Fürchte die Sonne - Jana Jeworreck - E-Book

Fürchte die Sonne E-Book

Jana Jeworreck

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Beschreibung

Vampire beherrschen die Welt. Menschen dienen nur noch als Blutbank, zur Zucht oder zur Erschaffung neuer Nachtgestalten. Trotz biologischer und technologischer Überlegenheit der Vampire gibt es noch eine äußerst wehrhafte Gruppe menschlicher Freiheitskämpfer. Im Verborgenen kämpfen sie für ihre Zukunft. Und sie besitzen ein Wissen, mit dem sie den Vampiren ernsthaft gefährlich werden.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Zeitenwende
1 Keine Schwäche zeigen
2 Mondsteingeburtsnacht
3 Vollmond
4 Braut der Nacht
5 Ethik und Moral
6 Der Mann in Flammen
7 Im tiefen Wald
8 Gefährliche Sonnenstrahlen
9 Tötet Hexa Kali!
10 Leila Lacrimosa
11 Sitz! Platz! Aus!
12 Zweifel
13 Die Sitzung der dreizehn Stämme
14 Die Befreiung
Flucht
15 Aktionsbasis 19
16 Verwandlung
17 Das Vermächtnis des Helios
18 Der Fluch des Erwachens
19 Die freie Welt
20 Königin der Stäbe
21 Clarissa und Helios
22 Der Verrat
23 Die Verhaftung
24 Aufbruch
25 Grauen des Morgens
26 Wasser
27 Zusammenprall
28 Rettung oder keine Rettung
Suche
29 Wölfe an Bord
30 Heimat der freien Menschen
31 Vater
32 Fremd
33 ALEX
34 Hexa Kali
35 Interessenkonflikte
36 Hauptzeuge
37 Befreiung
38 Der Überfall
39 Aufbruch
40 Fanta Wild
41 Wilde und Zeichen
42 Sterne
Danksagung
Über die Autorin

 

 

 

Jana Jeworreck

 

Fürchte die Sonne

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Vampirdystopie

2025

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Copyright © 2025 Jana Jeworreck

Alle Rechte vorbehalten.

Verlag: Jana Jeworreck,

Brantropstr. 73a, 44795 Bochum

Umschlag- und Gestaltung: Jana Jeworreck

Foto: Pixabay, lizenzfrei

Lektorat: Mike Schröder, Berlin

Druck: epubli, ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Printed in Germany

 

 

 

 

Zeitenwende

 

 

 

1 Keine Schwäche zeigen

 

Zeig ihnen niemals deine Furcht, kleiner Bruder, hörte er ihre Stimme, doch es gelang ihm nicht.

Janus blickte starr auf die vergitterten Fenster. Das Schwarz dahinter war wie immer. Undurchdringlich. Unbesiegbar. Unveränderlich.

Die große Uhr über der Barackentür zeigte 0:57 Uhr. Tiefste Nacht. Der bevorzugte Zeitpunkt der Monster.

Janus ermahnte sich. Nur keine Schwäche zeigen. Sie rochen das. Oder nahmen es sonst wie wahr. Er wollte es eigentlich nicht wissen. Warum kamen sie immer um diese Zeit? Warum nicht zum Ende eines Tages, in den Abendstunden?

Der Lagerverwalter ging mit starrer Miene und langsamen Schrittes an den Gefangenen vorbei. Je älter sie waren, umso unbewegter wurden ihre Gesichter. Manche sahen aus, als wären sie Statuen geworden. Die weiblichen Vampire waren lebhafter, die Männer aber wirkten tot und reglos. Im Grunde genau wie das, was sie waren: lebende Leichen. Zombies.

Dieser Bewacher hieß Kender. Kender der Binder. Er konnte seine Opfer hypnotisieren, wie die Schlange ein Kaninchen. Janus’ Herzschlag beschleunigte sich, als Kender sich ihm näherte. Es gelang ihm kaum, seinen Atem zu kontrollieren. Unwillkürlich glitt sein Blick zu Jamira. Sie wirkte bewundernswert unnahbar, stark und verschlossen.

Kender blieb vor ihm stehen. Langsam, als koste es den Verwalter große Mühe, wandte er den Kopf zu Janus. Die Augenfarbe des Wärters erinnerte ihn an dreckiges, zerkratztes Eis. Die Iriden besaßen keine Tiefe. Von den Schläfen bis zu den Ohren waren links und rechts des Kopfes silberfarbene Punkte zu sehen.

Diese Enhancements waren technische Erweiterungen bestimmter Vampirkräfte, so viel war bekannt, und sie halfen Kender, die Menschenware effektiv, für welchen Zweck auch immer auszuwählen. Was genau die Enhancys bei Kender bewirkten, wusste Janus allerdings nicht, doch er ahnte es.

Kender, der Binder.

Darüber nachzudenken, ließ Janus’ Herz noch schneller schlagen. Er konzentrierte sich, um weiter starr nach vorne auf die zerwühlten Betten in der Schlafbaracke und nicht in die Augen des Verwalters zu blicken, doch nichts vermochte Janus von seiner Angst abzulenken.

Kender legte den Kopf schief, da traten auch schon die anderen beiden Wachen heran. Ihre Arme und Hände waren mit Exoskeletten versehen. Dabei waren sie auch ohne so viel stärker als jeder Mensch.

„Nein!“ Das konnte nicht wahr sein. Warum er? Janus’ Verzweiflung wuchs. Er war doch erst siebzehn. „Ich bin noch nicht so weit. Ich ... Ich kann, ich kann ...“ Ein Wächter griff seine Arme. Die Hände fühlten sich wie Schraubstöcke an. Janus verstummte. Es war zwecklos.

Unvermittelt trat Jamira vor.

„Nein!“ Janus’ Magen krampfte. Warum tat sie das?

In Kenders steinernem Gesicht schien sich der Hauch eines süffisanten Lächelns zu bilden. Wieder ein kurzes Kopfzucken. Das schulterlange silberne Haar bewegte sich kaum. Es lag wie ein Helm auf dem Schädel des Lagerverwalters. Die zweite Wache fasste Jamiras Arme und zog sie zum Ausgang. Sie sagte nichts zu Janus, sah ihn nicht einmal an, als der Wärter sie an ihm vorbeibrachte. Er wünschte sich, sie würde ihn ansehen. Janus wurde ihr hinterher geführt.

Kender schritt die Reihe der anderen Jungen und Mädchen weiter ab. Sechzig junge Menschen befanden sich in dieser Arbeiterbaracke. Viele von ihnen waren jünger als Janus – sechzehn, fünfzehn, vierzehn. Der letzte Ankömmling war gerade dreizehn geworden und glich einem völlig verängstigten Welpen.

Janus’ Schwester Jamira war bereits neunzehn und damit eine der Ältesten. Normalerweise wurden alle mit etwa achtzehn Jahren aus den Lagern abgeholt und wer weiß wohin verschleppt. Es kehrte ja nie jemand zurück, um zu berichten, was nach der Abholung geschah, daher galt die Abholung als eine Art Todesurteil. Es war der schrecklichste Moment für alle.

Kender wählte noch drei weitere Insassen aus: zwei Mädchen in Janus’ Alter, ihre Namen lauteten Helena und Natalie, und einen achtzehnjährigen Jungen namens Adrian.

Sie wurden mit Ketten aneinandergebunden und wie Vieh aus dem Schlafsaal getrieben. Die zierliche Natalie ging hinter ihm, stolperte und riss Janus trotz ihres geringen Gewichts beinahe zu Boden. Die Wächter zögerten nicht lange und malträtierten das arme Ding mit einigen kräftigen Schlägen. Sie schrie und weinte. Ein scharfer Blick von Jamira, die vor ihm war, hielt Janus davon ab, dazwischenzugehen. Es war das erste Mal, dass sie ihn angesehen hatte. Sofort flog ihr Kopf wieder nach vorne und ihr Blick senkte sich auf den Boden. Er tat es ihr gleich.

Schließlich riss man Natalie wieder auf die Beine. Die anderen Barackeninsassen wurden sich selbst überlassen. Man löschte das grelle Neonlicht, was im Grunde eine Aufforderung war, sich schlafen zu legen. Etwas, das Janus in den Jahren seines Lageraufenthalts nach den Abholungen nie gelungen war.

Jamira, die drei anderen und er wurden vor einer schweren Stahltür angehalten, man öffnete diese und stieß sie hinaus in die nächtliche Januarkälte. Ihre dünne Baumwollkleidung hielt der Kälte keine Minute stand. Bei dem Gang über den Hof fühlte Janus jede Unebenheit des vereisten Schnees auf den Pflastersteinen durch die Sohlen seiner dünnen Stoffschuhe. Winter war der Sommer der Vampire und die schrecklichste Zeit für alle Menschen.

Man trieb sie in den Flur durch die nächste Baracke, öffnete eine weitere Stahltür, dann folgten noch ein Hof und wieder eine Baracke. Weitere Insassen sahen sie nicht. Alle Schlafsäle waren durch Leuchtzeichen markiert und zeigten die Besitzer der Menschen an. Heute war wohl nur ihr „Stall“ dran gewesen. Janus kämpfte gegen aufkeimende Übelkeit an.

