Zwischenwelten. - Théo Buff - E-Book

Zwischenwelten. E-Book

Théo Buff

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Beschreibung

Menschen sterben in der Stadt Sankt Gallen, immer wieder und unerklärbar viele. Verschwinden von der Bühne. Manche tauchen in irgendeiner Form wieder auf, im Tröckneturm und bei der Kapelle Schönenwegen an den lauschigen Burgweihern. Andere sind richtig tot. Selbstmord oder Mord, oder sonst was? Die Polizei ist sich nicht sicher. Ganz in der Nähe werden seltsame Geschäfte abgeschlossen: Drogenfrauenmedikamente. Orangen und Mandarinli? Ein Geschäft mit dem Tod. Ein keltisches Ritual oder Russisches Roulette? Und das mitten in der Fasnachtszeit, am einzigen noch verblieben Maskenball, dem Thorenball, im Westen der Stadt. Schliesslich kommt eine weitere Leiche zum Vorschein, hoch oben im Wasserturm beim Hauptbahnhof... Schmunzeln erlaubt. Leben in verschiedenen Welten. Zwischen den Welten. Unheil im Westen.

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Seitenzahl: 325

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Ähnliche


Inhalt

Prolog: Verliebt

Rauhnächte und raue Träume

Grab im Grabenkeller?

Leichen und Bratwürste

Fasnachtsmotto?

Apokalypse in Griffnähe

Wehmut im Home-Office

Skelette im Nebel

Totenreich

Thorenball

Konfetti und Schlüsselspiele

The End

Epilog: Geister, die ich nie rief

Mitspieler und Mitspinnerinnen

Danke!

Autor

Rezensionen und Kommentare

Kriminalistisches Auge?

Der kleine Wettbewerb darf auch in diesem 3. Band nicht fehlen. Kommissar Häfeli hat schon seit geraumer Zeit äs Gnusch1mit seinen Passwörtern, die er zwar fein säuberlich aufgeschrieben in seinem Pult eingeschlossen hat. Nicht so aber den Code seiner Postcard. Das rächte sich bei seinem letzten Geldbezug: Dreimal falsch getippt und schwupp zog der Automat die Karte ein. Fluchen nützt nichts. Kennen Sie den neuen Code? Zählen Sie die Buchseiten dieser Trilogie zusammen und stellen 729 voran – eh voilà. Sie haben den Code gekackt!

Senden Sie den sechs-stelligen Code bis zum 31. Dezember 2021 per Mail an [email protected]. Die fünf GewinnerInnen werden am 1. Januar 2022 ausgelost und erhalten die «Zwischenwelten» oder einen Büchergutschein à CHF 20 geschenkt. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.

Wettbewerbsauflösung «Galgenvögel», 2. Band: Rechtsmedizinerin Céline Fröhlich ist alleinerziehende Mutter und macht sich Sorgen um ihren Sohn Jerry, der gerade wacker pubertiert. Wer ist der Vater von Jerry? Tom Wichtelmann, Chef Kriminaltechnik heisst die Lösung – Tom und Jerry, wer kennt sie nicht? Pssst: Wichtelmanns Frau Waldi weiss nichts von diesem «Unfall».

1 Dialekt: Durcheinander.

Prolog: Verliebt.

Verliebt in eine schöne Frau? Immer wieder aufregend. In Sankt Gallen? Immer wieder gerne. In seine Altstadt, den Klosterbezirk, die lauschigen Gässchen und Dachterrassen, die prächtigen Erker. Verliebt in seine grünen Räume und Kraftorte: Dreiweihere. Die Mühlenschlucht. Das Galgentobel. Das Sittertobel. Sankt Gallen und seine Hügel: Kapf, Höggersberg, Freudenberg, Menzlen, Watt/Liebegg. Alles gut erreichbar.

Zeitnah. Stadtnah. Wundernah.

Verliebt in Sankt Gallens Wetter, die vielen Regenschirme, den Schnee. Sogar das geht. Früher gab’s hier noch viel Schnee. Richtigen Schnee, nicht das weisse Pulver, das süchtig macht und die Einbildung verleiht, man sei nun endlich der Grösste, die Schönste, bevor Abhängigkeit und Trugschlüsse krank machen.

Kokain und seine Rückstände im Abwasser. Hier sind wir stark, haben fast den höchsten Pro-Kopf-Schneeverbrauch Europas, oder sind wir schon Weltmeister? Endlich Weltmeister sein … Sankt Gallen: Die Schöne, Einsame, Unverstandene. Stadt oder Kaff in tiefer, vor allem auch geistiger Provinz? Zwischen Bodensee und Säntis.

Verliebt in Sankt Gallens Imaginationen, in seine Bilder und Künstlerinnen. Als Schwerenöter, Zauderin, in die Leichtigkeit des Seins, des Geschichtenhörens und Erzählens. In ungehindertes Spintisieren. Skurrile Menschen und ihre Geschichten. Skurrile Namen. Skurrile Bräuche. Verliebt in Sehnsüchte und Lachen: Humor ist die Maske der Wahrheit.

A propos Künstler (leider ist keine Künstlerin dabei): Für die Cover dieser Sankt Galler Trilogie habe ich mit Freude und Lust je ein Bild von Sankt Galler Malern ausgesucht – Liebe auf den ersten Blick:

Endzeitzauber. Im Eiszeitland (2019): «Pic-o-Pello-Platz» von Max Oertli (1921- 2007), einem der urigsten und originellsten Sankt Galler Maler und Bildhauer.

Galgenvögel. Im Galgentobel (2020): «Maskerade» im Foyer des ehrwürdigen Stadttheaters am Bohl (1971 abgebrochen), an sich namenlos, von Willi Koch (1909-1988), eine der treibenden Kräfte der Sankt Galler Fasnacht in den 1950er Jahren.

Zwischenwelten. Unheil im Westen (2021): «Maskenball», von Fritz Gilsi (1878-1961). Beim Thorenball. Wo die Masken fallen. Definitiv. Lustvoll. Wie halten das Gespenster und Geister aus? Mord und Totschlag. Oder Selbstmord. Leben und Überleben zwischen den Welten. Zwischenwelten. Oder Traumlandschaften?

Fritz Gilsis Bild heisst eigentlich Maskenball in Paris. Aus Paris ist mit einem Augenzwinkern und ganz ohne Überheblichkeit Sankt Gallen geworden. Dort, wo es wenig zu feiern und zu lachen, wo es längst keinen richtigen Maskenball mehr gibt, die Fasnacht generell Mühe hat, Fuss zu fassen. Zu brötig, zu verklemmt, zu fantasielos, zu ehrlich, zu zwinglianisch-calvinistisch sind oder waren die Sankt Gallerinnen und Sankt Galler. Heute vielleicht nicht mehr ganz so langweilig und verklemmt wie früher. Gut so.

