick. Dann war er wirklich übel gelaunt. Im Grunde war es ja auch egal. Marc war verlobt, das war kein Geheimnis, und mit seiner Liebsten Carla war er viele Jahre zusammen. Schon als Lynne hier vor knapp vier Jahren angefangen hatte, waren sie ein Paar gewesen und wirkten nicht wie Frischverliebte. Darüber hinaus war Dean wieder in der Stadt und Percy tot auf ihrem Obduktionstisch – es brauchte momentan wirklich nicht noch mehr Männer in ihrem Leben.

„Also, der Kerl ist tot“, begann sie schließlich und ging um die Leiche herum, um den Monitor an der Wand einzuschalten, auf dem sie den Detectives Vergrößerungen und sonstige Auffälligkeiten zeigen konnte, von denen sie zuvor Aufnahmen gemacht hatte und die an der Leiche direkt nur schwer zu erkennen waren. „Sauberer Schuss in den Kopf. Ich gehe davon aus, dass ihr es mit einem Profi zu tun habt. Zumindest ist er in irgendeiner Weise an der Waffe ausgebildet. Jeder einzelne Schuss ist derart platziert. Er muss also auch genau wissen, wo es wehtut und was seine Verletzungen zur Folge haben.“

„So in der Art hat es Tom auch dargestellt.“

„Tom?“, fragte Lynne.

„Tom Bishop“, erklärte Adrian. „Weißer Raumanzug… SpuSi?“

Lynne nickte. Sie kannte den Leiter der Spurensicherung flüchtig.

„Sieht für mich nach einer Hinrichtung aus“, fuhr Adrian fort.

„Ja, das dachte ich mir auch“, stimmte Lynne zu. „Erst die Schüsse an Stellen, die wehtun, aber nicht unmittelbar zum Tod führen, und dann ein platzierter.“

„Bitte, sag mir, dass das da“, Marc zeigte auf die Stelle, an der normalerweise das Geschlechtsorgan des Mannes hätte sein müssen, „post-mortem geschehen ist…“

Lynne senkte den Blick. Sie hatte das Loch, welches anstelle des Penis zu sehen war, gesäubert und auf Spuren überprüft. Aus der Wunde war so viel Blut ausgetreten, dass das Herz zum Zeitpunkt der Gewalteinwirkung sehr schnell geschlagen hatte und der junge Percy noch quicklebendig gewesen war.

Marc deutete ihr zögerndes Schweigen korrekt. „Scheiße“, kommentierte er die Erkenntnis und Lynne sah in den betroffenen Gesichtern der Männer, dass sie sich eine andere Aussage erwünscht hätten.

Aber er hat es verdient, lag ihr auf der Zunge, doch die weise Stimme, die ihr wieder nil nisi bene ins Ohr flüsterte, hielt sie davon ab, ihre Gedanken laut auszusprechen. „Seine Identität ist euch wahrscheinlich bereits bekannt“, fuhr sie stattdessen fort und die Jungs nickten im Einklang. „Unter seinen Fingernägeln fand ich Spuren mit der DNA, die eindeutig auf ihn selbst zurückgeht. Ich nehme an, sie stammt von dem Blut, während er sich die Wunden zugehalten hat. Ansonsten hatte er immerhin 0,9 Promille Alkohol im Blut und seine zerstörte Nasenschleimhaut und die abgebrannten Härchen deuten auf eine nicht allzu unregelmäßige Koksgewohnheit hin.“

„Manchmal kannst du wirklich eklig sein“, warf Adrian ein. „Gut, dass ich nicht deinen Job machen muss. Anderen in der Nase popeln, das ist echt widerlich!“

„Anderen in den Arsch kriechen auch“, warf Marc mit einem Seitenblick auf seinen Partner ein.

Lynne hob die Brauen. Zwischen den beiden schien dicke Luft zu herrschen.

„Wie meinst du das?“, fragte Adrian scharf zurück.

