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Galgenvögel treffen sich im Osten der Stadt Sankt Gallen, aber nicht nur dort, auch in der Altstadt. Gemütlich. Am Kinderfest und an der OLMA sowieso. Das Kinderfest findet statt, obwohl heuer vier Jugendliche spurlos verschwunden sind und nicht mehr auftauchen wollen, ihre Eltern wiedersehen schon gar nicht - bis sie in diesem endlos heissen Sommer in einem einsamen Hexenhäuschen am Bahngleis nach Rorschach eine Leiche entdecken. Stark vermodert. Übrig bleibt ein goldiger Siegelring mit einem Löwenkopf. Und plötzlich ist die Leiche wieder verschwunden... Galgenvögel. Verwunschen. Verrückt. Verspielt. Elektrisierend.
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Seitenzahl: 302
Veröffentlichungsjahr: 2020
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Inhalt
Prolog: Lästerzungen
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Ertrunken
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Erwürgt?
Entglitten
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Verschwunden
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Verdorben
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Verspielt
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Vertraut
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Verschwiegen
.
Verdächtig
.
Endlos 1 und
2
Elektrisiert?
Egalisiert
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Epilog: Gespenster
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Mitspieler und Mitspinnerinnen
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Théo Buff in quirligen Daten
.
Kommentare zu Endzeitzauber.
Endzeitzauber.
Zwischenwelten.
Kriminalistisches Auge?
Rechtsmedizinerin Céline Fröhlich ist alleinerziehende Mutter und macht sich Sorgen um ihren Sohn Jerry, der gerade wacker pubertiert. Das soll aber nicht unsere Sorge sein, hier. Was den Assistenten von Kommissar Häfeli, Max Kraienbühl, mehr beschäftigt ist, wer der Vater von Jerry sein könnte. Es gibt nur eine Lösung. Dr. Fröhlich kennt sie – rückt aber mit der Sprache nicht heraus, obwohl Kraienbühl immer wieder fragt. Weshalb bleibt offen.
Wie heisst Jerry’s Vater? Finden Sie’s mit etwas Fantasie, Gespür und Tierliebe heraus und gewinnen so den 3. Band der Trilogie Mord in Sankt Gallen: «Gespenster. Im Tröckneturm.»
Senden Sie bis zum 24. Dezember 2020 ein Mail mit dem Namen des Vaters an [email protected]. Die fünf Gewinner werden ausgelost und erhalten die «Geisterstunde» geschenkt. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.
Wettbewerbsauflösung «Endzeitzauber»: Auf welcher Seite ist der Name von Max Kraienbühl bewusst falsch geschrieben? Seite 142.
Verliebt.
Verrückt. Vergeblich. Verwirrt.
Verrucht. Verloren. Verwunschen.
Verspielt.
Ist das Leben. Mit seinen Geschichten, seiner Ironie, seinen Akteuren. Seinen Schauspielerinnen. Lusttöterinnen. Clowns. Versagern. Hochstaplern.
Gedankenlosen Mitspielern.
Manchmal.
Trotz allem: Das Leben ist schön!
Ein Geschenk.
Trotz Galgenvögel.
Lästerzungen-Roman. Mit Mordscharakter und anderen Geschichten. Aus Sankt Gallen. Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären zufällig und nicht beabsichtigt. Die Voliere im Stadtpark ist eine wichtige Kulisse; ein Zusammenhang mit ihren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen besteht explizit nicht.
Herzlichen Dank allen, die mitgeholfen haben, dieses Buch zu veröffentlichen, allen Fabuliererinnen und Ideenlieferanten unfreiwilliger Realsatire, die täglich stattfindet und die ich so liebe. Dazu braucht’s weder Zauberer noch Hexen. Aber Hofnarren und Lästerzungen. Galgenvögel?
Am Galgen. Im Galgentobel.
Ach ja, noch rasch etwas zum Zivilstand der Mitspielerinnen und Mitspinner, der heute sowieso nicht mehr so wichtig und oft auch nicht immer nachvollziehbar ist, allenfalls noch für das Portemonnaie, und hier nur erwähnt wird, wenn er von Bedeutung erscheint – alles ist möglich: Unglücklich verheiratet, glücklich geschieden, echt schwul oder lesbisch, von mir aus auch nur zur Zierde, weil es gerade passt oder chic und in ist. Glücklich allein singelnd, ohne weitere unnötige Kostenstellen, todunglücklich mit drei Geliebten, autark, alleinerziehend oder was auch immer.
Flexibel oder unabhängig unanständig. Anständig.
Unanständig anständig.
Und die Kinder?
Marginal. Oder doch nicht ganz?
Sankt Gallen. Die Komplizierte. Die sich gerne versteckt. Und dann doch beleidigt ist, wenn man sie nicht wahrnimmt. Oder unterschätzt. Die mit den hohen Steuern – im Vergleich zu den Umlanden. Und die kräftig daran arbeitet, diese hoch zu halten, bis nur noch der Stadtrat in dieser Stadt wohnt. Zusammen mit den eifrigen Frauen und Mannen der Stadtkanzlei. Na ja. Ob das ausreicht?
Ballenberg in der Ostschweiz.
Endlich mehr Mut und Ideenreichtum täten dir gut, glauben wohlmeinende Kritiker. Lästerzungen, Zynikerinnen und Besserwisser äussern sich etwas pointierter. Deftiger.
Ist doch keine Hexerei. Oder doch lieber ein paar Galgenvögel zusätzlich?
Gut. Dann halt nicht.
Aber etwas weniger brötig1?
Und dafür ein bisschen mehr Humor.
Verspätet. Verbockt. Verblödet. Wollen wir nicht.
Viel Spass!
1 Dialekt: trocken, langweilig.
Bert Häfeli, Kommissar und Chef des Kommissariats 2 der Sankt Galler Stadtpolizei2, schlief oft schlecht, gelegentlich miserabel, vor allem, wenn er bei kniffligen Fällen, die an seinen Nerven zerrten, nicht wunschgemäss vorwärtskam. Dann träumte er wirres Zeug. Manchmal auch Spannendes, Erotisches, Lustiges, sodass er am liebsten weiterschlafen wollte.
