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Susi will nur eins im Leben: Fußball spielen. Doch 1970 herrscht ein offizielles Verbot für „Damenfußball“ auf Vereinsplätzen. Auch im privaten Umfeld bekommt sie Steine in den Weg gelegt. Frauen und Fußball – das ist in den Augen ihres Vaters ein Unding. Zum Glück hat sie fußballbegeisterte Freundinnen, die bereit sind, zusammenzuhalten und alles zu tun, um kicken zu können. Doch in dem schwäbischen Dorf ist die aufkeimende Frauenbewegung noch lange nicht angekommen, und zusammen mit Gerda, Hannelore und den anderen Mitspielerinnen muss Susi lernen, sich auch außerhalb des Fußballplatzes durchzusetzen. Und sie verliert ihr Herz nicht nur an Fußball … Fußballtöchter ist ein bewegender Roman über die Stärke von Frauen, die selbstbewusst und mutig ihr Recht erstreiten: auf dem Spielfeld wie im Leben.
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Seitenzahl: 280
Veröffentlichungsjahr: 2012
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Handlung und Personen sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Ereignissen oder Personen wäre rein zufällig.
Erste Auflage der Printausgabe März 2012
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Umschlag und grafische Realisierung von Sergio Vitale unter Verwendung eines Fotos der Autorin.
ISBN 978-3-89656-526-7
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„Im Kampf um den Ball verschwindet die weibliche Anmut, Körper und Seele erleiden unweigerlich Schaden und das Zurschaustellen des Körpers verletzt Schicklichkeit und Anstand.“ Einstimmig beschließt der DFB „aus ästhetischen Gründen und grundsätzlichen Erwägungen“ und unter Androhung von Strafe bei Zuwiderhandlung „unseren Vereinen nicht zu gestatten, Damenfußball-Abteilungen zu gründen oder Damenfußball-Abteilungen bei sich aufzunehmen, unseren Vereinen zu verbieten, soweit sie im Besitz eigener Plätze sind, diese für Damenfußballspiele zur Verfügung zu stellen, unseren Schieds- und Linienrichtern zu untersagen, Damenfußballspiele zu leiten.“
DFB-Jahrbuch 1955
Sonntag, 21. Juni 1970
„Susi!“ Paps brüllte zum dritten Mal.
Susi hatte ihn längst gehört. Sie drehte den Knopf der Waschmaschine auf „Stopp“ und unterbrach damit das Schleuderprogramm. Die nasse Wäsche räumte sie aus der Trommel in einen Korb, setzte ihn auf ihre Hüfte, packte den Wäscheständer mit der anderen Hand und zerrte das Gestell hinter sich her von der Waschküche in die Garage. Dort tropften schon Bettlaken von einem zweiten Ständer. Susi warf wahllos ein paar Hemden über dünne Stangen.
Als sie das Garagentor öffnete, schallte die Stimme ihres Vaters wieder durch den Garten.
„Susi! Verdammt noch mal, wo bleibt mein Bier!“
Susi machte kehrt, angelte zwei Bierflaschen aus dem Kasten neben der Tür zur Waschküche und beeilte sich, ins Wohnzimmer zu kommen. Von Weitem hörte sie die aufgeregte Stimme des Reporters aus dem Fernsehapparat: „In Mexiko-Stadt laufen jetzt die Spieler im Azteken-Stadion ein. Über hunderttausend Zuschauer sehen voller Erwartung dem Endspiel entgegen. Die fröhlichste und farbenfrohste WM …“
Die Jalousien waren heruntergelassen; der Fernsehapparat tauchte den Raum in einen bläulichen Schimmer. Einen Moment blieb Susi auf der Türschwelle stehen, damit sich ihre Augen an das dämmrige Licht gewöhnen konnten. Ihr bot sich ein vertrautes Bild dar: Die Füße in Filzpantoffeln auf einem runden, afrikanischen Lederhocker, lümmelte ihr Vater im Unterhemd in seinem Sessel und streckte die Hand nach den Bierflaschen aus.
„Wo bleibst du denn so lange?“ Paps ließ den Bügelverschluss aufschnappen und trank. Susi rückte den Beistelltisch näher an den Sessel heran, beschäftigte sich mit gespielter Fürsorglichkeit, um ihr Nervosität zu überdecken.
„Wo ist Martin?“ Sie versuchte, ihre Stimme beiläufig klingen zu lassen.
„Psst!“ Paps deutete mit der Bierflasche auf den Bildschirm, wo gerade die Nationalhymne erklang und die Kamera die Gesichter der Spieler von Nahem zeigte. Seine Fingernägel waren schwarz gerändert; er roch nach Metall und Schmieröl. Am Wochenende machte er Überstunden, denn er brauchte Geld für „Anschaffungen“, wie er es nannte. Als Nächstes kaufte er bestimmt einen Farbfernseher.
„Wollte er nicht mit dir das Spiel ansehen?“ Susi nahm den Marmoraschenbecher vom Sims, dabei spähte sie durch die Schlitze der Jalousien zur Straße.
„Er holt Zigaretten. Und jetzt lass mich gucken. Raus hier.“
Susi stellte den Aschenbecher neben ihrem Vater ab. Dann hörte sie die Haustür aufgehen und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.
