Fürchte, was du begehrst - Jo Spain - E-Book
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Fürchte, was du begehrst E-Book

Jo Spain

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Beschreibung

In Leinster House, dem irischen Parlamentssitz, findet man die Leiche eines hochrangigen Regierungsbeamten. Während einer Benefizgala wurde er in einem unterirdischen Gang des Gebäudes regelrecht hingerichtet. Alles deutet zunächst auf politische Hintergründe für die Tat, denn Leinster House ist ein fruchtbarer Nährboden für Korruption, Intrigen und dunkle Geheimnisse. Doch Inspector Tom Reynolds lässt sich nicht von dem Offensichtlichen täuschen - und stößt schon bald auf eine Spur, die auf ein sehr viel persönlicheres Tatmotiv hinweist ...

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Seitenzahl: 594

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Inhalt

Cover

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

Begriffe aus der irischen Sprache (Gaeilge)

Anmerkung der Autorin

Prolog

1

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Epilog

Danksagung

Über die Autorin

Jo Spain arbeitete nach ihrem Studium als Journalistin und Beraterin des Irischen Parlaments. Nachdem ihr Krimidebüt Tu Buße und stirb in Irland sogleich zum Bestseller avancierte und es auf die Shortlist des renommierten Richard-and-Judy-Bestseller-Competition schaffte, erscheint mit Fürchte, was du begehrst nun der zweite Band ihrer Krimiserie um Inspector Tom Reynolds und sein Team von der Dubliner Polizei. Jo Spain lebt mit ihrem Ehemann und ihren vier gemeinsamen Kindern in Dublin.

Kriminalroman

Aus dem Englischen vonAnke Angela Grube

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Deutsche Erstausgabe

Für die Originalausgabe:Copyright © 2016 by Jo SpainTitel der englischen Originalausgabe: »Beneath the Surface«Originalverlag: Quercus Publishing Ltd, London

Für die deutschsprachige Ausgabe:Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, KölnTextredaktion: Ulrike Brandt-Schwarze, BonnTitelillustration: © Image by Debbie Margetts –Ancora Imparo/getty-images; © mammuth/getty-images;© Ray Wise/getty-imagesUmschlaggestaltung: www.buerosued.de

eBook-Erstellung: Olders DTP.company, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-5650-2

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Für Isobel, Liam,

Begriffe aus der irischen Sprache (Gaeilge)

Oireachtas (gespr.: irachtas) – Parlament der Republik Irland, das aus zwei Kammern besteht: dem Abgeordnetenhaus und dem Senat

Dáil Éireann (gespr.: daajl eerenn) – die Abgeordnetenkammer (Unterhaus) des Irischen Parlaments

Seanad Éireann (gespr.: schened eerenn) – der Senat (Oberhaus), mit vor allem beratenden Funktionen

An Taoiseach (gespr.: tiischach) – der Premierminister

A chara – lieber Freund

Anmerkung der Autorin

Die Handlung dieses Romans ist frei erfunden. Die Geschichte entspringt meiner Fantasie; Ähnlichkeiten mit realen Personen oder Orten sind nicht beabsichtigt.

Prolog

Der Tod

Ich werde sterben.

Das weiß ich so sicher, wie ich weiß, dass ich es nicht will.

Ich ertrage es nicht. Der Gedanke, meine Mädchen zurückzulassen, sie nicht mehr wiederzusehen, ist mir unerträglich.

Kathryn wird sich nie davon erholen. Anders als so viele verheiratete Paare haben wir den Widrigkeiten getrotzt und sind immer noch genauso verliebt wie am ersten Tag. Meine liebe, schöne, witzige Kathryn.

Und Beth. Oh, mein kleines Baby. Die Frische und Makellosigkeit ihrer Haut. Der Duft ihrer weichen Haare. Ihr pummeliges Händchen, das meinen Finger umklammert, als wollte sie ihn nie mehr loslassen. Sie ist ein Teil von mir, doch sie wird mich nie kennenlernen. Man wird ihr erzählen, dass ich sie geliebt habe, doch sie wird nie wissen, wie sehr. Nie wird sie von dem fast körperlichen Schmerz erfahren, den ich empfand, als sie geboren wurde, als die Liebe zu meinem Kind mich überwältigte. Als ich sie zum ersten Mal in den Armen hielt, brachte ich kein Wort heraus, der Kloß in meinem Hals war zu groß. Kathryn lachte darüber. Sie hatte mich noch nie weinen sehen, und ich weinte, weil ich so glücklich war.

Jetzt weine ich auch.

Habe ich gewusst, dass es so weit kommen würde? Warum war mir nicht klar, dass ich nicht nur mit meiner eigenen Zukunft russisches Roulette spielte, sondern auch mit der meiner Familie?

Ich stürze nach vorn, in die kalten Arme des Engels. Die Fotos rutschen mir aus den Händen und landen verstreut auf dem Fußboden.

Mein Aufstieg und mein Absturz.

Wie wenig mir das jetzt bedeutet.

Alles würde ich dafür geben, könnte ich die Zeit zurückdrehen und bei meinen Mädchen sein, sie in die Arme schließen und fest an mich drücken, während mir das Herz vor lauter Liebe aufgeht.

Doch ich habe zu spät erkannt, dass alles andere unwichtig ist.

Mein Körper zuckt vor qualvollem Schmerz, als ich versuche, den Kopf zu drehen.

Ich will meinem Henker ins Auge schauen. Wer ist dieser Mensch, der mir alles nehmen wird?

Es ist eine grausame Bestrafung. Ich hatte eine berufliche Laufbahn bedroht, nicht ein Menschenleben. Es ist nicht fair.

Ich werde betteln. Ich werde wehklagen und flehen, und vielleicht wird Gott einschreiten, wird mir meine Naivität vergeben, meine Überheblichkeit. Dieser Engel wird mich nicht gen Himmel tragen, sondern mir helfen, und ich werde darum kämpfen weiterzuleben. Für sie, Kathryn und Beth, will ich kämpfen.

Doch alle Hoffnung auf Rettung schwindet, als ich meinen Angreifer erblicke.

Über meine Lippen kommt nur ein Wort.

Nicht: »Nein«. Nicht: »Aufhören«.

Sondern …: »Warum?«

Und dann sehe ich es, aber ich begreife es nicht. Das Ende.

Es gibt keine Hoffnung auf Rettung. Es wird keine Erlösung geben.

Ich werde sterben.

Die Waffe ragt in mein Sichtfeld, als die zweite Kugel abgefeuert wird.

Die Kugel, die mich tötet.

Der Deal

»Ist die Sache erledigt?«

»Darüber haben wir doch schon gesprochen. Ich werde meinen Teil der Abmachung einhalten.«

In einer Ecke des Zimmers schlägt eine prächtige alte Standuhr die späte Stunde. Sonst ist alles ruhig. In anderen Teilen des weitläufigen Gebäudes herrscht noch reger Betrieb, Leute gehen ihren Aufgaben nach, ohne zu ahnen, was zwischen den beiden Männern besprochen wird.

Die Atmosphäre ist angespannt, ja bedrückend.

Der Geschäftsmann steht am Tisch und schenkt sich aus einer Kristallkaraffe einen zweiten Cognac ein. Der Alkohol zeigt kaum Wirkung. Er ist es gewohnt, alles im Übermaß zu sich zu nehmen.

Er war nicht immer so gewesen. Als Kind war er weder der Älteste – er wurde nicht gescholten und bestraft, wie alle Erstgeborenen –, noch der verwöhnte, verhätschelte Jüngste, der die Liebe der älteren Familienmitglieder genießt. Der Geschäftsmann war ein ruhiges mittleres Kind gewesen, dem man meist keine große Beachtung schenkte. Manche Leute würden sagen, er habe in seinem späteren Leben deshalb so viel erreicht, weil er sich nach Aufmerksamkeit sehnte. Sie irren sich. Denn schon früh stellte er an sich fest, dass er die Früchte des Erfolgs genoss, nicht etwa das Rampenlicht.

Er hält den Stöpsel der Karaffe dem Kristallleuchter entgegen. Das Licht glitzert im Prisma des kunstvoll geschliffenen Glases, verschiedenfarbige kleine Lichtsterne huschen an den Bücherborden entlang, die sich unter einer prächtigen Auswahl zeitgenössischer und alter Werke biegen. Nachlässig legt er den Stöpsel auf den Barschrank aus Mahagoni und führt den Cognacschwenker an den Mund, atmet ein, während der Cognac seine Mundhöhle benetzt und die Kehle hinabrinnt. Ein Hennessy Cognac Paradis. Ausgezeichnet, aber bei Weitem nicht der beste. Mit dem Geld des Steuerzahlers kann man sich den kleinen Luxus leisten, nicht aber den wirklich großen.

»Ich habe Sie gefragt, ob die Sache erledigt ist.« Der Tonfall des Geschäftsmannes ist spröde, schroff, bohrend.

Der sitzende Mann lächelt kühl und bemüht sich, entspannt zu wirken. Doch das leichte Zittern seiner rechten Hand besagt etwas anderes.

»Hören Sie, habe ich Ihnen schon mal irgendeinen Anlass zur Besorgnis gegeben? Ich habe alles im Griff. Ich sehe keine Probleme auf uns zukommen, aber unterschätzen Sie nicht, was ich hier zu tun versuche. Sind Sie sich im Klaren darüber, was passieren würde, wenn irgendwas davon durchsickert und auf gewisse Weise verdreht wird? Wenn man wüsste, was Sie und ich getan haben, und mir die Kontrolle über die Sache entgleitet? Es geht hier nicht nur um die Absetzung eines Ministers. Sondern darum, dass die Regierung darüber stürzen könnte.«

Der Geschäftsmann antwortet nicht gleich. Er neigt das Glas und betrachtet interessiert den Cognac. Ein schöner sanfter, honiggoldener Farbton.