Oder ist es einfach nur Desinteresse, der Wandel der Kultur, Überbordwerfen von unnützem Ballast? Sind Traditionen, Geschichte und Geschichten, kulturelles Bewusstsein unnützer Ballast? Manchmal scheint es so. Der Wandel von der Bratwurst- Gesellschaft zur Spass- und Witzbold-Gesellschaft? Wenn das nur gut kommt.

Der dritte Band dieser Krimi-Trilogie spielt im Westen der Stadt: Beim Burgweiher mit seinem Textilwahrzeichen, dem Tröckneturm, und der nahen Kapelle, im Wasserturm bei der Lok-Remise. In Bruggen und Winkeln, zur Fasnachtszeit. Im Sittertobel. An der Urnäsch. Auf den Hügeln im Schatten … Wieder ein Lästerzungen-Roman – Geschichten aus Sankt Gallen.

Personen und Handlungen sind wie immer frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären zufällig und nicht beabsichtigt. Suchen Sie also nicht krampfhaft nach einem passenden Vorbild für den Kommissar, oder den Polizeivorstand. Es gibt sie nicht, es sind Mischbilder. Zerrbilder. Absudes Theater?

Die drei Bände der Trilogie sind in sich abgeschlossen und unabhängig voneinander geniessbar und mit denselben Hauptdarstellerinnen.

A propos Corona – ein magisches Wort: Dieser unselige Name und die Pandemie kommen in diesem Buch kaum bzw. nicht vor, wenn man von einer zwielichtigen Bank mit diesem Namen absieht. Corona spielt dennoch irgendwie mit, versteckt, unterschwellig, schimmert da und dort durch, auch unbewusst, nicht nur bei den Leichenbergen, von denen niemand so recht weiss, wie sie zustande gekommen sind. Das Leid der Verstorbenen und ihrer Angehörigen, des medizinischen Personals bleibt bewusst im Hintergrund. Verborgen. Vordergründig wichtiger sind die Masken, die wir alle tragen, nicht nur zu Fasnachts- und Pandemiezeiten. Maskerade, mehr denn je.

Apropos Geschichte und Geschichten, Mord in Sankt Gallen und andere Geschichten: Die anderen Geschichten sind mir mindestens so wichtig wie die Morde, was hartgesottene Krimifans zumindest zu Beginn etwas irritieren oder enttäuschen mag. Ich liebe diese Alltags-Geschichten, Schwänke und Anekdoten. Persiflagen, Satiren. Die Märchen, Sagen und Mythen. Und als Historiker kenne ich den Wert und Sinn der Geschichtsschreibung, habe mich immer auch für die Geschichte meiner Stadt interessiert, die sich wie in meinen anderen Büchern auch hier niederschlägt. Im Bewusstsein um die Bedeutung der Geschichte behaupte ich: Eine geschichtslose Gesellschaft wird über kurz oder lang zu einer gesichtslosen Gesellschaft.

Wir sind auf dem besten Weg dorthin. Geschichte, Geschichten, Fakes, Lügen und Unsinn aller Art sind oft kaum mehr auseinanderzuhalten, vermischen sich stetig und unbemerkt, zimmern eine neue Realität. Realität?

Mord in Sankt Gallen ist der Versuch einer Annäherung an die gesellschaftlichen Realitäten des noch jungen 21. Jahrhunderts. Dabei verzichte ich gerne, mich in den aktuell grassierenden und krampfhaften Gender- und Namenumbenennungswahn einzumischen, auch der besseren Lesbarkeit zuliebe. Dann und wann können durchaus «nur» weibliche Termini zur Anwendung gelangen. Männerverachtend, nicht? Zur Verwirrung der holden Männerwelt. Wichtiger ist, danke zu sagen.

Apropos Danke: Herzlichen Dank allen, die mitgeholfen haben, diese Trilogie zu veröffentlichen, allen Fabuliererinnen und Ideenlieferanten unfreiwilliger Realsatire, die täglich stattfindet. Dazu braucht’s weder Zauberer noch Hexen. Aber Hofnarren und Lästerzungen. Zu guter Letzt erhalten die guten Geister einen Namen. Eine hoffentlich vollständige Liste findet sich am Schluss dieses Buches.

Gespenster in Sankt Gallen? Goht’s no. Träume und Traumgeschichten, Realität oder Fiktion?

Wahrheit oder Endzeit. Wo ist das Ende (zu Ende), und wann? Von allen guten Geistern verlassen? Hoffentlich nicht. Geister oder Gespenster – wo ist der Unterschied? Gibt es die überhaupt? In jedem Fall werden sie uns in diesem Buch immer wieder überraschen, erschüttern, frieren lassen, zum Nachdenken bringen. Zwingen. Überirdische Wesen, die da sind, um uns herum oder auf uns warten? Oder auch nicht. Die Masken fallen trotz oder dank guter Geister, irgendwann, und auch ohne Maskenball. Nicht nur in Sankt Gallen. Viel Spass beim Demaskieren. Demaskieren tut gut, nicht nur an der Fasnacht. Manchmal tut es allerdings weh …

Willkomm in Zwischenwelten. Oder zwischen den Welten.

Rauhnächte und raue Träume.

Bert Häfeli, Kommissar und Chef des Kommissariats 2 der Sankt Galler Stadtpolizei, sass zusammen mit Max Kraienbühl, seinem Stellvertreter und engsten Mitarbeiter im Restaurant Alt Sankt Gallen. Mit Blick auf Theke und Eingang, aber auch auf die berühmte Guillotine, welche dort seit Jahren steht oder hängt, und immer wieder neue Gäste anlockt. Sie genehmigten sich ein Feierabendbier. Oder zwei.

Der ganze Tag war wieder schwierig gewesen, bemühend. Der erste reguläre Arbeitstag im Neuen Jahr. Speziell, in jeder Hinsicht. Und diese ohnmächtigen Glückwünsche am frühen Morgen, oft oberflächlich oder gar unehrlich, viele flüchtige Küsse, oft Judas-Küsse. «Habt ihr gut gefeiert, war’s wieder recht feucht, und die verehrte Gemahlin? Süsse Nächte, ha, ha.» Ein Schmarren. Häfeli hasste die ersten Tage im Jahr, bevorzugte die letzten des abgelaufenen, wenn er nicht gerade eine unsinnige Silvesterparty organisieren musste. Zur Ruhe kommen, Resetten, Aufräumen, Ballast abwerfen. Dem Universum etwas näher sein, oder Gott?

Und nun, quasi unter der Guillotine des Restaurants, fühlten sich die beiden auch nicht eigentlich wohl, aber es war der einzige freie Platz. Hoffentlich bleibt sie dort wo sie hingehört, dachte Häfeli, und schaute prüfend nach oben.

Alpträume.