Im dritten – oder war es schon der vierte? – Flur schob man sie um eine Ecke und dann eine lange Treppe hinunter. Dann zog man sie weiter durch lange, offenbar unterirdische Gänge, die auf eine Weise gestaltet waren, wie Janus es noch nie gesehen hatte.

Der Boden war mit einem gesprenkelten glatten Stein bedeckt, die Wände weiß, glatt und mit weiteren glänzenden Zeichen versehen. Lampen an dem oberen Teil der Wände spendeten weiches Licht. Hier und da gingen schwarze, lackglänzende Türen von dem unterirdischen Flur ab. Außer dem Geräusch der Schritte und dem leicht unruhigen Atmen herrschte nahezu völlige Stille. Von den Nachtwandlern gab es keine natürlichen Laute.

Die Wärter brachten sie abrupt vor einer der Türen zum Stehen. Diese war breit und aus Metall, glitt mit einem leisen Zischen zur Seite und offenbarte ein schwarzes Nichts. Dann stieß man die Gruppe unsanft durch die Öffnung ins Ungewisse. Die Tür schloss sich und wurde hörbar verriegelt.

Janus suchte nach Jamiras Hand, die sich schnell und mit Nachdruck in die seine legte. Es beruhigte ihn kein bisschen, dass seine ältere Schwester ebenfalls Angst hatte. Dann flackerte eine traurige Glühbirne auf, die ermattet von der Decke baumelte. Sie befanden sich in einem engen, fensterlosen Raum mit schwarzen Wänden. Nach kurzer Erleichterung, dass hier keine hungrigen Vampire warteten, sahen sie sich nach Kameras um. Sollte es welche geben, waren sie unentdeckbar getarnt.

„Warum hast du das getan?“

„Ich kann dich nicht alleine lassen.“ Jamira knuffte ihn, aber ihre Stimme klang wenig selbstbewusst.

„Was meint ihr, was mit uns geschehen soll?“ Diese verzweifelte Frage kam von Natalie. Adrian übernahm die Antwort.

„Na was wohl: Futter, Brüten oder Verwandlung.“

Natalie versuchte, ihre Tränen zu unterdrücken. Sie schlang die Arme um sich.

Kurze Zeit darauf flog die Tür lautstark auf. Alle zuckten zusammen und Janus’ Herz sprang ihm fast in den Hals.

„An die Wand!“

Die fünf stellten sich mit dem Rücken an die Wand, je eine Armlänge voneinander entfernt. Fünf Vampire traten ein. Drei Frauen, zwei Männer. Alle noch nicht so alt. Sie hatten noch Angst, man konnte es erkennen, wenn man genau hinsah. Ihre Augen bewegten sich angespannt und sie besaßen keine Enhancements.

Janus beruhigte das nur wenig. Der Mann, der zu ihm kam, war sehr kräftig. In Menschenjahren etwa Ende zwanzig. Er sah Janus nicht an, sondern drückte ihm ruppig einen dunkelgrünen Overall in die Arme. Es war unmissverständlich die Forderung, sich umzuziehen. Als Janus zögerte, ließ der Vampir ein tierisches Knurren verlauten.

Ohne Schutz vor den Blicken der Vampire kleideten sich alle in die gereichte Kleidung. Janus spürte die Gier nach Blut im Raum. Er mühte sich, seine Angst zu unterdrücken, aber er war doch zittrig. Als alle umgezogen waren, führte der jeweilige Begleiter sie mit festem Schraubgriff um den Oberarm aus dem Raum. Man schob sie lange, leere Gänge ohne Fenster entlang, die Wände glänzten metallisch, der Boden bestand aus Beton.

Wieder tauchte eine breite Tür vor ihnen auf. Sie öffnete sich automatisch. Dahinter lag ein Raum mit weißen, undurchsichtigen Plastikvorhängen. Unangenehme bohrende Geräusche drangen zu ihnen, während sie durch einen mit Planen abgeteilten Flur entlang getrieben wurden.

Unangenehme Gerüche stiegen Janus in die Nase, aber da er durch Angst und Hunger ohnehin kaum klar denken konnte, konzentrierte er sich nur darauf, die Übelkeit zu unterdrücken.

Schemenhafte Schatten huschten hinter den Vorhängen umher. Dort brannten auch grelle Lichter. Jemand schrie laut auf und Janus zuckte zusammen.

Adrian und Helena schob man abrupt nach links durch eine der Plastikunterteilungen, Natalie riss man weiter voran, Janus und Jamira zog man rechts in einen weiteren Korridor aus undurchsichtigen Kunststoffplanen.

Der Raum schien riesig zu sein. Hämmern und Schmatzen drangen nun lauter zu ihnen. Was wurde hier nur getrieben? Zudem war es wieder kälter und Janus bemerkte, wie stark Jamira vor Kälte schlotterte.

Dann stieß man auch sie durch einen Spalt in den Planen, und sie fanden sich in einer Art Labor wieder. Eine Vampirin mit schwarzen Augen, aus deren Kopf eine Reihe seltsamer Werkzeuge ragten, wandte sich ihnen zu. Der begleitende Wächter drückte Janus in einen Stuhl. Hände und Füße wurden mit Lederriemen eingeschnürt. Ein Helm schloss sich um seinen Kopf bis über die Augen. In seinen Ohren rauschte es plötzlich. Dann unerwartet ein heftiger Stich in den Arm.

Er spürte, wie sein Overall geöffnet wurde. Panik überfiel ihn. Dann fühlte er etwas in seinem Schritt. Es verwirrte ihn.

Kurz darauf verlor er das Bewusstsein.

 

Jamira erwachte auf einem Bett. Es war weiß bezogen. Neben ihr lag Janus, der offenbar schlief. Der Raum, in dem sie sich befanden, war hell erleuchtet und enthielt spärliches Mobiliar. Zwei Stühle an einem Tisch, zwei Sessel. Alles bestand aus weißem Kunststoff. Eine offene Tür zeigte ihr ein Badezimmer mit weißen Fliesen, in dem ebenfalls Licht brannte.

Ihr erster Versuch, sich zu bewegen, führte zu plötzlich stechenden Schmerzen im Bauch. Unwillkürlich krümmte sie sich. Doch dann folgte Übelkeit. Hastig sprang sie auf, taumelte, hangelte sich mit wackeligen Beinen an der Wand entlang in das Badezimmer, das nicht nur ein Klo, sondern auch ein Waschbecken und sogar eine Dusche enthielt, und übergab sich. Dabei kam nur etwas Galle aus ihr heraus. Kein Wunder. Das letzte Essen war bereits lange her und auch nicht besonders üppig gewesen. Jamira fragte sich, wie viel Zeit seither wohl vergangen war.

Sie sank auf die Fliesen und hielt sich am Klo fest. Noch zweimal würgte sie, doch dann ließen Schmerzen und Übelkeit nach. Sie klaubte sich vom kalten Boden auf, drehte das Wasser am Hahn auf, trank ein wenig und schwankte zurück in den anderen Raum.

Erst jetzt bemerkte sie den großen fensterartigen Spiegel. Zunächst erschrak sie über ihr eigenes Abbild. Beinahe so bleich wie die untoten Herrscher wirkte sie. Der blonde kurze Irokesenhaarschnitt hing wie traurige Spaghetti über die rasierten Seiten, die eigentlich längst eine neue Rasur vertragen hätten. Die Ringe unter den Augen gehörten bestimmt einer anderen, aber doch nicht ihr?

Vor dem Spiegel stand der Tisch. Erst jetzt sah sie eine Klappe unterhalb des Rahmens. Natürlich. Es war ein Spionagespiegel. Sie wurden beobachtet.

Sie wandte sich ab und kehrte zum Bett zurück. Janus schlief nach wie vor. Er trug, wie sie auch, noch immer den grünen Overall. Jetzt erinnerte sie sich, dass Natalie einen roten Overall bekommen hatte und Helena und Adrian jeweils blaue. Welche Bedeutung hatte grün?

Sie starrte auf das Spiegelfenster, das gegenüber des breiten Bettes lag. Außer der Tür zum Badezimmer gab es keinen weiteren Ein- oder Ausgang. Wie hatte man sie hier hereingebracht?

Plötzlich öffnete sich die Klappe unter dem Spiegel. Ein Tablett schoss hindurch, rutschte über den Tisch und kam genau am Rand zum Halten. Reflexartig knurrte Jamiras Magen. Verdammt! Sie wollte den Biestern nicht klein beigeben, aber sie hatte so einen Hunger.

Schließlich bewegte sie sich zum Tisch und spähte auf das Tablett. Unter einer Plastikabdeckung war ein Teller mit Fleisch, Kartoffeln und einem Gemüsemix. Außerdem lagen ein Apfel, ein Joghurt, Wasser und eine Cola dabei.

Jamira zögerte. Was sollte das? War das Essen vielleicht vergiftet? Wieder knurrte der Magen und dann gab sie nach. Sie setzte sich, griff das Besteck – richtige Messer, Gabel und Löffel aus Metall – und aß. Sie kaute nicht mal richtig, sie schlang. Das Fleisch war butterweich, die Kartoffeln perfekt und das Gemüse aromatisch und noch leicht bissfest. Bissfest. War das ein Festessen, um anschließend gebissen zu werden? Die Henkersmahlzeit?