»Seien Sie doch nicht so dramatisch«, sagt er abschätzig. »Regierungen kommen und gehen. Die Geschäfte laufen trotzdem weiter.«

»Ich finde es nicht dramatisch, darauf hinzuweisen, dass Sie Millionen riskieren, wenn nicht alles nach Plan verläuft. Eine andere Regierung wäre vielleicht weniger … verständnisvoll.«

»Ich muss erst noch sehen, ob Sie wirklich Verständnis für meine Lage haben. Ihre Regierung ist nun schon seit neun Monaten im Amt, aber mein Unternehmen macht immer noch negative Schlagzeilen. Man hat mir versprochen, dafür zu sorgen, dass unsere Aktivitäten sich reibungslos abwickeln lassen. Warum dauert das alles so lange?«

Der Mann, mit dem er spricht, versucht, das drohende Augenzwinkern zu unterdrücken. Es ist ein Anzeichen dafür, wie müde er ist, es verrät seine Schwäche. Dass seine Hand zittert, hat sein Gegenüber bestimmt schon mit Beunruhigung vermerkt.

In Wahrheit hat es nichts mit Stress zu tun.

Er hat sich von dem Geschäftsmann ein Glas Cognac einschenken lassen. Fünf Jahre, drei Monate und zwölf Tage kein Tropfen. Das hier ist eine Bewährungsprobe. Er wird den Cognac nicht trinken, aber oh, die Versuchung! Sie ist immer da – klopf, klopf, klopf! –, ein endloser Kampf des Willens gegen das Verlangen. Und in Phasen wie diesen, wenn es ihm besonders schlecht geht, ist dieser Kampf ungeheuer anstrengend.

»In rund einer Woche wird der Gesetzentwurf dem Parlament vorgelegt und schnell verabschiedet«, sagt er. »Alles wird nach Plan verlaufen, und sollten doch irgendwelche unerwarteten kleineren Probleme auftauchen, werden sie behoben. Und zwar umgehend.«

In diesem Augenblick überkommt den Mann in dem Sessel der Drang, die ganze Cognac-Karaffe in einem Zug zu leeren.

Denn es gibt eine Komplikation, derart unverhofft, dass er völlig überrumpelt war, als er einige Tage zuvor damit konfrontiert wurde.

Auf diese Krise könnte er gut verzichten, auf dieses Treffen ebenfalls. Denn auch in seinem Privatleben gibt es eine Krise. Wahrscheinlich verliert er bald den Menschen, der ihm mehr bedeutet als alles andere auf der Welt – der Geschäftsmann und seine Forderungen sind ihm nicht länger wichtig.

Der Mann unterdrückt einen Seufzer. Ihm bleibt keine andere Wahl, als die eigenen Angelegenheiten vorerst zurückzustellen. Das neu aufgetauchte Hindernis für die Pläne des Geschäftsmannes muss beseitigt werden. Egal wie. Er hat nicht umsonst so lange so hart dafür gearbeitet und alles andere vernachlässigt.

Was das angeht, ist er sich sicher.

Der Geschäftsmann mustert ihn beängstigend durchdringend. Der Sitzende kommt sich nackt vor. Nein, schlimmer noch, durchsichtig.

»Das hoffe ich doch«, sagt der Geschäftsmann schließlich. »Wenn Sie nämlich nicht garantieren können, dass ich bekomme, was ich will, suche ich mir einen anderen, der dazu in der Lage ist. Habe ich mich klar ausgedrückt?«

Der sitzende Mann blickt in sein Glas mit dem goldfarbenen Cognac. Der schwere, leicht süßliche Duft steigt ihm verführerisch in die Nase. Er greift danach. Seine Hand ist schweißnass, sodass sie fast an dem kunstvoll geschliffenen Glas abgeglitten wäre.

»Kristallklar«, antwortet er.

Die Standuhr tickt weiter, zählt die Sekunden bis zum Mord.

Die Jagd

60, 59, 58, 57…

Ungeduldig trommelt der Mann mit den Fingern auf den Schreibtisch. Er ist nervös, angespannt, atmet rasch. Hinter ihm surrt der Drucker, spuckt im Schneckentempo die Fotos aus, die er braucht. Wenn der Drucker eine Pause einlegt, um die Einstellungen zu kalibrieren, bleibt ihm fast das Herz stehen, und ihn überfällt die jähe Erkenntnis, dass eine lächerliche technische Panne das Ganze noch stoppen könnte.

50, 49, 48, 47…

Fast fertig. Ein leerer Ordner liegt aufgeklappt bereit, wartet darauf, gefüllt zu werden. Auf dem Bildschirm befindet sich immer noch das letzte Bild der Sammlung, es sticht dem Mann ins Auge. Er schämt sich, ist verlegen, und aus Abscheu vor dem, was er vorhat, krampft sich sein Magen zusammen.

Er beginnt, die Fotos auf den USB-Stick herunterzuladen, der seitlich in dem Computer steckt.

35, 34, 33, 32…

Die vorletzte Seite gleitet in den Druckerkorb. Nur noch ein paar Sekunden, dann wird er den kompletten Satz in Händen halten.

Und dann hört er es: das unverkennbare Summen des Aufzugs am Ende des Flurs. Er erschrickt, das Geräusch erstirbt. Der Aufzug hat sein Ziel erreicht, die Fahrstuhltür öffnet sich. Auf dieser Etage.

Er hat keine Zeit zu verlieren. Er will auf keinen Fall entdeckt werden, und er spürt die Gefahr. Er steht abrupt auf und stößt dabei einen kippligen Stapel Papier zu Boden.

»Scheiße!«

Der Kraftausdruck entfährt dem Mann ungewollt und – Gott sei Dank – leise. Er greift nach dem Material aus dem Drucker und schiebt es hastig in den Ordner. Jede Faser seines Körpers ist angespannt.

Da ist es – das leise Klicken einer Tür, die weiter entfernt geöffnet wird. Einige Augenblicke verstreichen, dann geht eine weitere Tür auf, ein wenig näher. Er weiß nicht, wie es dazu gekommen ist, aber sein Bauchgefühl sagt ihm, dass da jemand nach ihm sucht.

Die Person durchsucht systematisch jedes Büro auf dem Flur. Das gibt ihm die Chance, nachzudenken.

Er versucht, sein Entkommen zu planen. Er befindet sich im vorletzten Büro auf dem Gang. Die zweiflügelige Tür an seinem Ende des Flurs ist abgeschlossen. Er kann also nicht die Treppe benutzen, sondern muss denselben Weg nehmen, auf dem er hergekommen ist. Und dieser Weg führt an demjenigen vorbei, der jetzt im Flur steht.

Die Lösung ist ganz einfach, trotzdem wäre sie ihm beinahe nicht eingefallen. Dieses Büro hat eine Verbindungstür zum angrenzenden Raum, in dem der Suchende vermutlich zuerst nachsehen wird. Nähert sich die Person diesem Büro, kann sich der Mann ins Nachbarbüro und von dort auf den Flur stehlen. Sollte er tatsächlich verfolgt werden, kann er weglaufen. Hoffentlich hält sein schwaches Bein durch. Seit dem Unfall hat er keinen ernst zu nehmenden Sport mehr betrieben, doch das Adrenalin dürfte ihn in den nächsten Minuten in Schwung halten. Er kann schon spüren, wie es durch seine Adern pumpt.

Er presst den Ordner an seine Brust, als sich die Tür zum angrenzenden Büro öffnet. Er hält kurz inne, bis er beurteilen kann, ob die andere Person sich vergewissert hat, dass es leer ist, dann startet er sein Ausweichmanöver.

Er verschätzt sich um den Bruchteil einer Sekunde. Der Jäger bewegt sich schneller als angenommen. Die Tür zum Büro öffnete sich im selben Augenblick, als der Mann in den angrenzenden Raum treten will.

Ein Schemen, bösartig und bedrohlich, stürzt auf ihn zu. Vor lauter Panik schlägt der Mann seinem Verfolger die Tür zwischen den Büros vor der Nase zu und flieht. Er rennt hinaus auf den Flur und läuft, so schnell sein geschwächter Körper es erlaubt, bis ans Ende des Gangs. Dabei hält er den Ordner so fest umklammert, dass seine Fingerknöchel weiß hervortreten.

Er erreicht die Aufzüge. Einer ist außer Betrieb, das war ihm beim Hinauffahren aufgefallen. Der andere Fahrstuhl muss kurz gewartet haben, bevor er ins Erdgeschoss zurückgekehrt ist. Es würde zu lange dauern, ihn wieder nach oben zu holen.

Der Mann trifft eine spontane Entscheidung. Er reißt die Brandschutztür auf, die ins Treppenhaus führt, und hastet, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, hinunter.

Diese Eile ist sein zweiter Fehler. Zwei Stockwerke tiefer knickt ihm das verletzte Bein weg, und er stürzt sechs Stufen hinunter. Auf dem Treppenabsatz zwischen zwei Etagen bleibt er liegen, außer Atem, aber unverletzt. Ein Splitter des Geländers hat sich ihm in die Hand gebohrt, doch er spürt die Wunde kaum. Er bleibt liegen, bis er hört, wie die Brandschutztür zwei Etagen über ihm aufgeht.

Er muss handeln.

Unter Schmerzen rappelt er sich auf und rennt weiter. Er blickt nicht zurück, er will gar nicht sehen, was hinter ihm ist.

