Gamsbartmassaker - Klaudia Blasl - E-Book

Gamsbartmassaker E-Book

Klaudia Blasl

0,0

  • Herausgeber: Emons Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Ein Wellnesshotel für Hunde, ein Krankenhaus, das in ein Flüchtlingsheim umgewandelt wird, und eine schießwütige Jägerschaft – das kann nicht gut gehen. Schon gar nicht im österreichischen Damischtal. Und so endet böse, was gut gemeint begann. Ein ertränkter Mops in der Regenwassertonne ist nur der Auftakt zu einer schaurigen Abfolge von Mord und Totschlag in der hinterwäldlerischen Provinz. Böse Pointen, bissiger Humor und g'schmackige Rezepte für Hund und Herrl.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 361

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Klaudia Blasl ist süchtig nach gutem Essen. Kaum hat sie Hunger, kommt sie auf böse Gedanken. Kein Wunder also, dass die gebürtige Steirerin als Kolumnistin und Kulinarikjournalistin tätig ist. Wegen ihrer kalorischen Triebhaftigkeit hat sie bereits die halbe Welt bereist, lange Jahre in Italien verbracht und als Zeitvertreib zwischen den Mahlzeiten mit dem »Morden« begonnen. Heute lebt die Germanistin wieder vorwiegend in Graz, sofern sie nicht gerade auswärts isst.www.damischtal.at

Alle Charaktere, Handlungen, Orte und fremdenfeindlichen Unterstellungen sind frei erfunden und stimmen in keinem Fall mit der Wirklichkeit überein. Dort, wo Schilcher, Käferbohnen und Kernöl zu Hause sind, dort leben nach wie vor freundliche, friedliche, offenherzige und hilfsbereite Menschen, die bis heute niemandem etwas zuleide getan haben, weder mit Waffen noch mit Worten. Daher ist das Einzige, was der Besucher bei einem längeren Aufenthalt in dieser Gegend riskiert, seine schlanke Figur.

©2016 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: fotolia.com/weseetheworld Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-991-2 Originalausgabe

Unser Newsletter informiert Sie regelmäßig über Neues von emons: Kostenlos bestellen unter www.emons-verlag.de

Ach, ich fühl es! Keine Tugend

Ist so recht nach meinem Sinn;

Stets befind ich mich am wohlsten,

Wenn ich damit fertig bin.

Dahingegen so ein Laster,

Ja, das macht mir viel Pläsier;

Und ich hab die hübschen Sachen

Lieber vor als hinter mir.

Wilhelm Busch

Die Bewohner vom Damischtal

Alois Feyertag

Bürgermeister von Gfrettgstätten, der den Ort durch die Errichtung eines elitären Kurhotels für Hund und Herrl zur tierlieben Tourismusdestination Nummer eins in ganz Österreich gemacht hat. Zur Freude des Gemeindesparstrumpfs und zum Leid der Jägerschaft.

Balthasar Schragl

Situationselastischer Fremdenverkehrsobmann von Plutzenberg, verbitterter Bürgermeisteraspirant und Befürworter einer gewinnorientierten Willkommenskultur.

Bartl Mostburger

Fleischer mit dubiosen Geschäftspraktiken und bedrohlichen Umgangsformen, der immer wieder unter Mordverdacht gerät.

Bibiana Doppler

Feinstofflich veranlagte Schönheit, die ihr Recht auf eine Armlänge Anstandsabstand zur Not auch mit Stilettos und spitzer Zunge einfordert.

Familie Bartenstein

Deutsche Feriengäste, die ihrem Eheversprechen während eines mehr oder weniger freiwilligen Aufenthalts in der Wauness-Welt in jeder Hinsicht untreu werden. Der pubertierende Sohn Kevin-Karl hingegen entpuppt sich als Held des ganzen Damischtals.

Ferdinand Kapplhofer

Revierinspektor vom Damischtal, dessen einzige Bewegung darin besteht, jeder Bewegung aus dem Weg zu gehen– sofern er sich nicht gerade bei Muttern am Küchentisch den Bauch vollschlägt.

Hermine Holzapfel

Moralischer Imperativ des Damischtals und altgediente Obfrau der katholischen Kernölkoalition, deren rechter Glaube von Leichenfunden im Gemüsebeet schwer erschüttert wird.

Hochwürden Corolianus Hafernas

Damischtaler Vertreter Gottes, der –seit er nicht mehr in weltlichen Sphären verkehrt– vermehrt zu religiösen Wahnvorstellungen und profanen Gräueltaten neigt.

Jonas Schmidt und Manuel von Breisenberg

Homosexuelles Paar aus besseren Kreisen, das seine Nase zu tief in fremde Angelegenheiten und weiße Glückspülverchen steckt.

Kilian Klöpfer

Walrossförmiger Schuldirektor mit entsprechend großem Resonanzvolumen und einer Vorliebe für gesunde Watschn und germanisches Kulturgut.

Lorenz Klöpfer

Bildungsresistenter Sohn des Pädagogen mit magersüchtigem Körper und Geist. Als einkommensloser Langzeitstudent primär an der Erforschung von Alkohol und Drogen interessiert.

Paul Pimmelmoser

Langhaariger, unbeweibter Landwirt und versierter Leichenentsorger, der neben seinen Kukuruzäckern auch Katzenfriedhöfe und Hanfplantagen kultiviert.

Poldl Unterkofler

Umtriebiger wie triebgesteuerter Altbauer, dessen erotischer (Alp-)Traum mit einem toten Mops in seiner Regenwassertonne beginnt.

Polizeihauptmann Hartmuth van Trott

Ergebnisorientierter Emotionsminimalist aus der Großstadt Graz mit einem Hang zu Triebtätertheorien und drastischen Kommunikationsmethoden.

Willibald Pfnatschbacher

Bankdirektor und Trophäensammler, der gern Treibjagden auf wehrlose Schweine veranstaltet.

Doggy Wellness& Human Beauty Spa Resort, auch Wauness-Welt oder Wowness-World genannt

Prolog

Wir befinden uns im Jahre 2016 nach Christus. Ganz Österreich erbebt unter Rauchverboten und Registrierkassenpflichten, Flüchtlingskrisen und Gatterjagdskandalen. Nun ja, beinahe ganz Österreich. Denn in einem kleinen südweststeirischen Tal verläuft das Leben weiterhin in gewohnt gemächlichen Bahnen. Skandalös genug, dass der liederliche Bankert von der Strammelbock Xandi mit einer Zuagroastn liiert ist und der bladeBauernschädl von Bartl einen immer mit dem Gselchten bescheißt; wen soll da noch die Volkswirtschaft bekümmern? Und während rundherum gewagte Tunnelbauten und gewitzte Bankenmanager bedrohliche Löcher ins Budget reißen, reißen die Menschen aus dem idyllischen Damischtal schlimmstenfalls das Maul auf, aber auch nicht immer und meist nur untereinander. Etwa dann, wenn sie, je nach Alter und Geschlecht, am Wirtshaus- oder Küchentisch sitzen und die Lage der Nation kritisieren. Sofern es nichts Wichtigeres zu bereden gibt. Dass in Gfrettgstätten schon wieder eine Kuh in die Klärgrube gestürzt ist, ist selbst in Plutzenberg von lokaler Relevanz. Und das ernüchternde Überholverbot zwischen Buschenschank und Schrottfriedhof erscheint von nahezu weltpolitischer Brisanz. Zumindest, solange nichts Schlimmeres passiert. Aber das war bisher nur vereinzelt der Fall.