Sie schüttelte diese Gedanken ab. Es schmeckte so gut, dass sie gerade nicht mehr klar denken konnte. Sie öffnete die Cola und trank diese fast in einem einzigen Satz leer. Sie sollte wirklich etwas für Janus übriglassen. Aber vielleicht bekam er ja ein eigenes Tablett.

„Was machste denn da?“ Er war wach geworden. „Ist das Essen? Wo sind wir?“

„Keine Ahnung, aber ich kann nichts für dich übriglassen, sorry.“ Sie schaufelte schnell alles in sich hinein. Die Klappe sprang auf und ein weiteres Tablett rutschte hervor. Es kollidiert mit ihrem, aber nur sanft.

Sie schob es auf die andere Seite.

„Hier, du bekommst deine eigene Henkersmahlzeit.“

„Henkersmahlzeit? Was?“ Janus war noch etwas benommen.

Sie griff sich die Cola von seinem Tablett, öffnete sie und brachte sie ihm.

„Hier, damit du mal wach wirst.“

„Jamira, wo sind wir hier?“

„Janus, ich kann nicht hellsehen. Ich kann aber nur vermuten, dass wir entweder Futter sind oder gewandelt werden sollen.“

„Hältst du es nicht ...“

„Nein. Nicht Bruder und Schwester. Die wissen, dass das ganz übel schiefgehen kann.“

Er nickte, trank und kam dann zu ihr an den Tisch. Gierig wie sie machte er sich über das Essen her.

„Sie könnten uns noch zu anderen stecken, also damit wir doch noch für Nachschub sorgen.“

Vielleicht hatte er recht, aber Jamira hielt es für unwahrscheinlich. Sie wurden hier für etwas vorbereitet. Wütend starrte sie in den Spiegel. Dann hob sie beide Hände und zeigte den Mittelfinger.

„War das schon alles, ihr hässlichen Todesfratzen?“

Janus kapierte jetzt wohl, dass es kein normaler Spiegel war. Erst lachte er dreckig, dann etwas nervös.

Die Klappe öffnete sich schnappend wie das schwarze Maul eines Tieres und ein weiteres Tablett rutschte hindurch. Darauf lagen Shampoo, Handtücher, Seife, Zahnbürste und Zahnpasta.

Jamira grinste. „Wollt ihr uns damit zu verstehen geben, dass wir stinken? Komisch, kann ich gar nicht verstehen. Wo ihr uns doch nur zu Hunderten in Käfigen haltet.“

„Mann, jetzt hör auf!“, zischte Janus.

„Feigling. Du kannst es doch sowieso nicht ändern.“

„Ich weiß, es ist nur ...“ Er blickte zum Bad. „Ich hatte noch nie eine Dusche allein. Also, so lange wie ich wollte, ohne ...“

„Die schauen dir doch trotzdem zu. Auch wenn sie auf andere Sachen achten als deinen Schwanz.“

„Mann, Jamira!“

Sie seufzte. Warum war sie nur immer so? Er war alles, was sie hatte, und sie war alles für ihn. „Sorry, Kleiner. Komm her.“ Sie zog seinen Kopf zu sich und legte ihre Stirn an die seine.

„Ich bin übrigens größer als du“, entgegnete er. Sie griff sich eines der Handtücher und schlug es ihm um die Ohren.

„Alles klar, dann genieß deine Dusche.“

Er schnappte sich die Flaschen und verschwand.

Jamira setzte sich aufs Bett und starrte missmutig auf den Spiegel. Es gab einfach nichts, was sie tun konnte, und das machte sie wahnsinnig.

 

 

 

2 Mondsteingeburtsnacht

 

„Mutter?“

Clarissa Clandestine drehte sich langsam vom Fenster zu ihrer Tochter um. Die Mutter würde im kommenden Monat zweitausendfünfhundertachtundsiebzig Jahre alt werden, und ihr silbernes Haar war das längste im gesamten Imperium. Sie war das absolut optische Gegenteil von Claire und erinnerte sie an Schnee. Claire fand es faszinierend, wie dunkel die Aura ihrer Mutter im Verhältnis zu ihrem strahlend weißen Aussehen war.

„Claire, mein Engel.“ Ihr Gesicht blieb unbewegt, aber ihre Augen leuchteten auf. „Setz dich zu mir.“

Claire schritt über den langen orientalischen Nainteppich, dessen blau-weiße Ornamente in dem modernen Raum seltsam altmodisch wirkten und der fast den gesamten sandfarbenen Granitboden bedeckte. An der Wand stand ein weißes Sideboard, auf dem sechzehn silberne Skulpturen von stilisierten Engeln aufgereiht waren. Claires Bruder Christian hatte sie angefertigt, und es waren die einzigen künstlerischen Objekte im Raum. Sonst gab es keine Bilder, keine Pflanzen und keine weiteren Schränke.

Die Mutter setzte sich an den Kopf des langen gläsernen Esstisches, der einen auffälligen schwarz geflammten Holzfuß besaß, und schob Claire den Stuhl zu ihrer Linken hin. Am Tisch hatten achtzehn Personen Platz: Clarissa und ihr Mann Gregor, den sie sich selbst vor tausendneunhundertachtzig Jahren gewandelt hatte, und ihre gemeinsamen sechzehn Kinder. Claire war die Jüngste.

„Mein schönes Kind.“

Claire wartete darauf, dass Clarissa weitersprach, doch diese sah sie lediglich eine ganze Weile stumm an.

Kurz nach ihrer Verwandlung hatte Claire sich gefragt, warum die Wahl gerade auf sie gefallen war. Doch dann hatte sie Christian kennengelernt, ihren Bruder. Er war ebenfalls schwarz wie Claire. Seine Verwandlung hatte ihn nicht wie die Weißen bleicher werden lassen, sondern dunkler. Dadurch stachen seine hellgrünen Augen, die die Verwandlung mit sich gebracht hatte, besonders hervor. Claires Iriden hingegen waren von einem flammenden Gelb und einzigartig in der gesamten vampirischen Welt, soweit die Archivare das beurteilen konnten. Ihr gelocktes Haar war mit zarten goldfarbenen Strähnen durchzogen und ihre Haut nahezu ebenholzfarben.

Claire konnte sich nicht mehr an ihr menschliches Aussehen erinnern. Falls es jemals Fotos von ihr gegeben hatte, existierten sie mit Sicherheit nicht mehr. Vielleicht gab es auch Videos, denn alle menschlichen Aktivitäten wurden lückenlos überwacht. Claire nahm sich vor, eines Nachts das Archiv aufzurufen und sie sich anzusehen. Aber nicht jetzt.

„Was gibt es, Mutter? Du hast mich gerufen, hier bin ich.“

„Bist du bereit für deine Mondsteingeburtsnacht?“

„Ich denke schon.“ Claire graute es etwas vor der Tatsache, dass sie nun eine eigene Zucht erhalten sollte.

„Ich hatte keine Mondsteingeburtsnacht.“ Die alte Vampirin blickte wieder aus dem Fenster in den mondlosen Sternenhimmel, als wäre gerade das Fehlen des Mondes der Grund für diesen Umstand. „Damals war der älteste freie Mensch, auf den dieses Fest zurückgeht, noch nicht einmal geboren. Alle nannten ihn Helios, nach dem griechischen Sonnengott.“ Sie schnaubte verächtlich. „Aber sein richtiger Name lautete Hans Irgendwas, vermutlich Hans Wurst.“

Clarissa lachte mit geschlossenem Mund und ohne eine Miene zu verziehen. Es war kurz, eher das Echo eines Lachens. Sie drehte sich wieder zu Claire.

„Jedenfalls, Helios starb mit einhundertneunundzwanzig Jahren eines natürlichen Todes. Im Schlaf, ganz friedlich. Deshalb feiern wir seitdem jeden, der diese Jahreszahl überschreitet. Onkel Otón, der eines der Heere im Kampf gegen die zweite Generation anführte, brachte mir zum Geschenk zwei Nachfahren dieses Rebellen mit: Katharina und Konstantin. Unsere Ideen zur Menschenregulierung waren zwar bereits entwickelt, in der Praxis jedoch noch unausgereift. Gleichzeitig schien uns aber die Menschzucht unter kontrollierten Bedingungen der einzige Ausweg. Wie du weißt, war Katharina die erste meiner Zucht und hat mir viele starke Menschen geboren. Und Konstantin diente mir redlich bis zu seinem Verrat.“

Clarissa schwieg einen Moment und gab Claire für den Bruchteil einer Sekunde einen telepathischen Einblick in den Schmerz, den sie fühlte. Gleich darauf verschloss sie sich wieder. „Worauf ich mit meinem rührseligen Rückblick hinauswill, ist: Sie versuchen immer wieder zu rebellieren, mein Engel. Merk dir das. Man kann ihnen niemals trauen. Es ist traurig, dass sie immer noch glauben, sie hätten eine Chance gegen uns.“

„Wie kann ich verhindern, dass mir der Mensch, den ich verwandele, nicht in den Rücken fällt?“

Clarissa nickte bedächtig.