Häfeli sah sich am Rande des Voliere-Weihers3 im Stadtpark stehen, der hässliche Maschendrahtzaun – wie in einem Gefängnis, war verschwunden. Modriger Geruch von fauligem Wasser und Vogelkacke drängte sich ihm in die Nase. Süsslich penetrant. Aber was war das dort draussen, das aussah wie ein Gepäckstück, länglich und grau? Eine fette Ente, ebenfalls grau, hockte auf der oberen Seite, im fahlen Licht nur vage zu erkennen. Ein Koffer?
Häfeli kniff die Augen zusammen, jetzt sah er es genau: Nein, kein Koffer, das war doch…, eine Leiche. Ein Mann, soviel stand fest, das Gesicht war zwar weitgehend durch das braune Wasser verdeckt, Konturen waren jedoch sichtbar, ein dunkler Schnauz, die Haare? War das nicht Waldvogel, der schmalzige Präsident des Voliere-Fördervereins, oder gar Stadtbaumeister Ueli Meisterhans-Abendruh? Der erinnerte ihn immer an den Grill-Ueli, der im Schweizer Fernsehen bei jeder Gelegenheit mit seinen Würsten brillierte. Auch so ein Übergesprächiger. Showman. Aber gut durchschaubar.
Unwillig stellte Häfeli den Wecker ab. Noch schlaftrunken versuchte er den Traum zu reflektieren, was war da eigentlich geschehen? Flüchtig machte er sich einige Notizen auf dem Block, der neben ihm auf dem Nachttischchen lag.
Früher hatte er noch ein Traumtagebuch geführt. Heute freute er sich unverkrampft an seinen Träumen – und vergass sie meist wieder, zerronnen wie angeflogen. Unglaubliche Geschichten, von denen man sich kaum mehr lösen konnte und hoffte, sie würden nie aufhören … Im Traum. Wie Märchen, als Kind. Staunen. Sich freuen, oder fürchten, oder fallen, ins Nichts.
Wieso fanden gerade diese Geschichten, diese Menschen, diese Frauen, diese Albträume, den Weg in sein Schlafzimmer, erstaunlich und unmotiviert, glaubte er. Tatsächlich?
Träume sind Schäume. Schäumen. Und werden die schönen, aufregenden, lustigen Träume im falschen Moment unterbrochen, von irgendeinem Hinz, der den Kunz sucht. Schade. Im schlechteren Fall die bösen, angsteinflössenden eben nicht, oder nur durch die Nothaltetaste. Manchmal gelang es Häfeli in seltenen Fällen, den Faden eines Traums wieder aufzunehmen, vorwärts zu spinnen. Wie geht es jetzt weiter? Und wieso ist das «Ende» so, und nicht anders?
Träume.
Zufällig. Fürchterlich. Spielerisch. Exotisch. Erotisch. Aus einer anderen Welt. In jedem Fall aber überraschend und faszinierend! Komisch willkommen.
Häfeli freute sich bereits auf die nächste Nacht.
Mann wird älter.
Aufstehen. An die Arbeit. Schon wieder. Auferstehen.
Und wo blieben die Träume, was machen sie jetzt, spinnen sie ihr Spiel weiter?
Wunschträume.
Im Stehen trank er hastig einen Kaffee und verabschiedete sich von Sabrina, seiner Frau: «Bis zum Abend, ich komme am Mittag nicht nach Hause.
Tschüss!»
Irgendwann wolltesollte er mit seiner Frau sprechen. Über ihre Ehe, nicht die Ehe an sich und im Allgemeinen, ihre gemeinsamen Pläne, die schon lange nicht mehr existierten, oder nicht mehr dieselben, gemeinsamen waren, spätestens seit Roberto und Patrizia begannen, sich abzunabeln, selbständig zu werden. Ein normaler Prozess. Eigentlich. Auch eine Chance, für die «Alten». Wenn man das so sehen wollte, oder konnte. Sprechen. Diskutieren. Über das Älterwerden, seine eigenen Projekte, Projektionen, die Pensionierung in Sichtweite, sein Theater, über ihre Ideen, die Halbtagsstelle, welche sie suchen wollte und wo es auch nicht immer ganz einfach sein würde, ihr Theater – aber nicht im selben Ensemble, die Tanzkurs-Performance in Amsterdam. Wieso gerade Amsterdam?
Eine Erlösung.
Aber für wen eigentlich?
Ein Ausrutscher?
Dann und dort!
Irgendwie hatte er das Gefühl, sie hätten sich aus den Augen verloren, auch die gemeinsame Sprache. Schauten sich sprachlos zu. Und an. Auch hilflos. Gelegentlich. Und immer weniger direkt in die Augen. Seit wann eigentlich?
Seit irgendwann.
Nur schlecht kaschiert.
Eigentlich wäre es dringend. Dieses Gespräch.
Einen Moment noch. Momente können ewig dauern. Und dauern. Und …
Und dieses Inserat für die Halbtagesstelle in der Kita globiundmaus? Er wollte Sabrina bei der Bewerbung helfen. Tatsächlich ging es aber auch hier nicht vorwärts.
Wollte sie, oder wollte sie nicht, oder nur halbherzig.
Oder was?
2 Das Hauptquartier der Stadtpolizei ist in diesem Buch bewusst immer noch im pittoresken Amtshaus angesiedelt, mitten in der Altstadt, weil es so praktisch ist. Und schön. Passend. Die verschiedenen Akteure, das Büro des Kommissars usw. werden in «Endzeitzauber», dem ersten Teil dieser Trilogie, hinreichend beschrieben.
3 Stadtparkweiher, erstmals 1830 nachgewiesen, allerdings in einer völlig anderen Form; er reichte fast bis zum Historischen Museum. Die alte, achteckige Voliere entstand 1892.
Kaum hatte Kommissar Bert Häfeli auf seinem Bürostuhl im Amtshaus Platz genommen, schellte das Telefon. Eindringlich. Trotzdem. Hier lässt es sich gut leben, und überleben. «Nimm du mal ab», brummelte er zu Max Kraienbühl hinüber, seinem Assistenten. Häfeli nahm meist die Treppe in den dritten Stock, nicht den Lift. Und er hasste es, wenn gleich, noch bevor er sich setzten konnte und die Strassenschuhe ausgezogen hatte, das Telefon läutete, oder ein aufgeschreckter Morgengeist ins Büro tappte. Womöglich hellwach. Unverschämt. Am frühen Morgen.
Nicht eigentlich erfreut nahm Max Kraienbühl den Anruf entgegen. «Stadtpolizei Sankt Gallen, Kommissariat 2. Grüezi.»
Pause.