Zwar hauen die an Ackerland vermögenderen überlegenen Plutzenberger bei den einwohnermäßig bessergestellten Gfrettgstättenern gern mal auf den Festzeltputz, und hin und wieder –vor allem in der Bärlauchzeit– fällt ein rüstiger Rentner in den Bach, aber das war’s dann schon. Allein die motorsportliche Jugend sorgt mit ungebremster Lebenslust für sporadischen Polizeieinsatz und ein Umsatzplus beim Autohaus.

Davon abgesehen gleicht das Tal einem beschaulichen Bollwerk der Gemütlichkeit. Die Damisch windet sich sanft und träge zwischen Kürbisäckern, Kukuruzfeldern und Klapotetzen dahin, die Damischtaler –etwas weniger sanft und manchmal sogar rege– wenden sich derweil ihrem mehr oder weniger rechtschaffenen Tagwerk zu. Doch der Unterschied zwischen Gut und Böse fällt Fremden kaum ins Auge. Viel auffälliger sind die vielen Rehe, Rebstöcke und Rapunzeltürmchen, die der Landschaft einen beinahe bukolischen Reiz verleihen. In Plutzenberg, auf dem Schornstein vom alten Sägewerk, campieren sogar zwei Störche. Was aber weder die Geburtenrate noch das touristische Verkehrsaufkommen hebt.

Alptraum im Morgengrauen

»Ja, bist du deppert, da legst di nieda.« Fassungslos starrte der Unterkofler Poldl auf die rostige Regenwassertonne, in der ein sichtlich toter Mops schwamm. Mit aufgedunsenem Bauch und grauenvoll entstellten Zügen. Allerdings wusste der alte Bauer im blassblauen Frotteepyjama nicht zu sagen, ob das jetzt typisch für zwergwüchsige Wasserleichen oder für ebensolche Schoßhunde war, denn mit beiden war er bislang nicht in Berührung gekommen. Und das wollte er auch weiterhin gern so halten. Daher blieb er erst einmal stehen, wo er war. Das ersoffene Vieh würde ihn zwar mit großer Wahrscheinlichkeit nicht mehr beißen, aber auf Bergungsarbeiten oder gar Wiederbelebungsversuche verspürte er definitiv keine Lust. Dafür hatte sein Weib eindeutig das geübtere Händchen.

Poldl, der eigentlich nur zum frühmorgendlichen Frischluftbrunzen in den Garten getreten war –hier brauchte er sich weder um seine Treffsicherheit noch um die korrekte Lage der Klosettbrille Sorgen zu machen–, sah sich bereits suchend nach einem neuen Strahlplatz um, als er den roten Faden bemerkte, der eng um den Hals der malträtierten Töle geschlungen war. Offenbar hatte man das aufgeblähte Tier erwürgt, dachte Poldl. Das würde auch dessen grotesk hervorquellende Augen erklären. Doch dann erkannte er, dass Würgefaden und Hundehals kein gemeinsames Ende nahmen, denn die dünne blutrote Linie verlief auch noch dort, wo der Mops bereits um Längen zu Ende war. Der Strich rannte die Tonne hinab, querte ein Gemüsebeet, bog hinter dem Schnittlauch nach links und verzog sich nahezu geradlinig unter die Brombeerbüsche neben der Gartenhütte. Mehr konnte der Poldl nicht erkennen, da es ihm generell an Weitblick mangelte. Irgendwie litt er seit Jahrzehnten an einer kuriosen Verkürzung des Sehnervs. Nie, nicht einmal in den naheliegendsten Fällen, sah er die Dinge rechtzeitig kommen. Seine chronische Fehleinschätzung von Situationen hatte ihm im Laufe seines Lebens einen bösen Verkehrsunfall und neun Kinder beschert.

Aber Poldl war dem Schicksal nicht böse. Ganz im Gegenteil. Die Kollision mit jenem PS-starken, flammend roten Schlampenschlepper seinerzeit hatte ihm zwar drei Wochen Krankenhaus mit Liegegips und Lungenquetschung eingebracht, danach aber eine angenehme Frühpension auf Lebenszeit. Seither konnte er sich als Vollzeitinvalide in Ruhe um seine Teilzeitlandwirtschaft kümmern. Und den väterlichen Betreuungspflichten inklusive Kindergeschrei auf Feldern, Äckern, Wiesen und in Wäldern großräumig aus dem Weg gehen. Ganz nach seinem Lieblingsmotto: Was der Bauer nicht hört, ihn beim Mähen nicht stört. Das mit dem »Aus den Augen, aus dem Sinn« war ihm ohnedies angeboren.

So gesehen hatte sich der bauernschlaue Unterkofler, ganz der österreichischen Tradition verhaftet, entsprechend situationselastisch verhalten und sich mit den Kollateralschäden seiner strategischen Kurzsichtigkeit aufs Bequemste arrangiert. Demnach war es nur konsequent, dass er selbst in diesem Todesfall nicht das geringste Verlangen verspürte, einer derart unüberschaubaren Angelegenheit ernsthaft auf den Grund zu gehen beziehungsweise zu sehen. Er wollte sich weder nasse Füße noch Hände holen. Also tat er lieber das, was er in solchen Situationen immer schon getan hatte: stöhnen, seufzen, Augen schließen.

Danach wischte er sich ein paarmal über die gefurchte Stirn, kehrte der bemopsten Tonne den Rücken zu und schlich auf leisen Sohlen zurück ins Haus. Schlafende Hunde sollte man keinesfalls wecken, hatte er irgendwo gelesen. Dass der cremefarbene Vierbeiner im Wasserbett längst Richtung ewige Jagdgründe gehechelt war, hatte der alte Bauer bereits erfolgreich verdrängt.

Mit leerer Blase und ebensolchem Kopf betrat er das kleine Kabuff, in das ihn sein Eheweib aus Lärmschutzgründen verbannt hatte, und ließ sich erschöpft zurück auf die Laken fallen. Vielleicht war ihm noch ein Stündchen Bettruhe vergönnt, bevor Walpurga ihr Tagwerk begann. Und dabei unweigerlich auf das krepierte Vieh stoßen würde. Aber das war dann ihr Problem.

Der Poldl wälzte sich gerade wohlig im warmen Sand, da er von heißen Zeiten am Strand träumte, als ihn ein kühler Hauch streifte. Instinktiv zog er die Tuchent enger an sich. Gleich würde ihn eine tropische Welle küssen. Er spürte bereits die ersten Tropfen auf seinem Gesicht.

»Aussi aus die Federn, du damischesMannsbild, du!«

Der betagte Mann schreckte aus seinen zensurpflichtigen Träumen hoch.

»Hiatzt liegt der alte Depp um achte noch in der Harpfn, als warat er auf Urlaub.«

Poldl öffnete ein Auge. Vor ihm stand seine Walpurga gleich einem Fels in der Brandung. In der linken Hand hielt sie einen tropfnassen Kescher, die rechte hatte sie drohend zur Faust geballt.

»Jetzt schaust aber, dasst weiterkommst, Himmelarschnochami.«

Poldl riss das zweite Auge auf und schnappte verwirrt nach Luft, um im Fluss ihrer Worte nicht unterzugehen. Er verstand Walpurga ohnehin selten bis nie. Jedem ihrer lautstarken Monologe hinkte er gedanklich ein paar Sätze hinterher. Aber eine derartige Morgenpredigt mit Kescher in der Hand überstieg definitiv sein zerebrales Fassungsvermögen. Um ihr zu folgen, hätte er schon einen geistigen Allradantrieb gebraucht. Ihm blieb nichts anderes übrig, als dumm aus den Federn zu schauen, während sein Weib ihn nach seinen Träumen nun auch noch seiner Bettdecke beraubte.

