Ganz ich sein - Peter Höhn - E-Book

Ganz ich sein E-Book

Peter Höhn

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Beschreibung

Ohne Stress zur eigenen Berufung! Gottes Berufung für unser Leben zu kennen und zu leben, ist einer der spannendsten Aspekte unseres Daseins. Kaum etwas vermag uns so zu beflügeln! Dabei geht es doch um viel mehr als unsere Talente oder Aufgaben. Als Erstes sind wir berufen, unseren Schöpfer- und Vater-Gott ein Leben lang immer tiefer zu erkennen. Als Zweites dürfen wir einfach Mensch sein und von Jesus befreit gesunde Beziehungen leben lernen. Als Drittes kommt unsere spezifische Berufung hinzu, die mit unserer Persönlichkeit und Gottes Geist zusammenhängt. Wer in alle drei Dimensionen eintaucht, wird Sinn finden und wahre Erfüllung erleben!

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Seitenzahl: 284

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Peter Höhn

GANZICHSEIN

Entspannt eintauchen in Gottes Berufung

SCM R. Brockhaus ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-417-22930-1 (E-Book)

ISBN 978-3-417-26869-0 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck

Soweit nicht anders angegeben, sind die Bibelverse folgender Ausgabe entnommen:

Elberfelder Bibel 2006, © 2006 by SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH Witten/Holzgerlingen.

Weiter wurden verwendet:

Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart. (LUT)

Bibeltext der Neuen Genfer Übersetzung – Neues Testament und Psalmen

Copyright © 2011 Genfer Bibelgesellschaft. Wiedergegeben mit freundlicher Genehmigung. Alle Rechte vorbehalten. (NGÜ)

Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006

SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH Witten/Holzgerlingen. (NLB)

Zürcher Bibel © 2007 Verlag der Zürcher Bibel beim Theologischen Verlag Zürich. (ZB)

© 2019 SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH

Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen

Internet: www.scm-brockhaus.de; E-Mail: [email protected]

Umschlaggestaltung: Kathrin Spiegelberg, Weil im Schönbuch

Titelbild: Nathan Ziemanski/unsplash.com

Satz: Christoph Möller, Hattingen

Inhalt

Über den Autor

Vorwort

Einführung: Mein Platz in der Welt

Teil 1 – Gottes Berufung verstehen

1. Die Berufung, Gott zu erkennen

2. Die Berufung, Mensch zu sein

3. Die Berufung, ganz ich zu sein

4. Das Bewusstsein für meine Berufung schärfen

Teil 2 – Auf Gottes Berufung antworten

5. Als verantwortlicher Mensch leben

6. In der Gotteserkenntnis wachsen

7. Bei Jesus lernen, Mensch zu sein

8. Meinem Wesen gemäß leben und dienen

Teil 3 – In Gottes Berufung reifen

9. Vom Kindlein zum Vater

10. Das »Land der Verheißungen« einnehmen

11. Auf Gottes Timing achten

12. Im Fruchtmodus leben

13. Anderen helfen, in Gottes Berufung einzutauchen

Fragen zur persönlichen Vertiefung

Dank

Anmerkungen

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Über den Autor

Peter Höhn verantwortet bei Campus für Christus Schweiz den Bereich »Spiritualität und Gebet« und ist als Redakteur, Referent, Autor und Berater tätig. Er wohnt mit seiner Frau Barbara in Zürich. Die beiden haben drei Töchter und drei Enkelkinder.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Vorwort

Sonntagmorgen haben einen unvergleichlichen Duft. Wenn ich die Augen schließe und an das Aufwachen an einem Sonntagmorgen in meiner Jugendzeit denke, dann habe ich ihn sofort wieder in der Nase – diesen einzigartigen Duftmix von Ausschlafen, Zufriedenheit und der Freude, die ganze Familie im Haus zu haben. Und all diese wunderbaren und entspannten Emotionen kumulierten in dem unverkennbaren Aroma von Croissants. Jeden Sonntagmorgen gab es bei uns Croissants frisch aus dem Ofen, und dieser Gipfeli-Duft, wie wir Schweizer es zu nennen pflegen, pflügte sich selbst durch die abgestandene Luft in meinem Teenagerzimmer, drang widerstandslos in meine Nase und kitzelte binnen Sekunden jede noch so träge Geschmacksknospe wach. An diesen Sonntagen füllte dieses Croissant-Odeur das Haus bis in den letzten Winkel und prägte die ganze Morgenatmosphäre.

Peter Höhn ist wie so ein Croissant. Es gibt wenige Leute, die auf so eine unspektakuläre, unaufgeregte Art und doch tiefe Weise die Atmosphäre und die Kultur ihrer Umgebung prägen. Er hat durch seine Denkanstöße und geistlichen Einsichten Geschmacksknospen angeregt, von denen viele gar nicht wussten, dass die überhaupt existieren. Mit seiner Art, zu glauben, zu denken und das Leben anzuschauen, hat er Campus für Christus und darüber hinaus unzählige Menschen wohltuend und nachhaltig geprägt. Peter hat eine unglaublich rare Fähigkeit: Er geht denkend durchs Leben und kann dabei komplexe Zusammenhänge des Glaubens nicht nur in Worte fassen, sondern diese auch noch verständlich wiedergeben und gewinnbringend erden.