Knarrend öffnete sich die Türe und ein Mann polterte in die Gaststube, ruckartig. Ein Mann? Schwarz gekleidet wie üblicherweise Architekten oder andere Künstler, auch Lebenskünstler, mit roten Schuhen, einem knallroten Hut und der roten Krawatte etwas auffällig. Dann hörten die beiden Polizisten einen gellenden Schrei, schauten genauer hin.

Der oder die Rote mit Krawatte und Hut war wortlos zur Theke gerannt und packte den Wirt am Kragen, würgte ihn bis dieser nur noch röchelnde Laute von sich gab. Zuvor hatte er in der Musik-Box Merry Xmas von Slade gedrückt. Frohe Weihnachten, etwas verspätet, aber immerhin. Ein Klassiker.

Die laute Musik übertönte, was die beiden miteinander sprachen, falls sie etwas miteinander sprachen. Wie es dem Kommissar schien, hatte der Wirt jedoch keine Wahl, etwas zu sagen, wie auch, mit zugedrückter Kehle. Krächzen vielleicht.

Häfeli musste eingreifen, liess seine Hand schwer auf den Tisch fallen und … Kraienbühl sprang auf den Kerl zu – im selben Moment krachte die Guillotine herunter. Blut spritzte an die Wände und in die Gesichter der ganz in ihrer Nähe sitzenden Frauen, die schrien und kreischten. Gläser fielen klirrend zu Boden. Doch woher kam das Blut?

Die schwarz gekleidete Gestalt liess den Wirt los, drückte nochmals rasch eine Taste der Musik-Box und versuchte die Türe vor Kraienbühls Nase zuzuschlagen, rannte dann Richtung Metzgertor und Grabenhalle2 davon. Plötzlich war er nicht mehr zu sehen. Häfeli versuchte den beiden zu folgen und fand seinen Assistenten vor dem Eingang zum alten Stadttunnel, dem Grabenkeller. Ein schwarzes Loch. Flüchtig konnte er sich daran erinnern.

Die beiden kehrten ins Alt Sankt Gallen zurück und wollten sich um den Gastwirt kümmern. Doch dieser war verschwunden. «Welches Lied hat der Gauner am Schluss gewählt? Schau bitte mal nach, und drück es nochmals.» Kraienbühl stand auf. Dann hörten sie der Musik zu, Häfeli kannte das Stück: Salz und Stahl, von Patent Ochsner:

I loh keis Gheimnis gheim. Aber vo mir verzellini nüt, hiess es da. Und später: Smartkingkong wird zum Papa Moll. Und nicht umgekehrt.

«Gspässig!3 Mehrdeutig.» Häfeli schüttelte den Kopf. «Was hat das alles zu bedeuten, will der uns etwas sagen, durch die Blume, äh, durch diese Musik? Polizeivorstand Edmund Freiluft-Dieterle, kurz auch nur EFD genannt, spielt die Rolle von Papa Moll in der Kellerbühne? Eine herrliche Vorstellung. Kennst du Papa Moll?4»

«Nicht persönlich. Flüchtig. Der kam doch in diesen Heftchen für Kinder vor, die beim Coiffeur herumlagen. Auch so ein Witzbold. Oder so. Wenig Haare. Oder bist du nun Papa Moll?»

«Freche Siech. Aber, na ja, manchmal komme ich mir so vor, nur bin ich nicht immer so lieb.»

Sie hörten das Stück zum dritten Mal, konnten sich aber keinen Reim daraus machen – und bestellten noch ein Bier. Das dritte.

Gespenst mit Hut.

Da war dieser merkwürdige Traum gewesen, vor einigen Wochen. Ein Alptraum. In jener Nacht war er in Todesangst aufgeschreckt, erwacht. Häfeli versuchte sich zu erinnern, aus dem Gedächtnis heraus. Aber es gelang ihm nicht. So kramte er sein Notizbuch hervor. In diesem kleinen schwarzen Büchlein notierte er alles Wichtige, Lustige oder Traurige. Träume in wilden Nächten, wilde Träume in langweiligen Nächten. Und so las er seine Bemerkungen zum Traum in jener Nacht, er hatte wieder einmal schlecht geschlafen. Sabrina schnarchte tüchtig, und wenn nicht, hatte sie ihn geweckt. «Bertold, du schnarchst wieder, so stark und laut – es ist nicht zum Aushalten!» Plötzlich sass Sabrina kerzengerade im Bett: «Was ist denn jetzt wieder los?»

«Nichts», brummte er. Und schlief wieder ein.

«Bertold, was machst du im Bad, um diese Zeit? Mach das Fenster zu. Hallo, bist du wach?» Seine Frau schüttelte ihn kräftig. Häfeli erwachte.

«Chabis. Ein hässlicher Traum, geh wieder ins Bett. Passt schon. Danke fürs Wecken!»

Häfeli hatte von einer finsteren, seltsam gekleideten Person geträumt, der den Wirt im Alt Sankt Gallen bedrohte, und von einer Verfolgungsjagd zum ehemaligen Bahntunnel unter dem Blumenbergpatz. Der Eingang, eine rostig rote Metalltüre, war nicht abgeschlossen.

Die schwarz gewandete Gestalt mit der roten Krawatte würde ihm wieder begegnen, davon war er überzeugt; er hatte es so vorhergesehen, damals. Irgendwann und irgendwo. Todsicher.

Ein Gespenst schaurig unheimlicher Träume? Gespenster gibt es nicht, und wenn doch, tragen sie keine roten Hüte, oder?

«Was suchst du in deinem Büchlein?» Kraienbühl wunderte sich.

«Ich hatte kürzlich einen Traum, der war ganz ähnlich … Träume sind Schäume, oder?»

Diese schwarz gwandete5 Gestalt aus dem Restaurant Alt Sankt Gallen mit dem roten Hut und der roten Krawatte in der düsteren Gaststube unter der Guillotine – war es eine Frau oder ein Mann? Im Traum war sie ihm durch den Stollen unter der Grabenhalle entwischt, ein modriges Loch, gar Einsturz gefährdet? Geflüchtet vor was, nach Osten oder nach Westen?

Hoppla. Diese Geschichte hatte er soeben live erlebt. Exakt. Nach Feierabend. Dem Kommissar lief es eiskalt den Rücken hinunter. Kein Gespenst irgendwelcher verkorkster Träume, live. Gespenster gibt es nicht, sagte sich Häfeli fast beschwörend, und wenn schon tragen sie keine roten Hüte. Punkt.

Kraienbühl würde ihn auslachen.

«Wo ist eigentlich der Wirt?» fragte der Kommissar. Der habe sich hingelegt und sei jetzt nicht zu sprechen, erklärte Kraienbühl. «Eine komische Sache, nicht? Morgen könnten wir diesen Stollen unter die Lupe nehmen, und dem Wirt des Alt Sankt Gallens auf den Zahn fühlen.»