»Ja, da schau her! Dass dich nicht schamst, in deim Alter. Nix im Kopf haben, aber zwischen die Füß denken. Meiner Seel, als wenn neun Kinder net schon genug wärn. Aber eins sag ich dir, das dreckige Leintuch, das kannst dir selber waschen, du Saubartl, du!– Und jetzt aussi mit dir.«

Poldl erhob sich so schwungvoll, wie es seinen siebzigjährigen Knochen noch möglich war, drehte Walpurga verschämt den Rücken zu und fischte im Wäscheberg auf dem Dielenboden umständlich nach seiner blauen Montur. Im Wachzustand fühlte er sich unsäglich alt, müde und schlapp. Aber er wollte nicht klagen. Immerhin hatte er noch Gefühle. Im Unterschied zum toten Mops. Kaum hatte der alte Bauer sein Arbeitsgewand angezogen, schleppte ihn Walpurga schon resolut nach draußen, direkt vor die rostige Regentonne.

»Hiatz schau dir diese Schweinerei amoi an!«, keifte sie und stieß ihn dabei unbarmherzig Richtung Corpus Delicti.

Poldl warf einen halbherzigen Blick in die Tonne. Der hässliche Hund lag immer noch drin. Aufgedunsen, mit hervorquellenden Augen und nach wie vor mopsetot. Sein Eheweib hatte seinen zwanghaften Ordnungswahn ganz offensichtlich nicht wie erhofft ausgelebt. Wo die Walpurga doch sonst immer alles auf Nimmerwiedersehen verräumte.

»Hiatz mach schon. Fisch des Viech endlich aussi«, natterte und viperte sie stattdessen mit bedrohlichem Zungenschlag. »Alles muss man dem depperten Mannsbild extrig ansagn.«

Langsam begann Poldl der praktische Sinn des Fischfanggeräts zu dämmern.

»Da, nimm!«

Ohne es –wie meist– kommen zu sehen, hielt der Bauer plötzlich den Kescher in der Hand. Zögerlich ließ er das Ding zu Wasser, bevor Walpurga auch noch ihre Giftzähne ausfuhr. Die haarige Leiche mit dem hündisch treuen Blick wog schwerer als gedacht. Zweimal drohte ihm das Tier wieder zurück in die Tonne zu plumpsen, doch beim dritten Versuch brachte er seine ungewollte Beute sicher ins Trockene. Oder besser gesagt auf die schmutzige Gummimatte, die seit Jahrzehnten vor der Tonne lag. »Noch wos?« Poldl sah mittlerweile aus, als würde er sich an einer höchst anspruchsvollen Yoga-Übung versuchen. »Sterbender Kranich blickt ins Auge des Taifuns«– oder so. Den tropfnassen Kescher hielt er dabei weit von sich gestreckt.

»Da, schau!« Walpurga war leider noch nicht fertig mit ihm und der Leichenbeschau. »Der rote Faden da, was solln des sein?«, fauchte sie ihn unvermittelt an.

»Weiß ich doch nicht. Is ja nicht mei Hund.«

»Aber dein Grund.« Walpurgas Logik zufolge war Poldl dadurch automatisch zum Hundehalter mutiert.

»So a Schas.« Er war ja auch kein Schulbusfahrer, nur weil das alte dottergelbe Gefährt am Wochenende immer vor seinem Heustadl parkte. Außerdem mochte er keine Hunde, weil die ihm sein Privileg des Baumpinkelns streitig machten. Aber das würde keine Frau verstehen. Und seine schon gar nicht. Er blickte also weiterhin ratlos zu Boden und schielte dabei ein wenig nach links, damit er dem toten Hund nicht direkt in die Glupschaugen sehen musste.

Plötzlich wackelte das Tier mit dem Kopf.

Poldl ließ vor Schreck den Kescher fallen, der den Mops mitten auf der Stirn traf.

Abrupt stellte dieser das Wackeln wieder ein.

»Hiatz pass halt auf. Das arme Viech.«

»Und wenn des noch lebt?«

»Dann warat es g’schwommen.«

»Und wenn es des nicht kann?«

»Dann warat es abg’soffen.«

Aber des is es ja eh, wollte Poldl noch erwidern, besann sich jedoch eines Besseren und hielt den Mund. Er konnte Walpurgas Überlegungen sowieso nicht folgen. Ihre komplexen Gedankengänge fanden in seiner faltenfreien Großhirnrinde wie gesagt keinen Halt.

»Wie der Köter noch g’lebt hat, is dem sein Leben jedenfalls am roten Faden g’hängt«, bemerkte sie jetzt und zupfte zum Beweis erneut an der Schnur. Sofort ruckelte auch der Mopskopf in Wackeldackelmanier auf und nieder. »Des is so eins von diese neumodernen Haltebandl, des sag ich dir.« Triumphierend blickte Walpurga ihren Gatten an. »Des, wo die Leut mit ihre Hund spazieren gehen, und die Hund laufen eana trotzdem davon.«

Poldl nickte zustimmend. Er hoffte, die hausfraulichen Erhebungen durch Verzicht auf seine Einspruchsmöglichkeit ein wenig zu verkürzen. Noch mehr aber hoffte er, schleunigst das Weite suchen zu können. Er hatte das Vieh bereits geborgen, begraben wollte er es wirklich nicht. »Ich muss hiatz dann nach dem Woazfeld schauen«, warf er schüchtern ein.

»Der Woaz läuft dir schon net davon.«

Ein abgemurkster Köter ah net, dachte Poldl, behielt das aber vorsorglich gleichfalls für sich.

Doch Walpurga hätte ihn gar nicht mehr hören können, denn sie war ihm mittlerweile schon wieder ein paar Schritte voraus. Gerade hatte sie das Brombeergestrüpp neben der Gartenhütte erreicht. Offenbar war sie dem Verlauf der mikroskopisch dünnen Ausziehleine gefolgt und sah sich nun suchend um. »Poldl, da kommst her!«

Nach vierzig Jahren Ehe wusste der Bauer, wann akustischer Widerstand zwecklos war. Kam er jetzt nicht, würde er abends schon gar nicht kommen dürfen. Deshalb stapfte er missmutig los, um seiner Frau zur Seite zu stehen. Doch das wollte sie gar nicht.

»Hiatz musst dich bucken, dort unter die Büsch eini.« Mit einem ihrer Wurstfinger wies sie ihm den Weg ins dornige Gestrüpp, das ihren Grund von dem des Nachbarn trennte.

Aufgrund seiner hageren Figur stand von vornherein fest, dass nur Poldl sich durch die Hecke würde zwängen können. Walpurgas gewichtige Gestalt eignete sich eher zur Durchführung von Abriss- und Planierarbeiten.

Also ließ er sich zögernd auf die Knie nieder und quälte sich mit zusammengebissenen Zähnen vorsichtig durchs Dickicht. Walpurga trieb ihn von hinten an, die Dornen hielten ihn von vorne zurück. Nach schmerzhaft langen Minuten erreichte er endlich sein Ziel, die andere Seite der Brombeerhecke.

»Und? Siehst was?«, wollte Walpurga wissen.