Es ist eine Freude, seit vielen Jahren mit ihm Seite an Seite in derselben Organisation zu laufen und sogar das Büro mit ihm zu teilen. Und wie diese Aufwachmomente am Sonntagmorgen liebe ich es, mich ab und an mit Peter über so ziemlich alle möglichen und unmöglichen Themen auszutauschen. Fast immer geschieht es ungeplant, dass wir uns beide gegenübersitzend plötzlich entspannt halb im Stuhl liegend wiederfinden, die Arme im Nacken verschränkt und die Füße besockt auf der Tischplatte, und dabei philosophieren, als bestünde die gesamte Welt nur aus diesen zwölf Quadratmetern Büro. So vieles habe ich dabei unbewusst aufgesaugt, neu gesehen, zum ersten Mal verstanden, so oft habe ich umgedacht, und so manche meiner Predigt-Kerngedanken sind einfach nebenbei in so einer Zeit in mein Herz gerutscht.

Nebst markigen Lebensweisheiten wie zum Beispiel, »dass man gar nicht immer muss« (als gesunder Gegenpol zum Leistungsdenken), hat mich wohl am meisten sein Hauptcharisma angesteckt: Peter jagt nach allem, was lebendig macht und Leben bringt. Eine Eigenschaft, die sich als Grundpuls inzwischen auch bei mir persönlich tief verankert hat. Ich will in Beziehungen, in Projekten, in meinem Schaffen und allem, was meine Hände und Füße berühren, sehen, dass es Leben hervorbringt. Es ist ein zutiefst göttliches Markenzeichen, wenn wir bei Menschen, Dingen oder Tätigkeiten spüren: Da ist Leben drin und es bringt Leben hervor! Und genau dieses Potenzial schlummert auch in diesem Buch – lass dich davon wie Croissantduft am Sonntagmorgen sanft wecken, deine Atmosphäre prägen und dich beleben.

Ich danke dir, Peter, für all die Gedanken, die du hier niedergeschrieben und damit diesen wunderbaren Duft für so viele Leserinnen und Leser zugänglich gemacht hast. Danke, dass du keine Strategie, keine trockenen Prinzipien und keinen Zehn-Schritte-Plan zur eigenen Berufung bringst, sondern eine Kultur des Lebens prägst, die du selbst verinnerlicht hast, und damit hineinführst in eine unglaubliche Freiheit des »Seins«, in eine wohltuende Abhängigkeit von Gott und in ein unangestrengtes Unterwegssein auf dem Weg seiner Berufung.

Danke, dass du meinen Fußschweiß erträgst. Danke für deine Freundschaft.

Andreas »Boppi« Boppart,Missionsleiter von Campus für Christus Schweiz

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Einführung: Mein Platz in der Welt

A life of pages

Ein Leben voll weißer Seiten,

Waiting to be filled

die darauf warten, dass man sie füllt.

A heart that’s hopeful

Ein Herz voller Hoffnung,

A head that’s full of dreams

ein Kopf voller Träume.

But this becoming

Doch dass sie wahr werden,

Is harder than it seems

ist schwerer, als es scheint.

Feels like I’m

Ich fühl mich wie einer,

Looking for a reason

der auf der Suche nach Sinn

Roaming through the night to find

durch die Nacht irrt, um endlich

My place in this world …

meinen Platz in der Welt zu finden …

Hear me asking

Hör mein Gebet.

Where do I belong?

Wohin gehöre ich?

Is there a vision

Wo gibt es eine Vision,

That I can call my own?

die meine eigene sein kann?

Show me I’m

Zeig es mir, ich bin wie einer,

Looking for a reason

der auf der Suche nach Sinn

Roaming through the night to find

durch die Nacht irrt, um endlich

My place in this world …

meinen Platz in der Welt zu finden …

»Wohin gehöre ich? Wo gibt es eine Vision, die meine eigene sein kann? Was ist mein Platz in dieser Welt?« So fragt Michael W. Smith im erfolgreichsten Song seiner Karriere »My Place In This World«. Der US-amerikanische Musiker hat damit einen Nerv unserer Zeit getroffen. Wer bin ich und wozu lebe ich? Was ist mein Platz? Was gibt meinem Leben Sinn? Und gibt es überhaupt für mein Leben so etwas wie eine Bestimmung, eine Berufung, ein höheres Ziel? Fragen, die uns als Menschen immer wieder einholen und umtreiben. Sie stehen für die tiefe Sehnsucht, dass mein Leben einen Sinn haben, einen Unterschied machen und in dieser Welt etwas bewegen möge. Gleichzeitig liegt es im Wesen der Sehnsucht, dass ich sie nicht selbst stillen kann. Die Erfüllung einer Sehnsucht kann mir nur geschenkt werden. Sowenig wie ich die Liebe zwingen kann, so wenig bin ich in der Lage, mich selbst zu berufen, mir Sinn zu geben oder meinen Platz in dieser Welt zu wählen.

Wer zeigt mir den Weg?

Was kann ich dann aber tun? Ich kann mich fragen: Wer ist überhaupt dazu befugt, geeignet und vertrauenswürdig, mir den Sinn meines Lebens zu erschließen? Wem will ich das Mandat und die Berechtigung geben, mich für ein höheres Ziel und meinen Platz in der Welt zu berufen? Denn da gibt es Tausende von Rufen und Rufern, die sich anbieten und aufdrängen. Und ich muss mich entscheiden, wem ich folgen will.