„Das ist immer ein Risiko. Aber die Erfahrung zeigt, dass die meisten männlichen Exemplare unserem Zauber nur schwer widerstehen können. Daher würde ich raten, lass dir Zeit, wenn sie bei dir sind, und beobachte sie.“

„Haben Belaria, Sintane und Helga sich nicht genug Zeit mit ihren Menschen gelassen? Oder haben sie einfach nur eine unglückliche Hand gehabt?“ Die drei Genannten waren jüngste Beispiele von Vampiren, die Opfer ihrer Dienerschaft geworden waren. Im Nachtherold hatte es mehrere ausführliche Artikel dazu gegeben.

„Mein Engel, außer mir hat noch keiner in unserer Familie bislang eine schlechte Wahl getroffen. Im Grunde ist das alles immer gut gegangen. Wenn man mal davon absieht, dass dein Bruder Leander aus lauter Gier seine Geschenke gleich in der ersten Nacht verzehrt hat. Du wirst schon wissen, welchen von beiden du wandeln willst und welcher das Zuchtmaterial ist. Glaub mir, das ist wie bei anderen Tieren auch. Der andere Grund, warum ich dich sprechen wollte, ist: Hast du schon geträumt?“

Claire runzelte die Stirn, während sie überlegte. Sie bemerkte die menschliche Reaktion und glättete die Falten rasch wieder.

„Nicht, dass ich wüsste.“

„Gut. Dann hoffe ich für dich, dass es so bleibt. Ich hatte nämlich an den Tagen vor meiner Mondsteinnacht einen immer wiederkehrenden Traum von einem lilafarbenen Vogel, der mich attackierte. Die Traumdeuter der damaligen Zeit interpretierten dies als einen letzten Versuch meiner menschlichen Seite, sich gegen mein neues Vampirdasein zu wehren. Aus heutiger Sicht glaube ich aber, dass mich der Traum vor Konstantins Verrat gewarnt hat. Solltest du also ungewöhnlicherweise träumen und sich dieser Traum auch noch wiederholen, sag es mir. Dann werden wir einen Traumleser kontaktieren und versuchen, den Traum noch vor der großen Nacht deuten zu lassen.“

Claire nickte. Sie konnte sich nicht erinnern, überhaupt jemals geträumt zu haben, seit sie ein Vampir geworden war. Tagsüber fiel sie in einen todesähnlichen Schlaf, der unfassbar tief und schwer war. Sie konnte keinerlei Bilder in ihrem Gedächtnis ausmachen. Aber andere hatten ihr davon berichtet. Und häufig hingen die Träume mit einem Ereignis in der Zukunft zusammen. Manche Vampire hatten sogar regelmäßig Visionen. Dies war allerdings selten.

„Wollen wir dann los?“, fragte Clarissa.

„Wohin?“

„Ein Kleid für die Feier auswählen, Engelchen.“

Claire war sich sicher, dass ihre Augen jetzt freudig funkelten.

 

 

 

3 Vollmond

 

Janus hatte aufgehört, Jamira Fragen zu stellen. Sie wusste auch keine Antworten, und nach einer Weile wurde sie meistens wütend. Sie war viel zu oft wütend. Er fürchtete, dass ihre Wut ihnen beiden noch einmal zum Verhängnis werden könnte.

„Grübelst du schon wieder?“, fragte Jamira. Ihre Wangen leuchteten rosig und ihre Augen glänzten. Ähnliche positive Veränderungen hatte Janus auch an sich bemerkt. Vierzehn Tage und Nächte in diesem Gefängnis mit täglich drei Mahlzeiten hatten sie beide etwas ruhiger werden lassen. Allerdings wuchs Jamiras Haar an den Seiten wieder nach und sie wirkte weniger tough, als wenn die Schädelseiten frisch rasiert gewesen wären. Er fand sie hübscher so, aber es verwirrte ihn, über das Aussehen seiner Schwester nachzudenken.

Hin und wieder senkte sich ein flacher Bildschirm von der Decke und zeigte Filme. Sie hatten auch die Möglichkeit, Spiele zu spielen, und einige hatten ihnen tatsächlich Spaß gemacht. Janus vergaß manchmal sogar, dass sie nur Gefangene waren und durch den Spiegel beobachtet wurden. Gezeigt hatte sich ihnen noch kein Vampir.

„Na ja, klar“, antwortete Janus. „Das hier ist doch alles seltsam, oder nicht? Nie kommt jemand. Als wären wir zwei allein auf der Welt.“

„Hat dir Ida von den Zoos erzählt?“

Ida war ihre Mutter, bei der sie, bis sie beide dreizehn geworden waren, gelebt hatten. Zuerst hatte man Jamira abgeholt, zwei Jahre später Janus. Die Erwähnung der Mutter versetzte ihm einen Stich ins Herz. Was wohl aus Ida geworden war?

Er nickte stumm.

„Das hier ist einer. Wir sind in einem Terrarium in einem Zoo.“

„Terrarium?“

„Ein Glaskasten. Die gucken uns durch das Fenster zu.“

„Und warum?“

„Hey, Brüderchen, ich bin eine heiße Wildkatze und du ’n süßer Hundewelpe ...“

„Hör doch mal auf mit dem Scheiß, Jamira! Ich mein es ernst. Was soll an uns so spannend sein?“

Jamira presste die Lippen zusammen.

„Hör zu, ich weiß es nicht, okay? Wir sind hier, weil die es so wollen, und zwar so lange, wie die es wollen. Und ganz ehrlich? Niemand weiß, wie das Ganze abläuft, denn es kommt ja niemand zurück. Dass wir noch zusammen sind, grenzt an ein Wunder. Denk mal an alle anderen in unserem Lager. Hast du je einen unter den Wärtern entdeckt? Die Mütter und Väter sind mit den Kindern bis dreizehn in einem Lager, und alle ab dreizehn sind in einem anderen Lager, bis sie verschwinden. Und sicher werden einige wieder Mütter und Väter. Wo sind die Großeltern? Werden von den Alten welche gewandelt? Hast du je welche gesehen? Also menschliche Alte, nicht vampirische Alte?“

Janus musste das verneinen. Der älteste Vampir, den Janus je gesehen hatte, war nach Menschenjahren vielleicht um die dreißig gewesen.

„Also“, fuhr Jamira fort, „ich denke, wir sollen gewandelt werden oder kommen als Nächstes in die Fortpflanzungsabteilung. Um als Blutbank zu dienen, hätten die uns nicht hier einsperren und mästen müssen.“

Janus sprang auf und lief von Wand zu Wand.

„Und jetzt gibst du den Tiger?“, spottete Jamira.

„Ja, denn mir wird langweilig, und ich weiß auch nicht, ich will einfach, dass etwas passiert.“

Als hätte er es heraufbeschworen, öffnete sich die Klappe unter dem Spiegel und zwei Päckchen wurden hindurchgeschoben. Jamira riss das braune Papier auf und ein weißer Overall kam zum Vorschein. Es handelte sich aber nicht um Zweckkleidung, sondern um einen weichen, fließenden Stoff mit eingearbeiteten feinen Mustern.

In dem anderen Paket befanden sich ein weißes Hemd und eine ebenfalls weiße Hose. Plötzlich ertönte eine weibliche Stimme im Raum. Sie klang hart und schneidend, und das Mikrofon übersteuerte, als sie befehlsartig die Worte bellte: „Duscht euch, wascht euch die Haare und zieht die Kleidung an. Ihr werdet abgeholt.“

Jamira seufzte. „Da hast du es. Etwas passiert. Und ich schwöre dir, das bedeutet nichts Gutes.“

Janus ahnte, woran Jamira in diesem Moment dachte, und die Stimme aus dem Nichts schien es ebenfalls zu ahnen.

„Eine Weigerung wird eine Bestrafung nach sich ziehen.“

Janus erinnerte sich an die Schläge. Er zuckte innerlich zusammen. Jamira wohl auch, denn sie setzte ein falsches Lächeln auf.

„Aber natürlich, Eure Biestigkeit“, sagte sie in den Spiegel und imitierte einen Hofknicks im Ballkleid.

Kurz darauf waren sie beide geduscht, frisch geföhnt und trugen die verlangte Kleidung.

Als der falsche Spiegel nach oben und die restliche Wand in einen Schlitz nach unten fuhr, griff Janus nach Jamiras Hand. Seine Hand war kalt und klamm.

„Denk dran, Kleiner“, flüsterte sie, „keine Schwäche zeigen!“

Ihre Hand war warm und trocken.

Ein grauer und zweckmäßiger Raum öffnete sich vor ihnen. Durch zwei Fenster sahen sie, dass es draußen gerade Nacht war, was Janus nicht wirklich wunderte. Wohin auch immer sie gebracht wurden, die Nachtgestalten lebten in der Dunkelheit. Am Horizont, hinter einem der beleuchteten Hochhäuser und sonstigen Lichtern, war noch ein Streifen verblassenden Blaus zu sehen, der sich dem ewigen Lauf beugte und in tiefes Schwarz verwandelte.