«Wenn nichts dazwischenkommt. Eigentlich geht uns das alles gar nichts an. Wir haben genug Arbeit. Aber wieso ist die Türe zu diesem Geheimgang nicht abgeschlossen? Klär das bitte beim Hochbauamt ab; die sind zuständig. Komm, wir gehen nach Hause. Heute ist Dreikönigstag. Chabis!»

Zu Hause gab es diesen Kuchen mit den Plastik-Königen, versteckt im Teig – und der Krone Nicht ganz gendergerecht. Die Königinnen waren vergriffen. Vielleicht liesse sich so eine Demo inszenieren, Königinnen für alle, oder so.

Der Kommissar wurde ebenfalls König, aber nur, weil er zwei überzählige Könige des letzten Jahres vorsorglich im Kuchen versteckt hatte. So hatten sie diesmal zwei Könige und eine Königin; Patrizia und Roberto, seine Sprösslinge, freuten sich über den Gag. Nur Sabrina ging leer aus und enervierte sich fürchterlich.

«Reg dich doch nicht dauernd auf, wegen jedem Chabis», sagte er zu seiner Frau, im Wissen: Humor ist nicht jedermannsfraus Sache. Tatsächlich liess sie sich auch diesmal nicht besänftigen. Dieser Tango-Tanzkurs in Amsterdam, mit dem sie bei jeder Gelegenheit drohte, oder kokettierte, da gab es wohl kein Pardon mehr für ihn. Ein «Selbstfindungskurs», hatte sie gesagt. «Danach reden wir weiter, auch über unsere Zukunft!»

Damit musste er sich abfinden, ob er wollte oder nicht. Häfeli schwante Übles. Selbstfindung. Nachdem die dritte Pubertätswelle mit knapp 50 endlich vorbei war.

Vorbei? Eventuell im Altersheim, oder wann?

Oder war das eine Riesenchance für die ganze Familie? Nicht das Altersheim, diese Reise nach Amsterdam?

Eine Erlösung, die es zu packen und zu nutzen galt.

Mit der Halbtagesstelle in der Kita globiundmaus6 hatte es nicht geklappt. Leider. Sabrina schied in der zweiten Bewerbungsrunde aus.

Zu erfahren. Zu scheu. Zu alt?

Zu altklug?

Sabrina war deprimiert, freute sich aber umso mehr auf diesen Tanzworkshop, hot and spicy. Ferien von der Familie. Häfeli und die Kinder hatten gehofft, dass sie diese Stelle bekommen würde. So hätten sie etwas mehr Ruhe, meinten sie. Und weniger Ärger. Roberto und Patrizia freuten sich bereits auf den Frühling, trotzdem oder umso mehr. Dem sollte er sich anschliessen. Unbedingt! Oder sollte er seine Frau in Amsterdam besuchen? Überraschen. Zusammen mit Kraienbühl? – das wäre eine spannende Option. Oder mit seinen Kindern. Aufregend in jedem Fall.

Frühling in Amsterdam. Oder in Sankt Gallen?

Am späten Abend rief unerwartet Kraienbühl an: «Du entschuldige, ich sitze hier gerade beim Bier – und entspanne mich. Und du? Also, mir ist Folgendes in den Sinn gekommen: Die drei Frauen und die Guillotine, das Blut an den Wänden, die Frauen schienen gar nicht verletzt … Woher kam das Blut? Kunstblut – eine inszenierte Geschichte? Da stimmt was nicht!»

«Vielen Dank, gut beobachtet! Chapeau. Aber mir reichts für heute. Gute Nacht und schlaf gut.» Häfeli unterbrach das Gespräch.

Rauhnacht-Zauber?

Kunstblut? Das wird ja immer toller.

Ein Theatercoup?

Dieses Jahr hatte er einiges an Theater auf dem Programm, er mochte gar nicht daran denken. Und einige dieser Projekte waren noch nicht einmal im Brouillon7 fertig gestrickt.

Und diese verdammten Rauhnächte, die 12 angeblich heiligsten Nächte zwischen Weihnachten und Dreikönigstag? Unheimlich. Patrizia hatte danach gefragt, und ob er daran glaube, sich davor gar fürchte?

«Chabis» hatte er vorsorglich gesagt. Und: «Das ist kein Thema für die Nacht, danach kannst du wieder nicht schlafen. Wir reden morgen darüber.» Häfeli wollte sich zuerst schlaumachen, na ja. Bloss ein mythologischer Furz, Geisterglaube oder gar Scharlatanerie? Im Internet las er bei zunehmend flauerem Gefühl in der Magengegend unter anderem: Verbreitet würden in diesen toten Tagen – Tage ausserhalb der Zeit – die Gesetze der Natur ausser Kraft gesetzt; die Nächte eigneten sich insbesondere auch für Hexen- und Gespensteraustreibungen und Geisterbeschwörungen sowie wahrsagerische Experimente. Hoppala.

Man dürfe sich in dieser Zeit weder die Nägel noch die Haare schneiden, nicht spinnen, das war schon schwieriger, obwohl gemeint war das Spinnen von Garn, das täten dann nur Hexen; und keine Wäsche waschen. Sollte er das seiner Frau empfehlen, wohl die Grundlage für einen neuerlichen veritablen Krach. Dann halt nicht!

Weiter dürfe man am Morgen nicht pfeifen, weder dem Hund beim Spazieren, noch einer hübschen Frau beim Vorbeigehen hinterher, das tut Mann heute ohnehin nicht mehr, ungestraft schon gar nicht. So beschwöre man Unglück herauf. Schon wieder. Das tönte hingegen besser: Man dürfe an diesen Tagen nicht arbeiten, sonst käme Unglück über Haus und Hof. Verboten war auch das Zuschlagen von Türen, das wollte er gerne im Amtshaus ausrichten, speziell dem Polizeivorstand und seiner Entourage8.

Und dann das, Häfeli erschrak abermals: Die Träume in diesen 12 Nächten würden sich in den kommenden Monaten erfüllen! Oh, wann hatte er das letzte Mal von Lena9 geträumt?

Häfeli runzelte die Stirn. Nein, das kann nicht sein: Dieser komische Traum mit der dubiosen Gestalt mit dem roten Hut, der Krawatte und der Guillotine im Restaurant Alt Sankt Gallen war ihm in der Nacht vom 30. Dezember erschienen. Also in einer Rauhnacht. Der Nacht nach dem Todestag seiner Mutter. Eisig kalt lief es ihm den Rücken herunter.

Sollte er nun an die Existenz dieser 12 Rauhnächte glauben? Fauler Zauber? Aberglaube und Spinnerei, wie vieles andere auch!

Häfeli liess sein Handy Musik hervorzaubern. Und was kam daher? Die Piano Sonata No. 2, Funeral March, von Frédérique Chopin. Und Peer Gynt, Death of Aase. Wunderbar traurig. Und schön. Balsam für die Seele. Auch Musik kann süchtig machen, und vor allem beglücken. Ein Psychopharmaka, wie sich neu verlieben. Nebenbei nicht kassenpflichtig. Und vorerst ohne negative Nebenwirkungen.