Das Rufen fängt schon an, kaum dass wir auf der Welt sind: Wir werden bei einem Namen gerufen, den wir uns nicht ausgewählt haben und dem später weitere Kose- und Spitznamen folgen. Wir werden gerufen zum Essen, zum Schlafen, zur Ordnung und zum Gehorsam. Wir werden einberufen zur Schule, zur ersten Mannschaft (oder auch nicht), zur Berufslehre und zur Arbeit. Je älter wir werden, desto vielfältiger ruft es: die Not, die Pflicht, die Vernunft, das Smartphone, die Hormone, das Fernweh, die Karriere. Werbung, Mode und Medien rufen und sagen uns, was cool, stylish und hip ist. Ganz zu schweigen von den Eltern, Freunden, Chefs und Kollegen, die rufen und auf uns einreden. Gleichzeitig werden wir selbst zu solchen, die um Zuwendung und Anerkennung rufen und alles daransetzen, uns einen Ruf aufzubauen, der uns beides garantiert.

Schon als junger Mensch habe ich das Konzert – und mitunter die Dissonanzen – dieser Stimmen und Rufe, die da auf mich einprasselten, sehr bewusst wahrgenommen. Und ich war nicht mal schlecht darin, ihren unterschiedlichen Ansprüchen gerecht zu werden. Als Jüngster von vier Geschwistern lernte ich gut beobachten, wie ich mich in der Familie und in der Welt draußen am besten benehme, um mir das Wohlwollen meines »Kontrollpublikums« zu sichern und gleichzeitig meine Freiheit zu bewahren. Aber ich war zeitweise auch irritiert: Auf wen und was sollte ich wirklich hören? Und was wollte ich überhaupt selbst? Für mich war es eine echte Offenbarung, als ich anfing zu hören, dass da noch jemand rief, es aber mit einem anderen Ziel tat: Er rief als Gott und als mein Schöpfer. Er rief, weil er mir zeigen wollte, was denn aus seiner Sicht der Sinn und die Berufung meines Lebens sind und dass ich mit ihm beides Schritt für Schritt und ganz entspannt entdecken darf.

Gott rief, weil er mir zeigen wollte, was denn aus seiner Sicht der Sinn und die Berufung meines Lebens sind und dass ich mit ihm beides Schritt für Schritt und ganz entspannt entdecken darf.

Diese Perspektive war neu für mich und sie packte mich: dass es diesen Gott wirklich geben sollte, der mich geschaffen hat, mich zutiefst kennt und liebt. Dass er gute Gedanken über mein Leben, einen Sinn und eine Berufung für mich hat. Dass er mich dafür spezifisch designt und begabt hat. Dass er mich mit Rat und Tat auf meinem weiteren Lebensweg begleiten möchte, sodass ich mein Potenzial ausschöpfen und meine Bestimmung erfüllen kann.

Diese Aussichten wurden schließlich zur wichtigsten Motivation, warum ich Anfang zwanzig mein Leben Gott anvertraute. Ich wollte nicht fromm werden, aber ich wollte herausfinden, was Gott sich eigentlich gedacht hatte, als er mich schuf, und wozu er mich berief. Nach einem mehrmonatigen Prozess des Suchens, Abwägens und Betens war ich eines Tages innerlich bereit geworden: Mit einem schlichten Gebet legte ich mein Leben in Gottes Hand – um es aus seiner Hand neu zu empfangen und um fortan »aus Berufung« zu leben.

Was das genau bedeutete, wurde natürlich alles andere als sofort klar. Aber es war der Beginn einer faszinierenden Entdeckungsreise, auf der ich mich bis heute befinde. Dabei lerne ich immer besser zu verstehen und staune, was es mit Gottes Berufung auf sich hat: dass es dabei weniger um »die einzig richtige Aufgabe im Leben« oder um das Erfüllen eines von Gott genau festgelegten Lebensplans geht, sondern vielmehr um das Hineinfinden in mein ganzes und echtes »Sein« als von Gott geschaffener und geliebter Mensch. Ich bin in diesem Sinn immer neu fasziniert zu sehen, wie Gott mit mir und mit anderen Menschen auf dem Weg ihrer Berufung unterwegs ist, was ihm dabei wichtig ist und was nicht, wie er Einfluss nimmt und Freiheit lässt, wie er erzieht, leitet, liebt und Gnade schenkt. Wie Menschen so mehr und mehr lernen, ihre von Gott gegebene Berufung zu hören, zu verstehen, darauf zu antworten und konsequent darin zu leben. Daraus ist dieses Buch entstanden, und ich hoffe, dass es meine Leser dazu inspiriert, ein tieferes Verständnis von »Berufung« zu gewinnen, ihre eigene Berufung klarer zu erkennen und täglich entspannt darin zu leben.

Was ist Berufung?

Gleich zu Beginn möchte ich dazu fünf Grundannahmen aufstellen, die den Rahmen abstecken und das Ziel definieren, in welchem wir uns bewegen werden.

Der Urheber der Berufung: der gute, aber auch souveräne Gott. Gottes Wesen ist Liebe – Liebe, die sich in Jesus Christus offenbart hat. Alles, was Gott tut, geschieht aus Liebe und hat letztendlich Liebe im Sinn.1 Gleichzeitig ist Gott souverän in seinem Handeln. Vieles, was er tut und geschehen lässt, werden wir in diesem Leben nie verstehen. Trotzdem ist Gott vertrauenswürdig, und es ist gut und wird uns gut bekommen, wenn wir seine Nähe suchen (vgl. Psalm 73,28).