«Was, einen toten Pelikan, in der Voliere …? Aha. Eine Leiche, sind Sie sicher? Ein Mensch. Umso besser. Äh …, gut, wir kommen, sofort. Bleiben Sie dort. Vielen Dank. Adieu.»
«Was war denn das schon wieder», fragte Häfeli. «Wir sind hier doch noch im Aufwachraum, Blödmann. Und jetzt diese Aufregung. Der Pelikan, Max hiess er glaube ich, wie du, ist schon lange tot. Vermutlich eine Herzattacke. Böse Schüler der nahen Oberstufenschule Bürgli4 hatten manchmal mit Schneebällen nach ihm geworfen. Irgendwann wurde das seinem Herzen zu viel, und so verabschiedete er sich halt. Entrüstet stürmte der Schulvorsteher die Klassenzimmer, um den oder die Täter zu überführen. Ohne Erfolg. Max, dem Pelikan, hätte es nichts mehr genützt, gell Max.»
Kraienbühl schüttelte den Kopf.
Pause.
«Also, was ist jetzt?»
«Eine Leiche, ein Selbstmörder oder ein Betrunkener, der in den Weiher im Stadtpark gefallen ist. Oder etwas anderes – ein Mordopfer? Komm, lass uns selbst nachschauen! Wellenberg und die Spusi sollen gleich mitkommen, das erleichtert uns einiges. Ich rufe rasch in der Kriminaltechnik an, und den Bestatter.»
«Wir gehen zu Fuss, ist ja nicht weit vom Amtshaus entfernt, und etwas Bewegung am frühen Morgen soll bekanntlich gesund sein.»
«Aber Wellenberg darf den Leichenwagen schon mal mitbringen, oder soll er die Leiche mit seinem Gehülfen in die Pathologie rüber tragen? Ist ja nicht weit, und etwas Sport …»
«Aff, mach nicht den Affen. Dafür ist es noch zu früh. Los! Und der Club heisst offiziell immer noch Institut für Rechtsmedizin.»
Toupet im Wasser.
Als sie bei der Voliere eintrafen waren schon alle da: Streifenwagen, Bestatter Wellenberg, die Kriminaltechnik unter der Leitung von Tom Wichtelmann und etliche Zuschauer. Die Polizisten waren zusammen mit Hilfsweiherwart Paolo D’Abruzzi damit beschäftigt, mit einem an einer langen Stange befestigten Haken die Leiche ans Ufer zu ziehen. Dabei liess es sich nicht vermeiden, dass der Kopf des Toten immer wieder unter Wasser geriet – und dabei die Haare verlor. Ein schmuddeliges gelbliches Haarteil, um das sich bereits zwei Enten zankten, dümpelte im bräunlichen Wasser. Ärgerlich.
Mehrmals entwischte ihnen die Leiche unter dem Gezeter einer stattlichen Entenschar, die sich zwar an den Rand des Weihers in Sicherheit gebracht hatte, die Sache aber interessiert mitverfolgte. Ganz abgesehen von den Zuschauerinnen und Zuschauern am Ufer. Wieder spritzte Wasser in die Höhe, fast wie im Sprudelbad. Endlich schafften sie es, den leblosen Körper ans Ufer und schliesslich aus dem Teich zu ziehen. Das zerzauste Haarteil blieb zurück.
«Wellenberg walten Sie Ihres Amtes», befahl Häfeli, «die Leiche muss in die Rechtsmedizin. Sofort. Und du Kraienbühl sorgst mit den Kollegen subito dafür, dass die Zuschauer mit ihren Handys verschwinden. Blitzartig. Und fischt endlich das Toupet heraus, sonst gibt’s daraus noch ein Vogelnest.
Kein Respekt vor den Toten.
Wichtelmann, deinen Bericht schnell, gell.
Danke.»
«Hey, was ist denn das dort drüben?» fragte Kraienbühl und zeigte ins Wasser. Tatsächlich: Hinter dem Inselchen schwamm ein weisses Ding, Füsse nach oben, schwarz, Kopf nach unten. «Auch so ein Vogel, der sich nicht mehr bewegt… Los, herausfischen», befahl Häfeli.
Inzwischen beugte er sich über den metallenen Sarg: «Ein Mann, sieht eigentlich ganz harmlos aus, auf den ersten Blick …». Der Kommissar wollte nicht unbedingt von seinen Träumen erzählen und fragte daher, ob jemand die Leiche, den Mann da, kenne.
«Ja, das ist oder war Dr. Franz-Josef Waldvogel, der Präsident des Fördervereins der Voliere, und praktizierender Zahnarzt an der Spisergasse», sagte Hilfsweiherwart D’Abruzzi. «Brauchen Sie einen Zahnarzt? Waldvogel war auch da nicht schlecht. Gestern Abend habe ich ihn hier noch gesehen. Lebendig. Durchaus. Mein eigentlicher Chef ist allerdings Oberweiherwart und Vogelschützer Patrick Weiss. Er weiss fast alles, über Vögel sowieso, aber auch sonst. Die Strukturen hier sind etwas verwirrend, und verworren.»
«Das ist ja schon mal was; merkwürdig sind aber die seltsamen Verfärbungen am Hals. Würgemale? Vielleicht findet die Spusi noch etwas im Wasser oder im Stadtpark, abgesehen von dem Haarteil. Oder im Historischen Museum. Eine Besichtigung dort, eine kulturelle Auffrischung, würde Ihnen allen nicht schaden. Exgüsi! Übrigens: War Waldvogel krank?»
«Nein, nicht dass ich wüsste», sagte der Hilfsweiherwart. «Vielleicht geisteskrank.»
«Sie da, Herr D’Aborti, Sie kommen gleich mit uns ins Kommissariat, für eine erste Befragung. Auf geht’s.»
«D’Abruzzi, Paolo», warf dieser verlegen ein.
Ok. Ist doch fast dasselbe, dachte Häfeli verärgert.
«Passt schon.»
«Halt, wartet noch, seht mal, was wir hier haben!» Kraienbühl hielt den Rumpf eines grösseren Vogels in den Händen, weiss, schwarze Schwimmfüsse. Aber der Kopf und ein grosser Teil des Halses fehlten.
«Wellenberg soll dieses Ding gleich in die Rechtsmedizin mitnehmen, abklären lassen. Aber wo ist der Kopf?»
Hochstapler?