Marc sprach mit künstlich verstellter Stimme: „Ich schlage vor, Sie nehmen Ihren Sohn, wir rufen Ihnen ein Taxi und Sie fahren zu Ihrer Mutter nach Minden. Ich halte es für das Beste für Sie und Ihren Sohn, wenn Sie in dieser furchtbaren Situation nicht alleine sind.“

Adrian wirkte zunächst ehrlich verblüfft, dann nickte er jedoch und sagte: „Du bist doch nur sauer wegen dem, was ich über Carla gesagt habe. Und nicht, weil ich es gesagt habe, sondern weil du genau weißt, dass ich Recht habe.“

Die Männer lieferten sich ein stilles Blickduell, bis Lynne sich schließlich zu Wort meldete: „Hallo Jungs, ich kann euch hören! Ich bin noch da!“

Sie fuhren abrupt zu ihr herum. Lynne verdrehte die Augen. „Männer“, schimpfte sie. „Und ihr sagt, Frauen seien zickig… Hier“, sie drückte Marc einen Stapel gedruckter Seiten und einen Stick mit der gesprochenen Aufnahme in die Hand. „Da könnt ihr euch alles durchlesen, was ich herausgefunden habe. Ich mache nämlich jetzt Feierabend, denn ich habe keine Lust darauf, live mitzuerleben, wie gleich einer von euch auf meinem Obduktionstisch landet.“ Das war ein glatter Rauswurf, aber sie hatten es auch verdient. Außerdem stand es mit Lynnes Geduld nicht zum Besten und auf Grund der durchwachten Nacht sehnte sich nach nichts sehnlicher als nach Schlaf in ihrem Bett.

Marc klappte der Kiefer herunter, doch er brachte kein Wort heraus. Stattdessen entschuldigte sich Adrian mit einem leisen ‚Sorry‘ und tippte Marc dann an die Schulter. „Los Mann, Conrad wünscht sich die Ergebnisse bis zum Meeting und bis dahin bleiben uns nicht mal eineinhalb Stunden diese Seiten durchzulesen.“

Montag, 19. Oktober, 14.45 Uhr

„Was sollte denn das gerade da drinnen? Bist du komplett bescheuert?“, herrschte Adrian ihn an, während er sich auf die Fahrerseite drängte.

Marc platzierte die Unterlagen auf dem Rücksitz und ließ sich ohne Widerrede auf dem Beifahrersitz nieder. „Willst du jetzt etwa eine Entschuldigung?“, brummte er ohne aufzusehen. Er wusste, dass Adrian ihm nichts getan hatte und dass sein Partner vollkommen ins Schwarze getroffen hatte, und gerade diese Erkenntnis nervte ihn und steigerte seine Wut ins Unermessliche. Seine Wut auf… sich selbst. Ja, vielleicht neidete er Adrian dieses Glück doch ein wenig. Aber nicht, weil Adrian es hatte und er nicht; sondern weil Adrian den Mumm hatte, zu warten, bis er der Richtigen begegnete. Mit anderen Worten, sein Leben war scheiße, er verlor sich in Selbstmitleid, welches er unfairerweise an seinem besten Freund ausließ und wusste dabei so sicher wie das ‚Amen‘ in der Kirche, dass er aus eigener Initiative nichts an seiner Situation ändern würde.

„Ach, fick dich doch, Marc“, sagte Adrian und er sagte das nicht oft. „Wenn du ein Problem mit mir hast, dann lass es nicht an Lynne aus. Und wenn du ein Problem mit dir hast, dann lass es verflucht nochmal nicht an mir aus!“

Die restliche Fahrt verbrachten sie schweigend.

Montag, 19. Oktober, 16.00 Uhr

Wie zu erwarten war, eröffnete Captain Conrad Harper das Meeting mit äußerst schlechter Laune. Wenigstens war es im Besprechungszimmer – ein starker Euphemismus für Abstellkammer – jetzt nicht mehr so heiß, wie es die Sommermonate über der Fall gewesen war. Trotzdem krempelte Marc sich die Ärmel seines Langarmshirts hoch, bevor er sich zwischen Adrian und Grace Packet auf seinem Stuhl niederließ. Es tröstete ihn, dass er nicht der einzige mit schlechter Laune war.

„Kein großes Blabla“, begann Harper zähneknirschend. „Wir wissen alle, worum es geht: Irgendein krankes Schwein hat den beliebtesten Politiker dieses Bundesstaates abgemurkst und jetzt haben wir die Scheiß-Journalisten an der Backe. Also, wer will zuerst? Tom?“