Das Ziel der Berufung: aus der Beziehung mit Gott die Welt zum Guten beeinflussen und Gott damit ehren. Gott hat jeden Menschen so geschaffen, dass er die Welt im Guten prägen und Gott mit seinem Leben ehren kann. Er hat für jeden Menschen bestimmte gute Werke vorbereitet, die er erkennen und ausführen soll (vgl. Epheser 2,10).

Das Mittel der Berufung: ein bestimmtes Maß an Einflusspotenzial. Jeder Mensch hat von Gott für seine Berufung ein auf ihn zugeschnittenes Paket mit spezifischen Begabungen und Ressourcen bekommen, um damit eine bestimmte Art von Einfluss auszuüben (vgl. 1. Petrus 4,10-11).

Das Wachstum der Berufung: ein lebenslanger Prozess. Gott entwickelt den Einfluss und den Wirkungskreis eines Menschen als einen Prozess, der das ganze Leben lang andauert. Berufung ist ein Weg, ein lebenslanges Lernen, Wachsen und Reifen, manchmal verbunden mit Sterben und Zu-neuem-Leben-Kommen, aber auch ein zunehmendes Versöhntsein und Gefallenfinden an dem, wer ich bin und was Gott mir im Leben zugeteilt hat (vgl. Psalm 16,6).

Das Umsetzen der Berufung: ein permanent auf Gott ausgerichtetes Leben. Im Leben geht es nicht darum, mich selbst zu verwirklichen, sondern mich gleichsam von Gott verwirklichen zu lassen. Das bedeutet, aus der Beziehung zu meinem Schöpfer »ganz ich« zu werden und das zu tun, wozu er mich mit meinem Leben als Ganzes, aber auch im Hier und Jetzt berufen hat. Aus Berufung zu leben, drückt sich deshalb in erster Linie dadurch aus, dass ich Gott in alles, was ich tue und erlebe, einbeziehe und gut darauf antworte, was er sagt (vgl. Johannes 2,5).

Die dreifältige Berufung des Menschen

Gott ist der Rufende und Berufende, und was das im Kern bedeutet, wird für mich auf unübertroffene Weise in Jesaja 43,1 beschrieben:

So spricht der Herr, der dich geschaffen, Jakob, und der dich gebildet hat, Israel: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst! Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein.

Was Gott hier zum Volk Israel sagt, gilt im Grunde jedem Menschen. Jeder Mensch ist eine von Gott auf einzigartige Weise geschaffene, durch manche Prozesse geformte und von ihm gerufene und berufene Persönlichkeit. Und jedem Menschen gilt dieses Berufungswort, das einen dreifachen Zuspruch enthält: Fürchte dich nicht. Ich habe dich erlöst. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Es sind drei Zusagen, in denen sich die Dreieinigkeit Gottes widerspiegelt und die zusammen eine dreifältige Berufung des Menschen ergeben:

Die Berufung, Gott zu erkennen –Fürchte dich nicht. Die erste Berufung ist die Einladung, meinem Schöpfer-Gott nahezukommen, eine angstfreie, vertraute Beziehung zu ihm aufzubauen, zu erfahren, dass ich von ihm als Vater-Gott erkannt und geliebt bin, ganz (zu) ihm gehöre und berufen bin, als sein Kind ein Leben lang ihn immer besser kennen- und lieben zu lernen.

Die Berufung, Mensch zu sein –Ich habe dich erlöst. Die zweite Berufungsdimension besteht darin, ein »erlöster« – ein ganzer und freier – Mensch zu sein. Es bedeutet, mein Leben vom Erlöser Jesus so umwandeln zu lassen, dass ich immer mehr in Liebe, Freiheit, Gerechtigkeit, Frieden und Freude »erlöste« Beziehungen leben kann: zu Gott, zu den Menschen, zur Schöpfung, zu mir selbst.

Die Berufung, meinem wahren Wesen gemäß zu leben – Ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Der dritte Aspekt unserer Berufung zielt darauf, dass ich lerne, entsprechend meinem ganz eigenen »Namen«, bei dem Gott mich gerufen hat, zu leben und bevollmächtigt vom Heiligen Geist in dieser Welt zu wirken. Dieser Name, bei dem Gott mich gerufen hat, steht für mein wahres »Sein«, meine unverwechselbare Persönlichkeit, meine Wesensart, mein einmaliges »Design« mit all seinen Charakterzügen und Begabungen.

Das abschließende Du bist mein ist die Versicherung, dass wir ganz Gott gehören, bei ihm geborgen und aufgehoben, von ihm geliebt und gewollt sind. Es liegt auf der Hand, dass sich in den drei Berufungsdimensionen auch das dreifache Gebot der Liebe widerspiegelt: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen und aus deiner ganzen Seele und aus deinem ganzen Verstand und aus deiner ganzen Kraft! […] Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst! Größer als diese ist kein anderes Gebot (Markus 12,30-31).

Wir sind dazu berufen, mit allem, was wir sind, Gott zu erkennen, zu lieben und seine Liebe zu erfahren. Wir sind berufen, von der Liebe erlöst mit unseren Mitmenschen und mit dem Leben überhaupt in Liebe umzugehen. Und wir sind berufen, uns selbst in unserem Wesen und unserer Persönlichkeit zu erkennen, anzunehmen und uns damit dienend in diese Welt einzubringen.