Rezeptfrei.

Absolut empfehlenswert.

Wir werden sehen.

Dann.

2Der Name geht auf das Grabenschulhaus zurück, 1971 abgebrochen; die Turnhalle, eben die Grabenhalle ist stehen geblieben – 1981 fand hier das erste Konzert statt. Ganz in der Nähe ist der Blumenbergplatz – ein Verkehrsplatz.

3Dialekt: seltsam.

4Schweizer Comic-Serie ab 1952. Familienvater auf Abenteuer, mit fünf Haaren, Krawatte und drei Kindern, Ehefrau und Dackel.

5Veraltet für gekleidet.

6Vgl. Endzeitzauber. Mord in Sankt Gallen und andere Geschichten. Band 1 dieser Trilogie.

7Erster unverbindlicher Entwurf.

8Das Hauptquartier der Stadtpolizei ist in diesem Buch bewusst immer noch im pittoresken Amtshaus angesiedelt, mitten in der Altstadt, weil es so praktisch ist. Und schön. Passend. Die verschiedenen Akteure, das Büro des Kommissars usw. werden in Endzeitzauber, Mord in Sankt Gallen und andere Geschichten, Band 1 dieser Trilogie hinreichend beschrieben.

9Ehemalige Assistentin des Polizeivorstands, vgl. dazu Endzeitzauber und Galgenvögel. Mord in Sankt Gallen und andere Geschichten. Band 1 und 2.

Grab im Grabenkeller.

«Du, die Franziska Knill kommt rasch vorbei», sagte Kraienbühl zu seinem Chef. «Was, du kennst die nicht, die Neue vom Liegenschaftenamt, Bauverwaltung? 8.30 Uhr würde ihr passen, meint sie. Ok?»

«8.30 Uhr würde mir nicht passen, eigentlich ist mir das definitiv zu früh; zu früh, um mir irgendwelchen Chabis anzuhören, im Aufwachraum. Zu dieser Unzeit. Und das weisst du ganz genau.» Bert Häfeli knurrte. Hässig. Ein hässlicher Morgen. Nieselregen, Beinahe-Schnee, Pflotsch, das würde am Mittag wieder nasse Füsse geben. Kalt. Grusig. Nebelschwaden über den Hügeln, die Turmspitzen von St.Laurenzen und der Kathedrale züchtig verhüllt. Gut hatte er seine Schaffellfinken, warm und weich gefüttert, aus der Toscana ins Büro mitgenommen. Bei dieser Saukälte. «Von mir aus.» Es klopfte bereits an der Türe.

Humbug Hamburg?

«Moin, moin», sagte die morgendliche Erscheinung, eine Spur zu laut, und zu überschwänglich, mit unüberhörbarem hanseatischem Akzent. «Also, ich bin die Franziska, wenn’s recht ist.» «Häfeli, Kommissar, wenn’s recht ist.» Er schaute der Frau ins Gesicht. Ungeschminkt. Unauffällig. Unspektakulär. Etwa 45 Jahre. Selbstbewusst. Es regnete immer noch.

Braune, kurz geschnittene Haare, dünn wie Schnittlauch, wenig Farbe, blass blaue Augen. Mittelgross. Sorgfältig gerupft, oder gezupft, die Augenbrauen. Und schwarz nachgezogen. Deuxpiece, écru, osterhasenfarbige Bluse. Fingernägel unbemalt, dafür angeknabbert. Grüne Wollsocken. Mit roter Bordüre.

Stil-Kategorie Müllsack? Na ja, warum nicht, wenn es einem gefällt. Und niemand reklamiert, auch nicht der/die/das Allerliebste.

«Darf ich mich setzen?» Ohne eine Antwort abzuwarten, setzte sich die Frau auf einen der Stühle vor Häfelis Pult. «Also, ich bin die neue Chefin des Liegenschaftenamtes, der Job war ja einige Zeit vakant, mehrfach ausgeschrieben und schwierig wieder adäquat zu besetzen; haben Sie bereits von mir gehört?»

Häfeli schüttelte den Kopf.

«Aber ich von Ihnen, Herr Häfeli, so allerhand. Na ja.» Frau Knill verzog den Mund – vielsagend. Häfeli angelte sich ein Kägifret aus der halbleeren Schokoladeschale ohne jedoch seinem frühen Gast eines anzubieten. Selber schuld, wer zu Unzeiten zu mir ins Büro kommt.

«Nun, ich versuch’s mal in diesem, wie sagen Sie in der Schweiz, Äemtlii, war ja allerhand los hier, personelle Wechsel und so, wie ich gehört habe, wir sagen bei uns Mutationen. Oder Mutanten. Nicht alle ganz freiwillig.

Nun wird aber alllles gut. Und ganz schön sauuuber, nicht?»

Die Frau aus Hamburg baute eine Kunstpause ein.

«Und Sie, sind Sie schon lange hier, scheint mir fast so. So an die 40 Jahre, etwa, oder nicht? Waren Sie im Militär General – oder sind Sie das nur zu Hause? Ein Stuben-General.» Frau Knill zeigte auf das Bild, das hinter ihm an der Wand hing. Prominent. Ein Geschenk von seinem Assistenten zum 50. Geburtstag. Der Kommissar in der Uniform von General Guisan. Oder so ähnlich.

«100 Jahre. Oder ewig. Und General-Gfreiter im Hilfsdienst, das gibt’s bei euch nicht. Oder in der Küche. Im Krankenzimmer passt auch noch.

Alles Chabis».

«Aha. Sehr interessant.

Haben Sie mir vorhin gerade etwas zu lange auf den Busen gestarrt, oder täusche ich mich?» Die Frau schaute eher belustigt aus als erbost.

«Gute Frau Knall, äh ..., Entschuldigung, Knill. Sie täuschen sich,» sagte Häfeli, «nicht, dass ich wüsste. Vielleicht ist das in Hamburg so üblich, ich meine diese Gesprächsführung? Ich mag Hamburg. Das Miniatur Wunderland, den Hafen, die alten Kornspeicher, Lagerhäuser und Kanäle. Die Oper. Spannend. Rudern auf der Alster, das fährt in die Arme. Mögen Sie Rudern?

Aber was heisst denn hier zu lange ins Décolleté schauen, sind Sie mit der Stoppuhr unterwegs? Und wo wäre der Unterschied zu zu kurz? Das ist alles Interpretationssache. Also, machen Sie sich keine Sorgen.»

Pause.

Toter Sonntag.

«Grundsätzlich ist es allerdings schon so: In meinem Büro schaue ich wohin ich möchte, und sei es das Toupet unseres verehrten Polizeivorstands10 im Blickfeld. Auch in die Ferne oder so, und da kann es natürlich interessante …, äh …System-Aufheller geben, systemrelevant. Quasi. Aber lassen wir das. Aktiv Schauen, Sehen, Staunen, quicklebendig. Kinder machen es so, Narren übrigens auch. Nicht abwesend und mit leeren Augen, wie Depressive das tun. Sind Sie depressiv?»