Der Mann stürzt in den offenen Café-Bar-Bereich des Gebäudes. Fast geschafft. Er hält seine Magnetkarte für den unterirdischen Verbindungsgang griffbereit. Sobald er diese Tür passiert hat, muss er nur noch zweihundert Meter zurücklegen, dann befindet er sich wieder im bevölkerten Teil des Hauses. Oder sollte er nach oben laufen – zur Hauptebene? Er muss ja nicht auf dem gleichen Weg zurückkehren, den er gekommen ist. Ist die Tür oben schon abgesperrt? Steht da vielleicht einer der Wachleute?

Er kann keinen klaren Gedanken fassen.

Überhaupt, was hatte er sich eigentlich dabei gedacht? Warum ist er ein solches Risiko eingegangen?

Weil er nicht begriffen hatte, in welch großer Gefahr er schwebte.

Jetzt aber hat er die Konsequenzen seines Handelns beängstigend deutlich vor Augen.

Die Durchgangstüren sind offen, fixiert von zwei Feuerlöschern, die vorhin noch nicht dort gestanden haben. Er bleibt nicht stehen, um zu überlegen, was das bedeuten könnte, sondern läuft so schnell weiter, wie sein geschwächter körperlicher Zustand es zulässt.

Die Statue ragt vor ihm auf – der schöne steinerne Engel, der in diesem einsamen, funktionalen Gang schon immer seltsam fehl am Platz wirkte.

Der Mann weiß, dass sein Jäger näher gekommen ist. Ihm sträuben sich buchstäblich die Nackenhaare.

Hätte man ihn vorher gefragt, er hätte forsch erwidert, dass er den Ordner mit den Fotos nur loslassen würde, wenn man ihn seinen kalten toten Händen entrisse. Er würde seinen Plan durchziehen, komme, was da wolle. Jetzt würde er die Fotos am liebsten wegwerfen und schreien: »Hier, nimm sie, aber lass mich in Ruhe!«

Der Mann steht unmittelbar vor der Statue, als er ein leises »Plopp« hört und einen glühend heißen Schmerz verspürt, der ihm durch und durch geht und seine Beine, den Rücken, die Arme lähmt.

Aber nicht sein Denken. Er nimmt alles ganz bewusst wahr. In diesem Augenblick weiß er genau, wie viel er dem Zufall überlassen hat und was er gleich verlieren wird.

Es schleudert ihn nach vorn, in die ausgestreckten Arme des sitzenden Engels. Der Ordner gleitet ihm aus den gespreizten Fingern, die belastenden Fotos fallen heraus, auf den Boden.

In seiner Todespein dreht sich der Mann um und erblickt seinen Angreifer.

Er reißt die Augen auf, sein Mund öffnet und schließt sich lautlos. Er versucht zu sprechen.

»Warum?«

Das ist das einzige Wort, das er noch äußern kann, bevor sein Mörder die Waffe hebt und die zweite Kugel abfeuert. Diesmal zielt er auf den Kopf.

Blut spritzt auf den grünen Engel aus Stein und die rote Wand dahinter. Der Mann sackt in sich zusammen. Im selben Moment ist er tot.

Der Jäger senkt die Waffe. Er überlegt kurz. Dann tritt er näher, meidet das Blut, das sich auf den Granitfliesen ausbreitet, beugt sich vor und hebt die auf den Boden gefallenen Fotos auf.

Nach getaner Arbeit dreht sich der Mörder um, läuft zum Aufzug und kehrt in das Büro mit dem Computer und dem zurückgelassenen USB-Stick zurück.

Das einzige Geräusch im Gang ist das langsame, stete Tropfen des Blutes, das eine Lache auf dem Boden bildet und sich in dem einen verbliebenen Auge des Toten spiegelt.

Eingeklemmt zwischen dem Leichnam und der Skulptur liegt eines der Bilder, die die Ereignisse der letzten Minuten ausgelöst haben.

Ein Foto, das unter dem Mordopfer gelandet ist, als der Mann hinstürzte.

Ein Foto, das der Mörder übersehen hat.

1

Die ErmittlungFreitag, 23.30 Uhr, Dublin

Na, das war ja mal ein absolutes und totales Fiasko gewesen.

Detective Sergeant Ray Lennon schloss die Augen, legte den Kopf in den Nacken und ließ das heiße Wasser der Dusche den Stress des Abends wegspülen. Wärme durchströmte seine Gelenke, die ein wenig steif geworden waren, als er durch den leichten Herbstregen nach Hause gelaufen war.

Als er Brustkorb und Bauch einseifte, merkte er wieder, wie stark er abgenommen hatte. Er trieb zu viel Sport und aß zu wenig, aber er brauchte die körperliche Betätigung als Ablenkung von der beklemmenden Erinnerung, die er seit fast einem Jahr mit sich herumtrug.

Eigentlich hatte Ray gar nicht zu dem Date gehen wollen, aber Michael Geoghegan hatte ihn praktisch dazu gezwungen. Als glücklicher Familienvater fühlte sein Kollege sich berufen, die Welt von Singles zu befreien, und Ray war sein neuestes Opfer. Der Plan war gewesen, dass sie zu viert ausgingen, aber Michael und Anne hatten in letzter Minute abgesagt.

Emotionale Erpressung und Pflichtgefühl hatten dafür gesorgt, dass Ray um fünf vor acht allein vor dem Restaurant stand und auf sein Blind Date wartete, eine Freundin von Anne.

Diese hatte sich kaum für ihre halbstündige Verspätung entschuldigt, war unhöflich zu der Kellnerin, die ihnen die Mäntel abnahm (unverzeihlich), forderte mit einem Fingerschnippen die Weinkarte an und bestellte dann die teuerste Flasche Wein, die darauf stand. Ray war sonst eigentlich kein Snob in Essensfragen, aber als sie verlangte, ihr 35-Euro-Filetsteak solle »komplett durch sein, wenn’s geht, ich will nicht, dass es mich anmuht«, war er so weit, sich mit dem geplagten Personal zu verbünden, falls sie sich entscheiden sollten, sie hinauszuwerfen. Sie war eine attraktive Frau, besaß aber weder Manieren noch Humor und bot nicht einmal an, ihren Anteil an der Rechnung zu übernehmen.

Michael würde morgen etwas zu hören bekommen! Ray mochte Mitglied im Club der einsamen Herzen sein, aber es hatte einen Grund, dass dieses Mädel Single war. Und nein, er war nicht zu wählerisch. Oder immer noch besessen von … ach, daran würde er jetzt nicht denken.

Okay, er wusste, dass er sich damit schwertat, wieder in die Dating-Szene einzutauchen. Doch ihm war in letzter Zeit einfach keine Frau begegnet, die ihm gefiel.

Das Bild von Laura Brennan, eine seiner Kolleginnen, drängte sich ungebeten in seine Gedanken. Sie brachte ihn immer zum Lächeln, und wenn er mit ihr zusammen war, konnte er sich entspannen.

Aber, nein. Sie war eine Arbeitskollegin. Den Fehler würde er nicht noch einmal machen.

Nicht nach dem, was letztes Jahr passiert war.

Er griff nach dem Shampoo. Sinnlos eigentlich. Es glitt von seinen dunklen, stoppelkurzen Haaren ab, sobald er es aufgetragen hatte. Als er sich Wasser aus den Ohren schüttelte, hörte er im Schlafzimmer sein Handy klingeln.

Ray spürte, wie sein Herz sank. Es war fast Mitternacht. Das wiederholte Schrillen konnte nur eines bedeuten: Arbeit.

Er stellte die Dusche ab und griff nach einem Handtuch.

In den letzten Tagen war es relativ ruhig gewesen, und das Team war dankbar dafür. Detective Inspector Tom Reynolds, Rays Chef, befand sich auf einem wohlverdienten und dringend nötigen Kurzurlaub mit seiner Frau und hatte ihnen unter Androhung der Todesstrafe untersagt, ihn an seinem langen Wochenende zu stören. Sie waren erst knapp vierundzwanzig Stunden unterwegs.

Ray ging ins Schlafzimmer und warf einen traurigen Seitenblick auf das einsame, nicht zerwühlte Doppelbett. Er wollte gar nicht daran denken, wie lange es her war, dass er es mit jemandem geteilt hatte.

Doch der Abend drohte noch schlimmer zu werden. Auf dem Display leuchtete die private Handynummer von Detective Chief Superintendent Sean McGuinness, Leiter des National Bureau of Criminal Investigation. Zum Bundeskriminalamt gehörten verschiedene Spezialistenteams, die für Schwerverbrechen zuständig waren, darunter die Mordkommission unter Leitung von Tom Reynolds.

Ray sammelte sich, bevor er den Chief in einem Ton begrüßte, der den Eindruck erwecken sollte, als säße er immer noch am Schreibtisch, ein fleißiger Freitagabends-Märtyrer, anstatt tropfnass und nur mit einem Handtuch bekleidet in seinem Schlafzimmer zu stehen.

»Ah. Da sind Sie ja. Als Sie nicht sofort drangegangen sind, dachte ich schon, Sie hätten eine Freundin bei sich. Ist ja Wochenende.«

Der breite Kerry-Dialekt von McGuinness dröhnte aus dem Hörer.

»Also, äh, ich bin eigentlich gerade …«, begann Ray.

»Versuchen Sie gar nicht erst, mich davon zu überzeugen, dass Sie in Gesellschaft sind, Junge – ich habe seit zehn Minuten einen Wagen vor Ihrer Wohnung stehen. Sie sollten in Erwägung ziehen, sich Vorhänge anzuschaffen. Willie Callaghan kann direkt reingucken.«

Rays Kinnlade klappte herunter, und er spähte aus dem Fenster seiner Erdgeschosswohnung – er hatte vergessen, die Jalousie herunterzulassen. Auf der anderen Seite der Grünfläche, die die Wohnanlage umgab, konnte er das Auto erkennen. Er zog sich das Handtuch enger um die Hüften und errötete heftig. Verdammte Perverslinge.