»Ja, des komische Bandl halt.«

»Und sonst?«

»Nichts.«

»Dann musst besser schauen!«

Poldl schaute und schaute, aber die Leine schien einfach kein Ende zu nehmen. Sie verlief über das nachbarschaftliche Rasenstück, querte ein kleines Rinnsal und verkroch sich schließlich im hohen Gras hinter einer stämmigen Fichte.

Dem Bauern blieb keine andere Wahl, als dem roten Faden Meter für Meter zu folgen und hinter den Baum zu sehen. Dort konnte zwar unter widrigsten Umständen eine böse Überraschung auf ihn warten, aber so böse, wie Walpurga sein würde, wenn er unverrichteter Entdeckungen einfach den Rückwärtsgang einlegte, könnte selbst ein tollwütiger Säbelzahntiger nicht sein. Er schritt, für seine Verhältnisse nahezu tapfer, weiter voran und warf einen flüchtigen oder besser gesagt fluchtbereiten Blick hinter die mächtige Fichte. Was dort auf dem Boden lag, schien ihm allerdings nicht sonderlich besorgniserregend: das Ende der Leine mitsamt Verpackung oder was auch immer dieses seltsame Plastikkästchen mit Loch sein sollte. Und daneben ein Schuh.

»Und? Siehst was?«, brüllte Walpurga.

»Nichts. Nur ane Schlapfn.«

»Was? Ane Schlapfn? Sonst nichts?«

Poldl riskierte einen zweiten Blick.

»Na, sonst nichts, nur solche Haxnbrecher halt. Hoch, rot und mit dem glänzenden Glumpert drauf.«

Mehr konnte er im üppigen Gras nicht erkennen. Außer er würde sich erneut bücken, aber das wollte er seinen alten Knochen ersparen.

»Dann nimm’s mir mit!«

Poldl verfluchte sich dafür, schon wieder nicht vorausgedacht zu haben. Sein Weib gierte ständig nach diesen furchtbaren Funkelsteinen, um damit Blumentöpfe, Lampenschirme, Milchkannen und Marmeladengläser zu bekleben. Kürzlich war ihrer verschandelungswütigen Fingerfertigkeit sogar die alte Butterdose, in der er seine dritten Zähne aufbewahrte, zum Opfer gefallen. Vielleicht sollte er seine Gattihose auch mit diesem Glitzerkram verzieren, dann würde Walpurga bestimmt viel öfter Hand an ihn legen. Eine Vorstellung, die ihm durchaus gefiel. Nur die dafür nötigen Vorbereitungsarbeiten wollten ihm ganz und gar nicht gefallen. Vielleicht könnte er…

»Poooldl!«

Genervt unterbrach der Bauer seine erotischen Machbarkeitsstudien und ließ sich wieder auf die Knie fallen, um den Schlapfn endlich aufzuheben. Er stöhnte, seufzte und schloss vor Anstrengung kurz die Augen. Leider schien der Schuh– genau genommen handelte es sich um eine Komfort-Pantolette mit Strasssteinchen und Regenbogenpailletten, aber der alte Mann stand mit derartigem Vokabular nicht auf vertrautem Fuß– in der Erde festgewachsen zu sein. Poldl langte mit all seiner Kraft zu, so als würde er einer Kuh beim Kalben helfen, und plötzlich begriff auch er das Unbegreifliche. Der Schuh steckte an einem Fuß, der in ein langes, schlankes Bein überging. Und der zweite, der unter einer dicken Schicht Grünzeug nahezu zur Gänze verborgen war, auch. Nun musste der arme Mann sich zum dritten Mal an diesem unseligen Morgen beschwerlich aus der Hocke in die Höhe hieven, um zu sehen, wohin die im wahrsten Sinne des Wortes schwindelerregenden Beine ihn letztlich führten. Seiner verzückten Ansicht nach wenigstens ins Paradies.

»Bist es bald? Mir wird langsam kalt.« Walpurga, die fest daran glaubte, über die halbe Welt und das ganze Damischtal detailliert Bescheid zu wissen, ahnte nichts von den wahr gewordenen Morgenphantasien ihres Mannes.

Poldl hingegen konnte sein Glück kaum fassen. Allein für die Beine hätte er einen Mord begangen. Je länger er sie betrachtete, desto größer wurde sein Verlangen, noch einmal in Körperkontakt mit diesem Wunder zu treten. Ganz kurz nur. Und etwas zielgerichteter. Danach konnte er immer noch nach dem Rest sehen, der sich unter einem riesigen Haufen Grünschnitt verbarg. Eine derartige Erscheinung betrachtete er jedenfalls als ausreichenden Grund, um zum vierten Mal an diesem Morgen auf die Knie zu fallen. Nun aber freiwillig und ohne geschlossene Augen. Nur das Seufzen und Stöhnen behielt er in etwas ausgeprägterem Tonfall bei.

Derartige Genussstelzen waren ihm bislang noch nie über den Weg gelaufen. Nur geträumt hatte er oft genug von ihnen. Aber das hier war kein Traum, sondern eine greifbare optische Grenzerfahrung. Seine Augen begannen bereits zu tränen, während er dieser Gottesgabe erneut an die zarten Knöchel griff. Rasch gönnte er sich noch einen kleinen moralischen Ausrutscher Richtung Knie, bevor er sich schwerfällig erhob und nach einer Heugabel Ausschau hielt, um das wunderbare Wesen von seiner Rasenburka zu befreien. Dass der gefallene Engel wie tot darniederlag, obwohl Poldl sein Jahreskontingent an Zärtlichkeit an ihm verschwendet hatte, beunruhigte ihn nicht sonderlich. Er kannte es nicht anders.

»Ja, Herrgottnochamoi, was treibst denn dort drüben?« Walpurga war generell ein recht geduldiger Mensch. Außer sie musste auf ihren Mann warten, denn der besaß das Zeitgefühl eines spätsommerlichen Hagelschauers. Nie wusste man, ob, wie oder wann er kommen würde. Aber wenn er endlich kam, dann stets im ungünstigsten Moment und mit oftmals verheerenden Folgen. Und wenn er nicht kam, dann gnade ihren Nerven. »Poldl, was ist los? Tust jetzt weiter, oder muss ich rüberkommen?«

Der Bauer, der mittlerweile eine Mistgabel gefunden hatte und seinen langbeinigen Schatz Schicht für Schicht vom säuerlichen Grünschnitt zu befreien suchte, verdoppelte instinktiv sein Arbeitstempo. Walpurga an seiner Seite hätte ihm gerade noch gefehlt. Sie würde ihren unförmigen Schatten flächendeckend auf die graziöse Gazelle werfen, seine andächtigen Gefühle mit ihrem feldwebelartigen Organ profanieren und dabei herumstampfen wie ein Nilpferd mit Bauchgrimmen.

»Ja, sag amoi, was machst du denn da?« Mit weit aufgerissenen Augen starrte der Pimmelmoser Paul auf den schwitzenden Poldl in blauer Montur und seine Mistgabel. Seit der letzten Regierungsangelobung hatte der mieselsüchtige Mittvierziger nichts mehr gesehen, das gleichzeitig derart lachhaft und bedrohlich wirkte.