„Was soll eigentlich der Mist in der Garage?“, schnauzte Martin. Er hinkte den Flur entlang und stieß seinen Stock stärker auf, als notwendig war. Susi ließ sich davon nicht beeindrucken. Ihr Bruder setzte seine Behinderung ein, wie es ihm günstig schien: um den Rasen nicht mähen zu müssen, um ein Auto zu bekommen, und wie jetzt, um Paps auf seine Seite zu ziehen. Dabei konnte er zwei Packungen HB aus seiner Jackentasche angeln und sehr gut ohne Stock zur Garderobe gehen. Susi verbat sich jedes mitleidige Gefühl für diesen Kleinstadt-Elvis mit den breiten Koteletten. Sie setzte ein unschuldiges Gesicht auf und ging an ihm vorbei in die Küche.
Martin schimpfte weiter. „Mach deine Wäsche gefälligst woanders.“
„Könnt ihr nicht einmal ruhig sein? Gleich beginnt das Spiel!“, rief Paps.
Martin warf seine Jacke auf die Ablage unter der Garderobe.
„Ich konnte nicht hineinfahren. Jetzt heizt sich mein Auto …“
„Psst! Der Anpfiff.“
Martin ließ sich aufs Sofa sinken und öffnete das zweite Bier. „Schwesterlein, streich mir ein Leberwurstbrot mit Essiggurke und mach die Küchentür zu.“
Susi hörte, dass der Ton lauter gedreht wurde. Sie hängte Martins Jacke an den Haken und tastete nach dem Autoschlüssel, den sie vorsichtig herauszog und in ihrer Hand verbarg. Leise ging sie zur Haustür, warf noch einen Blick zurück ins Wohnzimmer – die Männer waren längst vom Fußballspiel in den Bann gezogen – und huschte hinaus.
Aus der Waschküche holte sie ihre Sporttasche und rannte zu Martins schwarzem VW-Käfer. Sie stieg ein, löste die Handbremse und ließ den Wagen die Einfahrt hinunterrollen. Erst als sie sich sicher war, außer Hörweite zu sein, startete sie den Motor. Vergnügt drehte sie das Autoradio an.
„Pelé, Alberto. Ein Pass zu Rivalino …“
Susi lächelte. Paps und Martin hofften, Brasilien würde Italien schlagen, denn sie hatten sich immer noch nicht davon erholt, dass „sie“ im Halbfinale gegen Italien verloren hatten.
Susi nutzte die Gelegenheit, ihr eigenes Spiel zu spielen.
Die Straßen waren wie leergefegt und in wenigen Minuten hatte sie den „Adler“ erreicht. Das alte Gasthaus am Marktplatz lag gegenüber dem Rathaus und bildete den eigentlichen Mittelpunkt Beinsteins. An einer Stange neben der Tür schwebte der Reichsadler aus Schmiedeeisen und blitzte in der Junisonne. Gemalte Hopfenranken zierten die Balken des Fachwerks, die Kassetten leuchteten weiß. Hier wurde die Politik des Ortes gemacht. Nach Feierabend trafen sich die Männer, um die Tagesereignisse zu diskutieren, und zum Frühschoppen nach dem Gottesdienst am Sonntag. Unter der Woche aßen hier die Büroangestellten zu Mittag, sonntags die Familien, die es sich leisten konnten, und im Festsaal wurden Hochzeiten gefeiert und Versammlungen abgehalten. Als neueste Geschäftsidee bot der Wirt gemeinsames Fernsehen anlässlich der WM an. Paps hatte sich das nicht entgehen lassen, aber seit die Deutschen nur den dritten Platz belegt hatten, bevorzugte er seinen eigenen, wie er meinte, neueren Apparat. Susi vermutete, dass der wirkliche Grund, warum er heute nicht hinging, die Kommentare der anderen Männer waren, die er für Idioten hielt. Zu Hause hatte er recht, denn Martin widersprach ihm nie.
Aus den geöffneten Fenstern der Gaststube hörte Susi undeutlich die Stimme des WM-Kommentators und die typische Geräuschkulisse einer Fußballübertragung. Susi wartete mit laufendem Motor; sie hupte nicht, denn sie wollte keine Aufmerksamkeit erregen. Es dauerte nicht lange, bis Hannelore herauskam.
Sie sprang zum Auto, warf ihre Sporttasche auf den Rücksitz und stieg ein. Alles an Hannelore war kompakt und energiegeladen, ihre Haare standen wie unter Strom in die Höhe. Sie klappte den Blendschutz herunter, sah in den Spiegel und fuhr sich übers Gesicht.
„Puh, hab ich geschuftet!“
Als ihre Mutter vor neun Jahren starb, ging Hannelore mit fünfzehn von der Schule ab, um im „Adler“ zu arbeiten, was sie mit Schwung und guter Laune tat. Sie kochte, bediente und putzte; Hannelore war ein Wirbelwind.
„Beeil dich, die Zeit ist knapp“, sagte sie und streckte den Kopf aus dem Fenster. „Jetzt gib schon Gas!“
Susi fuhr los und bog, ohne zu blinken, ab. Bereits nach wenigen Minuten erreichten sie das Neubaugebiet, wo kleine Einfamilienhäuser mit spitzen Ziegeldächern, Garagen und Blumengärten standen. Gehwegen säumten die Straßen, eine Neuerung, die es in der Altstadt nicht gab. Hier wohnten die „besseren“ Familien. Oberhalb der Siedlung lag am Waldrand der Sportplatz. Das Vereinsheim des SC-Beinstein bestand aus einer verrosteten Blechbaracke; blaue Farbe blätterte in großen Stücken ab und gab den grauen Untergrund frei. Ein paar Meter entfernt, unter den Tannen, stand ein Toilettenhäuschen aus morschem Holz. Gerade als Susi den VW parkte, schwang die Tür des Häuschens auf, Gerda sprang heraus und schloss den Haken mit spitzen Fingern. Sie trug Sandalen und einen Rock, der so kurz war, dass Susi sich fragte, wie sie sich damit setzen konnte.
