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Marie Force

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Beschreibung

Hier fliegen die Funken: Der 13. Band der romantischen Spiegel-Bestseller-Reihe »Lost in Love – die Green Mountain-Serie« von Marie Force Drei Jahre nach dem Aus seiner Ehe hat Noah Coleman nur ein Ziel: Er will keine Beziehung mehr zu einer Frau, die ihn verletzen könnte. Deshalb geht er sicherheitshalber allen aus dem Weg. Aber an einer kommt er nicht vorbei: Brianna Esposito ist die Architektin, die den Wiederaufbau des Admiral Butler Inns leitet. Und Noahs Firma ist für die Bauarbeiten zuständig. Erst fliegen zwischen den beiden gewaltig die Fetzen, dann die Funken. Aber kann Noah Brianna jemals wirklich in sein Herz lassen? Ein verheißungsvolles Abenteuer für dein Herz: In dieser Kleinstadt in Vermont findet jeder seine große Liebe. Die ›Lost in Love – Die Green-Mountain-Serie‹: Band 1: Alles, was du suchst  Band 2: Kein Tag ohne dich  Band 3: Mein Herz gehört dir  Band 4: Schenk mir deine Träume  Band 5: Sehnsucht nach dir  Band 6: Öffne mir dein Herz Band 7: Jede Minute mit dir Band 8: Ein Traum für uns Band 9: Meine Hand in deiner Band 10: Mein Glück mit dir Band 11: Nur Augen für dich Band 12: Jeder Schritt zu dir Band 13: Ganz nah bei dir

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Marie Force

Ganz nah bei dir

Lost in LoveDie Green-Mountain-Serie 13

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Lena Kraus

FISCHER E-Books

Inhalt

123456789101112131415161718192021222324252627EpilogDanksagungLeseprobe zu Lilian Kaliner, »Sehnsucht in deinem Herzen«Kapitel 1

1

»Große Liebe verursacht auch große Schmerzen.«

Sarah McLachlan

Noah Coleman wurde um fünf Uhr morgens vom Klingeln seines Weckers aus dem Schlaf gerissen – so wie an jedem Werktag, ohne Ausnahme. Mit geschlossenen Augen streckte er die Hand aus und brachte den Wecker zum Schweigen, holte tief Luft und atmete langsam wieder aus. Er war gerade wieder eingenickt, als fünf Minuten später der zweite Wecker klingelte. Dieser erfüllte meistens seinen Zweck, weil Noah aufstehen und ans andere Ende des Zimmers gehen musste, um ihn auszuschalten.

Die morgendliche Kälte ließ ihn zittern, also lief er als Erstes hinunter zum Ofen und legte Holz nach. Bald darauf breitete sich eine wohlige Wärme im Haus aus. Noah hatte bereits sein Bett gemacht und war gerade dabei, unter die Dusche zu steigen – der zweite Teil seines Aufwachrituals. Er stellte das Wasser erst warm, als er sicher war, dass er wirklich wach war. Wenn er auf die kalte Dusche am Anfang verzichtete, würde er vermutlich gleich in der Dusche wieder einschlafen.

Noah war bekannt dafür, dass er jederzeit und überall unter allen möglichen Bedingungen einschlafen konnte. Seine größte Herausforderung als selbständiger Bauunternehmer war es, morgens aus dem Bett zu kommen. Daher auch die beiden Wecker und die Rituale. Und in letzter Zeit kam noch etwas erschwerend hinzu. Tag für Tag musste er sich auf der Baustelle mit der unglaublich nervigen Architektin aus Boston herumärgern, die sein aktuelles Projekt leitete.

Aber jetzt hatte er noch eine ganze Stunde vor sich, in der sie ihn nicht belästigen konnte – ja, er nicht einmal an sie denken musste. Und er hatte vor, diese Stunde in vollen Zügen zu genießen. Sobald er auf der Baustelle ankam, würde sie nämlich unweigerlich dafür sorgen, dass sein Tag zur reinsten Tortur wurde.

Jeden Morgen hielt er sich an den gleichen Ablauf, mit einigen wenigen Ausnahmen. Um diese Jahreszeit verzichtete er meistens auf die Rasur, weil der Bart im kalten Winter von Vermont sein Gesicht wärmte. Die Wahl seiner Kleidung folgte dem Zwiebelprinzip – Lagen über Lagen an Thermounterwäsche, dann ein rot kariertes Flanellhemd, das er in seine gefütterten Jeans steckte. All seine Kleidungsstücke hatte er im Green Mountain Country Store, dem Geschäft seiner Familie, gekauft.

Er schnappte sich das Mittagessen, das er am Vorabend zubereitet hatte, und die drei Flaschen mit roter Gatorade, damit er über den Tag genug trank, zog seine Carhartt-Arbeitsjacke an und verließ exakt zwanzig Minuten nach dem zweiten Weckerklingeln das Haus – nur um im nächsten Augenblick überrascht innezuhalten, als er seine Mutter neben dem Truck draußen stehen sah. Sie trug Stiefel und einen dicken Parka über ihrem Flanellschlafanzug. In der Hand hielt sie einen Thermobecher, den sie ihm nun reichte.

»Was ist das denn?«

»Kaffee.«

»Danke.«

»Gerne.«

Er trank einen Schluck. Seine Mutter hatte ihn genau so zubereitet, wie er ihn am liebsten mochte: mit Sahne und ein wenig Zucker. »Was ist denn los?«

»Gar nichts. Ich habe dich nur schon seit fast zwei Wochen nicht mehr gesehen, also dachte ich, ich fange dich auf dem Weg zur Arbeit ab.«

»Tut mir leid, dass ich so lange nicht da war. Es gibt viel zu tun mit dem Hotel.« Nachdem das Hotel im Vorjahr abgebrannt war, hatte Mrs. Hendricks seine Firma angestellt, um den Admiral Butler Inn wieder aufzubauen.