»Die fesche Puppn ausgraben, siehst ja eh, oder?«

Dass der alte Bauer bei der Mindesthirnverteilung leer ausgegangen war, war ja allgemein bekannt, aber von dessen offenbar recht ausgeprägtem Hang zu pantomimischen Wahnvorstellungen hatte der Pimmelmoser bislang nichts gewusst. Nur dass selbst halluzinatorische Grabungsarbeiten echte Leichen ans Tageslicht befördern konnten, zumindest auf seinem Grund und Boden, das wusste er ganz sicher. Energisch trat er einen Schritt nach vorne und griff nach der Mistgabel, um dem gefährlichen Treiben ein Ende zu bereiten, als auch er sie sah. Die Beine. Diese unglaublich langen, nackten, schlanken Beine. Diese… Leider fehlten dem Paul die Worte, um Dinge zu beschreiben, die er allein aus Castingshows oder von den Kalenderansichten in seiner Autowerkstatt kannte. »Ja, bist du deppert, da legst di nieda.« Mehr fiel auch ihm nicht dazu ein.

Die Damischtaler verfügten ja generell über eine recht eingeschränkte emotionale Ausdrucksvielfalt, was hochgradig positive Empfindungen betraf. Dafür besaßen sie an die dreißig Umschreibungen für alkoholbedingte Verfallserscheinungen.

Jedenfalls begann der Paul, ernsthaft an seinem Verstand zu zweifeln. Was ihm hier zu Füßen lag, überstieg eindeutig seinen Horizont. Hoffnungslos überfordert von dem Anblick, fasste er sich zur Beruhigung erst einmal in den Schritt, kratzte sich unschlüssig am Kopf, stammelte dann ein paarmal leise »Jessas Maria« und verfiel, beide Hände fest um den Griff der Mistgabel gefaltet, in eine kontemplative Andachtshaltung.

»Jetzt tummel dich halt. Oder willst eppa warten, bis a neichs Gras auch noch drüberwachst?« Der Poldl wollte endlich den Rest dieser fleischgewordenen Fata Morgana zu Gesicht bekommen und fieberte vor Tatendrang.

Sein unwillkommener Helfershelfer hingegen schien in einen religiös motivierten Energiesparmodus gefallen zu sein, was aber primär an seinen ekstatischen Auferstehungsszenarien im Beckenbodenbereich lag.

»Leck mi.« Völlig unvermittelt erwachte der Paul wieder aus seiner Bewegungsstarre und begann, wie ein Berserker auf den Grünschnitt einzustechen. Ihm war eingefallen, dass zu Beinen meist auch ein Busen gehörte.

»Jetzt pass doch auf, nicht dass das abstichst.«

»Na geh.«

»Gib her, lass mich. Schließlich hab ich’s g’funden.« Der schon etwas unglückliche Finder Poldl sah sich nicht nur seiner rechtmäßigen Beute beraubt, er fürchtete auch Löcher an Stellen, wo diese anatomisch nicht hingehörten.

Sein Nachbar schien den gefallenen Engel mit einem Gabelbissen zu verwechseln. »Aber sie liegt auf meinem Grund.«

Bei derart grundlegenden Sachverhalten kannten die Damischtaler kein Pardon. Da zählte jeder Rasenstängel als Privateigentum. Also rangen die beiden verbissen weiter um die Vorherrschaft über die Mistgabel.

»Poldl, jetzt reicht’s, ich komm umi!« Walpurgas Gebrüll hörte sich an wie Donnergrollen. Es dröhnte den beiden derart heftig um die Ohren, dass ihnen die Haare zu Berge standen.

Dem Poldl brach der Schweiß aus, im Paul die Panik. »Halt dei Oide z’ruck«, flüsterte er. »Sonst bin ich am Arsch.« Plötzlich konziliant geworden, reichte er dem Bauern die Mistgabel.

»Ich komm schon, ich muss dem Pimmelmoser nur schnell was helfen!«, brüllte der Poldl wunschgemäß. Und hatte dabei nicht einmal gelogen.

»Ich schick’n eh gleich z’ruck, den Poldl, er hilft mir nur schnell mit dem Grünfutter«, setzte der Paul zur Sicherheit noch eins drauf. Wobei er gleichfalls bei der Wahrheit blieb. Die beiden hatten zwar kein Ehrlichkeitsgelübde abgelegt, aber für ausgefeiltere Ausreden fehlte ihnen derzeit schlichtweg die dazu nötige Gehirndurchblutung.

Walpurga hingegen, die in Gedanken bereits begonnen hatte, die zerkratzte Pfeffermühle auf der alten Kredenz mit dem neuen Paillettenfund zu verzieren, wurde nachdenklich. Auf die versprochenen Schuhe wollte sie keinesfalls verzichten –zu ihrem großen Missfallen hatte die Glitzersteinchenindustrie das Damischtal bislang noch nicht als aufstrebenden Markt entdeckt–, auf einen Arbeitseinsatz beim Nachbarn hatte sie allerdings auch keine Lust. Der Pimmelmoser war ihr sowieso nicht ganz geheuer. Ein Mannsbild in dem Alter, das lange Haar hatte, aber weder Frau noch Kind– das war ja nicht normal. Sogar kleine Katzen würde er fressen, sagten die Leut. Mit solchen Menschen hatte man besser nichts zu tun. »Aber dasst mir auf die Schuh net vergisst!«, knurrte sie schlussendlich über die Hecke, bevor sie bedrohlich schnaubend den Rückzug antrat.

Kaum lag der Schatten ehelichen Ungemachs nicht länger über ihm, ging Poldl ganz langsam ein Licht auf. Konzentriert biss er auf seinen rissigen Lippen herum, runzelte bedächtig die Stirn und starrte angestrengt die Mistgabel an, die er in Händen hielt. Sein runder Kopf war einfach nicht für geradlinige Gedanken gemacht. Verzweifelt blickte er zu Paul, doch der sah unverändert und unbeweglich zu Boden, was einerseits am Anblick der langen Beine lag, andererseits aber auch am kurzen Zeitraum, der seit seinem rituellen Morgenjoint vergangen war. Mit zweifach benebeltem Verstand konnte er keine gedankliche Geburtshilfe leisten. Poldl musste allein zur Erleuchtung der Umstände gelangen.

Aus diesem einfachen Grund passierte längere Zeit absolut nichts. Der alte Bauer suchte sein eingerostetes Gehirn unter Kontrolle zu bringen, der jüngere den Inhalt seiner ausgebeulten Hose.

Schweigend schnauften sie gemeinsam vor sich hin, bis es Poldl endlich gelang, das Unfassbare in verständliche Worte zu fassen. »Du, ich glaub, die is tot.« Zwar wies das göttliche Geschöpf keinerlei Ähnlichkeit mit der mopsigen Wasserleiche in seinem Garten auf, aber eine derart ausdauernde Unbeweglichkeit hätte nicht einmal seine Walpurga während ihrer erotischen Performance zustande gebracht. Schon gar nicht, wäre ihr dabei so ein riesiger schwarzer Käfer über den Oberschenkel gekrabbelt.

»Jo eh.« Paul tat sich mit der zielgerichteten Dialogführung noch etwas schwer. Zum Zeichen seines Einverständnisses stieß er den Frauenkörper leicht mit der Schuhspitze an.