„Widerlich, der Gestank!“ Gerda umarmte Susi und Hannelore. „Wann wird endlich mit dem Neubau begonnen?“
Susi lachte. „Feine Begrüßung, Frau Etepetete. Ich weiß es nicht.“
Plötzlich drängte es sie, ihre schlichte Baumwollhose mit der Sporthose zu vertauschen. In Gerdas Gegenwart fühlte sie sich schäbig und spürte ihre Herkunft, die Gerda sicher als „einfache Verhältnisse“ bezeichnet hätte. Gerda, die Tochter des Bürgermeisters, studierte in Stuttgart und alles an ihr war „sehr“: sehr schön, sehr anspruchsvoll und sie war sehr viel gebildeter als Susi. Das schüchterte Susi ein, sie fühlte sich unzureichend und gleichzeitig konnte sie die Augen nicht von Gerda lassen. Ständig fragte sie sich, was Gerda von ihr halten mochte. Sah sie nur ein großes Mädchen mit braunem Strubbelhaar und einer knabenhaften Figur? Oder registrierte sie das, was Susi an sich selbst in Ordnung fand: eine Frau mit viel Kraft und Talent zum Fußballspielen? Wenn sie gut gelaunt war, fand Susi sogar ihren Mund nicht zu groß, sondern hübsch geschwungen.
Hannelore dagegen kannte keine Minderwertigkeitsgefühle.
„Atme mal tief durch“, flüsterte sie Susi ins Ohr.
Susi spürte, wie sie rot wurde. Sie gab Hannelore einen Stoß gegen die Schulter und wandte sich an Gerda.
„Wo sind die anderen?“
Gerda flocht ihre Haare zu einem festen Zopf und kniff die Augen zusammen, damit die Sonne sie nicht blendete.
„Da kommt Doris schon. O je, sie hat die Kinder dabei.“
Ein rotes Mofa knatterte im Schneckentempo heran, das Vorderrad wackelte und Doris rief: „Halte dich gut fest, Oliver. Halte dich gut fest!“
Doris’ Gesicht glühte und unter ihrem Kopftuch blitzten rote Haare hervor.
„Meine Mutter hat einen Gichtanfall, es tut mir so leid, dass ich die beiden mitbringen musste. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Könnt ihr Oliver runternehmen?“
Susi trat zu dem kleinen Jungen. Er klammerte sich mit beiden Händen am Kleid seiner Mutter fest, lehnte mit dem Kopf an Doris’ Rucksack und hielt die Augen geschlossen.
„Du kannst die Augen jetzt aufmachen“, flüsterte Susi ihm ins Ohr. „Komm, kleiner Mann, absteigen.“
Der Junge blinzelte, dann strahlte er.
„Tante Susi!“
Susi verzog das Gesicht zu einer Grimasse. „Dir geb ich ‚Tante‘! Los, runter mit dir.“
Doris bockte das Mofa auf und lachte. „Bei ihm heißen alle Frauen ‚Tante‘, mach dir nichts draus. Hilf mir mal mit Sonja.“
Im Rucksack steckte Doris’ Jüngste, die ein halbes Jahr alt war. Ihre Beine baumelten aus zwei Löchern, die ihre Mutter in den Boden geschnitten hatte. Sie strampelte und hopste auf und ab. Susi öffnete die Schnüre, die unter den Armen des Babys verknoten waren, und hob es heraus.
„Du hast Nerven. Hast du keine Angst, dass sie sich erdrosselt, während du durch die Gegend braust?“ Susi drückte Doris das Kind in die Arme.
„Lass Doris in Ruhe, sie hat es schwer genug“, sagte Hannelore und kitzelte das Baby am Kinn. „Ich finde es bewundernswert, dass Doris sich nicht kleinkriegen lässt.“
Das versetzte Susi einen Stich. Sie musste ebenfalls eine Menge Herausforderungen meistern, um zum Sportplatz zu kommen: Paps und Martin durften nicht wissen, dass sie Fußball spielte, und sie log jedes Mal, um sich mit ihren Freundinnen irgendwo zum Kicken treffen zu können. Aber sie schaffte es einfach nicht, sich ihren Freundinnen anzuvertrauen, denn keine von ihnen ließ sich von ihrem Vater einschüchtern. Wie würde sie dastehen?
Von allen Seiten strömten jetzt die Frauen herbei und lenkten Susi von ihren trüben Gedanken ab. Annegret, Marlis, Daniela, Tina und die Zwillinge redeten aufgeregt durcheinander.
„Auf geht’s, beeilt euch. Das Spiel hat nur neunzig Minuten!“ Doris begann, ihr Kleid aufzuknöpfen.
Hinter dem Vereinsheim zogen die Frauen sich um, weil sie keinen Schlüssel zur Baracke hatten.
„Wir können froh sein, dass die Bude baufällig ist und die Antenne noch nicht installiert wurde. Sonst würden jetzt alle hier sitzen statt bei uns im Wirtshaus“, sagte Hannelore. „Wenn die Männer wüssten, dass wir heimlich ihren Rasen betreten!“
„Das haben sie in all den Jahren nie herausgefunden.“ Susi schlug die Kniestrümpfe um, zog ein Band über die Stirn und holte dann den Ball aus der Sporttasche. Sie kickte ihn in die Luft.
„Heute gehört das Spielfeld uns!“, rief sie.
Jubelnd und johlend folgten ihr die Frauen auf den Rasen.