Franziska Knill knabberte an ihren Fingernägeln herum: «Was fällt Ihnen ein? Sie sind ja wohl kein Kind mehr, blieben die … Ah. Ok.» Endlich wehrte sich die Hamburgerin. Häfeli freute sich darüber, insgeheim. Eigentlich mochte er starke Frauen. Wenn sie dabei ihre Weiblichkeit nicht völlig vergassen. Vollweiber. Obwohl diese manchmal unglaublich, ungeheuerlich anstrengend sind.

«Nebenbei, was wollten Sie eigentlich bei mir? Sie vergassen es zu erzählen, bisher; ich habe zu tun. Oder sind Sie von der Frauenüberbewachungsundbefreiungsrecreationsstelle, die kürzlich gegründet wurde und nun in der Stadtverwaltung aufgepäppelt werden soll, koste es was es wolle? Beim Personalamt.»

«Was …? Nein, überhaupt nicht, mich stört es nicht, als Frau wahrgenommen zu werden, ich weiss wie meine Formen auf die holde Männerwelt wirken, nicht wahr, nicht wahr. Und wie gesagt, vom Liegenschaftenamt. Bauverwaltung. Daher kleide ich mich eher dezent. Und auch nicht in Müllsäcke, nicht wahr, nicht wahr. Ich wollte Sie eigentlich nur fragen, ob Sie … Aber lassen wir das; der Zeitpunkt scheint mir jetzt ohnehin nicht mehr günstig zu sein. Ich komme darauf zurück.»

«Soso. Als Stuben-General möchte ich Sie auf die Frauenförderung in unserer Armee hinweisen – sinnbildlich für unsere ganze Gesellschaft. Das müssen Sie sich aufschreiben, lachen Sie nicht! Kennen Sie Brigadier Broccoli, weiblich, hochdekoriert, graumeliert, manchmal kratzbürstig, wie eine Frau halt. Allerdings mit Schnurrbart. Brigadier auf dem Waffenplatz Lyss, mit Sold und allen Ehren. Dienstbüchlein. Sehr beliebt, Brigadier Broccoli. Sorgt stets für gute Stimmung bei den Soldaten und Soldatinnen, aber nicht nur das, auch für ein perfektes Image unserer Armee. Leider wird die Katzendame bald pensioniert11. Das hätten Sie nicht erwartet, gell? Frauenförderung vom Feinsten. Und wir bleiben dran, das verspreche ich Ihnen.»

Pause.

«Ich möchte zum Thema unserer Besprechung zurückfinden, obwohl mir die Lust dazu nun eigentlich vergangen ist.» Frau Knill wirkte abgekämpft. Konsterniert. «Also nur das Allernotwendigste: Heute morgen früh um Viertel nach sieben hat mich eine Frau Rammbold angerufen, Rammbold Moni sagte sie, ein lustiger Name, finden Sie nicht auch, und so lokal. Sie sei die Verwalterin des Tröckneturms in Schönenwegen, ich wusste zunächst gar nicht, von was die erzählt und wo das ist. Tröckneturm, aha. Kennen Sie diese Rammbold, und diesen äh …, Turm? Dort sei es in den letzten Monaten immer wieder zu sehr seltsamen Vorkommnissen gekommen, und ob ich mir das Gebäude mal anschauen möchte … Unverbindlich.»

Häfeli schaute ihr fragend in die Augen und machte mit der rechten Hand eine beschleunigende Bewegung. Wie ein Dirigent.

«Na ja, begonnen habe die Geschichte am Totensonntag, Allerheiligen, im November letzten Jahres, erzählte die Rammbold Moni. Am Morgen habe sie in diesem alten Turm und in der nahen Kapelle unzählige abgebrannte Kerzen entdeckt, leere Weinflaschen und Gläser, Hühnerknochen. An der riesigen Eiche ganz in der Nähe wurden merkwürdige Zeichen festgestellt, und das in die Rinde geritzte Wort Druiden12. Zudem die Namen Roland und Josef, mit einem grossen Herz versehen. Weiter wurde eine Metallspirale an einer Kette gefunden, wie wir sie in Hamburg brauchen, um Tauben zu verscheuchen. Ferner eine eigentümliche Halskette, vielleicht auch keltischen Ursprungs.»

«Toter Sonntag? Das kommt mir bekannt vor. Wunderbar. Und diese Druiden. Keltisch halt. Na ja. Direkt aus Irland? Aber was geht das uns an? Wir haben keine Kenntnisse davon, klar, leere Weinflaschen, das kennen wir schon, und Hühnerknochen sowieso.»

«Sagen Sie mal, verehrter Herr Häfeli, brauchen Sie ein Hörgerät, oder hören Sie mir einfach nicht zu?» unterbrach ihn die Frau aus Hamburg resolut. Und dachte dabei: Das ist ja wieder mal ein ganz schräger Vogel.

«Dieser angebliche Vorfall von jenem Totensonntag im Tröckneturm ist bei uns nicht aktenkundig, Hörgeräte hin oder her.» Häfeli wurde nervös. An Allerheiligen musste er mit seiner Frau auf den Friedhof. Dazu gabs Männerchorgesang, jedes Jahr waren es ein paar Sänger weniger, infolge Exitus, und dazu gebratene Marroni. Roberto und Patrizia wollten seit einigen Jahren nicht mehr mitkommen.

«Also gut, dann gehe ich wieder, wenn Sie meinen, das sei alles nicht so wichtig», antwortete Franziska Knill schnippisch – und schnippte mit ihren Fingern. «Eigentlich wollte ich mich Ihnen nur vorstellen, damit Sie wissen, wer ich bin, und dass es mich, äh …, uns immer noch gibt. Sie werden sehen, wir begegnen uns wieder. Oder ich sende Ihnen eine E-Mail.»

«Ja sicher, auf dem Gang. Oder in der Cafeteria. Bei uns heisst es übrigens: ein E-Mail, und hier gehen Sie in das Puff, nicht den Puff, oder das Spital.»

Frau Knill blickte den Kommissar entgeistert an. «Ich gehe überhaupt nicht in den …, von mir aus, ins Freudenhaus. Gibt es das überhaupt, den Puff für Frauen – und hier in Sankt Gallen? Soso, sollte ich mich da mal schlau machen?

Aber passen Sie auf, ich komme wieder, und dann erzähle ich Ihnen etwas Spannendes, Sie werden überrascht sein – und ins Schwitzen kommen. Buchstäblich!»

Häfeli wollte dazu keine Antwort geben. Obwohl, irgendwelche Möglichkeiten gab es sicher auch für das vermeintlich schwache Geschlecht, also die Frauen, in Kenia zum Beispiel, oder wie hiessen die heissen Gesellen schon wieder, neudeutsch ...? Bei einer Agentur bestellbar oder in jeder Diskothek treffbar. An der Treffbar.