»Bist deppert? Jetzt lass es in Ruh! Das is ja betetlos.« Das sagte seine Walpurga immer zu ihm, wenn Poldl seine dritten Zähne nach dem Essen im Herrgottswinkel platzierte, um sich mit dem sauberen Tuch unter dem Kruzifix den Mund abzuwischen. Irgendwann hatte sie ihm auch erklärt, was das Wort bedeutete, doch das war bestimmt schon einige Jahrzehnte her. Jedenfalls hatte »pietätlos« etwas mit Anstand, Würde und religiösen Gefühlen zu tun. Und genau das schien ihm derzeit der Fall zu sein. Tote Engel trat man nicht mit Füßen. Nicht einmal dann, wenn man inbrünstig auf deren fleischliche Auferstehung hoffte. Poldl, der an diesem wundersamen Morgen sein persönliches Maximum an kognitiven Kapazitäten auszuschöpfen schien, hatte schließlich einen zweiten klaren Gedanken zu fassen bekommen. »Die is bestimmt abg’murkst worden«, stellte er stoisch fest. »Weil die hat so an blutigen Streifen um den Hals. Und a bissl blau im Gesicht is sie auch.«

Im Unterschied zu Paul, dessen schmaler Horizont sich unverändert zwischen Kniekehle und Rocksaum bewegte, hatte Poldl zwischenzeitlich seltenen Weitblick bewiesen, indem er seinen im Knöchelbereich festgefrorenen Blick kurz hatte loseisen können, um der liegenden Göttin in die Augen zu schauen. Wobei ihm nicht nur der unnatürlich blaue Teint aufgefallen war, sondern auch ein seltsames rot-violett-schwarz geflecktes Band um ihren Hals. Nachdem die schwarzen Flecken sich auf einen zweiten Blick als fette Fliegen entpuppt hatten, war Poldl der furchtbare Verdacht gekommen, dass es sich bei dem Band weder um großstädtisch gewagten Modeschmuck noch um eine misslungene Tätowierung des Suezkanals handelte, sondern um einen vorsätzlich gezogenen Trennstrich zwischen Leben und Tod.

Die gefallene Göttin hatte ihn nämlich an den Binder Franzi erinnert, der sich mit einem Abschleppseil erhängt hatte, nachdem er von seiner Frau wegen eines Mechanikers verlassen worden war. Auch der hatte so eine verkrustete, blutunterlaufene Wunde am Hals gehabt. Nur im Gesicht, da war er eher blass gewesen. Poldl sinnierte immer noch über die mysteriöse Farbenlehre der Strangulation, als Paul unvermittelt aus seinem wachkomatösen Geisteszustand in eine frenetische Betriebsamkeit wechselte.

»Schaut net guat aus«, meinte er abrupt, wobei unklar blieb, ob er damit die partiell verunstaltete Tote oder ihre derzeitige Lage meinte. »Gar net guat.« Erstaunlich gelenkig ging er in die Knie und begann ruckartig an der Hundeleine zu ziehen.

»Spinnst? Da hängt ja noch der Köter dran.«

»Was für ein Köter?«

»Na, der von mein Regenwasserfassl.«

»Seit wann hast du an Hund?«

»Ich hab kan Hund. Nur des dersoffene Viech halt. Und des a nur wegen meiner Oiden.«

Paul sah ein, dass allein aus freundlicher Fragerei kein verwertbarer Erkenntnisgewinn resultieren würde. Deshalb griff er seinem Nachbarn direkt an die magere Brust, zog ihn an den Knöpfen seines Arbeitsgewandes ganz nah zu sich heran und flüsterte: »Entweder derzählst du mir jetzt die ganze Gschicht von Anfang an, oder ich geh auf der Stell umi zu deiner Walpurga und sag ihr, dass du mir schöne Augen g’macht hast.« Dabei sah er den Bauern an wie ein Kaninchen den Kopfsalat.

Poldl erstarrte. Im Laufe seiner Ehe hatte Walpurga nicht nur die Eifersucht zur Kunstform erhoben, sie ging auch mit schwulen Männern gnadenlos ins Gericht, seit sie erkannt hatte, dass ihre Liebe zu Robert Redford niemals erwidert werden würde. Und auf einmal entwickelten Gehirnzellen wie Stimmbänder eine –für Poldls Verhältnisse– nahezu gigantomanische Arbeitsmoral, was Pauls Verständnis der Lage sehr zugutekam.

»Also is des quasi ein Doppelmord«, fasste er nach Poldls panischer Berichterstattung zusammen. »Zuerst der Hund, dann das Herrl.«

»A wenn des Herrl a Frau ist«, warf Poldl ein, der damit erstmals im Leben seine Stimme gegen Sexismus in der Sprache erhoben hatte.

»Is doch völlig wurscht, das sagt man halt so.« Der Pimmelmoser Paul hatte nicht die geringste Lust auf Wortklaubereien. »Die Leich muss so oder so weg. Und des Hundsviecha.« Nicht auszudenken, wenn die Kieberei bei ihm einfallen würde. Sein Leben wäre hoffnungslos ruiniert. Und das der Gfrettgstättener gleich mit. Allein seine Hanfplantage hinterm Hühnerstall, die sich bestimmt nicht als freigeistiges Landschaftspflegeprojekt deklarieren ließ, würde ihm einiges an Schwierigkeiten bescheren– die unzähligen toten Katzenbabys jedoch, die er jährlich im Acker vergrub, garantiert das Genick brechen. Wo doch gerade Gfrettgstätten sich als tierliebste Gemeinde von ganz Österreich zu etablieren suchte.

Nach dem touristischen Desaster vor zwei Jahren, das mit Mord, Totschlag und einem veritablen Lebensmittelskandal für wenig erfreuliche Schlagzeilen und einen nahezu hundertprozentigen Rückgang an Urlaubern gesorgt hatte, hatte ihr kleines Dorf im südweststeirischen Damischtal sein großes Herz für Tiere entdeckt und in Rekordzeit ein luxuriöses Wohlfühlhotel für Hunde und deren Halter aus dem Boden gestampft. Und da es immer mehr überfettete, arthritische oder verhaltensgestörte Wauzis mit ähnlich veranlagten Besitzern gab, war das Damischtaler Doggy Wellness& Human Beauty Spa Resort– kurz Wauness-Welt genannt– von Anfang an bis auf das letzte Hundekörbchen belegt. Was den Bürgermeister zum Strahlen, die Gemeindekasse zum Klingeln und die Arbeitslosen zu neuer Beschäftigung gebracht hatte. Nur der ansässigen Bauernschaft war der Hundezirkus gar nicht recht. Überall latschten betuchte Hundehalter mit ihren Kötern herum, zertrampelten die Felder, hinterließen Löcher im Boden und Gackerlhaufen auf den Wegen, und während die Tölen Tag und Nacht vor sich hin kläfften, durften die Bauern nicht einmal protesthalber das Maul aufreißen.

»Jeder einzelne Scheißdreck von so einem Hundsviech ist Goldes wert«, hatte ihnen Alois Feyertag, der amtierende Bürgermeister, bei jeder passenden wie unpassenden Gelegenheit eingebläut und sich wiederholte Male an einer umsatzsteigernden Gehirnwäsche der gesamten Dorfbevölkerung versucht. Bei einigen Bewohnern war seine Rechnung aufgegangen, anderen allerdings stank die Sache mittlerweile zum Himmel. Und zwar offensichtlich so stark, dass jemand nun zur mörderischen Selbstjustiz gegriffen hatte. Was ein ernstes Problem darstellte. Für die Tote, aber auch für Paul.