Hannelore und Susi platzierten zwei Gartenstühle, deren rote Plastikverschnürung zerrissen war, als Torersatz auf der Mittellinie, denn sie nutzten nur das halbe Spielfeld. Hannelore zog ein Paar Gartenhandschuhe aus dem Bund ihrer Turnhose und streifte sie über.
„Das ist das Nächste, was ich mir anschaffe“, sagte sie zu Susi.
„Und ich brauche unbedingt vernünftige Schuhe.“ Gerda bückte sich zu ihren Schnürbändern und knüpfte sie neu. Susi stand daneben und starrte auf Gerdas Hose, die sich über ihrem Gesäß spannte. Hannelore stieß sie an.
„Das ist nicht der Ball.“
„Was?“, fragte Gerda.
Susi spürte, wie sie schon wieder rot wurde. „Fünf Mann in jeder Mannschaft“, schrie sie unnötig laut.
„Fünf Frauen. Ich sehe hier nämlich keine Männer“, verbesserte sie Gerda.
„Was?“ Susi sah sie erstaunt an. „Ist doch klar, was ich meine. Doris, Daniela und die Zwillinge, in die andere Mannschaft! Marlis ins Tor. Du, Tina und Annegret zu mir.“
Hannelore hüpfte auf der Stelle und schlug die Hände zusammen. „Spielen wir jetzt endlich?“
Susi lief zur Mitte, wo Doris bereits mit dem Ball unter dem Fuß wartete.
„Auf geht’s!“ Susi wollte den Ball anspielen.
„Ich!“ Oliver rannte plötzlich aufs Spielfeld. „Ich will pfeifen!“
Susi verdrehte die Augen und trat zurück.
„In Ordnung, Schatz.“ Doris beugte sich zu ihrem Sohn hinunter. „Pfeif und dann gehst du schön wieder zu Sonja, hörst du?“
Oliver stemmte die Hände in die Seiten und spitzte die Lippen. Spuckebläschen sprühten hervor, aber kein Ton.
„Fein gemacht“, sagte Susi ungeduldig, „jetzt geh aus dem Weg.“
„Ich hab doch noch gar nicht gepfiffen.“ Oliver versuchte es noch einmal. Susi beachtete ihn nicht mehr, sondern kickte den Ball zur Seite und lief los. Die Frauen verfolgten sie.
„Mama“, hörte sie Oliver heulen. „Ich hab doch noch nicht …“ Aus dem Augenwinkel sah Susi, wie Doris ihren strampelnden und schlagenden Sohn vom Spielfeld trug. Ein paar Sekunden später tauchte sie neben Susi auf, nahm ihr geschickt den Ball ab und kickte ihn auf das andere Tor zu. Susi lachte und jagte hinter Doris her.
„Abspielen!“
„Lauf!“
„Schieß, Annegret!“
Hannelore warf sich dem Ball entgegen, er sauste unter ihren Händen hindurch ins Tor und sie landete auf dem Bauch.
Mit Schweißperlen auf der Stirn und geröteten Wangen drehte sich Annegret zu Susi um.
„Was sagst du jetzt?“ Triumphierend warf sie die Arme hoch.
„Klasse gemacht.“ Susi freute sich, als hätte sie das Tor selbst geschossen. Sie sah zu Hannelore und zuckte mit den Schultern. Mit gerunzelter Stirn schlug Hannelore die Hände zusammen.
Gerda schoss den Ball zum Mittelfeld und Doris nahm ihn entgegen. Das Spiel ging weiter, sie schwitzten und rannten, wurden ernster und verbissener, kämpften, was sie konnten. Auf beiden Seiten fielen vier Tore und nach zwei Halbzeiten von dreißig Minuten winkte Susi das Spiel ab.
Im Schatten der Vereinsbaracke schütteten sich die Frauen Wasser aus Flaschen in die Hände, wuschen sich die Gesichter und tupften mit Taschentüchern den Schweiß unter den Achseln ab, bevor sie ihre Kleider wieder anzogen.
„Wir werden immer besser.“ Atemlos fuhr sich Doris durch die roten Haare und benetzte sie mit Wasser. „Was haltet ihr davon, mal ein echtes Spiel zu spielen?“
„Gegen wen?“, fragte Susi und setzte die Flasche wieder ab, aus der sie gerade trinken wollte.
Breit lächelnd wartete Doris, bis alle Frauen sie ansahen. Sie holte Luft und sagte mit ausgebreiteten Armen: „Waldheim.“
„Waldheim hat eine Damenmannschaft?“ Gerda verschluckte sich am Wasser.
Doris nickte. „Ich war mit meiner Mutter beim Hausarzt und hörte die Sprechstundenhilfe telefonieren. Sie sagte was von Training und so kam eins zum anderen.“
Die Frauen riefen aufgeregt durcheinander.
„Wann?“
„Warum sagst du das erst jetzt?“
„Wie kommen wir dorthin?“
„Haben sie einen Platz?“, fragte Susi und alle Frauen verstummten.
„Das ist das Problem“, antwortete Doris.
„Immer das gleiche Theater. Wir können schließlich nicht warten, bis wieder Weltmeisterschaft ist“, murrte Gerda.
„Wir müssen uns etwas überlegen, ein echtes Spiel dürfen wir uns nicht entgehen lassen.“
„Unser erstes Spiel, das muss stattfinden!“
„Ja, wir spielen!“
Die Frauen nickten.
Nachdenklich ging Susi zum VW ihres Bruders. Hannelore folgte ihr.
„Ich könnte mit meinem Vater reden. Die Wiese hinter dem ‚Adler‘ ist groß genug.“
„Wie willst du ihn rumkriegen?“
„Lass das mal meine Sorge sein.“
Susi nickte und öffnete ihr die Tür. Während Hannelore einstieg, sah Susi zu Gerda, die gerade aufs Fahrrad stieg.