Tagsüber waren die Fenster sicher hermetisch verschlossen, vermutete Janus. Ansonsten sah er ein gläsernes Pult mit leuchtenden, durchsichtigen Bildschirmen. Zwei männliche Vampire mit starren Mienen und hässlichen Gesichtern traten auf sie zu. Sie trugen die übliche Wärterkluft, und der Griff des einen legte sich wie eine metallene Zwinge um Janus’ Arm. Jede Bewegung der Nachtgestalten war einfach schneller als die eines Menschen.

„Oh, nicht so ruppig, Süßer“, sagte Jamira, aber Janus hörte durch den Spott hindurch, dass der Vampir ihr wehtat. Die Vampire gaben keine Laute von sich.

Man stieß sie durch eine Tür und zog sie weiter durch fensterlose Gänge in einen Aufzug. Dieser fuhr acht Stockwerke nach unten. Der Weg führte sie durch einen weiteren Gang, diesmal ohne Blick nach draußen und unterteilt durch drei schwere Eisentüren, als würde man sie durch ein U-Boot führen.

Unvermittelt erreichten sie eine Tiefgarage. Die Nachtgestalten zerrten Janus und Jamira zu einem großen schwarzen Auto mit getönten Scheiben. Die Türen öffneten sich selbstständig wie Flügel nach oben, und man stieß sie auf den Rücksitz. Die Türen schlossen sich leise, und die Wächter stiegen vorne ein.

 

Während der Fahrt vergaß Janus für einen Moment, sich zu fragen, warum er unterwegs war und was das alles zu bedeuten hatte. Er blickte lediglich aus dem Fenster und wurde von unbekannten Gefühlen durchströmt. Sie verursachten sogar einen seltsamen Geschmack im Mund, den er nicht zuordnen konnte.

Die Straßen waren von grellen und bunten Lichtern erhellt, und der Wagen glitt an Häusern aller Arten vorbei. Zunächst waren da gesichtslose quadratische Bauten, in denen eine Vielzahl an Fenstern erleuchtet waren. Zwischen den Gebäuden standen Bäume, die aber unbelaubt waren, und Parkanlagen, die wie tot dalagen.

Er war noch nie außerhalb des Lagers gewesen. Als er kurz zu Jamira schaute, wusste er, dass es ihr genauso ging wie ihm. Sie hielten sich an den Händen und staunten. Er sah, dass Jamira eine Träne über die Wange lief, und blickte wieder hinaus.

Der Januar war eiskalt, aber trocken und mit wenig Schnee, was sehr ungewöhnlich war. Doch dass der Monat schön sein konnte, sogar in der Nacht, das sah Janus erst jetzt. Hinter den Fensterscheiben funkelten Lichter in vielen Farben. Mächtige blattlose Bäume säumten die Straßen. Dazwischen ein blauschwarzer Himmel mit Vollmond und einigen Sternen. Es war einfach wunderschön.

In den Baracken hatten sie die geschlossenen Räume nur tagsüber für die Arbeit verlassen. Die Bewacher waren in abgedunkelten Räumen geblieben, hatten aber Anzüge, mit denen sie notfalls auch am Tag ins Freie hätten gehen können. Meistens aber waren Überwachungsdrohnen zum Einsatz gekommen. Die Barackenhöfe und Arbeitshäuser lagen alle innerhalb eines Labyrinths aus Mauern, Elektrozäunen und Stacheldraht. Bäume sah man nur aus bestimmten Blickwinkeln in der Ferne, und als Blumen bezeichnete man das Unkraut in den Ritzen der Pflastersteine. Oft genug war von den Bewachern verlangt worden, jedes Fitzelchen Grün im Hof zu entfernen.

In der Nacht hatte Janus immer wieder versucht, durch die Fenster den Himmel und den Mond zu sehen, aber es war stets ein unbefriedigender Ausblick gewesen. Die Gitter, die Spinnweben und anderer Unrat hatten die Sehnsucht nach dem unendlichen All im Keim erstickt. Dennoch hatte er es immer wieder versucht.

Jetzt war da nur noch eine dünne, saubere Scheibe zwischen ihm und den Himmelsgestirnen.

Die Autofahrt dauerte lange. Janus beobachtete andere Fahrzeuge, die plötzlich in die Luft abhoben. Erst nach einiger Zeit merkte er, dass ihm vor Staunen der Mund offenstand. Das Fahrzeug, in dem sie sich befanden, verließ den Boden jedoch nicht. Allerdings erschien ihm das Tempo ziemlich hoch, obwohl Janus diesbezüglich jeder Vergleich fehlte. Autos kannte er nur aus Filmen und Büchern.

Irgendwann ließ der Wagen den städtischen Bereich hinter sich und die Siedlungsstruktur änderte sich. Die Häuser und Gärten wurden größer. Hohe Mauern oder Zäune mit undurchdringlichem Buschwerk schirmten die Eigentümer ab. Zum Teil handelte es sich um Villen. Gebäude, die Janus in dieser Form ebenfalls nur aus Filmen kannte, reihten sich an architektonische Neuheiten, wie er sie noch nie gesehen hatte.

Das Auto wurde in eine Einfahrt gelenkt und hielt vor einem großen Metalltor. Hinter der angrenzenden Mauer wuchsen hohe Bäume. Trotzdem fühlte sich Janus durch die abschirmenden Wände direkt wieder an die Baracken erinnert. Doch als sie hineinfuhren, bestätigte sich sein Verdacht, dass es sich um eine menschliche Zuchtanlage handeln könnte, zunächst nicht.

Das Auto durchquerte einen weitläufigen Park, in dem viele kleine künstliche Lichter leuchteten. Zwischen den kahlen Bäumen wuchsen immergrüne Büsche. Fast außerirdisch hell leuchtete in der Ferne ein weißer Strauch.

Beim Näherkommen erkannte Janus, dass es sich um einen Rosenbusch handelte. Das Gewächs hatte kaum Blätter, aber für Januar erstaunlich viele Blüten.

Die Pflanze rankte an der Wand eines hochmodernen dreistöckigen Hauses empor, das einer Pyramide glich. Das Parterre war am breitesten, das erste Stockwerk etwas schmaler, das zweite ebenfalls und das dritte schloss mit einem Spitzgiebel ab. Die ungenutzte Freifläche schien als umlaufende Terrasse gedacht zu sein, denn sie war umzäunt. Allerdings nutzten die Vampire diese gewiss nicht zum Sonnenbaden.

„Wandlung“, sagte Jamira leise und Janus nickte zustimmend. Sein Magen zog sich zusammen und er spürte, dass sein Herz schneller schlug. Sie beide waren nicht für die Zucht bestimmt, sondern dazu, verwandelt zu werden. Weshalb sonst sollte man sie zu einem solchen Haus bringen, noch dazu in weißer Kleidung? Waren sie weiße Lämmer, die man zur Schlachtbank führte? Janus wurde übel bei dem Gedanken.

Der Wagen stoppte, die Türen öffneten sich schmatzend, und kalte Januarluft schlug ihm ins Gesicht. Das vertrieb die Übelkeit fürs Erste.

Die vampirischen Wächter zogen die beiden unsanft aus dem Auto und schubsten sie über den mit breiten Platten belegten Eingangsbereich. Der imposante Rosenstock ohne Laub, aber voller Blüten und Dornen, stand aufrecht neben der breiten schwarzen Haustür, zu der sie hingeführt wurden. War das etwa das Tor zur Hölle? Janus verlangsamte seinen Schritt und stemmte sich abrupt gegen den Wächter hinter ihm. Ein heftiger Schlag traf seinen Oberarm und ein unerträglicher Schmerz durchfuhr seinen gesamten Schultergürtel. Er ging unwillkürlich in die Knie, als ein zweiter Schlag seinen Rücken traf und ihn vollends zu Boden streckte. Janus krümmte sich, konnte aber nicht schreien, weil ihm der Schmerz den Atem raubte.

„Nicht!“, schrie Jamira und versuchte, sich zwischen ihn und den Wächter zu werfen, aber auch sie wurde hart geschlagen und von dem anderen Bewacher brutal zurückgezogen.

„Lasst ihn! Fasst ihn nicht an!“

Es folgte kein dritter Schlag. Stattdessen traten zwei andere Vampire heran, griffen unter seine Arme und hoben ihn hoch. Sie zerrten ihn durch die nun geöffnete schwarze Tür, während ihm lautlos die Tränen über die Wange liefen.

 

 

 

4 Braut der Nacht

 

Claire warf einen letzten Blick in den Spiegel. Sie trug ein kurzes cremeweißes Kleid mit langen Ärmeln aus Spitze, das ihre langen schlanken Beine zur Geltung brachte. Es schimmerte auf ihrer schwarzen Haut und ließ sie wie einen leuchtenden Onyx erstrahlen.

Sie war nun endgültig ein Wesen der Nacht. In den Mondscheingeburtsnächten feierte jeder Vampir den Übergang von der natürlichen in die übernatürliche Ordnung des Seins.