»Ich weiß. Es sieht sehr gut aus. Alle sagen das.«

»Das freut mich.«

»Wir haben dich an Weihnachten vermisst.«

»Tut mir leid, es gab etwas, um das ich mich kümmern musste.«

»Was denn?«

»Nichts Wichtiges.« Er hatte sich in Stowe in ein Hotel zurückgezogen, um Ski zu fahren. Weihnachten war mittlerweile nur ein weiterer Tag, den es zu überstehen galt, und er fand es leichter, das alleine zu tun als mit seiner Familie. Er war sich bewusst, wie sehr das seine Mutter verletzte, doch ihm war einfach nicht nach Feiern zumute. Um das Thema zu wechseln, fragte er: »Also, wem gehört denn der Truck in deiner Einfahrt?«

Sie warf einen Blick nach hinten in Richtung ihres Hauses, dass nur ein paar Nummern weiter lag. »Ray.«

»Was macht er denn um fünf Uhr morgens in deiner Einfahrt?«

»Das würdest du wohl gerne wissen.«

»Genau. Deswegen frage ich ja. Er steht in letzter Zeit oft da.«

»Wir, na ja, wir verbringen Zeit miteinander.«

»Nachts?«

Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Nein, er lässt seinen Truck bei mir stehen und fährt mit dem Taxi nach Hause.«

Ihre Reaktion brachte ihn zum Lachen. Er wusste, wem der Truck gehörte und wie viele Nächte er in der Einfahrt seiner Mutter gestanden hatte, nicht dass er mitzählen würde oder so. Ray war ein guter Kerl, und wenn seine Mutter mit ihm glücklich war, war Noah der Letzte, der ihr das nicht gönnen würde. Als Noah vierzehn gewesen war, hatte sein Vater sie mit acht Kindern sitzengelassen. Wenn irgendjemand eine zweite Chance in der Liebe verdient hatte, dann war das seine Mutter. Außer vielleicht Noah selbst. Aber er war gut darin, anderen eine zweite Chance zu gönnen, auch wenn er für sich selbst entschieden hatte, sich von so engen Beziehungen, wie seine Mutter sie gerade zu Ray aufbaute, fernzuhalten.

»Ich würde dich ja darum bitten, deinen Geschwistern nichts zu sagen, aber da du ohnehin nie mit ihnen redest, habe ich in der Hinsicht ja nichts zu befürchten.«

»Ich rede schon mit ihnen.«

»Und wann bitte tust du das?«

»Gray ist letztens auf der Baustelle vorbeigekommen. Ich habe ihm alles gezeigt, dabei haben wir geredet. Izzy war auch da und hat mit ihrer Kamera die Fortschritte dokumentiert, für ein Buch, dass Mrs. Hendricks über die Geschichte des Hotels herausbringen will. Ich habe mit ihr gesprochen, während ich ihr alles gezeigt habe. Vanessa hat mich letzte Woche angerufen, als ihre Toilettenspülung nicht mehr funktioniert hat, und ich habe ihr am Telefon erklärt, wie sie den Schwimmhahn reparieren kann. Ich rede mit ihnen.«

»Das freut mich. Sie bewundern dich.«

»Tun sie nicht. Sie bewundern Gray.« Sein Bruder Grayson war der Älteste der Colemans.

»Sie bewundern euch beide, und Izzy. Sie wissen, wie ihr drei euch um unsere Familie gekümmert habt, als es nötig war.«

Sie meinte die Zeit, nachdem sein Vater gegangen war, aber das musste sie nicht näher erklären. Er verstand es auch so.

»Wir haben getan, was alle getan hätten.«

»Ihr habt viel mehr getan, als es je hätte nötig sein sollen, und ich werde euch das nie vergessen.«

»Danke. Aber gibt es einen Grund dafür, dass wir uns hier um fünf Uhr morgens über die Vergangenheit unterhalten? Es ist kalt und dunkel.«

»Ich wollte dich einfach sehen.«

»Jetzt hast du mich ja gesehen.« Er gab ihr spontan einen Kuss auf die Stirn. Als er sah, dass sie das überraschte, hatte er ein schlechtes Gewissen. Er würde sich in Zukunft mehr Mühe geben. »Danke für den Kaffee.«

»Du erinnerst mich an mich selbst, weißt du?«

Das überraschte ihn.

»Wie das denn?«

»Wenn es nicht gut läuft, ziehst du dich in dein Schneckenhaus zurück.«

Noah hatte keine Ahnung, was er dazu sagen sollte.

»Ich weiß ja nicht, was mit Melinda passiert ist, aber was es auch war, du bist seitdem einfach nicht mehr derselbe, und ich vermisse dich. Ich vermisse den Noah, der du warst, als du mit ihr zusammen warst.«

Er hätte sie am liebsten angeschrien, ihr gesagt, dass sie diesen Namen ihm gegenüber nie wieder erwähnen sollte, aber weil sie seine Mom war, die er liebte, ließ er es bleiben. Der Noah, der er mit ihr gewesen war, war ein naiver Dummkopf gewesen. Er würde nie wieder so sein.

»So sehr ich mich auch freue, dich zu sehen, Mom, ich muss jetzt zur Arbeit.«

»Hab einen schönen Tag. Und lass dich mal blicken.«

»Wünsch ich dir auch, Mom.«

Noah stieg in den Truck und machte den Motor an, damit er warm wurde. Er wartete, bis seine Mom sicher im Haus war, dann setzte er zurück und fuhr zum Diner. Megan bereitete ihm dort jeden Morgen sein Frühstück zum Mitnehmen vor.

Die Routine, die er sich erarbeitet hatte, spendete ihm Trost, seit seine Ehe auf so tragische Weise in die Brüche gegangen war. Sie erlaubte es ihm, sich in der Arbeit zu vergraben, und die Wut und den Schmerz, die immer noch seine täglichen Begleiter waren, so weit zurückzudrängen, dass sie ihn nicht in jeder Minute des Tages beeinträchtigten. So wie am Anfang. An den Wochenenden fuhr er in die Berge, entweder zum Wandern oder zum Skifahren, so dass er abends so erschöpft war, dass er wie ein Toter ins Bett fiel und schlief. Er tat, was auch immer nötig war, um den Tag ohne die Geister der Vergangenheit zu überstehen.