«Was ist nun mit diesem Zahnarzt und Vogelschützerpräsidenten, Franz-Josef Waldvogel? erzählen Sie mal, Herr D’Abruzzi, nur zu. Oder wollen Sie zuerst einen Kaffee, wir haben hier im Büro ausgezeichneten Kaffee. Machst du das»? fragte Häfeli seinen Assistenten.
Franz-Josef Waldvogel, ein komischer Name.
Wenig später sassen alle drei vor ihren Kaffeetassen, die Lena Rabenschwarz Bölsterli gebracht hatte, zusammen mit Schokoladekugeln. Heute war sie gnädig gestimmt, die beste Sekretärin im Haus und Büro-Fee des Polizeivorstands5. Paolo D’Abruzzi langte kräftig zu, bei den Schokoladekugeln. Nachdem er Lena einige Sekunden zu lange angestarrt hatte.
«Franz-Josef Waldvogel», begann D’Abruzzi, «der ist die Graue Eminenz, so sagt man doch, führt den Laden aus der Ferne. Trotzdem ist er häufig hier, oft zusammen mit seiner Praxishilfe, Priska Flückiger-Klein, sie ist die Aktuarin im Förderverein.» Waldvogel regiere den Förderverein und letztlich den ganzen Betrieb wie ein König, selbstherrlich, autoritär und selbstzufrieden und… Na, ja.
«Sie meinen wie ein Kaiser – Franz-Josef, Österreich. Die Habsburger ...»
«Aha, ich verstehe nicht ganz, aber von mir aus. Waldvogel war auf jeden Fall ein Ekel, nichts konnte man ihm recht machen, unfreundlich, pedantisch genau, unfroh, ein ganz Schlauer, meinte er selbst; rechthaberisch, wusste wie immer alles besser … schlicht und einfach: Ein schwieriger Mensch! Zudem hatte er eine völlig falsch verstandene Tierliebe: Jeden Spatz und jede Taube mit gebrochener Feder meinte er retten zu müssen, womöglich noch mit dem Helikopter. So ein Schwachsinn! Einmal drehte ich einer Taube, die beide Beine gebrochen hatte und von einer Katze gebissen worden war, hinter seinem Rücken rasch den Hals um.» D’Abruzzi machte eine entsprechende Handbewegung.
«Der hätte mich entlassen, fristlos, wenn er mich erwischt hätte. Na ja, ich hatte Glück. Diese Taube auch.
Dagegen war die Zusammenarbeit mit Patrick Weiss, dem Oberweiherwart geradezu erfreulich. Ein angenehmer, ruhiger Mann. Ledig. Auch diese Praxishilfe war …»
«Was, bitte schön?» fragte Kraienbühl.
«Sagen wir es so, zumindest etwas anstrengend. Und fordernd». D’Abruzzis Augen blitzten kurz auf. «Und wie soll ich das sagen, äh … Doch lassen wir das.»
Waldvogel – geschieden, das auch noch, seine Kinder seien schon längst über alle Berge davon – habe bei jeder Gelegenheit über den Stadtbaumeister, Ueli Abendbrot – ein seltsamer Name, nicht? und den Chef des Gartenbauamtes, Bruno Grünpeter, geschimpft. «Vor allem mit dem Grünpeter hatte er dauernd Streit, gut, der ist auch nicht ohne, etwas cholerisch halt, aufbrausend; auf jeden Fall gerieten die beiden bei jeder Gelegenheit aneinander. Und dann flogen die Fetzen so richtig. Ein Kampf unter Turmfalken. Verstehen Sie?»
«Äh …, wir versuchen, die Übersicht zu erlangen. Der Stadtbaumeister heisst übrigens Ueli Meisterhans-Abendruh», sagte Häfeli. «Nun, wurde einer der beiden Vögel irgendwann handgreiflich?» fragte Kraienbühl
«Hier in der Voliere nicht, aber ich bin auch nicht immer dabei, ich bin nur der Hilfsweiherwart. Aber viel fehlte dazu nun auch wieder nicht, manchmal sind sie sich beinahe an die Gurgel gegangen. Grünpeter hätte gegen den wesentlich grösseren Waldvogel ohnehin keine Chance gehabt. Daher hielt er sich mit dem Zugreifen etwas zurück.»
«Worum ging es denn bei diesen Auseinandersetzungen? War Waldvogel auch für die Tiere zuständig, als Zahnarzt?»
«Nein, natürlich nicht – oder nicht direkt; die diskutierten dauernd um dieselben Themen, eigentlich ätzend», erzählte D’Abruzzi ungeniert und lautstark weiter. Um die Fütterung der Vögel halt, insbesondere die Enten. Wir fütterten die Tiere zu oft und zu stark, das führe dann eben zu überdurchschnittlich viel, äh, Nebenprodukten; zudem kämen so immer neue hinzu, aus der ganzen Region und vom Bodensee, dazu noch die Tauben, die alles verscheissen. Der Weiher sei überbevölkert und daher dauernd dreckig. Verschissen halt. Und nun ist es dem, wie sagten Sie vorhin, Kaiser, selbst verschissen gegangen, in dieser Kloake. Die Stadt müsse zu viel Trinkwasser liefern, und das auch noch bezahlen. Man sollte die Enten pasteurisieren …»
«Äh …, Sie meinen Sterilisieren, Herr D’Abruzzi.»
«Von mir aus auch Uperisieren und Homogenisieren. Auf jeden Fall hatten die beiden keine Ruhe miteinander. Selten bis nie waren die einer Meinung.»
«Pasteurisieren. Uperisieren. Thermisieren. So, so. Waren Sie in einem früheren Leben Milchmann, oder in der Molkereibranche beschäftigt? Ein seltenes Vokabular haben Sie.»
«Ja, ich arbeitete in Thun und Zürich, aber das ist schon Jahre her, bei der Toni Molkerei6, als Stapelfahrer, da gab’s gratis Pastmilch. Vollmilch. Jederzeit. Aber die existiert nun schon seit Jahren nicht mehr. Toni ist nicht mehr in.»
Ein Stapelfahrer als Hochstapler? ging dem Kommissar durch den Kopf. Laut sagte er: «Wie war das mit dem Präsidenten des Fördervereins und dem Stadtbaumeister genau?»