Sie suchte nach besonderen Gefühlen zu diesem besonderen Anlass, aber sie spürte nichts. Gleichmut allerhöchstens. Hatte ihr Bruder Christian ihr nicht von seiner Aufregung erzählt? Und die anderen Geschwister? Penelope, die Älteste, eine Nachfahrin der Indigenen aus Australien, hatte davon berichtet, dass sie sich vor der Feier mehr denn je an ihre menschliche Vergangenheit erinnert hatte: an die heiße Sonne Australiens, das Meer, das weite Land. An all die Dinge, die sie dann endgültig hinter sich lassen würde.

Warum fühlte Claire so etwas nicht? Sie kannte nichts von der Welt. Sie erinnerte sich nur an eine kurze glückliche Zeit im Elternlager in Nigeria. Dort hatte sie mit ihrer Mutter gelebt, deren Vorfahren alle aus Nigeria stammten, bis man Claire mit dreizehn von dort weggeholt hatte. Für einen Moment flammte ein Schmerz in ihr auf. „Mama“, hauchte sie. Doch ihre Mutter war sicher lange tot. Claire lebte nun bereits hundertdreißig Jahre als Vampir. Ihre menschliche Mutter hätte mindesten hundertfünfzig Jahre alt sein müssen, um noch am Leben zu sein, was natürlich unmöglich war.

Claire seufzte, wandte sich wieder ihrem Spiegelbild zu und musste lächeln. Es hatte wohl früher einmal geheißen, dass Vampire sich nicht im Spiegel sehen konnten, was sie immer sehr belustigend gefunden hatte. Sie zog sorgsam den Lippenstift nach und bemerkte selbstgefällig, dass ihre goldenen Augen noch stärker leuchteten als sonst.

Sie mochte ihr Aussehen als Vampir. Es war eine starke Verbesserung zu dem verwahrlosten Wesen, das sie als Mensch abgegeben hatte. Wieder durchzuckte sie eine Erinnerung. Sonne im Gesicht, Wärme, Zuneigung.

„Bist du soweit?“ Christian und Leander, der albinoweiße Bruder schwedischer Abstammung, standen im Zimmer, und ihr plötzliches Erscheinen riss sie aus ihren Gedanken. Obwohl ein Vampirgehör das menschliche um ein Vielfaches übertraf, hatte sie die beiden nicht kommen hören. Die beiden Männer waren in schwarze Smokings gekleidet und sahen ungeheuer gut aus. Christians absinthfarbene Augen hoben sich wunderbar von seinem schwarzen Gesicht ab, wohingegen Leander, blond und blass, so schwarze Augen hatte, dass man die Iris nicht von den Pupillen unterscheiden konnte. Sein Blick sog alles ein wie ein schwarzes Loch.

„Für mich hättet ihr euch nicht so in Schale schmeißen müssen.“

„Haben wir auch nicht. Aber Clarissa hätte uns der Sonne ausgesetzt, wenn wir wie üblich aufgekreuzt wären“, entgegnete Christian. Ihr entging nicht, dass beide Brüder sie ein wenig lüstern ansahen.

„Siehst geil aus“, sagte Leander.

Christian schüttelte den Kopf.

„Da hast du ja wieder den Charmebolzen ausgepackt, Leander. Claire, du siehst bezaubernd aus.“

Leander verzog den Mund zu einem Grinsen und ließ seine Reißzähne aufblitzen. „Aber nicht, dass du deine menschlichen Geschenke gleich in der ersten Nacht aussaugst.“

„Ich bin ja nicht du“, antwortete sie. „Tja, ich gedenke vielleicht mit den beiden eine Zucht zu beginnen.“

„Du kannst Geschwister nicht miteinander paaren. Das gibt kranke Nachkommen“, sagte Leander.

„Weiß ich doch. Ich kaufe für jeden von ihnen einen anderen Paarungspartner.“

„Einige Vampire bereiten sich tatsächlich auf diesen Tag vor, Leander“, stichelte Christian.

Leander knurrte. Er hatte noch immer Probleme mit seiner Zucht, da die gekauften Menschenexemplare nicht mit denen vergleichbar waren, die von Geburt an für einen Vampir ausgewählt wurden. Ihre Auswahl beruhte auf einer ausgeklügelten Wissenschaft der genetischen Entwicklung und der Blutnährstoffe. Frei verkäuflich waren meist nur Mängelexemplare. Gutes Menschenmaterial gab es höchst selten und nur für ungeheuer viele Joks, die vampirische Kryptowährung.

Christian bot Claire seinen Arm an. Leander tat es ihm gleich. Zwischen den beiden Männern eingehakt, verließ Claire ihr Zimmer im zweiten Stock. Langsam schritten sie durch den Flur in Richtung der Feier, die im Erdgeschoss stattfand.

Als Claire mit ihren Vampirbrüdern das weitläufige Wohnzimmer betrat, ging ein Raunen durch die Menge. Auf den ersten Blick sah sie neben weiteren Geschwistern, engeren Freunden und Bekannten auch viele unbekannte Gesichter. Alle hatten sich ihr zugewandt, und eine Welle telepathischer Sympathiebekundungen und ernst gemeinter bewundernder Komplimente schlug ihr entgegen.

Die einhundertdreißigste Geburtsnacht, gerechnet vom Zeitpunkt der menschlichen Geburt, aber gefeiert in der Nacht der Wandlung, stellte immer wieder ein großes Ereignis in jenen Reihen dar, in die Claire gelangt war.

Ihre Mutter Clarissa war eine der Ältesten, eine Nachfahrin der ersten Vampire überhaupt. Ihr Stamm, die Familie der Clandestines, gehörte gewissermaßen zum Hochadel der dunklen Welt, die unter dreizehn alten Familien, dem Roten Bund, aufgeteilt worden war.

Im Norden des amerikanischen Kontinents, Kanada, Alaska und Grönland herrschten die Clandestines. Ihre menschlichen Zuchten versorgten die Vampire ihres Reiches mit Blut, und sie bestimmten die Regeln des Landes. Sie verwalteten den Zahlungsverkehr in der Weißwegbehörde für alle Kryptowährungen und stellten die Mitglieder des Blauen Rates, des Verwaltungsapparates. Nur eine einzige neutrale Instanz hatte das Recht, gegen Mitglieder hoher Familien vorzugehen. Das war die Schwarzmondbehörde, die für den Schutz aller Vampire weltweit agierte. Ihre Mitglieder wurden nach telepathischen und telekinetischen Fähigkeiten ausgewählt, nicht nach Stammeszugehörigkeit.

Ihre gehobene gesellschaftliche Stellung war Claire dadurch bewusst gemacht worden, dass ihre Geschwister, vor allem Christian und Leander, sie regelmäßig in jene Teile von Halifax geschleppt hatten, in denen Vampire nur noch elendig dahinvegetierten, weil sie kaum noch an menschliches Blut gelangen konnten und auf Tierblut zurückgreifen mussten.

Viele Regelungen, die die Haltung der Menschen oder den Umgang mit der vampirischen Überpopulation betrafen, waren ihr zuwider. Wann immer es zu viele Vampire zu geben drohte, sorgten die dreizehn Eliten für eine Reduzierung der Population. Sie trieben die Ärmsten der Armen zusammen und sperrten sie in große Arenen. Bei Sonnenaufgang vernichtete die Hitze sie alle auf die grausamste Weise. Anders als die Legenden der Menschen es schilderten, zerfielen die Vampire im Sonnenlicht nicht zu Staub. Vielmehr wurde ihre Haut langsam verbrannt, bis sie aufplatzte und sich vom Fleisch löste. Es war eine grausame Prozedur, die auch unter den Herrschenden umstritten war. Doch es gab auf dieser Welt nichts anderes, was einen Vampir töten konnte, und so wurde dieses Ritual durchgeführt, allerdings so selten wie möglich.

Während Claire durch den Raum voller Vampire schritt, dachte sie daran, wie sie mit achtzehn Jahren Clarissa zum Geschenk gemacht und drei Jahre später von ihr verwandelt worden war. Sie erinnerte sich daran, wie sie in den ersten Jahren ihres neuen Daseins hin- und hergerissen war zwischen dem Wunsch davonzulaufen, sich freiwillig dem Sonnentod auszusetzen, und dem Bedürfnis, alles und jeden auszusaugen. Erst nach dreißig Jahren ließ die Qual des Durstes langsam nach. Und seltsamerweise hatte sie zu diesem Zeitpunkt auch begonnen, ihr Schicksal zumindest nach außen hin zu akzeptieren und ihre verzweifelte Trauer um ihre Menschlichkeit für sich zu behalten.

Die Matriarchin Clarissa und ihr junger Gefährte Gregor standen wie ein Königspaar vor dem Kamin. Wie alles im Haus war auch dieses Objekt quadratisch, praktisch, hochmodern und riesig. Die Vampirmutter der ersten Generation verachtete alles Alte und suchte sich stets neue, außergewöhnliche Dinge. So verfuhr sie mit ihrem Mobiliar und ihren auserwählten Kindern.

Christian und Leander wichen nicht von Claires Seite, während immer mehr Vampire ins Wohnzimmer drängten, um einen Blick auf sie zu werfen.