„Willst du auch mitfahren?“
„Ich bin schneller den Berg unten als du.“ Sie trat in die Pedale und sauste vorbei.
Susi fuhr gemächlich hinter ihr her.
„Ein echtes Spiel“, sagte sie zu Hannelore. „Ich kann es kaum erwarten.“
„Solange du nur das im Kopf hast“, sagte Hannelore. „Jetzt überhole sie doch endlich!“
Zu Hause angekommen stellte Susi den VW vor der Garage ab. Sie hängte die Wäsche auf, die im Korb lag und noch tropfnass war. Die Sporttasche mit dem Ball und den verschwitzten Kleidern warf sie in die angrenzende Waschküche. Es bestand keine Gefahr, dass Paps und Martin da hineinschauten. Dann ging sie ins Haus.
Paps’ Stimme dröhnte ihr entgegen, als sie die Tür öffnete.
„Gerd Müller ist trotzdem besser als dieser Pelé, er hat in der gesamten WM mehr Tore geschossen.“
„Zehn. Und Jairzinho nur sieben“, pflichtete ihm Martin bei. Sie saßen in der Küche, rauchten und tranken Bier. Susi versuchte, ins Badezimmer zu schleichen, aber Paps bemerkte sie. Er lehnte sich im Stuhl zurück und sah zur Küchentür heraus.
„Wo hast du gesteckt, verdammt noch mal?“
„Wenn du noch einmal meinen Wagen klaust, dann …“
„Ich habe Doris mit den Kindern geholfen; ihre Mutter hatte einen Gichtanfall.“
„Was treibst du dich mit diesem Amiflittchen rum? Ich habe dir hundert Mal gesagt, bleib da weg, das ist kein Umgang“, schimpfte Paps.
„Wer hat denn gewonnen?“, fragte Susi scheinheilig, sie hatte es längst im Autoradio gehört. „Ihr habt vielleicht eine Laune.“
„Bis zur Ausscheidung haben wir so gut gespielt, es war unser Jahrhundertspiel, wir hätten ins Endspiel kommen müssen und nicht diese Spaghettifresser.“
„Das kapiert sie sowieso nicht. Ist ja nur ein Mädchen“, sagte Martin. „Überhaupt, warum hast du keine Brote gemacht?“
Susi sah auf die Brotkrümel und schmutzigen Messer neben den Holzbrettchen. Sie ging zum Küchenschrank, nahm das Transistorradio und sagte im Hinausgehen: „Ihr habt es ja auch prima selbst geschafft. Ich muss in die Wanne, es ist schrecklich warm gewesen.“
„Das Benzin musst du mir ersetzen. Muss sie doch, nicht wahr, Paps? Sag ihr, dass sie es muss.“ Martin schlug ihr auf das Gesäß. Susi zog ihn an den Haaren.
„Gib deinem Bruder Benzingeld“, sagte Paps gleichmütig.
Susi schloss die Badezimmertür und zog sofort die Bluse über den Kopf. Sie drehte das Wasser auf, prüfte die Temperatur, dann schaltete sie das Radio ein.
„These boots are made for walking …“ Susi drehte lauter und griff pfeifend nach der Seife. Die Stelle gefiel ihr am Besten: „You keep playin’ where you shouldn’t be playin’ …“
Mehr verstand sie nicht von dem englischen Text, aber das kümmerte sie nicht, es war trotzdem ihr Lied.
„Beeil dich. Um sieben will ich essen. Und mach diese verdammte Negermusik leise!“, brüllte Paps.
Schon am nächsten Tag rief Hannelore Susi bei der Arbeit an. Sie tat geheimnisvoll und sagte, es sei wichtig; alle sollten um halb sechs in Annegrets Konditorei sein.
Kaum hatten die Freundinnen im Café Platz genommen, sprudelte die Neuigkeit aus Hannelore heraus: „Das Spiel gegen Waldheim kann stattfinden! Mein Vater erlaubt uns, die Wiese hinter dem Wirtshaus zu nutzen!“ Sie hatte roten Wangen vor Aufregung. „Aber nur am Montagabend, am Ruhetag“, fügte sie hinzu.
„Wieso das denn?“, fragte Susi entgeistert.
„Damit uns keiner sieht.“ Hannelore zuckte mit den Achseln.
„Ein paar Zuschauer wären doch nicht schlecht.“ Gerda sah sich in der Konditorei um, wo sie sich zu Kaffee und Kuchen trafen. Außer ihnen saßen nur alte Damen an den Tischchen mit den gestärkten weißen Decken. Annegret führte das Geschäft mit ihrem Gatten und konnte den Frauen Kaffee nachschenken, ohne abzurechnen.
„Das hat er sich fein ausgedacht. Nur dumm, dass die Männer dann zu Hause hocken. Was soll ich ihm sagen, wo ich hingehe?“, fragte Annegret.
„Sag ihm, ich habe Geburtstag“, schlug Susi vor.
„Ich war dieses Jahr schon dreimal auf deinem Einundzwanzigsten. Ich fürchte, das fällt sogar ihm irgendwann auf.“ Annegret runzelte die Stirn und zog den breiten Ledergeldbeutel aus der Schürzentasche, nur um ihn sofort wieder in das spitzenbesetzte Fach zurückzuschieben. Annegret trug das Haar auftoupiert und Susi fand, es sah aus wie ein Vogelnest mit Samtband drumherum.
„Gerda könnte auch einen Damenabend veranstalten“, schlug Doris vor.