»Was kann ich für Sie tun, Sir?«

»Richtig, Scherz beiseite. Die Sache ist ernst, Junge. Sie müssen Tom für mich herschaffen.«

»Aber er ist doch …«

»Ist mir bekannt. Und sein Handy ist ausgeschaltet. Ich möchte, dass Sie zu dem Hotel fahren, in dem er abgestiegen ist. Holen Sie ihn nach Dublin. Ich würde es ja selbst machen, aber ich habe Angst vor seiner Frau.«

»Könnte ich mich nicht selbst um die Angelegenheit kümmern?«, fragte Ray. Eine törichte Hoffnung.

McGuinness schwieg kurz, bevor er leise und ernst antwortete: »Nein. Bringen Sie Tom nach Dublin, und dann fahren Sie beide direkt zum Leinster House. Ich bin gerade auf dem Weg dorthin. Wählen Sie zwei präsentable Mitglieder Ihres Teams aus und schicken Sie sie dorthin.«

Ray holte tief Luft.

Das Leinster House war der Sitz des Irischen Nationalparlaments, des Dáil Éireann.

»Könnten wir nicht einfach im Hotel anrufen?«

»Das habe ich bereits versucht, Detective. Sie wollten mich nicht durchstellen. Nicht mal, nachdem ich es mit der ›Sie wissen wohl nicht, wer ich bin‹-Masche versucht hatte. Ich weiß nicht, was aus diesem Land geworden ist. Sie müssen persönlich hinfahren und Ihre Marke blitzen lassen.«

»Okay. Darf ich fragen …?«

»Warten Sie am besten, bis Sie im Leinster House sind. Richten Sie Tom aus, dass es mir leidtut, aber so was ist noch nie da gewesen. Er muss seinen Urlaub abbrechen.«

McGuinness legte auf.

Ray blieb stehen, das Handy ans Ohr gedrückt, und seine Gedanken überschlugen sich.

War etwa jemand im Sitz des Irischen Parlaments ermordet worden?

2

Samstag, 0.30 Uhr, Wicklow

So ließ es sich aushalten.

Detective Inspector Tom Reynolds saß auf dem Balkon seines Hotelzimmers und bewunderte die atemberaubende Landschaft. Selbst in Mondlicht getaucht machten die Hügelketten mit ihren dichten Wäldern und Feldern dem Spitznamen Wicklows – »Garten Irlands« – alle Ehre.

Er zog den Reißverschluss seiner Fleecejacke bis oben zu, um die Kälte des leichten Windes abzuhalten, und zog an seiner Zigarre. Sehr viel länger würde er nicht mehr auf dem Balkon bleiben. Bisher war der Herbst ungewöhnlich mild gewesen, aber sobald die Sonne unterging, sanken die Temperaturen schnell, und heute hatte es fast den ganzen Tag geregnet. Mit seinen neunundvierzig Jahren war Tom noch relativ gesund und munter, aber in den letzten Jahren war ihm ein leichtes Knirschen in den Gelenken aufgefallen, eine leichte Schwäche in den Knien. Er war anfälliger für Erkältungen und andere Bazillen geworden und verließ das warme Bett morgens widerstrebender denn je.

Es war ihm nicht entgangen, dass sein Körper genau dann angefangen hatte, ihn zu verraten, als sein kohlrabenschwarzes Haar zu ergrauen begann. Vielleicht war das die Art der Natur, ihm mitzuteilen, dass letztendlich alles zu Staub und Asche werden würde. Sogar das Grün seiner Augen schien mit jedem Geburtstag weniger leuchtend zu werden. Und er musste mittlerweile die Zeitung so weit von sich weghalten, um sie lesen zu können, dass zweifellos bald eine Lesebrille fällig war.

Ursprünglich hatte Tom gar nicht nach Wicklow fahren wollen. Er hatte seiner Frau vorgeschlagen, an ihrem langen Wochenende einen Kurztrip ins Ausland zu unternehmen, nach Paris vielleicht, oder nach Rom. Aber Louise weigerte sich, sich weiter als eine knappe Autostunde von ihrer Tochter Maria und ihrer kleinen Enkelin Cáit zu entfernen.

Tom hatte keine Einwände erhoben, sondern sich auf die Zunge gebissen, als sie als Ziel das benachbarte County vorschlug. Eigentlich spielte es ja auch keine Rolle, wohin sie fuhren, solange sie nur zusammen waren und er mal richtig ausschlafen konnte.

Cáit war jetzt fünf Monate alt, wachte aber immer noch jede Nacht mehrmals auf. Maria, die gerade zwanzig geworden war, wohnte noch bei ihnen. Tom genoss es, Großvater zu sein, aber er schätzte es gar nicht, dass Louise sie beide in eine Pseudo-Elternrolle zwang. Selbstredend war er auch der Meinung, dass sie Maria helfen sollten. Der Vater des Babys, ein Kommilitone von Maria, hatte sich bislang als absolute Enttäuschung erwiesen, und Maria war im Grunde alleinerziehend. Tom befürchtete jedoch, dass Louise die Hauptlast trug. Sie hatte sich sogar ein Sabbatjahr genommen und das Schreiben ihrer Doktorarbeit in Englischer Literaturwissenschaft aufgeschoben. Sie war zurück an die Uni gegangen, bevor Maria schwanger wurde.

Tom schüttelte den Kopf. Er wollte nicht zulassen, dass sich negative Gedanken einschlichen. Sie hatten einen wunderbaren Tag verlebt, angefangen mit einem Spaziergang durch die Gärten des alten Adelssitzes Powerscourt am Fuß der Wicklow Mountains. Als der Nachmittag zu Ende ging, hatten sie in ihrem Hotel im Glen of the Downs eingecheckt und im Hotelrestaurant ein köstliches fünfgängiges Menü genossen.

Er lächelte. Paris oder Rom! Diese Städte konnten der irischen Landschaft nicht das Wasser reichen, wenn man es recht bedachte.

Er legte die Zigarre zum Ausbrennen in den Aschenbecher, stand auf und sog die Nachtluft ein, die nach feuchtem Oktoberlaub roch. Himmlisch! Aber jetzt war es an der Zeit, mit seiner Frau zu kuscheln.

Leise schob er die Balkontür zu und schlich auf Zehenspitzen zu dem Kingsize-Bett der Suite. Louise hatte die Lampe brennen lassen und war mit ihrem Buch in den Händen eingeschlafen. Es war ein amerikanischer Thriller, voller Action und pauschalen Verallgemeinerungen über die Weltpolitik, den sie offenbar nur las, um ihn mit Genuss zu verreißen. Ihr langes braunes Haar war auf den Kissen ausgebreitet, die dunklen Wimpern ruhten auf weichen, cremigen Wangen. Das Bild erinnerte an Dornröschen, bis auf das trompetende Schnarchen, das darauf zurückzuführen war, dass Louise in einer halb sitzenden Position mit auf die Brust gesunkenem Kinn eingeschlafen war.

Tom wollte gerade behutsam das Buch aus ihren Händen lösen, als das Telefon am Bett zornig zu schrillen begann.

Er fuhr zusammen, ebenso wie Louise, und der Roman polterte zu Boden.

»Verdammt noch mal, Tom!«, fauchte sie, bevor sie erkannte, was ihren Schlummer gestört hatte.

Tom zögerte. Das Telefon klingelte immer noch.

»Es könnte Maria sein«, meinte Louise.

»Sie würde es erst auf deinem Handy versuchen.«

Sie wussten beide, was der Anruf bedeutete. Falls nicht gerade die Rezeption anrief, um ihnen mitzuteilen, dass es irgendeinen Notfall im Hotel gab – und er hoffte inbrünstig, dass eins der Stockwerke in hellen Flammen stand –, hieß das, dass der Urlaub für Tom vorbei war.

Er war verärgert. Er hatte die Rezeption ausdrücklich angewiesen, keine auswärtigen Anrufe ins Zimmer durchzustellen, und sein Handy war ausgeschaltet.

Er hob den Hörer ab.

»Ich entschuldige mich vielmals für die Störung, Sir, aber hier ist ein Herr, der sich nicht abweisen lässt. Er sagt, er sei ein Kollege von Ihnen. Er hat gedroht, mich festzunehmen, wenn ich nicht in Ihrem Zimmer anrufe.«

Tom seufzte müde. »Schon gut. Geben Sie ihn mir.«

Er warf Louise einen entschuldigenden Blick zu. Sie runzelte die Stirn.

»Chef, hier ist Ray. Es tut mir wirklich wahnsinnig leid.«

»Ray, wenn du mir nicht gerade mitteilen willst, dass der Premierminister ermordet wurde, würde ich vorschlagen, dass du zurück nach Dublin fährst«, fuhr Tom ihn an.

Es entstand eine kurze Pause.

»Also, das ist es ja …«

»Was?« Toms Herzschlag setzte kurz aus. »Du machst Witze …«

»Die Identität des Opfers ist mir nicht bekannt, aber ich habe strikte Anweisung, dich abzuholen und zum Leinster House zu bringen. Der Chief lässt Louise sein tief empfundenes Bedauern ausrichten.«

Tom deckte das Mundstück mit der Hand ab. »Im Leinster House«, flüsterte er.

Die Augenbrauen seiner Frau schossen in die Höhe.

»Gib mir zehn Minuten«, sagte Tom in den Hörer.

»Wer ist tot?«, fragte Louise augenblicklich.