Und doch genügte es, dass seine Mutter ihren Namen ein einziges Mal erwähnte, um all die harte Arbeit der vergangenen Monate zunichtezumachen.

Verdammte Melinda.

Sie hatte ihn kaputtgemacht, und zwar auf jede erdenkliche Weise. Als wäre ein gebrochenes Herz nicht genug, konnte er von nun an nie wieder jemandem vertrauen.

Na ja, das stimmte nicht ganz. Noah vertraute seinen Geschwistern und den zehn Abbotts, seinen Cousins und Cousinen. Sie alle würden für ihn durchs Feuer gehen, genauso wie er auch für sie. Er sah sie zwar nicht jeden Tag, aber er wusste, dass sie immer für ihn da waren, genau wie seine Mutter, sein Großvater, seine Tante Molly und sein Onkel Linc.

Aber sonst jemand? Keine Chance. Er konnte sich keine Situation vorstellen, in der er jemandem vertrauen könnte, der nicht mit ihm verwandt war. Und das nur wegen Melinda.

Er hielt das Lenkrad ein bisschen fester als sonst. Sein ganzer Körper vibrierte unter der Anspannung, die ihn jedes Mal erfasste, wenn er zuließ, dass seine Gedanken sich in ihre Richtung bewegten. Deshalb ließ er normalerweise auch nie zu, dass das passierte. Warum hatte seine Mom sie nur erwähnen müssen und damit diesen ganzen Mist wieder aufgewirbelt, der in einer der hintersten Ecken seines Kopfes so viel besser aufgehoben war?

So wenig Beachtung, wie er ihr in letzter Zeit schenkte, hätte sie genauso gut nie existiert haben können. Bis jemand ihren Namen sagte und alles zurückkam und es sich plötzlich so anfühlte, als sei es erst gestern passiert und nicht vor drei Jahren.

Noah schlug fest mit der Hand aufs Lenkrad, womit er nichts weiter erreichte, als dass ihm die Hand weh tat. Gegen den Schmerz in seiner Brust, der ihn jedes Mal traf, wenn die Gedanken an sie unter dem Felsblock, unter dem er sie sonst versteckte, hervorgekrochen kamen, half es kein bisschen. Er würde alles geben, was er hatte, um nie wieder an sie denken zu müssen.

Aber leider ließ es das Gehirn nicht zu, Erinnerungen, die man lieber für immer vergessen würde, einfach zu löschen. Nein, es gab die guten, die schlechten und die furchtbaren Erinnerungen. Was hatten die Menschen doch für ein Glück, diese glibberige Masse in ihrem Kopf herumzutragen, die einem plötzlich, wenn gerade alles gut lief, ein ätzendes Erlebnis aus der Vergangenheit hervorkramen konnte?

So ein verdammtes Glück.

Irgendwann würde er etwas gegen die Tatsache unternehmen müssen, dass er per Gesetz nach wie vor mit ihr verheiratet war. Er hatte sich gegen alles gewehrt, wodurch er wieder Kontakt zu ihr hätte haben müssen, sogar vor Gericht. Irgendwann würde er sich darum kümmern, aber nicht heute.

Noah hielt vor dem Diner und ließ den Motor laufen, während er hineinging, um den Kaffee und das Sandwich abzuholen, das Megan an fünf Tagen der Woche für ihn vorbereitete. Die Frau seines Cousins Hunter war ein liebevoller, herzlicher Mensch. Sie begrüßte ihn jeden Tag mit einem fröhlichen Lächeln und ein paar lieben Worten. Megan war ein Lichtblick in der derzeitigen Dunkelheit seines Lebens, und er freute sich jeden Tag darauf, sie zu sehen. Sie stand ebenfalls auf der kurzen Liste an Menschen, denen er noch vertrauen konnte, auch wenn er nie mehr mit ihr teilte als sein Guten Morgen und Wie geht es dir heute?

Er betrat den Diner und stellte überrascht fest, dass sein Onkel Linc und sein Großvater Elmer an der Theke saßen.

»Ihr Jungs seid ja früh dran heute«, sagte Noah, als er die Sandwichtüte und den Kaffeebecher in Empfang nahm. »Danke.«

Megan hatte seine Kreditkarte gespeichert, und er bestand darauf, dass sie jedes Mal zwanzig Prozent Trinkgeld mit abzog, wenn sie den Preis seines Frühstücks abbuchte.

Elmer Stillman wirbelte auf seinem Barhocker herum, um Noah mit einem breiten Lächeln zu begrüßen. Elmer war der beste Mann, den Noah kannte, dicht gefolgt von Linc. Die beiden waren auf jede nur erdenkliche Weise für Noah und seine Geschwister da gewesen, als ihr Vater das Weite gesucht hatte, und er liebte sie beide.

»Wie geht’s denn so, Junge?«, fragte Elmer.

»Nicht übel, danke.«

»Wir haben gerade über Lincs Vater gesprochen. Er ist letzte Nacht gestorben.« Linc hatte seinen Vater gerade zum ersten Mal seit vierzig Jahren wiedergesehen, nachdem ein furchtbarer Streit einen Keil zwischen die beiden getrieben hatte.

»Das tut mir leid«, sagte Noah zu Linc. »Geht es dir gut?«

»Ja, aber danke, dass du fragst. Wir wussten ja, dass das passieren würde.«

»Trotzdem …«, sagte Noah.

»Ja.« Linc verzog das Gesicht. »Trotzdem.«

»Der Segen daran ist, dass Linc wieder Kontakt zu seinen drei Geschwistern hat«, sagte Elmer.

»Das ist wahr.« Noah fühlte mit seinem Onkel. Familienangelegenheiten konnten so schmerzhaft sein, vor allem, wenn man keine Kontrolle darüber hatte. Wie dann, wenn ein Vater seinen Kindern den Rücken zukehrte. Bis Linc vor kurzem von seinem abwesenden Vater gehört hatte, war Noah nicht bewusst gewesen, dass die Coleman-Geschwister das mit ihrem Onkel gemeinsam hatten. Noahs Vater, Mike Coleman war ebenfalls vor etwas mehr als einem Jahr wieder aufgetaucht, nach über zwanzig Jahren Funkstille. Er hatte eine Knochenmarkspende gebraucht, von den Kindern, die er Jahre zuvor im Stich gelassen hatte.