«Sie müssen noch einiges lernen; klar wir reden hier faktisch deutsch, aber unsere Dialekte, die vielen Helvetismen, sind sehr vielseitig, komplex und haben es in sich, sind sehr unterschiedlich, und tönen auch so. Lustig. Manchmal. Hasler ist nicht gleich Hasler, zum Beispiel. In Zürich sagen die Hosler. Diesen Dialekt mögen auch wir nicht. Item.

Wie lange bleiben Sie?

Also gut: Viel Erfolg und tschüss!»

Kommissar Häfeli lehnte sich entspannt in seinem Sessel zurück, sobald sich die Türe geschlossen hatte.

Flüssigseife.

«Du, sollen wir jetzt Kaffee trinken, oder später? Im Restaurant Alt Sankt Gallen», fragte Kraienbühl fröhlich. Hatte die Dame von vorhin eigentlich einen währschaften Knall oder was, und wie hiess die schon wieder?»

«Knill! Nicht Knall. Knill aus Hamburg, direkt nach Sankt Gallen. Ob das gut geht?»

«Na ja, von mir aus; aber vergiss nicht, wir hatten in letzter Zeit in der Verwaltung tüchtig Personalwechsel, im Hochbauamt die Hälfte wegrasiert, in der Schulverwaltung13 und bei den Strassen-bauern. Aber auch bei uns wurden die Karten neu gemischt, denk nur an die Auswechslung von Lena Rabenschwarz durch Larissa Schneider beim Polizeivorstand; und die Neue aus Österreich. Wann kommt die eigentlich, anfangs Februar? Immerhin, endlich bewegt sich wieder mal was, das gefällt mir.»

Der Kommissar schwieg. Lenas Abschied war kurz und bündig gewesen. Freudlos. Lieblos? Wer hatte nun wen verlassen? Alle alle? Allein im Leben. Wie lange hatte sie hier gearbeitet? 20 Jahre und ein paar Tränen mehr. Ihr Gesicht gefiel ihm immer noch, trotz ihren vielen Gesichtern. Und den Falten, die sich da und dort über die Lachfalten legten.

Ein kleiner Steh-Apéro und eine kurze, flaue Rede des Polizeivorstandes, der insbesondere die nun durchgesetzte Nachfolgelösung würdigte. Ein knappes Dankeschön an alle Beteiligten. Das war’s schon. Ein feuchter Händedruck und ein «adäquates kleines Abschiedsgeschenk»: Eine Gallone14Bellena, eine Flüssigseife, gründlich und dennoch schonend zur Haut, PH-neutral, sanft für die gesamte Familie, hiess es. «Ein passendes Abschiedsgeschenk, originell, bei den vielen Kinderchen», meinte der Polizeivorstand. «Und erst noch Qualität zum Sparpreis».

Keine oder nur flüchtige Küsse. Aber Desinfektionsmittel à Discrétion, für die Füsse? Das war’s. Heute war zwar Masken frei. Adieu.

Noch prosaischer verlief der geplante Empfang von Lenas Nachfolgerin, Larissa Schneider, durch Freiluft-Dieterle, welcher allerdings diesen Termin verschlampt hatte. Peinlich. So musste oder durfte Adjunkt und Polizeisekretär Fridolin Büttikofer die als neue Wunderkraft der städtischen Polizeiverwaltung angekündigte persönliche Mitarbeiterin, die bis vor kurzem noch bei der in Konkurs gegangenen Admiral Hoch- und Tiefbau AG15 gearbeitet hatte, in die Geheimnisse der Verwaltung einführen und durch die verschiedenen Abteilungen schleusen.

«Du warst an diesen Steh-Apéros doch auch dabei, hat dir nicht gefallen, das Ganze, wenn ich mich richtig erinnere», sagte Häfeli schließlich. «Na ja, und du hast dich auf diese Frau Schneider gefreut. Ich freue mich auf Annegret Wetterstein, eine waschechte Tirolerin.

Hast du dich eigentlich bei unserem Stadtbaumeisterchen über den Keller unter der Grabenhalle erkundigt? Einiges wissen wir ja bereits, immerhin.»

Kraienbühl nickte. «Zuerst meinte der, ich wolle mit ihm in diesem ehemaligen Weinkeller eine schöne Flasche trinken, fühlte sich eingeladen, so quasi. Ich könnte dir beim Kaffee weitererzählen, benötigt etwas Zeit, gell. Dafür habe ich alles aufgeschrieben, na ja, fast alles.»

Geister und Geisterbahn?

«Also, pass mal auf», begann Kraienbühl, als sie sich im Restaurant Alt Sankt Gallen an einen Tisch gesetzt hatten. «Den Grabenkeller zwischen dem Blumenbergplatz und der Parkgarage UG 40 gibt es heute noch, ursprünglich mit Eingängen von der Grabenturnhalle und dem Unteren Graben her, erzählte Ueli Meisterhans-Abendrot gewohnt farbig und wortreich. 1841 sei das Grabenschulhaus eingeweiht und genau 130 Jahre später, 1971, wieder abgebrochen worden. Grund: Hier sollte eine grössenwahnsinnige Schnellstrasse – Nordtangente16 genannt – am Rand der Nördlichen Altstadt dahinbrettern, vom Stadtbaumeister als städtebaulicher Schildbürgerstreich sondergleichen bezeichnet. Erinnerst du dich daran?»

Der Kommissar nickte wieder, nicht uninteressiert, eher lustlos. Und bestellte nochmals Kaffee und Gipfeli.

«Glücklicherweise sei diese Nordtangente, wie später ebenfalls die noch katastrophalere Südtangente beim Klosterbezirk gescheitert, allerdings weniger am gesunden Menschenverstand der Sankt Galler Regierung als an der fehlenden finanziellen Unterstützung des Bundes, und einer kantonalen Volksabstimmung. Gott sei Dank!»

Kraienbühl knabberte an seinem Gipfeli herum.

«Spannend: Damals fuhren die Züge nach Rorschach noch offen – nicht im Tunnel – und einspurig vom Sankt Galler Hauptbahnhof via Unterer Graben am Grabenschulhaus vorbei, wohl zur Freude der Kinder. Und via Sonnenstrasse zum Nebenbahnhof St.Fiden. Der Graben vor dem gleichnamigen Schulhaus war etwa 200 Meter lang und sechs Meter tief; vom Schulhauseingang führte eine schmale eiserne Treppe zum Unteren Graben. 1912 wurde der Rosenbergbahntunnel fertig, die alten Gleise konnten abgebrochen werden. 1914 verlängerte die Stadt die Rosenbergstrasse und überdeckte den Graben: So entstand unter der Strasse ein schönes Gewölbe, der Grabenkeller, den die bekannte Weinhandlung Martel und Franck & Co für die Lagerung ihrer Weine übernahm; in den Kellerräumen schlummerten bis 1951 300‘000 Flaschen und Fässer mit weit über 100‘000 Litern Wein. Lagergestelle und Schienen für den Transport der Fässer wurden eingebaut, Elektrizitäts-, Gas- und Wasserleitungen eingezogen, inkl. Trinkstube und Büro. In den Keller hinunter führte eine Art Seilbahn mit unterirdischer Wende; Wein wurde aber auch aus Fässern von Fuhrwerken mitten auf der Rosenbergstrasse in die Gruft hinunter geschlaucht. Kaum zu glauben, gell.»