Oft wird die Frage nach der Berufung nur auf die dritte Dimension reduziert: Was ist meine spezifische Berufung? Was ist meine besondere Lebensbestimmung? Doch ich komme in diesen Fragen nur weiter, wenn ich sie zusammen mit den ersten beiden allgemeinen Berufungsdimensionen betrachte. Diese sind die Voraussetzung und der Boden, auf dem sich die dritte spezifische Berufung erst entwickeln kann.

All dies zeigt, dass es bei »Berufung« um etwas viel Umfassenderes geht, als den richtigen Beruf zu wählen, die »ideale« Arbeitsstelle zu finden, auf den ultimativen göttlichen Ruf zu warten oder verbissen nach der einen, spezifischen Lebensaufgabe zu suchen, die das Etikett »Berufung« verdienen würde. Berufung setzt viel tiefer an: nämlich daran, wer Gott ist und wer ich als Mensch bin.

Berufung setzt viel tiefer an: nämlich daran, wer Gott ist und wer ich als Mensch bin.

Das ermöglicht uns, das Thema »Berufung« und »Meinen Platz in der Welt finden« sehr entspannt anzugehen. Denn ich brauche mich zunächst gar nicht so sehr aufs Tun zu fokussieren, sondern darf aus der Beziehung zum dreieinigen Gott ganz Mensch sein und lernen, mein Leben vom Vater-Gott, vom Sohn Jesus und vom Heiligen Geist her zu begreifen und zu führen. Je mehr ich Gott kenne und durch Christus erlöst einfach Mensch bin, umso mehr kann ich »ganz ich sein« und umso mehr wird sich wie fast von selbst zeigen, was denn nun mein Platz in der Welt und meine spezifische Berufung in diesem Leben ist.

Was das bedeutet – wie wir tiefer in diese drei Berufungsdimensionen von Jesaja 43,1 eintauchen und uns darin wie ein Fisch im Wasser bewegen lernen –, möchte ich auf den folgenden Seiten entfalten. Ein erster Teil dient dazu, die drei Berufungsdimensionen besser zu verstehen und zu erkennen, wie sie sich bereits in unserem Leben entwickelt haben. Der zweite Teil zeigt, wie wir auf Gottes dreifältige Berufung praktisch »antworten« und dabei alle drei Dimensionen – Gott kennen, Mensch sein und meinem Wesen gemäß dienen – gleichermaßen im Blick behalten und sie kultivieren können. Dabei werden wir sehen, wie die drei Dimensionen zusammenspielen, einander gegenseitig fördern und befruchten. Schließlich werden wir in einem dritten Teil betrachten, wie Gott in jeder Lebensphase bezüglich unserer Berufung wieder andere Akzente setzt, damit wir im Lauf unseres Lebens in unserer dreifältigen Berufung immer mehr zur Reife kommen.

Doch bevor wir loslegen, noch zwei Anmerkungen: Manchmal höre ich in christlichen Kreisen die Frage: »Dürfen wir überhaupt nach unserer Berufung suchen? Für so viele Menschen auf der Welt, die ums Überleben kämpfen, stellt sich diese Frage doch gar nicht …« Darauf kann ich nur entgegnen: »Warum leisten sich so viele Menschen den Luxus, nicht nach Gottes Berufung zu fragen, und jagen stattdessen irgendwelchen zweitrangigen Dingen nach? Es wäre dasselbe, wenn wir auf eine Ausbildung verzichten würden, nur weil es noch so viele Menschen gibt, die nicht mal eine Schule besuchen können. Zudem: Warum leben selbst viele Christen ihren Glauben nur aus zweiter Hand, statt selber Gott ernsthaft zu suchen und nach seiner Berufung für ihr Leben zu fragen? Gerade wenn wir Berufung im oben beschriebenen ganzheitlichen Sinn verstehen, ist doch jeder Mensch dazu bestimmt, in seiner Berufung zu leben.«

Andere Stimmen befürchten, dass wir mit der Frage nach der Berufung einen ohnehin schon grassierenden Individualismus zusätzlich fördern. Hierzu ist zu sagen, dass es einen gewaltigen Unterschied gibt zwischen »Individualismus« und »Personalismus«. Herbert Alphonso schreibt dazu:

»Eine Person ist nicht ein in sich geschlossenes Wesen (Letzteres wäre ein Individuum); sie ist ein Wesen, das wächst, sich entwickelt und eben durch die zwischenmenschlichen Beziehungen, auf die es sich einlässt, heranreift. […] Eine Person wird Person nur in der Gemeinschaft, und eine Gemeinschaft ist nur dann echte Gemeinschaft, wenn sie aus lebendigen, verantwortungsbewussten Personen zusammengesetzt ist, die sich als Mitglieder die Aufgaben und Ziele der Gemeinschaft zu ihren eigenen machen. […] Die persönliche Berufung ist also die unverwechselbare Weise, wie eine Person sich auf eine Gemeinschaft hin öffnet und aufgeschlossen wird für die soziale Wirklichkeit und für das gesellschaftliche Engagement.«2

Wenn wir in Gottes Berufung eintauchen, werden wir also gerade nicht zu Individualisten; wir werden aber auch nicht zu gesichtslosen Mitläufern, sondern zu eigenständigen und beziehungsfähigen Persönlichkeiten, die zu Gottes Ehre und zum Wohl der Gemeinschaft ihr einzigartiges Wesen in diese Welt einbringen.