»Keine Ahnung. Aber das Nationalparlament … McGuinness hätte aus keinem geringeren Grund nach mir schicken lassen. Es tut mir so leid, mein Schatz.«

Louise seufzte entnervt. »Und da dachte ich, du hättest mich aufgeweckt, weil du amouröse Absichten hattest.«

»Die hatte ich. Die habe ich. Langsam glaube ich, dass jedes Mal irgendwo eine Alarmglocke losgeht, wenn ich liebeshungrig werde.«

Er nahm ihr schlafwarmes Gesicht in seine kalten Hände. »Unser schönes Wochenende …«

»Dein schönes Wochenende. Ich bleibe hier. Unten gibt es einen Wellnessbereich.«

Er lächelte kläglich. »Ich rufe dich morgen früh an. Man weiß ja nie, vielleicht bin ich dann auch schon wieder hier.«

Sie schnaubte. »Tust du mir einen Gefallen? Fahr zu Hause vorbei und sieh nach den Mädchen. Wenn du dazu kommst.«

Er schluckte.

»Was ist?« Sie kniff die Augen zusammen. Es war eine Herausforderung.

Es gab nichts mehr zu verlieren. Das Wochenende war bereits ruiniert.

»Maria hat ein ganzes Team von Leuten, die ihr dieses Wochenende helfen, Louise. Sie ist die Mutter des Kindes; sie muss lernen, allein klarzukommen.«

Er ging zu dem Stuhl, auf dem er vorhin seine Sachen abgelegt hatte. Innerlich duckte er sich.

»Sie ist zwanzig Jahre alt und eine alleinerziehende Mutter, die versucht, ein Vollzeitstudium zu bewältigen«, knurrte Louise. »Sie braucht alle Hilfe, die sie kriegen kann.«

Tom stand mit dem Rücken zu ihr, sonst hätte er nie gewagt, die Augen zu verdrehen. Er grunzte und konzentrierte sich darauf, sich anzuziehen. Sie setzte zu einer weiteren Äußerung an und verstummte dann. Vielleicht hatte sie sein Schweigen als Zustimmung interpretiert. Er drehte sich um.

Keine Chance. Das war nicht die Miene einer Frau, die zufrieden war, ihren Standpunkt durchgesetzt zu haben.

»Du hast ja recht«, versicherte er, ein letzter verzweifelter Versuch, den Frieden zu wahren. Er lernte es nie.

Sie schürzte die Lippen. »Ich vermute mal, ich werde allein mit deinem unzuverlässigen Citroën nach Hause fahren müssen. Warum musstest du unbedingt ein Schrottauto durch ein anderes ersetzen?«

Er seufzte. Er dachte, er hätte die Lage entspannt, aber Louise hatte nur kurz innegehalten, um die Waffen neu zu laden. Tom fand es immer wieder erstaunlich, wie seine Frau – nein, eigentlich jede Frau, die er kannte – bei einem Streit von einem Thema zum nächsten springen konnte, ohne zwischendurch Luft zu holen. Es war ihm seit Monaten klar, dass der neue Citroën, dessen Warnleuchte immer wieder plötzlich ohne jeden Grund zu blinken begann, Louise in den Wahnsinn trieb, aber sie hatte den rechten Moment abgewartet, um es ihm mitten in einem Krach, bei dem es um etwas ganz anderes ging, an den Kopf zu werfen. Sie behielt gern ein wenig Munition in der Hinterhand.

Er wusste auch, dass der eigentliche Grund für ihre Unzufriedenheit nicht das Auto war. Louise hatte eine nahezu grenzenlose Geduld mit Toms Job aufgebracht, aber so selten, wie sie in den letzten Jahren Urlaub gemacht hatten, war es kein Wunder, dass sie langsam gereizt wurde.

»Ich lasse meinen Automechaniker mal nachsehen.«

Tom wollte ihr einen Kuss auf die Lippen drücken, erwischte aber stattdessen nur die Wange.

»Hm«, machte sie mit der Miene einer langmütigen Dulderin.

Eben war noch von amourösen Absichten die Rede gewesen, und jetzt diese Abfuhr. Der Kurzurlaub war vorbei.

3

»Wenn du verheiratet wärst, Ray, hättest du Verständnis dafür, wenn ein Mann sagt, dass er mal eine ungestörte Zeit mit seiner Frau verbringen will. Drei Tage, mehr habe ich doch gar nicht verlangt. Drei verdammte Tage!«

Willie Callaghan, Toms Garda-Fahrer, der am Lenkrad saß, gluckste. »Lassen Sie den armen Jungen in Ruhe. Solange er unverheiratet bleibt, können wir stellvertretend durch ihn leben. Warum sollte er sich unter das lebenslängliche Joch der Ehe beugen, nur weil wir zwei reingelegt wurden?«

Tom grunzte, sah aus dem Autofenster und verfolgte mit Bedauern, wie die dichten Wälder Wicklows verschwanden und durch die Zivilisation in Form von Wohnblocks auf beiden Seiten der Hauptstraße nach Dublin ersetzt wurden. Die Nachwirkungen der paar Gläser Wein, die er zum Abendessen getrunken hatte, machten sich als Kopfschmerzen bemerkbar. Es war das Tüpfelchen auf dem i und verstärkte seine schlechte Laune noch.

»Achten Sie gar nicht auf den Boss«, sagte Willie zu Ray, der neben ihm saß, wobei er Tom bewusst ignorierte. »Wahrscheinlich war er kurz davor, mal zum Zug zu kommen. Es ist höchst selten, dass wir Ehekrüppel so ein Glück haben. Sie selbst werden solche Durststrecken natürlich nicht kennen.«

Willie, ein großer, dürrer Mann Ende fünfzig, war ein Gentleman alter Schule. Sein tadelloses Äußeres passte nicht zu seiner entspannten Persönlichkeit. Seine Uniform war stets gestärkt, der militärische Schnurrbart fein säuberlich gestutzt, das sich lichtende Haar akkurat getrimmt, und er trug immer großzügig Old Spice auf. Tom mochte und schätzte ihn wegen seiner Gelassenheit, seines trockenen Humors und seines umfangreichen Wissens, einer Ansammlung nützlicher (und oft auch nutzloser) Fakten.

Jetzt war Ray an der Reihe, düster aus dem Fenster zu starren, während er über seine romantischen Fehlschläge als Single nachgrübelte.

Es war fast ein Uhr nachts, und die Straßen waren so gut wie verlassen. Sie brauchten nur eine gute halbe Stunde, um ihr Ziel zu erreichen.

Das Stadtzentrum von Dublin war noch belebt. Seit ein paar Jahren befand sich das Land in den Klauen einer hässlichen Rezession. Die Lage war so schlimm, dass Irland sich unter den Schirm der Troika, bestehend aus dem Internationalen Währungsfonds, der Europäischen Kommission und der Europäischen Zentralbank, hatte begeben müssen. Dem Land war ein striktes Sparpaket aus drastischen Kürzungen und Steuererhöhungen auferlegt worden. Aber heute war Freitagabend, und die Dubliner – diejenigen, die noch ein paar Pfund übrig hatten – versuchten, ihr geselliges Leben weiterzuführen wie bisher. Die meisten der Pubs, Clubs und Restaurants, an denen die verheerenden Auswirkungen des Sparpakets bislang vorübergegangen waren, hatten sich an das neue Preisbewusstsein der Gäste angepasst.

Ray beobachtete, wie die letzten Nachtschwärmer aus den Bars und Kneipen Dublins vertrieben wurden. Schöne Mädchen in absurd hohen Schuhen und kurzen Röcken taumelten am Auto vorbei, die spärliche Bekleidung die letzten Überreste eines Sommers, der längst vorüber war. Eine der jungen Frauen warf ihnen eine Kusshand zu und kreischte vor Lachen über ihren eigenen Wagemut.

»Wir nehmen den Eingang Merrion Street«, sagte Willie. »Damit nicht gleich jeder mitbekommt, dass etwas passiert ist.«

In der Merrion Street lag der rückwärtige Eingang zum Leinster House und zum Regierungssitz, doch der Inspector bildete sich nicht ein, das, was heute Abend geschehen war, lange geheim halten zu können.

Zwei uniformierte Wachleute traten vor. Die Schranke wurde geöffnet, und das Auto rollte auf den Asphalt, der entlang des Merrion Lawn, der Rasenfläche hinter dem Leinster House, Parkgelegenheiten bot.

Tom war schon ein paar Mal in dem Komplex gewesen, und es erstaunte ihn immer wieder, dass diese Ansammlung von Gebäuden mitten im Herzen einer lärmenden Metropole so abgeschieden sein konnte – räumlich ebenso wie bildlich.

Das Leinster House, früher ein Herzogspalast, war Mitte des achtzehnten Jahrhunderts von den Fitzgeralds, Earls von Kildare und Dukes von Leinster, errichtet worden. 1922, nach dem Unabhängigkeitskrieg und dem Abzug der britischen Verwaltung, wurde es zum Sitz des Irischen Parlaments.

Der Komplex bestand nicht nur aus dem repräsentativen Hauptgebäude. Im angrenzenden Regierungssitz, einem prachtvollen, 1910 entstandenen Bau, residierte der Taoiseach, der Premierminister. Hier waren auch die einzelnen Ministerien untergebracht.

Als sie die Auffahrt entlangfuhren, konnten sie rechts und links die Seitenansichten des Naturkundemuseums und der Nationalgalerie bewundern.

»Die Kavallerie«, sagte Ray und deutete nach vorn.

Tom sah die beiden mit Planen bedeckten Lastwagen. Armeefahrzeuge. Der Regierungssitz wurde ständig von Militär und Polizei bewacht. Aber da jemand hier auf dem Gelände ermordet worden war, galt nun zweifellos die höchste Sicherheitsstufe.