«Wissen sie, heute bin ich arbeitslos, schwer vermittelbar, wie die beim Arbeitsamt sagen, arbeite hin und wieder als Clown, das ist ein Hobby von mir, und als Hilfsweiherwart. Ich muss vorsichtig sein, möchte meinen Job nicht verlieren. Wie gesagt, die Streitereien zwischen Franz-Josef und dem Stadtbaumeister waren ebenfalls schlimm. Die beiden stritten sich über Gebäude und Gehege, Toiletten und Wasserzufuhr, den Futterkeller, die Vorratshaltung und eindringendes Wasser, über alles Mögliche, hier ist das meiste, na ja, etwas desolat, die Stadt sollte endlich Geld in die Hand nehmen.»
«Wir klären das ab. Können Sie sich vorstellen, dass einer der beiden etwas mit äh …, dem Ableben des Herrn Dr. Waldvogel zu tun hat?»
D’Abruzzi zuckte mit den Schultern. Das sei schwer zu sagen, in der Voliere im Stadtpark sei alles möglich, hier gebe es genug Vögel und Spinner.
Vogelgrippe.
«So, wir unterbrechen hier, uns reicht es im Moment, vielen Dank Herr D’Abruzzi. Wir rufen Sie an, wenn wir weitere Fragen haben. Das wird recht bald wieder der Fall sein. Nebenbei: Was haben Sie denn da an Ihrem Arm gemacht?» Häfeli zeigte auf den weissen Verband, der am rechten Unterarm unter dem Hemd von D’Abruzzi hervorschaute.
«Eine Lappalie, gestern im Futterlager, ein rostiger Nagel, der hervorstand, zu Hause sauber desinfiziert, wegen der Vogelgrippe, Sie verstehen. Also dann, auf Wiedersehen, meine Herren.
Äh, übrigens: Bei diesem Ding, von dem Sie vorhin sprachen und das Sie aus dem Weiher fischten, handelt es sich höchstwahrscheinlich um einen Schwan. Aber wir hatten hier schon lange Zeit keine Schwäne mehr, na ja, früher mal einen betagten Pelikan, den Max.
Adieu.»
«Vogelgrippe! So ein Kamel!» Und zu Kraienbühl sagte er, nachdem der Hilfsweiherwart verschwunden war: «Komm, wir gehen etwas essen, fleischlos und fischlos, auch keine Vögel. Keine fette Peking-Ente, ich habe sie noch zu nahe im Genick, diese unermüdlichen Quaker. Oder meintest du Quäker oder Quacksalber? Ich nehme Pizza, oder Pasta.»
«Was sagst du zu diesem Hilfsvogelwärter, und dem Toten – Unfall, Mord, Selbstmord, Missverständnis. Lustgewinn durch Strangulieren? Etwas weit hergeholt.»
«Immerhin haben wir schon mal zwei Halbverdächtige, das ist besser als nichts: Zwei tüchtige und erst noch smarte Streithähne, den Chef des Gartenbauamtes und den Stadtbaumeister. Im Ernst, seltsam ist es schon: Ein Zahnarzt als Obervogel, dabei haben Vögel doch gar keine Zähne.»
Die beiden Polizisten hofften auf eine schnelle Aufklärung dieses unappetitlichen Vorfalls.
Max, der Pelikan, ernährte sich vorzugsweise von Fisch, den auch Häfeli nicht verschmähte. Manchmal nahm er eine dieser Omega3-Kapseln, Fischöl sei gesund. Aber Vegetarier werden, jetzt schon? Eher nicht. Trotz dieser unerhörten, grauenhaften und Kreatur verleugnenden Fernseh- und Zeitungsberichte von Bauernhöfen, Schweine- und Geflügel-Konzentrationslagern, auch in der Schweiz, von Pferdetransporten durch halb Europa bei 45 Grad Celsius, bis die meisten Pferde verdurstet waren. Von Pferde-Schlachthöfen in Argentinien und Uruguay, die jegliche Achtung und Respekt vor dem Leben und dem Tod vermissen liessen. Gnadenlos. Lebewesen, nicht irgendwelche Möbelstücke für das Brockenhaus oder Sperrmüll.
Solches geschah auch im Thurgau, wo ein Pferdehändler seine Tiere jahrelang vernachlässigen und misshandeln konnte, trotz rechtskräftiger Urteile. Der Amtstierarzt schaute zu, oder weg, hatte die Hosen offenbar gestrichen voll vor dem gewalttätigen Besitzer der Pferde, während diese weiter still vor sich hin litten, etwas anderes blieb ihnen auch nicht übrig, manche elendiglich zugrunde gingen und sich niemand für sie einsetzte. Ein Skandal. Eine Sauerei. Und wo waren da die Nachbarn und die Polizei?
Unter dem Teppich.
Wie tief sind wir gefallen, irgendwohin, in Abgründe, und in welcher Geschwindigkeit – alles nur des Geldes oder der Lust wegen. Täglich ein blutiges Steak aus Paraguay – zum Super-Preis. Filet für das Volk. AldiDennerLidl. Filet für alle. Muss das sein? Vegetarier werden wäre eine Alternative. Tatsächlich.
Er erinnerte sich an jenen Typen, der im TV ohne Hemmungen erklärt hatte, er bekäme nur dann einen Orgasmus, wenn er sich vorstelle, wie er ein Kleinkind töte (…), oder das selbst täte? Ein anderer Psycho bestellt 35 überzählige Kälber für 1500 Euro in seinen vergammelten Abbruch-Hof, einige davon erst wenige Wochen alt, 50 Franken das Stück, und lässt sie dort verhungern, verdursten, verrecken. Der Sehnsucht nach der Mutter wird so ein ungnädiges Ende gesetzt.
Zum Kotzen ist das. Sprachlosigkeit. Ungläubiges Realisieren. Keine Märchen.
Ein Psychopathen-Festival. Sind nicht die meisten Obergrüsel7 Männer? Offiziell rechtschaffen, oder gar smart? Häfeli meinte, dringend auf die Toilette gehen und kotzen zu müssen, wenn er diese widerlichen Bilder aus dem Gedächtnis hervorkramte; ihm war warm und er glaubte, in einem zünftigen Morelli8 zu versinken. Da gibt es nur eine Lösung: Wegparkieren, diese üblen Gedanken, um sich möglichst rasch zu erholen.
«Haben wir schon erste Ergebnisse aus der Rechtsmedizin?» fragte er Kraienbühl, der jedoch den Kopf schüttelte. «Céline, äh, ich meine Dr. Fröhlich ist im Stress. Die haben reichlich zu tun, in diesem heissen Sommer, so wie er sich abzeichnet, mit vielen Toten. Die Altersheime leeren sich.»