Ihre Schwestern Penelope, Sandra, Karina und Lin-Ari mit ihrem Gefährten Nirodan standen bei weiteren Freunden der Familie. Alle nickten ihr zu und taxierten danach interessiert Christian und Leander. Die entfernten Verwandten der Clandestines vom Schwarzen Meer aus Odessa bevölkerten mehr und mehr den Raum. Ein wohlwollendes Wispern in vielen Sprachen erfüllte die Luft.

Mit einem Mal durchfuhr Claire ein Kribbeln und jedes Härchen an ihrem Körper stellte sich auf. Es ähnelte dem Gefühl, Blut zu trinken, und doch war es anders. Es fühlte sich an wie ... ja, wie? Sie konnte es nicht benennen. Eine ferne Erinnerung an ihre menschliche Kindheit und an Zucker stieg in ihr auf.

Ihre Brüder ließen sie los, und Claire drehte sich im Kreis. Sie war umringt von den Mitgliedern der Familie Clandestine. Über die vielen Köpfe hinweg erblickte sie die leuchtenden Augen ihrer Mutter Clarissa. Musik erklang. Es war ein Klavierstück. Aber Claire hörte auch, wie aus weiter Ferne, den Schlag einer Trommel. Ihr Innerstes erzitterte. Was geschah hier?

Christian stoppte ihren Taumel und drehte sie zur Tür, durch die sie eben erst eingetreten war. Das Meer der Anwesenden teilte sich. Das leise Gemurmel verstummte.

Mit einer edlen Kristallschale, gefüllt mit nach Lilien duftendem Blutwein, trat Clarissa in den offenen Korridor. Sie schritt nicht, sie glitt wie ein Geist zu Claire, hob das Glas und senkte es wieder.

„Meine jüngste Tochter!“, sagte sie mit feierlicher Stimme. Das Klavier wurde lauter, die Trommel blieb leise, wie ein unterschwelliges Metronom. „Meine liebe Claire. Du wurdest benannt nach meinem Lieblingswerk des Künstlers Claude Debussy. Nach dem dritten Satz der ‚Suite bergamasque‘ mit dem Titel ‚Clair de Lune‘. Mondlicht. Gut, ich habe deinem Namen noch ein E hinzugefügt, aber wir wollen nicht kleinlich sein. Ich sah dich und wusste, dass du eine Clandestine bist. Eine alte Seele in einem jungen Körper. Das Wissen von Jahrtausenden sah ich in dir verborgen, eingeschlossen wie in einem Diamanten. Heute wirst du endgültig die Fesseln der menschlichen Existenz verlieren, denn du überschreitest die Schwelle. Und wir, deine Dynastie, schenken dir heute den Grundstock für dein weiteres Leben in der Nacht.“

Das Zittern drang nun von Claires Innerem nach außen. Besonders ihre Beine fühlten sich gefährlich unsicher an. Diese Trommel, woher kam nur dieser Klang? Das Schlagen war unglaublich leise, und doch schien es das wunderbare sanfte Spiel des Klavieres zu übertönen. Zum Glück stand Christian hinter ihr und stützte sie. Ihre Mutter hob das Glas erneut und alle im Raum taten es ihr gleich.

„Auf die hundertdreißigste Geburtsnacht von Claire Clandestine!“

Sie tranken. Der Geruch und die Gier aller Anwesenden durchdrangen den Raum wie eine kurze, feine Welle. Nur Claire hatte kein Glas, doch endlich gab die Mutter die Tür frei.

Claires Blick trübte sich. Ihr war schwindelig, die Trommel schlug schneller. Sie sah nur noch verschwommen, wie konnte das sein? Zwei weiße Gestalten, wie seltsam geformte Geister, leuchteten im Türrahmen auf. Sie gingen langsam, wurden geschoben, hinter ihnen dunkle Schatten.

Seliger Mond! Claires Blick schärfte sich. Vor ihr standen zwei zarte, zauberhafte Menschen mit dünner heller Haut, die wie weiße Schokolade darauf warteten von Claires spitzen Zähnen durchbrochen zu werden. Unter dieser feinen Schicht roch sie das heiße, pulsierende Blut, das einen unwillkürlichen Rausch in ihr auslöste. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt einen solchen Durst verspürt hatte.

Es handelte sich um ein Mädchen und einen Jungen. Claires Blick wanderte gierig zwischen den beiden hin und her.

„Wir wollten sie erst mit einer Schleife zusammenbinden, doch dann haben wir uns für die simpelste Form der Übergabe entschieden. Dies, liebste Claire, sind deine Menschen Jamira und Janus, die Besten der Generation J621! Mögen sie dir ein ewiges Leben in Glück und Wohlstand bieten. Herzlichen Glückwünsch zu deiner hundertdreißigsten Geburtsnacht!“

Applaus brandete auf. Die beiden Menschen blickten verwirrt und ängstlich zu ihr und durch die Reihen der Anwesenden. Claire konnte den Blick nicht von ihnen wenden.

Der Junge war groß und schlank und noch nicht ganz zu seiner vollen männlichen Statur ausgereift. Er hatte die Anlagen, ein starker Vampir zu werden. Sein Blick war schreckgeweitet, doch irgendetwas hielt er verborgen, und es handelte sich nicht um Furcht oder Angst. Etwas anderes spiegelte sich in dem kalten hellen Blau, und Claires Blutlust wurde von Zweifeln eingedämmt.

Das Mädchen war blond wie der Junge, aber älter. Ihre Verwandtschaft war unverkennbar. Es hatte einen ruhigen Blick. Voller Wut, Kälte, Berechnung. Die Trommel schlug schneller und kräftiger. Woher kam das nur?

Claire trat an ihre Geschenke heran. Die Trommelei war kaum noch auszuhalten, als das Mädchen, das zuvor wie sein Bruder den Blick über die Vampirmenge hatte gleiten lassen, sie nun starr fixierte. Der Blick bohrte sich tief in Claire hinein. Verdammt! Sie. Nur sie. Und Claire begriff: Die Trommel war nicht im Raum. Es war ihr totes Herz. Es schlug. Wegen ihr.

Sie tastete nach Christians Hand. Er drückte sie.

„Du hast alle Zeit der Welt“, flüsterte er ihr zu, doch Claire wusste es. Das Mädchen, die junge Frau, sie allein war es wert, ihre neue Gefährtin zu werden. Der Junge würde ihre Zucht begründen, sobald er ein oder zwei Jahre älter war. Seine Augen waren anders als die des Mädchens. Sie leuchteten blau wie eine von der Sonne beschienene Wasseroberfläche. Dieses Leuchten, es verbarg seine Gefühle. In dem Mädchen hingegen erkannte Claire die Dunkelheit, den Killer, die Gier nach Blut.

Mit dieser Erkenntnis endete das Trommeln ihres Herzens. Claire gewann ihre Fassung zurück. Ein letztes echtes menschliches Lächeln legte sich auf ihr gefühlsarmes Vampirgesicht. Zum letzten Mal zeigte sie eine menschliche Emotion.

Sie gab den Wachen einen stummen Befehl, die Menschen wurden gepackt und weggeführt. Erneut brandete Applaus auf. Das Klavier spielte nun nicht mehr ‚Clair de Lune‘. Es wechselte zu heiteren Klängen.

 

 

 

5 Ethik und Moral

 

Jamira begriff nicht, was sich soeben ereignet hatte. Dieser kalte Blick der Vampirin war wie ein Messer in sie hineingefahren, hatte etwas in ihrer Seele berührt, von dem sie nicht wusste, was es war. Sie hatte eine Trommel gehört, aber es hatte sich keine im Raum befunden. Eventuell war es eine Tonaufzeichnung gewesen, aber Jamira bezweifelte es.

Die Wachen führten sie eine Treppe hinauf, stießen sie voran durch einen nackten Flur mit Steinboden, bilderlosen weißen Wänden und mächtigen schmiedeeisernen Kerzenständern.

Seltsam, dachte Jamira, ein Haus so modern und doch auf gewisse Weise mittelalterlich.

Am Ende des Flures öffnete sich zu ihrer Rechten lautlos eine Tür zu einem weitläufigen Zimmer mit zwei Betten, Nachttischen und einem Schrank. Die Fenster waren vergittert und nicht durch Vorhänge oder Rollläden verdunkelt. Das würde sich bestimmt bei Sonnenaufgang ändern. Jetzt war es tiefste Nacht, vielleicht halb zwei oder gar drei?

Die Wachen verließen den Raum, und es wurde von außen hörbar abgeschlossen. Ein weiteres Gefängnis. Eine weitere Zelle zum Dahinvegetieren.

Jamira sah sich um, öffnete eine kleine Tür, die ein überschaubares Bad offenbarte, und schloss sie wieder.

„Hübsch. Ob das Hotel wohl Zimmerservice hat?“ Von so etwas hatte sie einmal in einem Buch gelesen und seither davon geträumt.

Janus wirkte verstört, aber nicht wegen Jamiras Kommentar, sondern wegen dieses seltsamen Vampirfestes.

„Einer von uns wird gewandelt und einer für die Zucht gebraucht“, sagte er. Seine Stimme klang tonlos und desillusioniert. Sie standen ratlos im Zimmer herum.