Gray hatte ihm schließlich das Knochenmark gespendet, wenn auch widerwillig. Keines der Geschwister war besonders scharf darauf, dass Mike wieder Teil ihres Lebens war. Sein Vater war auch so ein Thema, an das Noah lieber nicht denken wollte. »Ich muss zur Arbeit. Mein Beileid, Linc.«

»Danke, mein Sohn.«

Noah mochte es, wenn sein Onkel ihn so nannte.

»Ich würde mir die Tage gerne mal die Fortschritte auf der Baustelle ansehen«, sagte Elmer.

»Jederzeit, Gramps. Komm einfach vorbei.«

»Mache ich.«

»Habt einen schönen Tag.« Noah winkte, lächelte Megan zu und machte sich auf den Weg zur Tür.

Damit hatte er heute um sechs Uhr morgens bereits mehr Worte mit anderen Menschen gewechselt, als er das sonst den ganzen Tag über tat. Er stieg wieder in seinen Truck und fuhr die zehn Sekunden zur Baustelle, wo er in seinem warmen Auto sitzen blieb, das Sandwich mit Ei und Bacon aß und dazu den Kaffee trank, den Megan genau so zubereitet hatte, wie er ihn am liebsten mochte.

Es brachte Vorteile mit sich, in einer Kleinstadt zu leben, wo einen alle kannten. Aber es hatte natürlich auch Nachteile.

Noah hatte durchaus mit dem Gedanken gespielt, irgendwo hinzuziehen, wo ihn niemand kannte, so dass er nicht Gefahr lief, dass jemand einfach plötzlich ihren Namen erwähnte, so wie seine Mutter heute Morgen. Seine Mom wusste nicht genau, was mit seiner Ehe passiert war. Denn sonst hätte sie Melinda garantiert nicht erwähnt. Noah machte seiner Mutter keine Vorwürfe, weil sie Fragen stellte. Natürlich hatte sie Fragen. Gerade eben war er noch glücklich verheiratet gewesen, und dann hatte sich von einem Tag auf den anderen alles verändert. Diesen Albtraum noch einmal zu durchleben war so ziemlich das Letzte, was er wollte. Und weil er sich weigerte, darüber zu sprechen, was passiert war, musste er wohl oder übel ab und zu mit ein paar Fragen rechnen, selbst nach all der Zeit. Deswegen musste ihm das allerdings noch lange nicht gefallen. Wer setzte sich schon gerne mit solch schlechten Erinnerungen auseinander?

Er war jetzt so gut es nur ging auf einen weiteren eiskalten Tag auf der Baustelle vorbereitet, stieg aus seinem Truck und stapfte auf die mit Gerüsten verkleideten Umrisse des Gebäudes zu. Im Morgennebel konnte er sie erst dann so richtig erkennen, als er direkt davor stand.

Im nächsten Moment entdeckte er auch schon die Architektin, Brianna Esposito, und blieb wie angewurzelt stehen. Der weiße Helm, der sie als Projektleiterin zu erkennen gab, bedeckte ihr langes, lockiges Haar. Sie stand an der Hintertür, die Hände in die Hüften gestemmt, und musterte ihn mit finsterem Blick.

Was war denn nun schon wieder?

Sie überwachte wirklich jeden noch so kleinen Schritt, den er tat, zumindest versuchte sie es, was ihn jedes Mal zur Weißglut brachte. Leider fuhr ihm auch immer, wenn sie ihn mit diesem Funkeln in ihren dunkelbraunen Augen anschaute, ein Prickeln durch den gesamten Körper. Das lag sicherlich auch daran, dass er kaum noch Sex hatte. Dass es etwas anderes bedeuten könnte, darüber wollte er nicht einmal nachdenken.

Denn es durfte auf keinen Fall sein, dass er für diese nervige, besserwisserische unausstehliche Architektin aus Boston, die ihm das Leben zur Hölle machte, eine Schwäche hatte.

Auf gar keinen Fall.

2

»In Wahrheit ist es doch so: Jeder Mensch wird dich verletzen. Du musst nur diejenigen finden, für die sich das lohnt.«

Unbekannt, manchmal Bob Marley zugeschrieben

In neunzig Prozent der Fälle hätte Brianna ihm am liebsten das unerträgliche Grinsen aus dem Gesicht geschlagen. Unglücklicherweise würde sie es ihm in der restlichen Zeit nur zu gerne von den Lippen küssen. Und das, obwohl er unentwegt seine schlechte Laune an ihr ausließ. Natürlich wusste sie nach sieben Jahren in einer hauptsächlich von Männern dominierten Branche, wie die meisten auf eine Frau reagierten, die über ein funktionsfähiges Gehirn verfügte und sich auch nicht scheute, es zu benutzen.

»Guten Morgen, Brianna. Wie geht es dir an diesem herrlichen Vermonter Wintertag?«

Sie wusste ganz genau, dass es ihn überhaupt nicht interessierte, wie sie sich fühlte, also ignorierte sie die Frage. »Versuch nicht abzulenken, Coleman. Was habe ich dir zum Thema Lieferungen gesagt?«

»Ich glaube, du hast mir gesagt, ich soll keine Lieferungen annehmen.«

»Und trotzdem hast du gestern Nachmittag eine Holzlieferung angenommen, als ich wegen eines Meetings nicht hier war.« Sie hatte ihm gesagt, dass sie für das Meeting nach Hause fahren musste, wo sie ein Festnetztelefon hatte. In Butler gab es keinen Handyempfang.