Irgendwie musste er den Unterkofler Poldl von der Notwendigkeit einer Umlagerung überzeugen, ohne ihm die wahren Hintergründe dafür zu verraten. Er hielt seinen Nachbarn zwar keinesfalls für einen fanatischen Tierschützer, sehr wohl aber für einen ambulanten Risikofaktor, der oftmals unter Sprechdurchfall bei gleichzeitiger Gehirnverstopfung litt. Sollte der Poldl Wind von den vergrabenen Katzenbabys bekommen, würde bereits am Tag darauf ein Orkan der Entrüstung sein Haupt umwehen. Davon war der Pimmelmoser –durchaus zu Recht– überzeugt. Die heutige Kuscheltierfraktion verwechselte einen Bauernhof ja unweigerlich mit einem Streichelzoo, wo jeder Hahn allein aus Altersschwäche vom Mist fiel. Dabei hatten sie vom harten Leben der Landwirtschaft so wenig Ahnung wie seine Kühe von Zwölftonmusik. Er jedenfalls hielt seine Katzen nicht zum Köpfchenkraulen, sondern zum Mäusefangen. Und das taten sie auch brav. Leider wurden Katzen auch rollig und warfen zweimal pro Jahr an die fünf Junge. Bei vier Katzen waren das vierzig Kostgänger pro Jahr, und so viele Mäuse gab sein Grund und Boden nun auch nicht her. Also musste die Brut fort, das war halt der heimische Brauch. Die einen ertränkten die Neugeborenen, die anderen brachen ihnen das Genick. Paul bevorzugte letztere Methode, sie kam ihm humaner vor. Danach vergrub er die kleinen Leichen einfach in der Wiese hinterm Haus. Genau dort, wo jetzt die Tote unter seinem Grünschnitt lag, waren –sozusagen einen Stock tiefer– bestimmt schon ein paar hundert Schrumpfmiezen zu Kompost zerfallen. Ein Vorgehen, für das man ihn in der heutigen Zeit selbst zu tausend Toden verurteilen würde. Der haustierhysterische Mob, die versnobten Gackerlklauber vom Hundehotel, der Bürgermeister und der gesamte Tourismusverband, sie alle würden die Krallen ausfahren und ihm das Fell über die Ohren ziehen, bekämen sie sein Kadaverfeld zu sehen.

Der hiesige Fleischer hatte ja im Vorjahr schon Kopf und Kragen riskiert, weil so depperte deutsche Touristen auf seine Sauschädlgruft gestoßen waren. Als wenn so ein paar vergrabene Tierknochen ein Verbrechen gegen die Menschheit wären. Aber egal. Paul durfte hier nicht länger herumstehen und selbst in eine Leichenstarre verfallen. Ein Plan musste her und die Tote weg. »Poldl, wir müssen jetzt z’sammenhalten, und du des Maul, wenn wir die Leich verschwinden lassen.«

»Das versteh ich net.« Der alte Bauer schien erneut einer Art geistiger Atemnot erlegen zu sein.

»Ja, schau mal her: Da liegen a tote Frau bei mir auf der Wiesen und ein toter Köter bei dir auf dem Grund. Beide hast berührt, das Weibsbild sogar an’grapscht. Was glaubst denn, wie die Polizei das auslegen wird, wenn deine Fingerabdrück überall drauf sind. Du kannst der Toten ja nicht die Haut abziehen, um deine Spuren verschwinden zu lassen.« Der Pimmelmoser legte eine kurze Pause ein, damit der Unterkofler mit dem Denken nachkommen konnte.

»Du meinst, ich muss mit die Kieberer reden?«

»Na, ich mein nicht, dasst mit die Kieberer nur reden musst, ich mein, dass sie dich wegen Mord verhaften werden.«

Der Poldl verfiel in Schnappatmung und bekam einen leichenblassen Teint. »Aber ich hab sie ja nur a bissl g’streichelt.«

»Und zuvor zu Tode g’würgt, damit sie sich das auch g’fallen lasst.«

»Aber das stimmt doch net, das weißt ganz genau.«

»Weiß ich das? Sie is ja schon dag’legen, wie ich dich mit der Mistgabel g’funden hab. Und lang kann sie net dag’legen sein, weil ich erst gestern g’maht hab.«

»Ja, bist du total überg’schnappt? Ich bin doch kein…« Hektisch rang Poldl nach Luft, das schreckliche Wort schien ihm im Hals stecken geblieben zu sein.

Damit der Alte nicht auch noch auf seinem Grund krepierte, musste Paul schleunigst von seiner Schuldgefühlstrategie auf Beschwichtigungsmanagement umschalten. Zumindest würde Poldl nun garantiert den Mund halten, weil er ja quasi der Hauptverdächtige war. »Ich weiß schon, dass du kein Mörder bist, das hab ich eh nie ’glaubt, aber die Polypen, die wissen das net. Also, vielleicht noch unser Dorfpolizist, der glaubt ja heut noch ans Gute im Menschen, weil’s weniger anstrengend is, aber die Oarschkrätzn aus der Stadt, die sind wie die Kampfhund, die werden sich in dich verbeißen und dich in Fetzen reißen.«

Poldl griff sich entsetzt an den Hals, während seine Gesichtsfarbe von Leichenweiß zu Gruftgrau changierte.

Beruhigend legte Paul ihm den Arm um die magere Schulter. »Das war natürlich nur symbolisch gemeint. Brauchst keine Angst haben, die haben eh alle schlechte Zähne vom vielen Zuckerlessen, weil jetzt ja überall Rauchverbot ist.«

Der Bauer riss sich den obersten Knopf von seinem Blaumann ab und starrte auf seine Schuh.

»Jetzt musst mir zuhören, Poldl. Damit das eben nicht passiert, dass sie dich ins Gfängnis bringen, werden wir heut Abend die Leich unter eine Heuladung stopfen und still und heimlich in der Damisch entsorgen. Dann wird sie auch gleich ordentlich g’waschen und kann friedlich bis nach Plutzenberg treiben. Sollen die des Gfrett mit ihr haben. Und mit dem hinigenKöter verfahren wir gleich. Hast mich verstanden?«

Aber Poldl hatte sich von Pauls verbalem Hardcore-Beschuss noch nicht erholt. Er sah immer noch aus, als hätte er einem weißen Hai soeben den Zahnstein entfernt.

»Willst an Schnaps?«, fragte Paul besorgt.

Poldl riss am zweiten Knopf der Montur, während er weiterhin seine Arbeitsschuhe anstarrte, als läge unter ihnen der Heilige Gral verborgen.

»Magst was rauchen?« Der Pimmelmoser bekam es mit der Angst zu tun. Konnte man einen Hirnschlag erleiden und dennoch eine aufrechte Haltung bewahren? Der Alte stand ja immer noch da wie in Wachs gegossen. Warum hatte diese verdammt vermaledeite Kreatur denn keinen Reset-Knopf? Poldl hatte doch ganz offensichtlich einen Systemabsturz erlitten. Leider verfügte Paul über keinerlei medizinische Kenntnisse, sein Milchvieh funktionierte ganz nach dem binären System: hopp oder dropp, Funktionstauglichkeit oder Notschlachtung. »Poldl, so sag doch was!« Energisch packte er den alten Mann bei den Schultern und schüttelte ihn durch. So wurde es immer in den TV-Serien gezeigt, wenn jemand weggetreten war.