Soweit der Inspector sich erinnern konnte, hatte es noch nie eine Terrorwarnung für das Leinster House gegeben, und Irland stand nicht ganz oben auf der Liste der Zielländer für Terroranschläge. Aber ein erstes Mal gab es immer.

Willie lenkte den Wagen am Haupteingang vorbei und parkte gegenüber einem kleinen Tor, das in eine geschwungene Mauer an der Seite des Gebäudes eingelassen war. Ein Unbekannter stand bereit, sie zu begrüßen. Der dunkelhaarige Mann hatte wie Willie eine soldatische Haltung und trug eine dekorierte Uniform im Marinestil. Er war gut gebaut, kräftiger als Toms drahtiger Fahrer. Der Sicherheitschef, vermutete der Inspector.

Das Leinster House hatte eigene Wachleute, die für die Sicherheit in den Regierungsgebäuden verantwortlich waren. Dem Sicherheitschef standen der Direktor der Verwaltung und der Hauptmann der Garde zur Seite, die für die Sicherheit in Parlament und Regierungssitz und für einen reibungslosen Betrieb zuständig waren. Verstärkt wurden die Sicherheitskräfte durch ein Vollzeitkader von Polizisten und bewaffneten Angehörigen der Streitkräfte.

Der Mann trat vor und begrüßte Tom mit einem festen Handschlag und grimmiger Miene. Er machte den Eindruck eines Mannes, den wenig aus der Fassung bringen konnte, aber der heutige Tag erwies sich als Ausnahme von der Regel.

»Shane Morrison, Inspector. Ich bin der Sicherheitschef. Ihr Superintendent hat mich gebeten, Sie zu begleiten. Er ist mit Ihren Kollegen am Tatort.«

Die Stimme des Mannes war tief und rau. Sie passte zu seiner autoritären Ausstrahlung.

»Danke«, entgegnete Tom. »Soll ich Sie mit Ihrem offiziellen Titel anreden?«

»Mister reicht völlig.«

»Gut. Hat sich der Vorfall im Hauptgebäude ereignet, Mr. Morrison?«

Der Sicherheitschef schüttelte den Kopf. »Nicht ganz. Wir wissen alle nicht so recht, was er an der Stelle zu suchen hatte, wo wir ihn gefunden haben. Wollen wir?«

Das Opfer war also ein Mann.

Morrison war bestrebt, die kleine Gruppe ins Haus zu führen, weg von etwaigen spähenden Kameraaugen.

Er führte Tom und Ray durch das Tor und eine Steintreppe hinauf. Oben angekommen, fanden sie sich vor einem modernen Gebäude wieder, einem Teil des Komplexes, der weder von der Vorderseite noch von der Rückseite des ehemaligen Herzogssitzes sichtbar war.

»Das ist LH2000«, erklärte Morrison in einem Ton, als würde er eine Führung durch das Gebäude leiten. »Leinster House 2000. Es wurde, wie Sie vielleicht erraten haben, im Jahr 2000 eröffnet – das Gebäude bietet zusätzliche Büroräume für die gewählten Parlamentsabgeordneten und ihre Mitarbeiter. Es gibt sechs Stockwerke und ein Souterrain mit Räumen für Ausschusssitzungen.«

Der Sicherheitschef klopfte an die Glastür. Rasch erschien ein Pförtner und öffnete.

Morrison nickte dem Mann zu und ging zügig weiter zu einer Treppe hinter der Pförtnerloge, die nach unten führte. Beim Gehen schilderte er weiter die Geschichte von LH2000 und beschrieb den Grundriss des Gebäudes.

»Diese Treppe führt zur Café-Bar hinunter, aber auch zu einem unterirdischen Verbindungsgang, der dieses Gebäude mit dem eigentlichen Leinster House verbindet. In diesem Gang befinden sich Büroräume, aber seine Hauptfunktion ist, es den Abgeordneten, den Teachtaí Dála, zu ermöglichen, rasch zu Debatten oder Abstimmungen in den Plenarsaal zu kommen. Da haben wir ihn gefunden.«

»Waren noch Leute in diesem Gebäude, als die Leiche entdeckt wurde?«, fragte Tom.

Morrison zögerte. »Nein. Aber Sie sollten etwas wissen. Normalerweise ist in einem der Räume im Verbindungsgang die Militärpolizei untergebracht, aber letzte Woche ist sie in eine vorübergehende Unterkunft umgezogen. Wir sind dabei, unsere Sicherheitsvorkehrungen zu erhöhen und die grundlegende Infrastruktur zu modernisieren. Die Basis der Militärpolizei befindet sich hier in einem Teil des Gebäudes, das gerade mit neuen technologischen Systemen sowie neuen Wasseranschlüssen und Heizungen ausgestattet wird. Man war der Meinung, dass die Arbeiten schneller vorangingen, wenn die Büros leer stehen würden.«

Tom schluckte. Das war ein gefundenes Fressen für die Medien.

»Wer hat den Toten gefunden?«, fragte Ray, als sie am Fuß der Treppe angelangt waren.

»Einer unserer Pförtner. Die Tür, durch die wir gerade gekommen sind, wurde heute Abend um einundzwanzig Uhr abgeschlossen, und davor wurde sichergestellt, dass sich niemand mehr in den Etagen darüber befand. Jim, der Pförtner, hatte seine Tasche in der Pförtnerloge gelassen und kam vom Haupthaus herüber, um sie zu holen. Er benutzte den unterirdischen Verbindungsgang, und dabei hat er den Toten entdeckt. Das war gegen 22.45 Uhr.«

Ein Brüllen bereitete dem Gespräch ein abruptes Ende. »Tom! Danke, dass Sie gekommen sind.«

Chief Superintendent McGuinness überragte die Gruppe von Personen, die sich um ihn versammelt hatten. Das Grüppchen teilte sich wie Wasser, als er zu ihnen herüberkam, um Tom mit einem eisernen Händedruck zu begrüßen.

»Ich schreibe mit dieser Hand«, ächzte Tom, wie immer unvorbereitet auf die unglaubliche Kraft des Mannes.

McGuinness ignorierte ihn. Obwohl er bald in den Ruhestand gehen würde, hatte der aus Kerry stammende Mann nichts von seiner beeindruckenden Körperpräsenz eingebüßt. Tom maß selbst über eins achtzig, aber trotzdem überragte ihn der Chief Superintendent ein gutes Stück.

McGuinness setzte seine Größe und seine tiefe, dröhnende Stimme regelmäßig zu seinem Vorteil ein. Leute, die ihn nicht mochten, ätzten oft, mit dem Arm in einer kalbenden Kuh würde er sich wohler fühlen als an der Spitze einer der wichtigsten Polizeibehörden des Landes. Damit unterschätzten sie ihn schwer. Tom und der Chief kannten sich seit Langem und waren gute Freunde. Dem Inspector war auch die andere Seite seines Chefs vertraut, die des scharfsinnigen Ästheten, der gute Weine und Konzerte genoss, täglich den Guardian las und wortgetreue Zitate aus der Bibel und zahlreichen anderen Büchern ins Gespräch einstreuen konnte. McGuinness konnte locker jeden in die Tasche stecken, der ihn als großmäuligen, dummen Hinterwäldler abtat.

»Mir war nicht bewusst, dass ich irgendeine Wahl hatte«, fügte Tom gereizt hinzu.

»Hm, tut mir leid. Aber ich muss Ihnen ja wohl nicht erst sagen, wie ernst die Sache ist. Gerade hatte ich die stellvertretende Polizeipräsidentin am Telefon. Die Medien werden sich auf die Sache stürzen, sobald sich die Nachricht verbreitet. Der Premierminister geht die Wände hoch.«

»Verstehe«, seufzte Tom. Eine Mordermittlung war auch ohne das ganze Drumherum, das diesen Fall begleiten würde, herausfordernd und anstrengend genug.

»Gut. Schön, damit Sie anfangen können, möchte ich Ihnen Darragh McNally vorstellen. Er ist der Generalsekretär der Reformpartei. Sprechen Sie mit ihm, während wir darauf warten, dass die Spurensicherung fertig wird.«

Na wunderbar. Die Reformpartei war an der Regierung. Tom hatte noch nicht mal die Leiche gesehen, und schon war Politik im Spiel.

McGuinness trat zur Seite, um den Mann vorzustellen, den er herübergewinkt hatte. Er war klein gewachsen und machte den Eindruck eines Menschen, der wenig schlief – er hatte schwarze Ringe unter den eingesunkenen Augen. Seine Gesichtsfarbe war käsig, mit Ausnahme eines unglücklich platzierten Muttermals auf der rechten Wange, was sein Gesicht bei der schlechten Beleuchtung noch ausgezehrter wirken ließ. Das braune Haar war bereits ziemlich schütter und grau an den Wurzeln – sehr wahrscheinlich ein weiterer Hinweis auf den Stress, der mit seiner Position einherging.

»Inspector Reynolds. Ich bin froh, dass Sie gekommen sind. Ihr Ruf eilt Ihnen voraus.«

McNallys Stimme war heiser, seine Körpersprache nervös.

Als Tom ihm die Hand schüttelte, fiel ihm die schwitzige Handfläche des Politikers auf.

»Kannten Sie das Opfer, Mr. McNally?«

Der andere nickte. »Ja. Ich kann gar nicht sagen, wie entsetzt ich bin. Er war lange krankgeschrieben, vor einem halben Jahr hatte er einen Autounfall, er wäre fast gestorben. Erst Anfang der Woche ist er wieder zur Arbeit gekommen. Ich kann es noch gar nicht fassen.«

»Wer ist der Tote?«

»Ryan Finnegan.«

Tom sah McNally an und wartete auf weitere Ausführungen. Es dauerte eine Weile, bis dem Politiker auffiel, dass der Name dem Inspector nichts sagte.