Darum hoffe und bete ich, dieses Buch möge mit dazu beitragen, dass es mehr Menschen gibt, die den Mut haben, konsequent aus ihrer dreifachen Berufung zu leben und sich mit nichts weniger zufriedenzugeben. Nichts vermag einen Menschen so zu beflügeln und wirkt so befreiend-ansteckend, als wenn er sich in dem bewegt, wofür Gott ihn geschaffen hat. Ein Mensch, der in seiner von Gott gegebenen Berufung lebt, ist innerlich frei, lebendig und für andere eine stete Quelle der »Belebung«. Und er trägt noch dazu bei, dass andere Menschen und auch die Gemeinschaften, zu denen er gehört, ermutigt werden, mehr in ihre Berufung im Reich Gottes hineinzufinden und darin zu leben.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

1. Die Berufung, Gott zu erkennen

Ergreife das ewige Leben, zu dem du berufen worden bist!1. TIMOTHEUS 6,12

Dies aber ist das ewige Leben, dass sie dich, den allein wahren Gott, und den du gesandt hast, Jesus Christus, erkennen.JOHANNES 17,3

Mein Schwager Stefano wuchs katholisch auf, doch im jungen Erwachsenenalter schien es ihm einleuchtender zu sein, als Agnostiker durchs Leben zu gehen. Das passte auch ganz in den damaligen Zeitgeist der 1970er-Jahre. Die französischen Existenzialisten schienen die besseren Antworten zu haben als ein scheinbar überholter christlicher Glaube. Gleichzeitig fühlte sich Stefano irgendwie depressiv und unglücklich. Eines Tages, als er so im Weltschmerz und in Gedanken versunken einen Spaziergang machte, fiel sein Blick auf ein Feld mit leuchtenden Sonnenblumen. Es war ihm, als würden die Sonnenblumen zum Himmel lachen – und ihn, den melancholischen jungen Mann, auslachen, der sich so intelligent vorkam. »Seltsam«, dachte Stefano, »diese Sonnenblumen, die auch sterblich sind und verwelken, grübeln nicht über das Leben nach, sie sind einfach und strahlen die Welt an. Ob da nicht doch ein Schöpfer ist, der alles so schön gemacht hat? Und ob ich nicht besser ihn suche, als irgendwelchen Philosophien zu folgen, die mich nur depressiv machen?« Jener Nachmittag wurde zu einem Wendepunkt. Stefano begann sich neu auf Gott einzulassen und ist zu einem lebensfroh glaubenden Christenmenschen und herrlich kreativen Architekten geworden.

Mir gefällt diese Geschichte, weil sie zeigt, wie originell und zuweilen humorvoll Gott Menschen auf sich aufmerksam macht und in seine Nähe lockt. Die Bibel zeigt, wie Gott die Menschen auf unzählige Weisen ruft, einlädt, herausfordert, ja mitunter geradezu nötigt, sich nicht nur gescheite Gedanken über Gottes Existenz zu machen, sondern mit ihm in Berührung zu kommen, sich auf ihn einzulassen, ihn zu erfahren – und sich selbst von ihm »erkennen« zu lassen.

Jesus – Offenbarung der Liebe Gottes

Doch warum sollten Menschen eigentlich Gott erkennen und an ihn glauben? Was haben sie davon? Und wenn ich bereits an ihn glaube: Warum sollte ich nicht aufhören damit, ihn immer tiefer zu erkennen?

Als ich vor ein paar Jahren diese Fragen in einer längeren Auszeit wieder einmal ausgiebig bewegte, hat es mich neu gepackt, wie unglaublich schlicht und tief die Antwort war: »Weil Gott Liebe ist!« Darauf läuft es hinaus. Darauf konzentriert sich alles. Es ist ganz einfach: »Gott ist Liebe.« Es gibt keinen anderen Gott als nur den christlichen, der sich so beschreibt. Keine andere Religion hat ein Leitbild, das relevanter und prägnanter wäre. Auch wenn wir mehr als ein Leben lang brauchen, um diese Aussage auszuloten: »Gott ist Liebe.«

Gott ist keine philosophische Größe, er ist nicht eine unpersönliche Kraft, er ist auch kein unberechenbarer, willkürlicher Machthaber. Gott ist Liebe.

Vielleicht müssen wir einmal ein paar Schritte zurücktreten und uns tüchtig die Augen reiben, um in der Tiefe das Wunder zu realisieren, dass Gott »Liebe« ist! Gott ist keine philosophische Größe, er ist nicht eine unpersönliche Kraft, er ist auch kein unberechenbarer, willkürlicher Machthaber. Gott ist Liebe. Gibt es etwas, das größer und schöner wäre? Wer sich mit Gott beschäftigt, beschäftigt sich mit der Liebe! Und das bedeutet unendlich viel mehr, als über einen Satz mit drei Wörtern zu meditieren. Die Berufung, Gott zu erkennen, ist die Berufung, Gott immer tiefer als »den Gott, der Liebe ist«, persönlich zu erkennen und zu erfahren. Und das beginnt damit, dass wir mit der Person in Berührung kommen, die diese Liebe auf einzigartige Weise verkörpert hat. Dietrich Bonhoeffer schrieb: »Liebe ist Offenbarung Gottes, Offenbarung Gottes aber ist Jesus Christus.«3