Und weil Fernsehen offenbar doch manchmal bildete, funktionierte es auch in der Realität. Poldl blinzelte ein paarmal, riss sich von seinen Arbeitsschuhen los, sah Paul fest in die Augen und sagte dann laut und deutlich: »Die Schuh, wenn ich ohne die glitzernden Schuh heimkomm, bringt mich mei Oide um.«

Geht’s dem Hund gut, geht’s dem Herrl schlecht

Beinahe hätte Rüdiger Bartenstein das Weinglas erwürgt, so erschrak er beim Anblick seiner Frau. Hildegund sah aus, als wäre sie mit einer Käseplatte kollidiert. Glitzernde Trauben hingen ihr im Haar, cremige Würfelchen zierten das Dekolleté, und auf die Hände hatte sie sich eine camembertartige Masse geschmiert.

Vorsichtig stellte er das Glas auf den Tisch zurück. In der exklusiven Wowness-World, in der sie seit drei Tagen auf unverbindliche Einladung der Gemeinde Gfrettgstätten und verbindliche Drohung seiner Gattin verweilten, wurden die Getränke ausschließlich in filigranen Kunstwerken der Glasindustrie serviert. Ein Griff daneben, ein unachtsamer Moment– und schon hätte man einen für Kleinanleger durchaus beträchtlichen Vermögenswert ruiniert. Rüdiger schien das moralisch verwerflich und zudem schlecht für Hundepfoten. An die alte Weisheit, dass Scherben stets nur Glück brächten, glaubte er sowieso nicht. Und selbst wenn das Sprichwort stimmte, hätte er seinem unseligen Eheweib mindestens eine massiv gerahmte und zweifach verglaste Fensterfront an den Kopf donnern müssen, um glücklich zu werden, aber die hatte er leider nicht zur Hand.

Seit er von Hilda vor Wochen zu einem erneuten Aufenthalt in diesem damischen Tal gezwungen worden war, das ihn bereits bei ihrem ersten Urlaub durch seine lebensbedrohlichen Landschaften, hinterwäldlerischen Provinzidioten und schmerzhaften Einsichten in die örtlichen Fallgruben der Nutztierzucht an den Rand eines Nervenzusammenbruchs getrieben hatte, hing ihr Eheglück ohnedies an einem ausnehmend dünnen Faden. Er hasste die Menschen hier, er hasste den dämlichen Wellness-Schuppen, er hasste den Hund seiner Schwiegermutter, diese verzogene, stinkende Töle, die sie ihnen kaltherzig aufs Auge beziehungsweise deren Leine in die Hand gedrückt hatte, und am allermeisten hasste er natürlich Hildegund, seine Frau. Ohne ein Wort der Vorwarnung, ohne jedes partnerschaftliche Gespräch, sogar ohne das klitzekleinste bittende Wimpernklimpern hatte sie ihn eines Abends statt vor dampfende Teller vor vollendete Tatsachen gestellt.

Die Zimmer seien längst reserviert, hatte sie ihn gnadenlos wissen lassen, die Koffer gepackt, der schwiegermütterliche Hund ausreisefertig und eine Urlaubsvertretung für die häuslichen Topfpflanzen organisiert. Zudem sei Kevin-Karl, ihr gemeinsamer Sohn, vor Vorfreude ganz aus dem Häuschen, was der gesunden Entwicklung des pubertierenden Stubenhockers ja so was von förderlich sei. Von der des allerliebsten arthritischen Hundes ihrer guten Mami ganz zu schweigen. Dem würde ein Gesundheitsurlaub im Grünen genauso gut bekommen wie der armen gebrechlichen Mami ein paar erholsame Tage ohne ihren Liebling. Der Verweis auf seine ganz und gar nicht gebrechliche Schwiegermutter, die ihre hysterische Taschenratte schlichtweg loswerden wollte, um sich ihrem neuen Freund ungestört an den Hals werfen zu können, hatte Rüdiger zutiefst empört. Für wie doof hielt ihn sein eigenes angetrautes Weib eigentlich?

Und überhaupt könne man so eine wahnsinnig nette Einladung –immerhin hätte der gesamte Gemeinderat von Gfrettgstätten persönlich unterschrieben– doch nicht einfach ausschlagen. Umso weniger, als sie der unermessliche Luxus im Fünf-Sterne-Resort keinen einzigen Cent kosten würde. Der so großzügig offerierte Aufenthalt war sozusagen der Dank der Damischtaler an ihren cleveren Kevin-Karl, durch dessen kluges Köpfchen man seinerzeit einem gefährlichen Giftmischer auf die Spur gekommen war.

Doch damit hatte Rüdiger ein ernstes Problem; natürlich nicht mit der überdurchschnittlichen Intelligenz seines Sohnes, sondern mit der Dankbarkeit der südweststeirischen Schrumpfhirne. Ihm wäre es weitaus lieber gewesen, sie hätten sich als undankbar erwiesen und nie wieder etwas von sich hören lassen. Denn dann könnte er nun beschaulich auf seiner Veranda klönen und ein kühles Helles kippen oder bei einer entspannten Radtour durchs Wuppertal gesunde Luft schnappen. Stattdessen musste er die bleihaltige Atmosphäre dieses damischen Tals ertragen. Bei ihren ersten Ferien hier waren ihm beim Waldspaziergang sogar Kugeln um die Ohren geflogen. Verglichen damit erachtete er die Abgase des Ruhrpotts als nahezu gesundheitsförderlich.

Aber nein, statt still und leise von einer endemischen Krankheit dahingerafft, von der Schweinepest ausgerottet oder von einem Meteoriten erschlagen zu werden, erfreute sich das Damischtaler Volk offensichtlich erneut guter Gesundheit und eines noch besseren Erinnerungsvermögens.

Weshalb er nun hier sitzen musste, als Ehrengast in dieser flachländischen Zauberbergimitation, wo das ständige Röcheln und Hecheln der Hunde tatsächlich an ein Sanatorium für Lungenkranke erinnerte. An eins, das nicht nur aus dem letzten Loch pfiff, sondern auch noch vorsätzlich vor die Hunde gegangen war.

Die zweibeinigen Gäste hingegen hätten eher in eine geschlossene Anstalt gepasst, allen voran sein Eheweib in ihrem nachmittäglichen Käsethekenkostüm. All die belämmerten Knallköppe –Rüdiger konnte sich nicht vorstellen, dass ein Mensch mit normaler Hirnleistung freiwillig hier verweilen würde– schienen sich durchweg für feingeistig veranlagte Übermenschen zu halten. Was für die Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung sprach.

Er jedenfalls nahm mit zunehmender Verweildauer nur eins spürbar wahr: Was Körper und Geist hier erleiden mussten, das grenzte schlichtweg an Nötigung. Zudem wurde Hildas Erscheinungsbild von Tag zu Tag nebulöser und beeinträchtigte spürbar seine Denkfähigkeit.

Einen derartigen Anblick konnte man sich nicht einmal mehr schöntrinken, stellte Rüdiger ernüchtert fest. Selbst die viel gerühmte geschmackliche Harmonie zwischen Käse und Wein hatte sich bei ihnen mittlerweile ins Gegenteil verkehrt: Ihm lag diese Kombination schwer im Magen.

Während Rüdiger sich also durchweg betrüblichen Gedanken hingab, zupften Hildegunds Camembert-Finger unnachgiebig an seinem Hemd herum und hinterließen kleine, schmierige Streifen auf dem Stoff. »Schatz, jetzt guck doch mal!« Aufgeregt tippten die Käsestifte nun auf das Hochglanzpapier eines Prospekts. »Morgen findet in der Fellnasen-Lounge eine Waaaaaahnsinns-Phytobiodermie-Veranstaltung statt.«