Jamira lagen gleich mehrere spöttische Antworten auf der Zunge: Was dachtest du denn? Ach, komm, stell dich nicht so an! Ich werde bestimmt als Gebärmaschine missbraucht, aber du bist doch fein raus. Die Vampirin, der wir jetzt gehören, ist doch ziemlich heiß. Aber nicht ein Spruch kam ihr über die Lippen. Was war denn heute bloß los mit ihr? Hatte die Realität sie auch ihrer stärksten Waffe beraubt, ihrer dummen Sprüche?

„Ich kann es nicht ändern, Jamira, aber ich habe eine Scheißangst. Ich will kein Vampir werden.“

Jamira blieb ihm eine Antwort schuldig. Er sah bleich und unfassbar jung aus. Unmittelbar musste sie an Pluto denken, den Hund aus einem uralten Comic mit dem Titel Mickey Mouse. Janus war zwar bereits so groß wie ein Mann, aber schlaksig und ungelenk, sich seiner Kraft nicht annähernd bewusst. Seine Angst war auch ihre Angst. Er stand kurz davor, zu einem wunderbaren Menschen zu erblühen, und würde nun stattdessen ein lebender Toter werden.

„Hast du die Kälte in dem Raum gespürt? Es war wie in einem Käfig aus Eis. Und diese toten Gesichter. Keine Regung. Wie Wachsmasken oder so. So will ich nicht werden, Jamira. Nicht so, ohne ... Leben.“

Musste er all das aussprechen? Plötzlich fröstelte sie.

„Komm her, Kleiner!“, sagte sie, zog ihn an sich und drückte ihn. Er erwiderte die Umarmung. Warmer Körper, warmer Atem. Es fiel ihr schwer, ihn wieder loszulassen.

Stunden vergingen. Erst als die Nacht fast vorüber war, öffnete sich die Tür zu ihrem neuen Gefängnis. Jamira hatte gewacht, während Janus geschlafen hatte. Doch er war sofort wach. Wie Soldaten standen sie bereit.

 

Claire war schrecklich nervös, als sie in das Zimmer ihrer Menschen eintrat. Sie bemühte sich, nicht zu lange in ihre Augen zu sehen und ihre eigene Unsicherheit gut zu verbergen. Schließlich hieß es ja immer, Vampire hätten starre Gesichter.

Jetzt, wo keine Musik und Trommelgeräusche da waren, konnte sie die beiden mit mehr Ruhe wahrnehmen. Trotz ihrer Verwandtschaft konnten ihre Auren nicht unterschiedlicher sein. Nahezu so, als hätte sie Yin und Yang vor sich.

Claire hatte sich den ganzen Abend mit zahlreichen Gästen darüber unterhalten, wie man die Menschen dazu brachte, sich fortzupflanzen. Ihr Geschlechtstrieb war offensichtlich komplexer als bei Tieren, wobei die Männer offenbar einfacher funktionierten. Claire hatte sich bestärkt darin gefühlt, den Jungen zur Züchtung zu verwenden und das Mädchen zu verwandeln.

Doch es gab ein Problem: Sie wollte diese Jamira nicht nur verwandeln. Sie wollte, dass die junge Frau aus freien Stücken darum bat, gewandelt zu werden und dass sie vielleicht eine Verbindung zueinander fanden. Aber bei der Feindseligkeit, die ihr nun entgegenschlug, würde dieses Unterfangen sehr viel Geduld erfordern.

„Was hast du mit uns vor?“ Jamiras Frage kam forsch und selbstbewusst. Doch auch eine ängstliche Nuance schwang in ihrer Stimme mit.

„Ist das nicht offensichtlich?“ Claire hielt das Mädchen für alles andere als dumm.

„Wir lassen uns nicht trennen.“ Diese Aussage kam unerwartet kämpferisch von dem Jungen.

„Janus, richtig?“, sagte Claire. Er sah sie angespannt an. Auch er schien Angst zu haben, aber Claire konnte sie nicht wirklich spüren. Wieso wirkte er so unnahbar, geradezu unantastbar?

„Eine Trennung ist unvermeidlich“, bemerkte Claire. „Aber ihr habt noch etwas Zeit.“

Beide starrten sie fragend an. Ihr Mienenspiel spiegelte Angst, Wut und Verzweiflung wider.

„Ich habe mich noch nicht entschieden“, fügte Claire hinzu, was eine Lüge war. Aber sie wollte die beiden auf jeden Fall erst einmal eine Zeit lang beobachten. Vielleicht würde ihr das Aufschluss darüber geben, welche Partnerin für den Jungen geeignet wäre.

„Nur über unsere Leichen!“, zischte das Mädchen, was Claire ungeheuer anziehend fand. Jamira war eine Killernatur.

Ihr Vampirbruder Christian hatte Claire geraten, sofort klarzustellen, wer das Sagen hatte. Auch die Literatur empfahl klare Regeln. Der Eigentümer sollte von vornherein keine Frechheiten dulden. Aber im Moment sah Claire dort nur zwei angespannte kleine Menschen vor sich stehen, die niemals eine Chance im offenen Kampf mit ihr gehabt hätten. Sie sah keine Notwendigkeit, wegen jeder Kleinigkeit disziplinarische Maßnahmen zu ergreifen.

„Warum tut ihr das?“, fragte Janus unvermittelt. „Warum haltet ihr uns wie Tiere in Käfigen?“

Claire war versucht zu lachen.

„Warum? Das fragst du ernsthaft?“

„Ja! Wir stehen doch hier und sprechen dieselbe Sprache. Es ist ja nicht so, dass wir bellen, muhen, gackern oder grunzen.“

Claire seufzte. Auf solche Lebensweisheiten war sie nicht vorbereitet. Außerdem hieß es immer, die Menschen wären trickreich. War seine Frage ein Trick? Aber was sollte ihr schon passieren? Die beiden konnten ihr nichts anhaben.

„Wir sind euch in allem überlegen“, sagte Claire schließlich. „Wir sind schneller, sehen, riechen, fühlen besser. Wir haben mehr Kraft, beherrschen Gedankenkontrolle und können jeden Menschen, auch ohne ihn zu beißen, in Sekundenbruchteilen töten. Wir sind einfach die überlegene Spezies. Ein kleiner Fisch wird nie ein Hai werden, auch wenn beide im selben Ozean schwimmen.“

„Aber habt ihr denn keine Ethik? Keine Moral?“

Jetzt war Claire doch ein wenig amüsiert, was sich in einem kläglichen Hicksen äußerte. Gleichzeitig fühlte sie sich als diejenige, die eigentlich das Gespräch führen und beherrschen sollte, in die Ecke gedrängt.

„Ethik? Moral? Ihr seid …“, beinahe hätte sie unser Futter gesagt, „… kleine Fische. Und es herrschen nun mal die Haie.“

Diese Sätze widersprachen dem, was sie eigentlich dachte. Gerade die fehlende Ethik und Moral im Umgang mit den Menschen waren in ihren Augen ein Problem. Die Hai-Analogie stammte aus einem Lehrbuch aus der Gründerzeit nach den Vampirkriegen und entsprach nicht ihrer Weltsicht. Weshalb zitierte sie sie dann? Claire drehte sich abrupt um und verließ den Raum. Auch weil sie spürte, dass der Sonnenaufgang unmittelbar bevorstand. Hinter ihr schloss sich die Tür automatisch und schluckte das sanfte Rattern der sich senkenden Rollläden.

Im Flur harrte sie einige Minuten aus und starrte auf den Boden. Sie hatte sich selbst so benommen, wie sie es bei allen anderen Vampiren hasste: selbstgefällig, überlegen und herablassend. Sie hatte geglaubt, wenn sie nur „nett“ wäre, würden sich die Menschen ihr sofort zutraulich zuwenden. Mann, hatte sie sich damit geirrt!

 

„Ethik und Moral?“, platzte es aus Jamira heraus. Janus wusste selbst nicht, was er sich bei seinen Fragen gedacht hatte.

„Sag mal, bist du komplett übergeschnappt?“

„Ich dachte, ich appelliere an ihre Gefühle oder so.“ Er beobachtete, wie sich die Rollläden zu einer absolut lückenlosen schwarzen Wand verdichteten.

Jamira warf sich aufs Bett.

„Ich muss jetzt echt mal pennen. Wenn ich wieder wach bin, suchen wir etwas, das wir als Waffe einsetzen können.“

„Willst du etwa gegen sie kämpfen? Und das hältst du für klüger als meine Frage nach Ethik und Moral?“ Es war nicht sehr beruhigend, dass seine Schwester auch keinen Masterplan hatte.

„Ja, klar. Ich bin ja schlauer als du“, sagte sie schläfrig.

Janus musste schmunzeln. „Das halte ich für ein Gerücht, aber wenn du dann besser schläfst.“

Jamira antwortete nicht mehr.

Janus stand auf und ging zum Fenster. Es ließ sich natürlich nicht öffnen. Vielleicht konnte man es einschlagen? Glasscherben wären als Waffe geeignet. Er blickte im Zimmer umher.

An der Decke hing eine filigrane Lampe. Vom Bett aus konnte er sie fast erreichen. Schließlich zog er den Nachttisch heran und stieg darauf, um die Lampe zu begutachten.

---ENDE DER LESEPROBE---