«Warts nur ab, bis du selbst dort landest, beim alten Eisen, mit Pensionsalter 70. Innerorts. Pass auf, was du sagst!»
«Dann gibt’s das nicht mehr, solche Heime, aber vermehrt Hochregallager, für Demenzkranke. Oder Gefriersärge für Superreiche. Ab in die Kiste und so ins nächste Jahrtausend? Da will ich gar nie hin. Nie!» Kraienbühl überschlug im Kopf rasch, wie lange das bei ihm noch dauern würde und kam auf eine unmöglich hohe Zahl. Und schwieg. Es eilte noch nicht, mit dem Anständig werden. Vielleicht irgendwann im Altersheim? Oder dann erst recht nicht.
Kraienbühl wollte nicht immer brav und anständig sein, und vor allem nicht in ein Heim, ins Pflegeheim schon gar nicht.
Punkt!
Häfeli lehnte sich in seinem zugegebenermassen recht bequemen, graublauen Bürostuhl zurück, schaute auf die Uhr.
Pleite am Buffet.
Heute war doch diese ungfreute9 Einladung bei seinem «Lieblingsnachbarn», Gottfried P. Hugelshofer. 30 Jahre Hochzeitstag und einen runden Geburtstag dazu! Das auch noch. Sehr ärgerlich. Aber was sollte er dabei, er konnte ja nichts dafür, und hatte genug mit seinen eigenen runden Geburtstagen. Und den Pfunden dazu.
«Da müssen wir unbedingt hingehen», meinte Sabrina, «du könntest dir bei dieser Gelegenheit einen neuen Anzug leisten.»
«Chabis. Einen Scheiss müssen wir …, immer müssen, müssen. Tagein tagaus. Wir müssen gar nichts!»
Und Hochzeitstage sind meist streng, dachte er, mit falschen Erwartungen geschwängert und überhaupt, oder überflüssig, wie der Sankt Veits-Tag oder so, der mit den unfreiwilligen Blumen, auch so ein Schwachsinn.
«Und ein neuer Anzug, das auch noch. Kommt gar nicht in Frage.»
Häfeli riss sich für einmal zusammen. Er freute sich zwar nicht über diese Einladung, aber es blieb ihm nichts anderes übrig, als diese Fete über sich ergehen zu lassen, wie vieles andere auch. Merde va.
Wie erwartet erlebte er die Party als bemerkenswert mühsam und anstrengend, im Gegensatz zu Sabrina, die sich fröhlich geschminkt, dezent zwar, einigermassen, und im Übrigen wacker herausgeputzt hatte. Offenbar fand sie Spass an diesem virtuosen Treiben. Häfeli musste, da er kaum einen passenden Anzug für diese Veranstaltung in seinem Kleiderschrank fand, die Konfirmationskleidung war inzwischen definitiv zu klein geworden, einen grauen Kittel – für Beerdigungen halbwegs geeignet – mit dunkelblauer Cord-Hose anziehen. Kein eigentlicher Hingucker unter der aufgekratzt vergnügt gackernden Schar von Pfauen und Pfauinnen, Gockeln und Hühnern, alle bestens und meist auffälliger gekleidet als notwendig, meinte er. Sabrina fiel wenigstens nicht negativ auf, was Hugelshofer gnädig und mit einem leicht anzüglichen Bonmot quittierte – Häfeli hatte das läppische Wortspielchen bereits wieder vergessen. Solchen Unsinn sollte man nicht abspeichern, das belastet die Festplatte unnötig.
Trotz des lauten und grellen Festes mit diesen unmöglichen Gestalten und Gesellinnen und Nebengeräuschen, Nebenschauplätzen, war er zumindest etwas stolz auf Sabrina, die sich recht geschickt und diskret in der illustren Runde bewegte. Und wenn sie diesen doofen Tanzkurs in Amsterdam tatsächlich durchstieren wollte? Na, ja, von mir aus! Amsterdam war immer eine Reise wert, zweifellos, auch für ihn. Die Grachten und so. Und so kam Bewegung in die Sache, in ihre Beziehung. Das wäre bitter notwendig, wie es ihm schien. Nächste Woche konnte sich Sabrina in der Kita globiundmaus vorstellen. Toll. Häfeli war gespannt, ob sie den Job annehmen würde. Wenn sie ihn denn erhielt.
Erwartungsgemäss setzte sich die Gästeschar aus Gutbetuchten, Finanzern und Wirtschäftlern zusammen, der Raiffeisen-Chef war diesmal nicht dabei. Eine relativ kleine, aber sorgfältig ausgesuchte Schar, unterbrochen eigentlich nur durch die Häfelis und zwei weitere Nachbarn, Dorothea Engels, immer noch Single oder Singelin, wohl forever, überdies eine gute Vorsängerin und Sammlerin von Weihnachtsschmuck aller Art, mit dem sie zu gegebener Zeit ihren Garten voll pflasterte, passt schon. Und Sebastian Vonwanz-Zirkel mit seiner Frau Valéry, er pensionierter Lehrer, Pfingstler10 oder Freimaurer, irgend sowas; sie Speditionsfachfrau, einige Jahre jünger, einige Jahre aktiver und einige Jahre attraktiver, zudem impulsiver, das auch noch, ferner einige Mitarbeitende aus dem mittleren Bank-Kader. Zu Häfelis Überraschung erschien leicht verspätet auch noch der Schulvorstand und erzählte vom bevorstehenden Kinderfest. Mehrdeutig und in ausgewählten Worten, gar philosophisch, schöne Gedanken, etwas gestelzt, wie es Häfeli dünkte, zitierte fleissig Max Weber, Jürgen Habermas, Theodor Adorno, was zwar niemanden eigentlich interessierte. Aber quantitativ hinreichend war es in jedem Fall. Und abgehoben. Und dann kam zu guter Letzt auch noch Adam Smith ins Spiel, der klassische Begründer der Nationalökonomie und Philosoph, um 1787, also nicht der Schulvorstand, der National-Komiker und Bilanz-Aufklärer. Als Finale. Die Defizite waren jedoch heute vorhanden, und die hohen Steuern ebenfalls.