»Ja, ich habe die Holzlieferung angenommen.«

»Und warum, bitte schön? Immerhin habe ich dich doch gebeten, genau das nicht zu tun.«

»Weil ich davon ausgegangen bin, dass es in deinem Sinne ist, wenn der Dachstuhl wie geplant fertig wird. Ohne das Holz würde mein Team jetzt Däumchen drehen. Wir hätten den ganzen Tag nicht arbeiten können, und morgen wahrscheinlich auch nicht, wenn wir auf den zweiten Zustellversuch gewartet hätten. Und das Holz befand sich zu diesem Zeitpunkt direkt vor meiner Nase. Ich habe für die Lieferung unterschrieben, und das würde ich in der gleichen Situation auch wieder tun.«

Sie hätte ihm am liebsten eine gescheuert. Aber weil sie spürte, dass er sich darüber wahrscheinlich noch amüsieren würde, hielt sie sich lieber zurück. »Dann hast du sicher die Mengenangaben des Lieferanten mit der Bestellung abgeglichen?«

»Nein. Das ist dein Job. Ich bin nur der dumme Bauarbeiter, der die ganze Arbeit macht.«

»Du hast also für eine Lieferung unterschrieben und hattest keine Ahnung, was du da gerade unterschreibst?«

»Stimmt nicht. Ich habe für das unterschrieben, was wir brauchen, damit es hier weitergeht. Ist es nicht unser Ziel, das Dach so schnell wie möglich zuzumachen, damit wir Heizlüfter für die Innenarbeiten aufstellen können?«

»Ja, das ist das Ziel, aber …«

»Kein Aber. Wenn wir diese Lieferung gestern nicht bekommen hätten, würden wir noch weiter zurückfallen. Also, noch mal: Ich bereue es kein bisschen.«

Brianna stieß ein entnervtes Knurren aus und wirbelte herum, bevor sie noch etwas Dummes tun konnte. Sie rutschte auf einer zugefrorenen Pfütze aus und wäre fast hingefallen.

Noah griff nach ihrem Arm und bewahrte sie vor einem bösen Sturz. »Vorsicht«, sagte er. Seine Stimme klang so belustigt, dass ihre Wut nur noch mehr aufloderte.

Sie riss sich los. »Halt die Klappe!«

Er fing an zu lachen.

Tja, ein neuer Tag im Paradies.

Brianna hasste diesen Auftrag so sehr. Sie hasste es, dass ihre Chefs sie hier ans Ende der Welt geschickt hatten, um den Wiederaufbau des Hotels von irgendeiner Cousine dritten Grades zu beaufsichtigen. Auch wenn sie durchaus ihre Gründe hatte, froh darüber zu sein, kurzzeitig aus Boston herauszukommen. Sie hasste es, dass ihr ständig so verdammt kalt war. Ihr taten schon die Zähne weh, weil sie ununterbrochen klapperten. Aber mehr als alles andere hasste sie diesen Bauunternehmer, mit dem sie Tag für Tag stundenlang zusammenarbeiten musste. Und zu allem Überfluss hasste sie es, dass sie ihn hasste.

Sie war nicht dazu erzogen worden, irgendwen zu hassen.

Noah Coleman war die Ausnahme zu jeder Regel. Er war unhöflich, arrogant, schweigsam, schwierig, unglaublich nervig und jedes andere Adjektiv aus der langen Liste zur Beschreibung von Schwachköpfen, die ihr in den Sinn kamen. Schlimm genug, dass er immer so mürrisch war. Nein, gleichzeitig war er auch noch unglaublich gutaussehend und unverschämt sexy. Wenn sie sich nicht gegenseitig die Köpfe einschlugen, bevor sie hier fertig waren, grenzte das an ein Wunder. Er machte sie völlig verrückt, wenn er sie so von oben herab musterte. Entweder arbeitete Noah nicht gerne mit Architekten zusammen oder er arbeitete nicht gerne mit Frauen. Jede dieser beiden Möglichkeiten machte ihn noch unerträglicher, als er es ohnehin schon war.

Nachdem sie sich in der ersten Woche mit ihm herumgeschlagen hatte, hatte sie ein bisschen in der Stadt herumgefragt, um besser zu verstehen, wen sie da vor sich hatte. Er war das zweite von acht Kindern, die von ihrem Vater im Stich gelassen worden waren, als er noch ein Teenager war. Er war ein Cousin der Abbots, denen der zauberhafte Country Store neben dem Inn gehörte. Außerdem, und das war am interessantesten, hatte er sich vor drei Jahren aus mysteriösen Gründen von seiner Frau getrennt. Sie waren damals gerade zwei Jahre lang verheiratet gewesen, und er hatte niemandem erzählt, was vorgefallen war.

Allerdings machte es sie fast noch wütender, dass sie sich überhaupt damit beschäftigte. Sie hatte so oder so mehr als genug zu tun. Warum, zum Teufel, hatte sie sich überhaupt die Mühe gemacht, Mrs. Hendricks nach ihm zu fragen? Himmel, was, wenn diese neugierige Tratschtante, der das Hotel gehörte, die tolle Idee gehabt hatte, Noah zu sagen, dass sie nach ihm gefragt hatte? Alleine der Gedanke sorgte dafür, dass Brianna das Gesicht verzog. Das Letzte, was Brianna wollte, war, dass er dachte, sie würde sich auch nur im Geringsten für ihn interessieren.

Trotzdem hatte ihr das, was Mrs. Hendricks erzählt hatte, geholfen zu verstehen, warum er so war, wie er war. Vielleicht war er einfach verbittert, weil sein Vater abgehauen war, und Gott weiß was seine Frau ihm angetan hatte. Sie wusste nur zu gut, wie es sich anfühlte, wenn eine Ehe völlig unerwartet in sich zusammenstürzte. Ihr Mann hatte ihr das Leben zur Hölle gemacht, so dass sie mit allen, die ebenfalls eine Scheidung durchlebt hatten, durchaus mitfühlen konnte.

Aber auch das gab niemandem das Recht, sich wie ein absoluter Idiot aufzuführen.

Nicht genug damit, dass er die Lieferung angenommen hatte, obwohl sie es ihm in aller Deutlichkeit gesagt hatte, dass er das nicht tun sollte. Sie würde ihm auch noch sagen müssen, dass seine Leute den Kamin gestern an der falschen Stelle eingezeichnet hatten. Davor graute es ihr. Es graute ihr überhaupt vor jeder Sekunde, die sie sich mit diesem verdammten Auftrag herumärgern musste, bei dem sie sich acht Stunden am Tag den Hintern abfror und sich zu allem Überfluss mit dieser Nervensäge herumschlagen musste.