„Ja, natürlich! So etwas machen feine Bürgermeistertöchter, nicht wahr?“, sagte Hannelore.
Gerda nickte, strich provokant den Rock ihres Kleides glatt und sah Hannelore mit hochgezogenen Augenbrauen an.
Sicher trug sie wieder einmal das neueste Modell, vermutete Susi. Jedenfalls hatte sie noch nie einen ähnlichen Stoff gesehen. Schwarze Blumen auf gelbem Grund.
„Von mir aus gerne, was immer dein Göttergatte hören will“, sagte Gerda zu Annegret.
„Was der hören will, das bringst du nicht über die Lippen.“ Annegret legte eine Hand an ihre toupierte Mähne, die andere auf die Hüfte und ging mit wiegendem Schritt zur Schwingtür der Küche.
Gerda sah ihr entsetzt hinterher und Susi lachte schallend.
„Ist das Fräulein Etepetete erschrocken?“
Gerda drehte sich entrüstet zu ihr.
„Ich bin nicht prüde, aber es gefällt mir nicht, dass sie sich unterordnet.“
„Sie ist eine Ehefrau, was erwartest du?“ Susi winkte lachend ab.
„Ich würde das nie tun.“
Susi hörte auf zu lachen und sah Gerda ernst an. „Das glaube ich dir aufs Wort.“
„Was soll das denn nun wieder heißen?“
Annegret kam aus der Küche mit einem Tablett, auf dem eine Tasse Kaffee stand, und sagte im Vorbeigehen: „Hört auf zu streiten. Ich habe ihm gesagt, dass wir ins Kino gehen.“
„Wunderbar. Jetzt brauchst nur noch du einen triftigen Grund“, sagte Gerda zu Susi.
„Ich brauche gar nichts“, gab Susi zurück. „Ich kann gehen, wohin ich will.“
Susi sah lächelnd zu, wie Doris mit einem Stapel Spielkarten auf den Tisch klopfte, ihn teilte, die Karten mit den Daumen auffächerte und ineinanderlaufen ließ. Doris hatte ihre roten Haare zu zwei Zöpfen geflochten und sah aus wie Pippi Langstrumpf, die mit ernstem Gesicht und Tempo die Karten auf den Tisch klatschte.
„Willst du uns mit deinen Zockertricks einschüchtern?“
„Ach, Quatsch. Ist doch egal, wie man es macht, Hauptsache ich gewinne.“
Susi nahm die Karten entgegen und sortierte sie.
„Du gewinnst nie. Aber ich bewundere dich dafür, dass du die Hoffnung nicht aufgibst.“
„Eigentlich ist sie froh, dass sie verliert, denn sie glaubt an das Sprichwort: Glück in der Liebe, Pech im Spiel.“ Hannelore prostete Doris zu.
Wie jeden Samstagabend, sobald die Kinder im Bett waren, trafen sich Susi, Hannelore und Annegret bei Doris in der Küche zum Canasta-Spielen.
Hannelore hatte ab einundzwanzig Uhr frei, wenn die Küche des „Adler“ schloss, Annegrets Mann ging meist zum Kegeln, Susi kam, weil sie jede Gelegenheit nutzte, das Haus zu verlassen.
Annegret schenkte Bier ein und verteilte die Gläser. Dann setzte sie sich stöhnend auf die Eckbank und zog die Schuhe aus.
„Ich sage euch was. Egal welche Schuhe, Bedienungen haben abends schmerzende Beine.“
Ein paar Minuten zogen die Frauen schweigend Karten, sortierten ihren Fächer auf der Hand neu und legten mit möglichst unbeteiligtem Gesicht eine Karte ab.
Hannelore räusperte sich und gab damit das Startsignal, dass nun der Tratsch beginnen sollte.
„Ich habe mir ein neues Hobby zugelegt.“ Sie liebte es, geheimnisvoll daherzureden. „Ratet, was es ist.“
„Du hast doch schon ein Hobby. Was ist mit dem Fußball?“ Susi sah sie entrüstet an.
„Keine Sorge, ich bin weiterhin dabei. Ich wette, ihr kommt nie drauf.“
Annegret lachte auf. „Bestimmt machst du einen Makrameekurs.“
„Du gehst auf den Trimm-dich-Pfad“, riet Doris.
„Total daneben.“ Hannelore legte eine Reihe Königinnen ab.
„Du singst im Kirchenchor mit, du machst einen Obstbaumschnittkurs oder ein Seminar zur Bedienung der Kettensäge oder …“ Annegret lachte, bis ihre Hochsteckfrisur wackelte und ihr die Tränen kamen.
„Jetzt verrate es endlich, so viel Spannung hält ja kein Mensch aus.“ Doris warf theatralisch vier Zehner auf den Tisch.
„Also gut, ich wusste ja, dass ihr es nicht erraten könnt. Die Theatergruppe probt ab jetzt bei uns im Saal …“
„Und da dachtest du, du spielst mal eben die Hauptrolle?“, plapperte Annegret dazwischen.
Hannelore zog eine Schnute. „Traust du mir das nicht zu?“
„Echt, du willst schauspielern?“ Doris ließ die Karten fallen, sie segelten zu Boden. Sie beugte sich hinunter und Hannelore schielte nach den Karten.
„Schummle nicht!“ Mit hochrotem Kopf tauchte Doris wieder auf.
„Ich hoffe nur, du kommst weiterhin zum Canasta-Spielen“, sagte Susi. „Es reicht, dass Gerda sich gar nicht mehr blicken lässt, seit sie mit ihren Studienkollegen herumzieht.“
Doris sortierte ihre Karten neu. „Tja, die Verlockungen der weiten Welt! Die könnt ihr euch abschminken, wenn ihr Kinder habt, macht euch keine Illusionen.“ Doris legte eine Karte ab und zog eine neue.