Jesus ist die menschgewordene Liebe Gottes. Wie Jesus mit Menschen umging und wie Menschen in der Begegnung mit ihm verwandelt wurden, ist einmalig. Männer und Frauen, Kinder und Alte, Fromme und Unfromme, Arme und Reiche, Kranke und Gesunde, Sünder, Vornehme, Bettler, Dirnen, Soldaten, Ausländer, Ehrgeizige, Manipulierende und Verzweifelte: Sie fanden Annahme und Vergebung, wurden geheilt und befreit, in ihrer Würde wiederhergestellt und im Herzen gestärkt, manchmal auch heilsam provoziert und zuweilen hart konfrontiert, aber immer geliebt und zur Liebe ermutigt.

Was nun das Wichtigste ist: Alle diese Geschichten in den Evangelien sind nicht aufgeschrieben, damit ich sie bewundernd zur Kenntnis nehme, sondern damit ich mich existenziell davon betreffen lasse: Auch ich bin gemeint. Auch ich bin wie die Menschen damals berufen, Gott durch Jesus Christus persönlich zu begegnen, ja, eine reale Beziehung mit Christus aufzubauen, damit ich durch ihn erkenne und erfahre, dass Gott Liebe ist. Darum schreibt Paulus: Gott ist treu. Er hat euch berufen zur Gemeinschaft mit seinem Sohn Jesus Christus, unserem Herrn (1. Korinther 1,9; NLB).

Gott hat uns in die Gemeinschaft mit Christus berufen, weil wir auf uns selbst gestellt Gott gar nicht finden und erkennen könnten. In diesem Sinn haben die Agnostiker recht: Aus sich selbst ist der Mensch unfähig, Gott zu erkennen. Doch wegen Jesus Christus ist alles anders. Wenn wir uns mit Jesus Christus beschäftigen und wenn wir uns existenziell in die Gemeinschaft mit ihm rufen lassen, der von den Toten auferstanden und durch seinen Heiligen Geist gegenwärtig ist, können wir durch ihn lernen, wie Gott ist, und seine Liebe im Herzen erfahren. Der Evangelist Johannes drückt es so aus: All denen jedoch, die ihn [Christus] aufnahmen und an seinen Namen glaubten, gab er das Recht, Gottes Kinder zu werden (Johannes 1,12; NLB).

Die Gemeinschaft mit Christus hat das Ziel, dass wir ein Leben lang als Kinder Gottes immer neue Facetten unseres Schöpfer- und Vater-Gottes entdecken, seine Güte und Liebe erfahren, seine Größe bestaunen und die Weite seiner Gedanken erforschen. Das lässt uns auch das erste Gebot ganz neu verstehen. Gott zu lieben bedeutet zuerst: »Lass dich in die Gemeinschaft mit Christus berufen, damit du Gottes Liebe mit deinem ganzen Herzen, deiner ganzen Seele (Persönlichkeit), mit deinem ganzen Denken und deiner ganzen Kraft erkennen und erfahren kannst. Dann wirst du davon so erfüllt werden, dass du nun selbst mit ganzem Herzen, ganzer Seele, ganzem Verstand und ganzer Kraft lieben kannst – Gott, deinen Nächsten und dich selbst« (vgl. 1. Johannes 4,7-8).

Eintauchen in eine tiefere Gotteserkenntnis

Manche, die sich Christen und Gotteskinder nennen, mögen jetzt sagen: »Ja, das kenne ich; ich glaube an Jesus und an die Liebe Gottes – was soll’s?« Da frage ich zurück: »Wieweit kennst du Gott und den, den er gesandt hat, wirklich? Wieweit ist seine Liebe in dir gewachsen und bist du von ihr umgewandelt worden? Wie viele Richtigkeiten weißt du über Gott, aber hast ihn selbst kaum erfahren?«

Es ist nicht falsch, für Gott zu arbeiten, doch unsere erste Berufung besteht darin, den wahren Gott, der Liebe ist, ein Leben lang immer tiefer zu erkennen und uns von ihm erkennen zu lassen.

Manchmal wundere ich mich, wie selbst gestandene Christen sich damit schwertun, Gott tiefer erkennen zu wollen. Sie arbeiten lieber für Gott oder vertiefen sich in Themen aller Art, als dass sie in der Stille Gott um seiner selbst willen suchen. Natürlich ist es nicht falsch, für Gott zu arbeiten, doch unsere erste Berufung besteht darin, den wahren Gott, der Liebe ist, ein Leben lang immer tiefer zu erkennen und uns von ihm erkennen zu lassen (vgl. 1. Korinther 8,3). Der Schlüssel dafür ist das »Sein bei ihm« und das Gebet. Und hier ist es doch höchst bemerkenswert, dass das Erste, was Jesus über das Gebet lehrt, die Bitte um eine tiefere Gotteserkenntnis ist! Die erste Bitte im Vaterunser heißt: Unser Vater im Himmel! Dein Name werde geheiligt (Matthäus 6,9; LUT)! Frei übersetzt: »Unser himmlischer Vater-Gott, offenbare uns immer mehr, wie du wirklich bist!« Es ist das Gebet, dass Gott uns von all den falschen Vorstellungen, die wir von ihm haben, heilen möge. Die Bitte, sein Name werde in uns geheiligt, bedeutet, dass wir immer mehr so von Gott denken, wie es seinem wahren Wesen entspricht (und uns dann auch entsprechend verhalten). Und das möge wirklich geschehen, denn von Natur aus ist unser Bild von Gott angeschlagen, verengt und verzerrt. Wir tragen alle mancherlei Bilder und Vorstellungen von Gott mit uns herum, die nicht dem Gott der Liebe entsprechen. Und wir merken es oft nicht einmal, selbst wenn wir schon Jahre im Glauben mit ihm unterwegs sind.