Nach sechs Wochen war sie mittlerweile drauf und dran, den Job hinzuschmeißen und sich einen anderen Beruf zu suchen. Nichts an ihrer Arbeit machte ihr auch nur annähernd so viel Spaß, wie sie erwartet hatte, als sie sich mit achtzehn Jahren entschlossen hatte, Architektin zu werden. Damals hatte sie unter großem Druck gestanden, sich für eine Berufslaufbahn entscheiden zu müssen.

Wenn nur nicht so viel davon abhängen würde, dass sie dieses Projekt rechtzeitig fertigstellte, würde sie einfach gehen. Aber dann stünde sie ohne die Erfahrung da, die sie so dringend brauchte, um eine neue Stelle zu finden. Das nie enden wollende Drama mit ihrer Ehe machte die Suche nach potenziellen neuen Arbeitgebern ohnehin schon schwierig. Diesen Auftrag hier in Vermont hinzuschmeißen, bevor sie fertig wurden, war keine Option. Und es kam auch nicht in Frage, einen Bauarbeitermord zu begehen, aber daran denken konnte man ja zumindest.

Das Butler Inn war das einzige Hotel, in dem Reisende in Butler unterkommen konnten. Die Stadt brauchte das Hotel, und Mrs. Hendricks musste ihr Geschäft wieder aufnehmen. Brianna würde sich darum kümmern, aber sobald der letzte Nagel eingeschlagen war, würde sie aus Butler verschwinden.

Bis dahin musste sie eben mit Noah Coleman fertigwerden. Sie stellte sich auf ein weiteres Streitgespräch ein – es hatte schon so viele gegeben, dass sie nicht mehr mitzählte – und machte sich auf die Suche nach ihm. Die vordere Hälfte des Gebäudes hatten sie retten können, also bauten sie die hintere Hälfte auf und versahen die vordere mit dem vorgeschriebenen Sprinklersystem und einigen anderen Neuerungen.

Eine Sprinkleranlage hätte das Feuer schnell löschen können, aber bei älteren Gebäuden waren sie nicht vorgeschrieben. Das neue Hotel würde sehr viel sicherer sein als sein Vorgänger. Das war Mrs. Hendricks besonders wichtig, es hatte sogar in der Ausschreibung gestanden.

Brianna war auf der Baustelle die ganze Zeit so kalt, dass sie nicht klar denken konnte. Das Einzige, was dafür sorgte, dass ihr heiß wurde, waren die Streitereien mit Noah. Sie wärmten sie für ein paar wundervolle Minuten auf, in denen ihr Puls anstieg und ihr Herz ihr Blut schneller durch die Adern pumpte.

Im Inneren des Rohbaus lärmten die Hämmer auf dem Dach mit dem Kreischen einer Kreissäge um die Wette. Es war laut genug, dass ihr die Zähne klapperten.

Sie fand Noah in der Küche, die vor einer Woche vorbereitet worden war. Er war in die Hocke gegangen, um irgendetwas abzumessen.

»Können wir bitte über den Kamin bei der Rezeption sprechen?«, fragte sie, ihre Stimme so ruhig wie nur irgend möglich.

»Klar.«

»Der muss neu gemacht werden.«

Er schaute über seine Schulter zu ihr auf und zog die Augenbrauen hoch. »Warum das?«

»Ist fünfzehn Zentimeter zu weit links.«

»Ist er nicht.«

»Ist er doch.«

»Nein. Ist er nicht.«

Brianna nahm all ihre Kräfte zusammen. Das war auch nötig, um beim Anblick der anziehendsten grauen Augen, die ihr je begegnet waren, mit keiner Wimper zu zucken. »Machen wir jetzt den ganzen Tag lang so weiter, oder hörst du mir zu?«

»Ich höre dir nicht zu, wenn du mir sagst, dass der Kamin fünfzehn Zentimeter zu weit links ist, weil das nicht stimmt.«

»Dann musst du wohl mit mir mitkommen, damit ich es dir zeigen kann.«

Er ließ sich alle Zeit der Welt, um sich zu seiner vollen Größe aufzurichten. Weil er ihr den Rücken zukehrte, konnte Brianna in aller Ruhe die Rückseite seiner Levi’s bewundern, und das war nicht unbedingt der schlechteste Anblick. Nicht, dass sie hingeschaut hätte.

Nicht sehr.

Er drehte sich blitzschnell um und erwischte sie dabei, wie sie ihm auf den Hintern starrte.

Na toll.

Als sie zu ihm aufschaute, breitete sich ein selbstgefälliges Grinsen auf seinem Gesicht aus. »Was gesehen, das dir gefällt, Schätzchen?«

»Ja, den angenehmsten Teil von dir.« Brianna war ziemlich zufrieden mit dieser Antwort. Normalerweise war sie nicht besonders schlagfertig, und die passende Erwiderung fiel ihr erst ein, wenn es längst zu spät war.

»Mir wurde schon oft gesagt, dass ich einen ganz außergewöhnlichen Arsch habe. Freut mich, dass du das auch so siehst.«

Sie tat so, als hätte sie ihn nicht richtig verstanden. »Was sagst du? Die Leute sagen, du bist ein außergewöhnlicher Arsch? Das sehe ich allerdings auch so.«

Sein Lachen folgte ihr aus der Küche, als sie sich auf den Weg in Richtung Rezeption machte. Hoffentlich würde er auch bald dort auftauchen, damit sie über den Kamin streiten konnten, der fünfzehn Zentimeter zu weit links eingezeichnet worden war. Sie bauten den Kamin komplett neu, eigentlich wäre es also kein Problem. Aber wenn er dort gebaut wurde, wo er zurzeit eingezeichnet war, würde der Fluchtweg auf der anderen Seite nicht mehr den Vorschriften entsprechen. Er musste verschoben werden.