„Interessiert euch gar nicht, was wir proben?“ Hannelore klang beleidigt.
„Doch, klar“, sagte Susi schnell. „Was ist es?“
„In achtzig Tagen um die Welt. Ich spiele Phileas Fogg.“
„Eine Männerrolle?“
„Ja, wir sind nur Frauen. Frank Meyer, das ist unser Regisseur, wisst ihr, er erzählte, dass zu Shakespeares Zeiten nur Männer auf der Bühne standen, und das ist jetzt der Ausgleich.“
„Apropos Männer“, sagte Doris zu Hannelore. „Ich kenne euren Regieseur.“
„Wirklich?“
„Er ist verheiratet.“
„Na und? Ich geh ja nicht wegen ihm hin.“
„Wegen wem sonst?“ Susi hob die Augenbrauen.
„Nur wegen mir, was denkt ihr denn? Ich will einfach mal was Neues ausprobieren.“
„Das ist doch verständlich“, pflichtete Annegret bei.
„Ja, ja, dich habe ich auch im Auge“, antwortete Doris. „Du bist schon zwei Jahre verheiratet.“
Annegret zuckte mit dem Achseln.
„Mach dir mal um mich keine Sorgen, mein Mann und ich genießen unsere Zweisamkeit.“
„Andauernd, wenn man dir genau zuhört.“
Die Frauen lachten.
Susi lachte mit ihnen über das Geplänkel, bei dem es um Männer und Liebhaber ging. Sie selbst wurde nie in die Mangel genommen. Taktvoll sparten die Freundinnen Susis Liebesleben aus, als ahnten sie, dass ihr Interesse Frauen galt. Zum Glück, dachte Susi wieder einmal dankbar. Wie hätte sie auch unbefangen darüber sprechen sollen?
„Wer will schon die Welt sehen und Neues ausprobieren, wenn er mit euch zusammen sein kann?“ Susis sah von einer Freundin zur anderen.
„Posaune es nicht so laut heraus. Du wirst auch irgendwann verführt und dann zeigt sich, ob du noch mit uns zusammen sein willst.“ Doris zog ein wissendes Gesicht.
„Was hast du denn für Ahnungen?“, fragte Annegret.
Doris zuckte mit den Achseln und zwinkerte Susi zu.
Dann legte sie alle Karten ab. „Gewonnen!“
Acht Tage später beeilte sich Susi, mit den Einkäufen nach Hause zu kommen. An diesem Abend fand das erste Spiel statt. Um acht, wenn die meisten Männer vor dem Fernseher saßen. Paps erwartete, dass das Abendessen pünktlich um sieben auf dem Tisch stand. Martin lag auf dem Sofa und sah Familie Feuerstein an.
„Was gibt es zu essen?“, fragte er.
„Hast du bei der Zeitung nichts zu tun?“ Susi ärgerte sich, weil ihr Bruder schon zu Hause war. Sein Volontariat bestand offensichtlich nur aus Faulenzerei. Jetzt musste sie sich etwas ausdenken, damit sie unbemerkt ihre Sachen zusammenpacken konnte. Martin starrte auf die Mattscheibe. Trotzdem fühlte sie sich von ihm beobachtet, als sie einen Wäschekorb aus dem Badezimmer holte und wahllos Kleidung hineinwarf, um ein hellblaues T-Shirt darunter zu verstecken. Würde ihm auffallen, dass sie saubere Wäsche herumtrug?
In der Waschküche steckte Susi das T-Shirt in die Sporttasche. Mangels eines Mannschaftstrikots hatten sie verabredet, wenigstens die gleiche Farbe zu tragen.
In der Küche drehte sie das Transistorradio auf. Diese Anschaffung hatte die Hälfte von Paps’ letztem Monatsgehalt verschlungen und den Röhrenapparat ersetzt. Susi verfluchte ihren Vater wegen seiner Marotte, immer das neueste Gerät haben zu wollen, aber das Radio liebte sie, denn es erleichterte ihr zumindest die verhasste Hausarbeit und Kocherei.
Let’s rock, everybody, let’s rock. Everybody in the whole cell block, was dancin’ to the jailhouse rock …, sang Elvis. Susi knüpfte einen dicken Knoten in das Geschirrhandtuch und dribbelte damit durch die Küche. Ihr tägliches Training. Sie umrundete den Küchentisch, während sie das Geschirrtuch vor sich hertrieb, stellte einen Stuhl in die Ecke gegenüber der Spüle und nach jeder geschälten Kartoffel schoss sie ein „Tor“ zwischen die Stuhlbeine. Danach angelte sie das Tuch wieder hervor, rannte damit eine Runde durch die Küche, bis sie die nächste Kartoffel zu schälen begann. So dauerte das Kochen zwar lange, war aber erträglicher. Im Rhythmus der Musik legte sie ein Bein auf die Spüle und dehnte sich. Sie wurde übermütiger, als sie an das Spiel dachte. Von der Tür aus versuchte sie, einen Einwurf mit einer Kartoffel in den Topf zu treffen, aber das spritzte zu sehr. Sie wollte schließlich nicht hinterher die ganze Küche putzen. Das Spülen blieb sowieso ihre Aufgabe, das musste sie heute Abend nach dem Spiel erledigen, doch daran mochte sie jetzt nicht denken.