Der Schulvorstand dozierte über den allgemeinen Wettbewerb, nicht beim CSIO11 und auch nicht in den städtischen Schulen, oder mit der «Flade»12. Vom Wettbewerb als Generalrezept, als Grundlage einer zu gesellschaftlichem Reichtum und Ruhm führenden Arbeitsteilung. Allerhand! Und der freie und ungehinderte Verkehr bewirke nicht nur eine sinnvolle und begrüssenswerte Verteilung von Ressourcen und Arbeitskräften, Lehrerinnen und Lehrern, und finanziellen Mitteln, sondern auch den vermittelnden Ausgleich von Preisen und Gewinnern und als Supplement die Förderung des Gemeinwohls, auch am Kinderfest. Super. Durchdacht. Nur, wer das nun meinte, Adam Smith oder der Schulvorstand, oder beide, war nicht klar. «Nächstes Mal erzähle ich euch von Friedrich Nietzsche.»
Eigentlich hatte gar niemand zugehört. Intellektuelles Gesäusel interessierte an dieser Party niemanden – die Interessen waren hier anders gelagert. Handgreiflicher. Schliesslich war alles vorhanden. Feines Essen und Trinken. Connecten als Ziel. Und Zupacken. Irgendeine Loge als Auf- oder Ausstiegsmöglichkeit aus der gähnenden Leere und Langeweile des Alltags. Oder ein überflüssiger Service-Club.
Alles vorhanden. An Hugelshofers Party. Im Überfluss. Überall. Chabis.
Smalltalk hüben und drüben, Gelächter und Gekicher, vielsagende Blicke, da und dort ein Witz, mal gelungen, mal scharf an der Gürtellinie. Da und dort verlegenes Schnaufen. Schweissperlen. Hier ein Blick ins offene Décolleté, oder zwei, dort eine feuchte Hand am falschen Ort, wie zufällig, temporär ausharrend, oder mindestens ein Momentchen zu lange, am falschen Po, das auch noch. Feine Häppchen, süffige Getränke, Mini-Cremeschnitten vom Gschwend am Marktplatz. Häfeli liebte sie über alles; alles da. Grosszügig, der Gottfried P. Hugelshofer. Tatsächlich. Das musste Häfeli neidlos zugeben, und schob sich eine dritte Cremeschnitte in den Mund. Sabrina sah mit missbilligendem Blick zu. Sie würde sich schon noch einmischen. Rechtzeitig. Keine Angst!
Hugelshofer begann mit seiner Festrede, umständlich wie eh und je, sie seien nun 100 Jahre alt, zusammen, hätten x-mal Hochzeitstag hinter sich, und niemals vergessen, niemals ein böses Wort, gell Trudeli. Die Kinderchen begännen, dem warmen Nestchen zu entfliehen, flügge zu werden, wie man so schön sagt, was natürlich auch Vorteile habe, im Studium, und für das immer noch junge Ehepaar, Synergien und vermehrte Ungestörtheit …, äh, gell Trudeli. Auch beim Reisen und am Sonntagmorgen. Ha, ha. Gelächter aus dem Publikum. Laut. Playback oder was? Etwas anzüglich.
Häfeli hörte nicht mehr zu und wurde später von einem herzlich unüberhörbaren «greift zu und lasst es euch schmecken, die Schlacht am Buffet ist eröööfffnettt. Zum Wooohooohl!» aus seinen Gedanken gerissen. Gertrude liebte es, wenn ihr Göttergatte im Zentrum stand, Gottfried selbst auch. Und seine Frau, Sabrina?
Wie sich später herausstellte, hatte Gottlieb Pierin Hugelshofer extra für dieses Fest auf dem Einwohneramt vorgesprochen – er wollte seinen zweiten Vornamen in Pierot umwandeln und das der Festgemeinde stolz verkünden. Eine ganz grosse Überraschung: Pierin sei nicht mehr standesgemäss und Bank würdig schon gar nicht. Das Gesuch wurde abgelehnt. Somit blieb alles beim Alten. Der Bankier nannte sich fortan wie früher, wenn es gestelzt wirken sollte, Gottfried P. Hugelshofer, «unter Freunden doch einfach Gottfried.» Von Pierin war nicht mehr die Rede.
«So komm jetzt endlich, wir holen uns auch etwas von den Köstlichkeiten», murrte Sabrina, «ich habe Hunger – oder soll ich etwas vortanzen? Wenn du jetzt nicht spurst, ich warne dich, hole ich mir später den Gottfried für einen Tango.» Häfeli liess sich nicht beeindrucken und verspürte keine übertriebene Eile, sich unter die Buffetjäger zu mischen, der Hunger war ihm schon längst vergangen, auch beim Anblick der erlesenen Delikatessen: Lachsbrötchen, mit Mayonnaise drapiert, nicht zu knapp, Kaviar, Wachteleier und Froschschenkel, Cocktailsaucen à discretion, wäh! China-Nudeln mit Hundegehacktem, doch lieber Känguru oder gar Krokodil-Steaks? Schampus vom Feinsten – einige Gäste sprachen von «Nuttendiesel»13 und konnten die Gläser doch nie voll genug bekommen, Weisswein, Rotwein, edel und teuer. Auch Bier. Aber kein Mostbröckli, kaum richtiges Brot, von Bratwürsten ganz zu schweigen.
Häfeli wollte zunächst die eitle, aufgekratzte Schar etwas genauer betrachten, beobachten, eine seiner Lieblingsbeschäftigungen, nicht nur von Amtes wegen. Ein besonders lautes Exemplar stach ihm schnell ins Auge: Ein Wichtigtuer erster Güte, overdressed und mit einer auffallenden roten, verspiegelten Sonnenbrille, und einer etwas älteren Frau, eine Mischung zwischen Barbie und Sankt Gallens next Top Model, dafür aber eigentlich auch schon wieder zu alt, mit vielen offensiv und ungeniert zur Schau gestellten, geschickt modellierten Reizen, gut drapiert, im leuchtend roten Kleid aus Sankt Galler Spitzen. Spitze! Gewagt. Schön, unbedingt. Aber alles künstlich.
«Meine Creation, so quasi ha, ha!», sagte der braungebrannte Schönling, der sich als Jürg Admiral vorstellte. Dabei zeigte er mit der linken Hand, auch diese mit diversen Siegelringen schwer behängt, lässig auf seine Ehefrau: Brigitte. «Ich bin Spezialist für schöne Frauen, für Spitzen, Stickereien und exquisite Damenunterwäsche sowieso, Import und Export. Wenn du mal was Besonderes möchtest, für eine heisse Liebesnacht, schwarz, oder lieber lindengrün oder mauve, ein Straps, oder so, melde dich ungeniert; ich habe stets was für dich parat.» Sabrina lief tiefrot an. Der schöne Jürg liess sich nichts anmerken und nahm einen kräftigen Schluck aus dem edlen Champagnerglas, schlürfte entsprechend, liess die Zunge dazu unanständig spielen, sah sich im Mittelpunkt, wie es sein solltemusste. Und war mit sich zufrieden.