»Oh, tut mir leid, entschuldigen Sie. Ich arbeite hier schon so lange, dass ich manchmal vergesse, dass es noch eine Welt da draußen gibt. Ryan Finnegan ist der politische Berater von Aidan Blake. Er gehört – gehörte – zu den hochrangigsten Regierungsbeamten.«

Blake. Den Namen kannte Tom. Der Minister für Bodenschätze und Energieeffizienz war der Mann der Stunde – das beliebteste Regierungsmitglied und eines der jüngsten Kabinettsmitglieder. Er war bei dem erdrutschartigen Wahlsieg der Reformpartei Anfang des Jahres an die Macht gekommen, als die frühere Regierungspartei abgewählt worden war, eine Folge ihrer verfehlten Wirtschaftspolitik, die mit dem Eintreffen der Troika endete. Blake war gut aussehend, selbstsicher und energisch und galt als Anwärter auf die Parteispitze. Sogar Louise, die normalerweise mit einem lauten Seufzer auf das Auftauchen von Politikern auf dem Bildschirm reagierte, hatte während des Wahlkampfs bemerkt, dass sie Blake faszinierend fände – ihr Code für: »Der gefällt mir.«

»Sie begreifen unser Dilemma, Inspector«, sagte McNally. »Ein Mann in Finnegans Position, ermordet, und das ausgerechnet hier. Das ist sensationell.«

Tom fiel der Gebrauch des Wortes »Dilemma« auf. Sicher wäre es doch angebrachter, es als ausgesprochene Katastrophe zu bezeichnen. Und »sensationell« – das war ein Wort, das ein PR-Mensch verwenden könnte.

Er wog seine Erwiderung genau ab. Am liebsten hätte er erklärt, dass die Position des Opfers keine Rolle für ihn spiele ebenso wenig wie der Schauplatz des Mordes, aber er war sich bewusst, dass McGuinness ihn durchdringend fixierte. McNally in die Schranken zu weisen würde ihm mehr Kopfschmerzen bereiten, als es die flüchtige Befriedigung wert war.

»Ich muss mir die Leiche ansehen«, sagte er stattdessen. »Ich würde gern morgen früh noch mal mit Ihnen sprechen. Hat das Opfer Familie?«

»Ja. Eine Frau, Kathryn. Sie haben ein kleines Baby.«

Tom spürte den vertrauten Knoten im Magen. Bevor die Nacht vorüber war, würde er einer jungen Mutter und Ehefrau das Herz brechen müssen.

»Sie entschuldigen mich«, sagte er und ging zu dem Plastikabsperrband, das an beiden Seiten der Türen befestigt war, die zu dem von Morrison erwähnten unterirdischen Verbindungsgang führten. Dahinter waren verschiedene Mitglieder der Tatortgruppe in ihren weißen Schutzanzügen und Stiefeln dabei, Spuren zu suchen und zu sichern.

Unter ihnen erkannte Tom eine seiner Detectives, Laura Brennan.

Sie kam zu Tom und Ray herüber und nahm die Kapuze ab, sodass ihre langen rotbraunen Locken hervorquollen. Mit ihren neunundzwanzig Jahren war sie das jüngste Mitglied der Mordkommission und gehörte zu Toms gewissenhaftesten und intelligentesten Mitarbeitern. Um ihre Jugend zu kaschieren, trug sie modische Schneiderkostüme und hatte einen betont konzentrierten Ausdruck im Gesicht. Sie hatte so viel Klasse, dass sogar der weiße Einweg-Overall irgendwie elegant an ihr wirkte.

»Es ist also eindeutig Mord?«, fragte Tom, obwohl er die Antwort bereits kannte.

Laura nickte. »Ganz sicher. Die Spurensicherung ist noch nicht fertig, aber Emmet hat uns schon mal rangelassen, mit Schutzkleidung.«

Tom nahm mit Erleichterung zur Kenntnis, dass Emmet McDonagh persönlich am Tatort erschienen war. Der Leiter der kriminaltechnischen Untersuchungsstelle der Garda war gründlich und, was noch wichtiger war, Tom hatte ein gutes Verhältnis zu ihm. Zum Glück für den Inspector und sein Team, denn Emmet war ein egozentrischer Klugscheißer, der sich sonst gern als Scherzbold gab.

Tom und Ray stiegen in die bereitgestellten Schutzanzüge und duckten sich unter dem Absperrband hindurch.

Ein paar Meter vor sich konnte der Inspector den oberen Teil einer sitzenden Steinstatue in einer Nische sehen. Selbst aus dieser Entfernung war der Sprühnebel von Blutspritzern auf der cremeweiß gestrichenen Decke zu erkennen, seltsam unpassend in dieser funktionalen Umgebung.

Als sie näher kamen, erhoben sich die Kriminaltechniker – unter ihnen der künstlich dunkelhaarige, extrem stämmige McDonagh – und traten von dem Toten weg, damit die beiden Detectives das Opfer in Augenschein nehmen konnten.

Ray fluchte und wandte den Blick ab. Er hatte sich nie an Blutbäder gewöhnen können, ganz gleich, wie oft er damit konfrontiert wurde.

Später würde der Inspector erfahren, dass die sitzende Statue, die aus einem grünlichen Stein gemeißelt war, den Titel »Ruhm« trug und ursprünglich vor dem Leinster House gestanden hatte, unter einer größeren Statue von Königin Victoria. Diese war für die Hundertjahrfeier 1988 nach Australien ausgeliehen worden.

Die große, engelsähnliche Figur hielt eine Trompete irgendeiner Art in den ausgestreckten Armen.

Und zudem den schlaffen Leichnam von Ryan Finnegan.

Sein einziges verbliebenes Auge war weit aufgerissen, der glasige Blick vor Angst erstarrt. Wo das andere Auge hätte sein sollen, war nur noch eine blutige Höhle. Sein Mund war schmerzverzerrt.

»Höllisch, was, Tom?«, sagte Emmet McDonagh zu ihm. »Ein gutes altmodisches Erdrosseln ziehe ich da jederzeit vor. Der Rechtsmediziner wird ihn gleich mitnehmen, bevor die Totenstarre einsetzt. Ansonsten könnte es ein klein wenig schwierig werden, ihn von dieser Statue zu entfernen. Er hat nichts bei sich, keinen Ausweis, kein Handy, aber ich vermute mal, die Leute, die hier arbeiten, kennen ihn.«

»Was ist passiert, Emmet?«, fragte Tom leicht benommen.

Der Kriminaltechniker breitete die Arme aus, wobei sein brauner Haarschopf unnatürlich wippte. Langsam fragte Tom sich, ob Emmets Haar vielleicht nicht nur gefärbt war. Handelte es sich um ein Toupet? Während des lebhaften Dozierens rutschte ihm die Brille auf die Nase. Emmet war zehn Jahre älter als Tom, stand aber immer noch im Ruf, ein Auge für die Damenwelt zu haben, daher die Eitelkeit. Leider fiel nichts davon für seine Frau ab.

»Nenn mich poetisch, aber es sieht fast so aus, als wäre das Opfer vor etwas geflohen und dabei in die Arme von einem von Gottes Engeln gestürzt. Wovor er weggelaufen ist, weiß ich nicht, aber es könnte etwas mit dem hier zu tun haben. Das haben wir zwischen der Leiche und der Statue gefunden. Natürlich weiß ich nicht mit Sicherheit, ob es irgendetwas mit ihm zu tun hat, aber so was liegt eigentlich nicht einfach so rum.«

Er zog einen Asservatenbeutel hervor und hielt ihn hoch, damit Tom den Inhalt begutachten konnte.

Der Lärm im Hintergrund, den die Polizisten, das Sicherheitspersonal, die Kriminaltechniker und Rechtsmediziner verursachten, trat in den Hintergrund, als der Inspector das Bild betrachtete.

Es zeigte zwei junge Männer beim Sex. Es war nicht die Intimität des Aktes, der Tom verstörte, sondern der wissende Blick, den einer der Männer über die Schulter zurück auf den Fotografen warf. Alte, erfahrene Augen, die geradezu »käuflicher Sex« schrien, der gehetzte Blick von jemandem, der bereits zu viel gesehen hat. Von dem anderen Mann war nur der Hinterkopf sichtbar.

Tom blickte wieder auf das Opfer, das in den Armen einer Statue ruhte, die Reinheit und Unschuld symbolisierte.

Ryan Finnegan trug ein hellblaues gestreiftes Hemd und eine schwarze Hose. Bürokleidung. Berufskleidung in einem funktionalen Umfeld, was den blutbespritzten Tatort nur noch verstörender machte.

Der Inspector drehte sich zu Ray um. »Wir befinden uns im Untergeschoss des Parlamentsgebäudes«, verkündete er ungläubig.

»Ich weiß.« Ray hatte sich überwunden und die Leiche genauer in Augenschein genommen. »Ich musste es mit eigenen Augen sehen, damit ich es glauben kann. Jetzt ist die Kacke wahrhaftig am Dampfen.«

*

Kathryn Finnegan wusste nicht genau, ob sie träumte, dass das Baby schrie, oder ob es tatsächlich wach war und ihr ins Ohr brüllte. Es dauerte ein paar Augenblicke, bis sie richtig zu sich gekommen war. Sie war dermaßen erschöpft, dass es sich fast anfühlte, als hätte sie einen Kater. Ihr Kopf schmerzte vor Müdigkeit, und ihre Gliedmaßen fühlten sich an, als hätte sie die Grippe.