Sie waren gerade weit in einen Bereich vorgedrungen, der unprofessionell und außerdem völlig unangebracht war. O Gott, musste sie darüber jetzt etwa auch noch mit ihm diskutieren?

Wahrscheinlich schon. Na super.

Sie fand es interessant, dass er nie die Stimme erhob, wenn er es mit den Männern, die für ihn arbeiteten, zu tun hatte. Sie nahmen ihre Aufträge von ihm an und schienen ihn als Chef und auch als Freund zu respektieren. Nein, er stritt immer nur mit ihr, so wirkte es jedenfalls.

Als er in die Lobby kam, hatte Brianna schon die Pläne auf dem provisorischen Tisch aus Sägeblöcken und einer Sperrholzplatte ausgerollt. Sie war kampfbereit.

Noah blieb an der Stelle stehen, an der die Türschwelle zum Flur des Erdgeschosses sein würde, und schaute sich an, wie weit seine Leute am Vortag gekommen waren. Natürlich gab es immer etwas zu verbessern, aber im Großen und Ganzen war er zufrieden.

»Wenn du herkommst und dir die Pläne anschaust, zeige ich dir, dass der Kamin den Fluchtweg behindert. Ich brauche unbedingt diese fünfzehn Zentimeter.«

»Dazu könnte ich jetzt so einiges sagen.«

Flirtete er gerade mit ihr? Auf keinen Fall. Er konnte sie nicht ausstehen. Und sie konnte ihn nicht ausstehen. Er flirtete definitiv nicht. Sie ignorierte seinen zweideutigen Kommentar und konzentrierte sich auf die Pläne. Die mittlerweile nur allzu vorhersagbare Wärme stieg in ihr auf, als er näher kam, um sehen zu können, worauf sie zeigte. Der Kerl musste natürlich auch noch gut riechen. Das Leben war einfach nicht fair.

»Du hast recht«, sagte er. »Das ist falsch. Wir machen es neu.«

Brianna war so schockiert, dass sie keinen Ton herausbrachte. Und jede Person, die sie auch nur ein kleines bisschen kannte, würde wissen, dass das sehr, sehr selten vorkam. »Würdest du das noch mal wiederholen? Ich glaube, ich hab da was falsch verstanden.«

»Ich habe gesagt, du hast recht. Es ist falsch eingezeichnet, und wir machen es neu.«

»Wow, ich muss diesen Sieg unbedingt noch einen Moment lang auskosten.«

Wieder einmal bedachte er sie mit diesem Grinsen, das die unglaublichsten Dinge mit seinem sonst so mürrischen Gesicht anstellte. »Tu dir keinen Zwang an.«

»Das solltest du öfter machen.«

»Was denn? Dir sagen, dass du recht hast?«

»Auf jeden Fall. Und lächeln. Das steht dir.«

»Ich hab nicht gelächelt.«

»Doch, hast du. Heute sogar schon zum zweiten Mal.«

»Das ist nicht wahr. Denk dir doch keine Geschichten aus.«

Kein Wunder, dass sie ihm in neunzig Prozent der Fälle am liebsten eine schallende Ohrfeige verpassen würde. »Sollen wir uns jetzt wirklich darüber streiten, ob du gelächelt hast oder nicht?«

»Ja, wirklich. Ich lächele nämlich grundsätzlich nicht.«

»Das ist das Bescheuertste, was ich je gehört habe. Wer hat denn bitte eine Regel zum Thema Lächeln?«

»Ich.«

»Kein Wunder, dass du immer so mies drauf bist. Wer eine Regel gegen Lächeln hat, dem ist wirklich nicht mehr zu helfen.«

»Hast du denn Grund zu lächeln? Du wirkst ziemlich angespannt.«

»Ich bin angespannt, weil ich mich mit dir herumärgern muss.«

»Herr im Himmel«, rief eine dritte Stimme von der Türschwelle.

Brianna und Noah wirbelten herum und sahen Mrs. Hendricks, die in der Tür stand und sie missmutig beobachtete. Über der Kapuze ihres bodenlangen Parkas trug sie den roten Bauhelm, den Noah ihr gegeben hatte, damit sie die Baustelle besuchen und sich die Fortschritte anschauen konnte.

»Ich kann es nicht ertragen, euch beide so miteinander streiten zu sehen.« Sie wirkte, als sei sie den Tränen nahe. Mit dem roten Helm, der gefährlich auf ihrer Kapuze schwankte, erinnerte sie ein wenig an einen seltsamen Pilz.

»Wir streiten nicht«, sagte Noah. »Wir kommunizieren.«

»Werde bloß nicht frech, Noah Coleman. Ich erkenne einen Streit, wenn ich ihn sehe. Und das war definitiv einer.«

»Wir sind uns eben in manchen Dingen nicht einig, aber das regeln wir schon«, sagte er. »Stimmt doch, oder, Brianna?«

Brianna wusste, dass sie ihm zustimmen sollte, damit sie ihre Kundin glücklich nach Hause schicken konnte, aber sie schaffte es einfach nicht, ihr ins Gesicht zu lügen. »Wir streiten ununterbrochen.«

Noah starrte sie fassungslos an.

»So geht das nicht«, sagte Mrs. Hendricks. »Ich möchte, dass ihr heute Abend zusammen essen geht und das regelt.«

Brianna schüttelte den Kopf, bevor die Frau ihren Satz zu Ende gebracht hatte. Sie würde auf keinen Fall mit Noah Coleman essen gehen.

»Wo wir gerade dabei sind.« Mrs. Hendricks kramte in ihrer riesigen Handtasche herum. »Ich habe diesen Gutschein vom Gasthaus zum Schweinebauch zugeschickt bekommen.« Sie drückte Noah den Gutschein in die Hand.

»Danke«, sagte er. »Aber …«

Doch Mrs. Hendricks ging über seine Einwände hinweg: »Esst mal schön zusammen und redet darüber. Ihr jungen Leute müsst noch lernen, wie man richtig kommuniziert. Ständig klebt ihr an diesen dummen Handys und habt darüber vergessen, wie man miteinander spricht.«

Brianna hätte sie gerne daran erinnert, dass Butler, Vermont, das reinste Niemandsland für Handys war und dass hier garantiert niemand an irgendeinem Bildschirm klebte. Wo Handys ihre Ruhe haben wäre ein passendes Motto für diese Stadt.