Ich erinnere mich da an ein persönliches Erlebnis. Es war um das Jahr 2000, als das Gebet des Jabez aus 1. Chronik 4,10 in aller Munde war. Der Name Jabez bedeutet »Schmerz«, denn seine Mutter hatte ihn unter Schmerzen geboren, und so gab sie ihm diesen Namen. Doch Jabez wollte das nicht auf sich sitzen lassen und rief den Gott Israels an:

Dass du mich doch segnen und mein Gebiet erweitern mögest und deine Hand mit mir sei und du das Übel von mir fernhieltest, dass kein Schmerz mich treffe! Und Gott ließ kommen, was er erbeten hatte.

Nun gab es ein weitverbreitetes Büchlein4, das dazu ermutigte, sich dieses Gebet zu eigen zu machen. Allerdings regte sich in mir Widerspruch: »Immer diese Modewellen! Warum müssen jetzt alle dieses Jabez-Gebet beten? Ich sicher nicht!« Doch dann war es, als hörte ich Gott eines Tages in meine Gedanken sprechen: »Das Gebet ist doch nicht falsch. Eigentlich könntest du doch nur gewinnen. Warum willst du es nicht mal probieren?« Also beschloss ich, einen Versuch zu machen, aber ich stockte schon bei der ersten Zeile. Ich brachte es schlicht nicht fertig zu beten: »Oh, Herr, dass du mich doch segnen mögest!« Warum nur fiel mir das so schwer? Es war irgendwie nicht normal. Da erkannte ich plötzlich meine innere Haltung: »Wenn Gott mich segnet, dachte ich, wird er umso mehr wieder von mir erwarten, und da weiß ich nicht, ob ich das will und leisten kann. Besser, wenn Gott mich nicht zu sehr segnet, dann wird er anschließend auch nicht zu viel von mir fordern.«

Auf einmal ging mir auf, welch selbstgenügsame Gesinnung und vor allem welch enge, angstbesetzte Vorstellung von Gott ich da noch hegte. Jetzt, da mir alles so deutlich wurde, fiel es mir leicht, mich von diesem lächerlichen Gottesbild zu verabschieden, Gott um Vergebung zu bitten und das Gebet des Jabez von Herzen zu sprechen. Das tue ich übrigens bis heute immer wieder mal. Vor allem bete ich, dass Gott mein Fassungsvermögen und meinen Horizont erweitern möge. Ich brauche das!

Für mich gehört es zu den kostbarsten Erfahrungen in meinem Glaubensleben, wenn mir eine neue Seite von Gottes Wesen aufgegangen oder auch endlich vom Kopf ins Herz gerutscht ist. In der Vergangenheit hat Gott fast immer bei meinen Ängsten, Engpässen und Engherzigkeiten angesetzt, um mir seine Liebe und Weite in einer tieferen Weise zu offenbaren und sein »Fürchte dich nicht!« hören zu lassen. Fürchte dich nicht! − Fürchtet euch nicht! Dazu werden wir vom ersten bis zum letzten Buch der Bibel ermutigt. Bemerkenswert ist, in welchem Zusammenhang dieser Zuspruch zum ersten Mal vorkommt, nämlich als Gott mit Abraham einen Bund auf der Grundlage des Glaubens schließt und mit den Worten beginnt: Fürchte dich nicht, Abram; ich bin dir ein Schild, ich werde deinen Lohn sehr groß machen (1. Mose 15,1). Einige Verse weiter heißt es, dass Abraham Gott »glaubte« (vertraute) und so zum Urvater aller »Glaubenden« wurde.5 »Fürchte dich nicht!« – »Gott ist Liebe.« – »Glaube und vertraue!« Diese Sätze stehen in engem Zusammenhang zueinander. Es ist die Einladung, unsere Furcht und unsere Ängste als Chance zu sehen, im Vertrauen zu Gott zu wachsen und zu erfahren, dass seine vollkommene Liebe alle Furcht austreibt (vgl. 1. Johannes 4,18).

Wir sollten uns nie damit zufriedengeben, Gott nur oberflächlich zu kennen. Darum fordern uns neben der ersten Vaterunser-Bitte auch viele andere Gebete im Neuen Testament auf, nach einer echten, eigenständigen und vertieften Gotteserkenntnis zu trachten. Paulus betet zum Beispiel für die Christen in Ephesus bzw. in Kolossä:

Ich bitte den Gott unseres Herrn Jesus Christus, den Vater der Herrlichkeit, euch den Geist der Weisheit und Einsicht zu schenken, damit eure Erkenntnis von Gott immer größer wird. Darum lassen auch wir […] nicht ab, für euch zu beten und zu bitten, dass ihr erfüllt werdet mit der Erkenntnis seines Willens