Die junge Mutter hob den Kopf vom Kissen und blickte auf Beth hinunter. Das Baby stieß mit dem Köpfchen gegen ihre Brust und versuchte, durch das Nachthemd an die Milch darin zu kommen.

»Oh mein Gott«, murmelte Kathryn müde. »Du kannst doch nicht schon wieder Hunger haben. Das ist nicht drin! Du bist sechs Monate alt und willst so oft trinken wie ein Neugeborenes.«

Sie hievte sich in eine sitzende Position und knuffte das Kissen zurecht, damit sie es bequem hatte. Sie würde ihre Tochter jetzt noch einmal stillen, aber – und das meine ich ernst, schwor Kathryn sich – wenn das Baby heute Nacht noch einmal aufwachte, würde Ryan ihm die Flasche geben müssen. Sie brauchte dringend eine Pause. Beth machte einen Wachstumsschub durch, und außerdem zahnte sie. Sie schien sich nur wohlzufühlen, wenn sie gestillt oder herumgetragen wurde.

Kathryn hielt das Baby liebevoll in den Armen und lockerte ihre Kleidung, damit sie es anlegen konnte. Dabei warf sie einen Blick auf die leere Seite des Betts, wo normalerweise ihr Mann schlief.

Erst jetzt fingen die Rädchen in ihrem Kopf wieder an, sich zu drehen.

Wo steckte Ryan? Es war Freitagabend – oder nicht? Oder hatten sie erst Donnerstag? Nein. Eindeutig Freitag. Wie spät war es überhaupt?

Kathryn griff mit der freien Hand nach ihrem Telefon und drückte auf das Display. Ein Uhr nachts.

Sie spürte, wie ihr Herzschlag sich leicht beschleunigte. Sie hatte keine verpassten Anrufe. Wenn Ryan länger im Büro geblieben war, hätte er doch sicher angerufen oder ihr eine SMS geschickt. Er wusste doch, wie schnell sie sich seit dem Unfall Sorgen machte – und er wusste auch, wie erschöpft sie war, weil Beth in letzter Zeit so quengelig war und so häufig aufwachte.

Warum hatte er ihr keine SMS geschickt?

Ein Gefühl von Unbehagen breitete sich in ihrem Magen aus, aber sie hielt es in Schach.

Vermutlich war nichts. Er hatte bis tief in den Abend hinein gearbeitet, oder vielleicht war er noch einen trinken gegangen, schließlich war es das Ende seiner ersten Arbeitswoche. Er hatte vergessen, sie anzurufen, oder sein Akku war leer. Sie würde ihm den Kopf waschen, aber es war unnötig, sich jetzt groß aufzuregen. Die Wahrscheinlichkeit, dass er schon wieder einen Autounfall gehabt hatte, war zweifellos verschwindend gering.

Da sie keine Hand frei hatte, musste Kathryn die Haare wegpusten, die ihr ins Gesicht gefallen waren und sie an der Wange kitzelten. Entgegen dem Rat ihrer Freundinnen und des Friseurs hatte sie während der Schwangerschaft beschlossen, sich die Haare kurz schneiden zu lassen. Jetzt waren sie kinnlang. Lang genug, um zu stören, und zu kurz, um sie hinten zusammenzubinden. Ryan hatte gesagt, sie würde auch noch schön aussehen, wenn sie sich die Haare abrasieren würde; momentan war sie schwer in Versuchung dazu.

Sie rief seine Nummer an und hörte es klingeln. Geh ran, dachte sie.

»Ryan«, schnauzte sie, als die Mailbox ansprang, aber leise, wegen des Babys. »Wo zum Teufel steckst du? Ruf mich an, sobald du das abhörst.«

Wütend schleuderte sie das Smartphone auf die Bettdecke und starrte es an, in der Hoffnung, das Display würde aufleuchten und das Foto ihres Mannes zeigen, der sie zurückrief.

Beth hob das Köpfchen von der Brust ihrer Mutter und schaute zu ihr hoch. Das Kind spürte, dass etwas nicht stimmte.

Kathryn blickte auf das Baby hinab. »Wo wohl dein alberner Daddy steckt, was? Mama wird ihn umbringen, wenn er auftaucht!«

4

Tom kniete sich kurz neben Ryan Finnegan hin, bevor der Leichnam aus seiner misslichen Lage halb auf, halb neben dem Schoß der Statue entfernt wurde. Er betrachtete den Toten und versuchte dabei, nicht auf den Krater zu achten, der sich dort befand, wo einmal das rechte Auge gewesen war.

Wer könnte so etwas getan haben? Wer hatte diesen Mann so sehr gehasst, dass er ihm ins Gesicht geschossen hatte? Der zuständige Rechtsmediziner hatte bereits festgestellt, dass zweimal auf das Opfer geschossen worden war – die andere Kugel steckte vermutlich in seinem Rücken. Möglicherweise war Ryan vor seinem Angreifer davongelaufen, als der erste Schuss abgefeuert wurde. Und hatte sich nach ihm umgedreht, bevor er die tödliche Verletzung erlitt. Emmets Team hielt es für wahrscheinlich, dass die Mordwaffe mit einem Schalldämpfer ausgestattet gewesen war. Sonst hätte der Widerhall der Schüsse in dem unterirdischen Verbindungsgang Aufmerksamkeit erregt.

Hatte Ryans Mörder gewusst, dass die Militärpolizei sich nicht in ihrem sonstigen Büro befand? Hätte er es sonst gewagt, in unmittelbarer Nähe der Sicherheitskräfte zuzuschlagen, und sei es mit einem Schalldämpfer?

Finnegan war noch verhältnismäßig jung, sein Gesicht war relativ faltenlos. Ende dreißig vielleicht. Die Haut um das verbliebene Auge war blass und hatte wenig Sonne abbekommen, was darauf hindeutete, dass er meistens eine Brille trug. Wo war die Brille jetzt? Oder hatte er seit Kurzem Kontaktlinsen?

Tom versuchte, sich vorzustellen, wie der Mann ausgesehen hatte, als er noch am Leben war. Intelligent, dachte er. Aufrichtig. Ganz sympathisch. Also was hatte er getan, dass er so brutal sterben musste? War er der andere Mann auf dem Foto, der Mann, den man nur von hinten sah?

Als er sich erhob, wurde ihm leicht schwindelig. Er streckte und dehnte die Knie. Zeit anzufangen.

Emmet schloss die Türen zum Verbindungsgang, während die Leiche zum Abtransport vorbereitet wurde. Detective Chief Superintendent McGuinness, der draußen in der Café-Bar auf Tom gewartet hatte, tigerte durch den Raum und telefonierte.

»Das war Bronwyn Maher«, sagte er, als er das Gespräch beendet hatte. Die stellvertretende Polizeipräsidentin. »Sie sagt, der Taoiseach habe sich schon beim Polizeipräsidenten gemeldet. Er ist auf dieser Konferenz in Kanada. Wir werden alle verfügbaren Kräfte einsetzen müssen, um diesen Fall aufzuklären, Tom. Sie werden eine ganze Reihe von wichtigen Leuten befragen müssen. Und ich will, dass Sie Linda McCarn hinzuziehen.«

»Linda McCarn«, wiederholte Tom und wies mit dem Kopf in Richtung Emmet McDonagh. »Sind Sie sicher, dass das klug ist?«

Linda, eine Frau, die Tom gleichermaßen respektierte wie fürchtete, war eine der führenden Kriminalpsychologinnen des Landes. Sie und Emmet hatten mal was miteinander gehabt, und Tom vermied es, Situationen zu schaffen, bei denen die beiden sich begegnen könnten. Auch ohne die kurze Affäre, die in erbitterter Feindschaft geendet hatte, wäre Dublin nicht groß genug für zwei derart schillernde Persönlichkeiten gewesen. Die beiden Hauptdarsteller weigerten sich, den Grund für die Feindseligkeit zu enthüllen, die sie füreinander empfanden, ließen aber gern alle und jeden merken, wie sehr sie einander verabscheuten.

»Auf die Gefühle der beiden kann ich keine Rücksicht nehmen«, blaffte McGuinness. »Man soll sehen, dass wir unsere besten und hellsten Köpfe einsetzen. Der Mann gehörte zum engsten Stab eines Ministers, und er wurde im Leinster House abgeknallt, Herrschaftszeiten! Wie wollen Sie vorgehen?«

Das »man soll sehen« war Tom nicht entgangen. Der Kampf um die gekürzten Finanzmittel ging weiter. Er seufzte. »Als Erstes werde ich mit der Witwe des Opfers sprechen. Die Tatortgruppe soll hier alle Spuren sichern, dann rufen wir das Team zusammen und gehen durch, was wir haben. Ich nehme an, das Opfer hatte ein Büro in diesem Gebäude. Ray soll sich da mal umsehen, bevor er hier Schluss macht.«

»Gut. Lassen Sie mich wissen, wie Sie vorankommen. Ich schlage vor, bei den Befragungen morgen früh mit Shane Morrison anzufangen. Er kann Sie im Gebäude herumführen und Ihnen sagen, wer heute Abend alles hier war und so weiter. McNally kann Ihnen etwas über Ryans Arbeit erzählen. Sie werden auch mit Aidan Blake reden müssen, den Minister, für den er gearbeitet hat. Die Aussagen aller Leute, die noch im Gebäude waren, als die Leiche entdeckt wurde, haben wir schon aufgenommen.«

»Gut. Sean, wie unabhängig werde ich bei den Ermittlungen vorgehen können? Ich frage nur, weil Sie bereits davon reden, dass der Polizeipräsident sich aus Kanada einschaltet, und Maher hat Sie angerufen …«