Frivoles Stricken.
«Oder ich nehme dich mal mit ins Textilmuseum14, dort kann Mann sich auch schön inspirieren lassen», zwinkerte er diesmal Hugelshofers Frau zu, und Brigitte mit dem tiefen Décolleté, das dabei noch eine Spur tiefer rutschte, sagte mit schiefem Lächeln, «aber, aber Jürg, du bist ja heute wieder ein ganz Lustiger, mein wilder Jürg, ha, ha.»
«War ich gerade etwas zu frivol für euch …, ihr Päpste? Antilust- Pharisäer. Wir sind hier doch unter uns, unseresgleichen, oder nicht? Kinder sind auch keine anwesend, obwohl, Kinder sind immer wieder ein heikles Thema, gell Brigitte. Wie dem auch sei, du hast ja deine Pferde. Zum Schmusen. Und mich. Also: Zum Wohl! Lassen wir es uns gut gehen, wir sind in Gottfrieds Hand – und geniessen es. Denn wir wissen nicht, was morgen ist, gell Häfeli. Oder weisst du es schon, im Voraus?»
Zieh doch deine penetrant verspiegelte Sonnenbrille ab, wenn du mit mir sprichst, hätte Häfeli am Liebsten gesagt. Dem Frieden zuliebe und aus Rücksicht auf den Gastgeber schwieg er. Ob dieser widerliche Kerl seine Sonnenbrille wenigstens im Bett abzog, oder trug er auch dort zumindest temporär eine 3-D-Brille?
Dann erzählte der mit viel Gelbgold und Platin an Fingern und auf der haarigen Brust geschmückte und überdekorierte, verdächtig an Harry Hasler15 erinnernde wilde Jürg von seinen Erfolgen im asiatischen Raum; kommerziell, aber auch dort gebe es schöne Frauen und Top-Modelle, durchaus, von seinem neuen Ferrari, diesmal eben nicht rot, das waren die letzten drei, sondern silber-schwarz, wie originell. Von seinen Drohnen in allen Lüften und aufregenden Jagdtrophäen, nun meinte er Löwenzähne, Tigerfelle, und Elefantenohren, und dass er demnächst wieder auf die Jagd gehe, nein, nein, diesmal nicht mit dem König von Burkina Faso, Don Crallos, oder so, hiess der, nein, in seinem eigenen Stadt Sankt Galler Revier. Er habe dort kürzlich einen kapitalen Bock entdeckt, den er erledigen müsse. Unbedingt. Und zeitnah.
«Der hat hier nichts zu suchen», sagte Jürg Admiral. «Ich dulde keine kapitalen Böcke neben mir, gell Brigitte, ha, ha.»
Ob der Herr Kommissar gerne seine kapitale Waffensammlung ansehen möchte, das liesse sich problemlos einrichten. Häfeli lehnte höflich dankend ab, im Moment sei das nicht möglich, möglicherweise später, gerne. Und Autos interessierten ihn ebenfalls nicht, Ferraris schon gar nicht, da könnten sie sich ebenso gut über Fussball unterhalten. Oder Skirennen.
«Alles Chabis!»
Jürg Admiral verzog den Mund, die Augenbrauen erstaunt nach oben. Verärgert, beleidigt, auch etwas enttäuscht: «Über Chabis mag ich nun nicht reden, vielleicht später dann …»
Pause.
«Aber einen Jägermeister trinkst schon noch mit, oder zwei, vergiss nicht, ich bin hier der Jäger-Meister, Meisterjäger aller schönen Frauen und Creativ-Designer für Stickereien auf BH’s und Slips, hauchdünnen Bodys, auch bei Männern stark im Aufwind, in allen Farben, soll ich’s euch zeigen? Seht mal alle her …» Der flotte Jürg begann bereits seinen Gürtel zu lösen.
«Stopp! Das ist nun wirklich nicht nötig», sagte Hugelshofer pikiert. «So geht das nicht. Das ist mein Fest! Und ich möchte hier keine Strip-tease-Party. Mach das gefälligst zu Hause!»
«Dort habe ich zu wenig Zuschauerinnen, gell mein Schatz. Und du mein lieber Gottfried bist halt ein bisschen altmodisch. Ich lerne das zu akzeptieren. Aber einen oder zwei Jägermeister trinken wir schon noch, oder Alpenbitter? Gottfriedli und Bertoldi, ein gutes Schlückchen kann niemand verwehren?» Der wilde Jürg wurde von Minute zu Minute zutraulicher, wenn man das so sehen wolltekonnte.
Häfeli verwies auf seine Arbeit im Kommissariat, die morgen früh auf ihn warte, da könne er nicht so viel trinken … Man sollte eigentlich nie Duzis machen, mit solch zwiespältigen Gesellen. Individuen. Saublöd. Nun, der braungebrannte Jürg war auch hier sehr offensiv gewesen. Impertinent. Zweiiifellooos.
«Lass sie warten, die Arbeit, die rennt dir nicht davon, schon eher die Sabrina, ha, ha», blökte der aufundangesäuselte, immer wieder grusig16 schniefende Jürg. Ein Nasenproblem. Ob da gar Schnee im Spiel war, und das im Sommer? Brigitte kicherte. Und schminkte sich die Lippen nach. Karminrot. Diese Farbe gefiel Häfeli ausserordentlich gut, obwohl sie – wie er erst kürzlich gelesen hatte – zumindest ursprünglich von Cochenilleschildläusen gewonnen wurde. Läuse. Wäääh! Ob die Frauen das wussten, die sich das Zeug auf die Lippen schmierten?
Und die Männer, die diese Lippen küssen. Dann doch lieber diesen lausigen Lausextrakt auf den Lippen, zum Küssen, als Terchloridbenzolquecksilbercadmiumsäurehaltigen Lippenstift oder was auch immer aus dem reichhaltigen Giftkabinett griffbereit ist. Zugreifen. Bitte sehr. Abschlecken verboten.
Er hätte den Schnorrer erwürgen können. In jedem Fall. Zerquetschen, wie eine Laus. Doch so was tut man nicht. Oder doch. Situativ erlaubt?