Sie übte, mit dem linken Fuß zu schießen, und fand die Ergebnisse gar nicht schlecht. Pfeifend wendete sie die Leber in der Pfanne und sah immer wieder zur Uhr an der Wand. Der Zeiger wanderte viel zu langsam voran. Fünf vor sieben schüttete sie die Kartoffeln ab und begann, den Tisch zu decken.
„Martin, das Essen ist fertig. Ist Paps gekommen?“
Martin antwortete nicht. Susi schaute ins Wohnzimmer, der Fernseher lief, aber Martin war nicht da. Sie sah zum Fenster hinaus und hielt Ausschau nach dem Opel-Caravan ihres Vaters. Wo blieb er bloß? Normalerweise kam er pünktlich. Unruhig knallte sie das Fenster wieder zu. Bevor sie die Gardine schloss, bemerkte sie Martin. Er hinkte aus der Seitentür der Garage und sie meinte, er hätte ein zufriedenes Grinsen im Gesicht.
Sicher hat er nur eine Flasche Bier geholt, beruhigte sich Susi; sie mochte sich nicht vorstellen, dass er in der Waschküche herumgeschnüffelt hatte.
„Wo bleibt Paps?“, fragte Susi, als er ins Haus kam.
Martin zuckte nur mit den Schultern, ließ den Stock neben das Sofa fallen und plumpste darauf.
„Es riecht verbrannt.“
Susi rannte zum Herd und zog die Pfanne mit der Leber von der Platte. Sie angelte die verkohlten Apfelscheiben mit der Gabel heraus und schnitt neue hinein.
Um halb acht erschien Paps, doch er verschwand sofort im Badezimmer und schrubbte seine Hände. Susi stand ungeduldig an der Tür und fand, er ließe sich unendlich Zeit.
„Das Essen ist längst fertig“, sagte sie.
Paps drehte den Kopf und sah sie erstaunt an. Seine Gesichtsfarbe wurde langsam rot und Susi hielt die Luft an. Sie hatte einen Fehler gemacht. Nun würde das Unwetter losbrechen.
„Was fällt dir ein? Ich rackere mich für euch ab und du meckerst? Hast du eine Ahnung, was ich heute um die Ohren hatte?“
„Nein, natürlich nicht. Entschuldige.“
Sobald Paps losbrüllte, breitete sich in Susis Kopf eine Leere aus. Sie schwieg und duckte sich innerlich. Sie hasste sich, wenn sie so reagierte, aber es geschah seltsamerweise automatisch, ohne dass sie sich dagegen wehren konnte.
Paps setzte sich an den Tisch, knallte dabei den Stuhl auf die Fliesen. Susi füllte ihm den Teller und stellte ihn mit zitternden Händen vor ihm ab. Martin streckte ihr seinen Teller hin und sie trug ihn zum Herd, um Leber und Kartoffeln darauf zu legen.
„Setz dich endlich hin! Hast du Hummeln im Hintern?“ Paps schimpfte mit vollem Mund. Er kaute und schluckte und fixierte Susi mit einem Blick, den sie gut kannte. Sie nahm sich ein kleines Stück Leber und schöpfte Kartoffeln aus dem Topf. Sie zitterte so sehr, dass eine Kartoffel auf den Boden fiel.
„Werfen wir jetzt schon mit Lebensmitteln? Haben wir etwa zu viel davon?“
Susi hob die Kartoffel auf und wusste nicht, was sie damit machen sollte. Wegwerfen? Abspülen? Sie drehte das Wasser auf und hielt die Kartoffel kurz darunter. Hastig setzte sie sich an den Tisch. Der Appetit war ihr vergangen, aber sie zwang sich, das Essen zu sich zu nehmen, denn sie brauchte Kraft. Susi kaute auf einem Stück kalten Fleisch und sah zur Uhr. Paps bemerkte es.
„Wo willst du schon wieder hin?“
Susi beeilte sich, einen gleichmütigen Ton anzuschlagen. „Ich gehe mit ein paar Freundinnen ins Kino.“
„Schon wieder?“ Paps sah sie böse an und schlug mit der Hand auf den Tisch. „Du bist wie deine Mutter!“
Jetzt ging der Ausbruch los, den sie befürchtet hatte.
„Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, ja, da sieht man es wieder. Ständig musst du dich herumtreiben. Hast du im Haus nichts zu tun? Willst du etwa so enden wie sie? Willst du mir das Gleiche antun? Hm? Ich hab dich was gefragt!“
„Natürlich nicht, Paps.“ Susi neigte den Kopf über den Teller, Tränen schossen ihr in die Augen. Konnte er nicht still sein?
„Sieh mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede.“
Ruckartig hob Susi den Kopf und hoffte, er würde ihre Tränen nicht sehen. Aber Paps sah sie gar nicht an. Er hielt ihr den Teller unter die Nase und schaute zum Herd.
„Fleisch.“
Susi hatte keines mehr. Mit der Gabel nahm sie ihr eigenes vom Teller und legte es ihrem Vater auf.
„Na also, dir werde ich die Schlampereien schon noch austreiben.“
Susi zog Kartoffelscheiben durch das erstarrte Fett auf ihrem Teller.
Martin räusperte sich. „Ich will auch noch was.“
„Ich will auch so einiges, das kannst du mir glauben.“
„Schrei deinen Bruder nicht an. Männer brauchen was Gescheites zu essen. Merk dir das. Wie soll aus dir eine anständige Hausfrau werden, wenn du dich nicht anstrengst?“
Martin grinste breit.
„Kannst es ja kaum erwarten, zu deinen Freundinnen zu kommen“, sagte Martin verächtlich.
„Ich habe wenigstens Freunde“, gab Susi zurück.