Pause.

«Schliesslich konnte ich mit dem Stadtbaumeister in den Untergrund hinabgestiegen: Massive aber rostige Türen, alle abgeschlossen … Gestelle stehen entlang der sorgfältig gepflasterten Mauern des ehemaligen Eisenbahngrabens; da und dort rostige Loren17. Kühl. Etwas modrig. Spärliches Licht. Geheimnisvolle Räume, unterteilt und unübersichtlich. Schmale Türen und Treppen nach oben, teilweise zugemauert. Beklemmende Sackgassen. Da kommen dir Fantasien aller Art. Es ist still hier unten, wie in einer Gruft, fast nichts zu hören vom Verkehr, der über die Decke des Tunnels donnert. Silbrige Rohre der Fernwärme verunstalten das schöne Gewölbe», erzählte Kraienbühl.

«Noch anfangs der 1980er Jahre habe die städtische Feuerwehr den Ort für Übungen genutzt, so der Stadtbaumeister. Ausräuchern. Rauch für die Feuerwehrleute, und Ratten – letztere flüchteten nach oben oder in die Kellergeschosse der Nachbarschaft, zu deren Ärger. Das war das Ende, auch der an sich lustigen Idee, hier die längste Bar der Stadt – oder des ganzen Landes einzubauen. Schade.

Wer weiss mehr?

Am Schluss machte der Stadtbaumeister noch eine interessante Bemerkung, so ganz nebenbei: Es täte ihn wundern, was da alles zum Vorschein käme, wenn man diesen Stollen aufgraben würde. Gräber, Skelette, Giftfässer. Chemietonnen tonnenweise? Und Altmetall. Du, der erwähnte das so ganz nebenbei, und lachte. Ein Witzbold. Was meinst du dazu? Sollen wir unseren Wichtelmann von der Kriminaltechnik mal losschicken? Das wäre natürlich Stören der Totenruhe, im Erfolgsfall.»

Kraienbühl nahm einen Schluck Wasser, das viele Reden und Rezitieren hatte ihm einen trockenen Mund beschert – und ihn müde gemacht. Zeit für ein Nickerchen?

«Gut gut, allerhand», sagte Häfeli. «Schatz- und Totengräberei im Grabentunnel? Lieber nicht, wir haben zurzeit schon genug Scherereien. Und Leichen ausgraben, zusammensuchen, die niemand vermisst? Nein danke. Wir sollten mit dem Wirt dort hinter der Theke beginnen, ihn befragen, wenn wir hier schon herumsitzen … Zu dieser Witzfigur mit dem roten Hut, gestern.» Er schaute auf die Uhr. «Die Zeit läuft, gell. Nur damit das nicht ganz vergessen geht. Geh mal bitte hin und erkläre ihm, weshalb wir hier sind.»

Wenig später setzte sich der Gastwirt zu ihnen an den Tisch. «Othmar Muff, mein Name. Ich kann mir diesen Auftritt gestern Abend auch nicht erklären, kenne diese Person nicht; ihre Stimme kommt mir zwar irgendwie bekannt vor, aber ich weiss nicht woher. Keine Ahnung. Beim besten Willen. Sie packte mich so fest am Hals, dass ich dachte, das ist das Ende. Und sie schien mir noch recht jung zu sein, wenn ich so überlege. Einigermassen kräftig.»

«Also, irgendeinen Grund wird es schon geben. Haben Sie Feinde, Streit mit dem Personal, Schulden. Ärger mit Ihrer Frau oder deren Geliebten? Was weiss ich. Erzählen Sie. Machen sie keine Anzeige, gegen Unbekannt?»

«Im Moment nicht, aber wenn sich das wiederholt … Meine Frau hat keinen Geliebten. Ich bin schwul. Aber erst seit Weihnachten. Es war ein Weihnachtsgeschenk, ich wusste nichts davon. Und vielleicht überlege ich mir das nochmal. Wer weiss.»

Die beiden Polizisten schauten sich erstaunt an.

«Herr Muff, wir sind hier nicht in der Märchenstunde, mit Trudi Gerster, der Märchenerzählerin mit dem penetranten Sankt Galler Dialekt. Oder wie sehen Sie das? Zum Beispiel mit dem Kunstblut, der Guillotine, die mir nichts dir nichts so heruntergefallen ist. Das kann Sie Ihre Lizenz kosten», knurrte Häfeli. «Wer waren die drei Frauen unter der Guillotine? Hinzu kommt noch das Kunstblut; zuerst schien es, als sei eine der Frauen verletzt worden. Sehr seltsam ist das alles, eine Inszenierung von Ihnen?»

«Kunstblut? Ich weiss nicht wovon Sie sprechen … Und ich kenne nicht alle Gäste persönlich, die mein Lokal besuchen. Viele kommen wegen der Guillotine. Aber ich weiss nicht, wie sich die lösen konnte; das ist mir unerklärlich – und hätte tatsächlich ins Auge gehen können18. Ich lasse das abklären, haben Sie noch …»

«Wir lassen das abklären», unterbrach Kraienbühl den Wirt, der zusehends nervöser wurde, «nämlich durch die Spurensicherung. Adjutant Wichtelmann und seine Truppe wird gleich bei Ihnen vorbeischauen.» Kraienbühl griff zum Telefon.

«Und wir drei treffen uns wohl am besten möglichst bald im Kommissariat 2. Sie hören von uns. Wir zahlen.» Die beiden Polizisten spazierten ohne grosse Eile die paar Meter zurück ins Amtshaus, obwohl es inzwischen ganz schön windig geworden war. Und kalt.

«Weisst du was ich glaube, diese Sache ist noch nicht gegessen», knurrte Häfeli. «Da kommt noch einiges zum Vorschein – und auf uns zu. Und wieso hat der Typ mit der roten Krawatte einen Schlüssel zum Grabentunnel?»

Im Büro erfuhren die beiden, der Polizeivorstand habe sie dringend gesucht, sei nun aber leider «entschwunden». Ortsabwesend. Vorübergehend.

Der meldet sich schon wieder, dachte Häfeli und setzte sich auf das Sofa, das er seit kurzer Zeit in seinem Büro aufgebaut hatte. Nigelnagelneu, und mausgrau.