»Morgen komme ich wieder und frage euch, wie es gelaufen ist. Ich hoffe, ihr könnt diesen Schwachsinn hinter euch lassen und zu etwas mehr Harmonie finden. Das Leben ist zu kurz für Streitereien.«

»Sind Sie deswegen hergekommen?« Noahs Kiefer war angespannt, er biss die Zähne zusammen. Zweifellos war der Gedanke, außerhalb der Arbeit Zeit mit ihr zu verbringen, für ihn genauso unerträglich wie für sie.

»Ich habe gehört, dass es hier Querelen geben soll, und das wollte ich im Keim ersticken.«

Brianna versuchte, das Lachen zurückzuhalten. Mrs. Hendricks’ Ausdrucksweise war wirklich zu komisch.

Noah räusperte sich, als versuche auch er, die Fassung zu bewahren.

»Na dann, bis morgen, ihr beiden. Habt ein schönes Abendessen und begrabt euren Zwist ein für alle Mal.« Sie drehte sich um und ging, bevor einer von ihnen noch etwas erwidern konnte.

Als sie weg war, standen sie eine volle Minute lang schweigend da.

Dann brach Noah das Schweigen. »Na, das hast du ja toll hinbekommen.«

3

»Wenn uns etwas weh tut, lernen wir.«

Steve Maraboli

Warum hatte sie ihm nicht einfach zugestimmt? Dann müsste er sich jetzt nicht rasieren, um noch einmal rauszugehen. Er könnte noch einen Scheit Holz aufs Feuer legen und einen Winterabend lang in aller Ruhe sein Buch lesen. Stattdessen musste er sich nun auf zehn weitere Runden mit dem Architektur-Äquivalent von Muhammad Ali einstellen. Sie machte ihn so müde.

Und sie machte ihn an.

Das war doch wirklich unfassbar. Es gefiel ihm gar nicht, nach drei langen Jahren wieder so etwas wie Verlangen zu spüren, und dann auch noch bei einer Frau, die ihn komplett in den Wahnsinn trieb.

Sie war nicht mal sein Typ, verdammt nochmal. Normalerweise interessierten ihn die kühlen Blonden, aber Brianna hatte dunkle Locken, Kurven über Kurven und scharfe braune Augen, denen rein gar nichts entging. Selbst in Arbeitskleidung und Bauhelm sah sie gut aus, und er war nicht der Einzige, dem das aufgefallen war. Einer seiner Jungs hatte sie eine Rauch-Show genannt.

Noah hatte gefragt, was er damit meinte.

»Na ja, so heiß, dass es raucht«, hatte der junge Mann gesagt und Noah angeschaut, als sei er steinalt.

Es war kaum möglich, weiter vom Weltgeschehen entfernt zu sein als Noah. Kein Handy, keine Social Media, ein Fernseher, den er nur selten einschaltete, ein Computer, den er nur für Rechnungen und andere Dinge, die mit seiner Arbeit zu tun hatten, brauchte, und wenig bis kein Kontakt zu Menschen, mit denen er nicht zusammenarbeitete. Seine Mitarbeiter hielt er ebenfalls auf Abstand. Das war eine Sache, die er auf die harte Tour gelernt hatte. Freunde dich nicht mit deinen Angestellten an!

Nachdem Mrs. Hendricks sie mit dem Gutschein überrumpelt hatte, musste Noah sich den Rest des Tages um den Kamin kümmern. Sein Vorarbeiter, Carlo, hatte sich tausendmal dafür entschuldigt, dass er die Pläne falsch gelesen hatte.

Noah hatte ihm gesagt, er solle sich keine Sorgen machen. So etwas passierte eben. Aber er wünschte sich trotzdem Miguel zurück, der jahrelang an seiner Seite gearbeitet hatte, bevor zwischen ihnen alles auf spektakuläre Weise in die Brüche gegangen war. Vor diesem furchtbaren Tag war Miguel Noahs zweite Hirnhälfte gewesen. Sie hatten nicht nur zusammengearbeitet, sie waren auch beste Freunde gewesen. Noah hatte Miguel nie bei der Arbeit beaufsichtigen oder ihm sagen müssen, was er tun sollte. Er hatte es immer einfach gewusst.

Letztendlich hatte Noah einen hohen Preis dafür gezahlt, dass er seinem Vorarbeiter so sehr vertraut hatte, aber über diesen Albtraum wollte er jetzt nicht weiter nachdenken. Er würde jedes Gramm Durchhaltevermögen brauchen, das er aufbringen konnte, um mit dem gegenwärtigen Albtraum zurechtzukommen.

Ein Abendessen mit Brianna Esposito entsprach seiner Vorstellung der Hölle. Worüber sollten sie nur reden? Mrs. Hendriks war mal die Leiterin seiner Pfadfindergruppe gewesen, als er und ihr Sohn Jud noch klein waren. Als Noahs Vater verschwunden war, hatte Mrs. Hendricks ihn zu allen Aktivitäten gefahren, die Jud und er zusammen machten – Football, Baseball, Basketball und Pfadfinder. Sie hatte auch oft eine Mahlzeit vorbeigebracht und behauptet, sie hätte viel zu viel gekocht, komischerweise immer gerade genug für neun zusätzliche hungrige Mäuler.

Noah war damals alt genug, um zu verstehen, wie schlecht es ihnen finanziell ging, und die Freundlichkeit von Menschen wie Mrs. H, wie er sie damals nannte, hatte ihm viel bedeutet. Das würde er nie vergessen. Und genau das war auch der Grund, warum er mit Brianna zum Abendessen ins Gasthaus zum Schweinebauch fahren würde, wenn Mrs. H sagte, er solle mit Brianna zum Abendessen dorthin fahren.

Selbst wenn er das nicht wollte.

Er wollte es so was von überhaupt nicht.

Viel lieber hätte er den Spionagethriller weitergelesen, der ihn am Vorabend so lange wach gehalten hatte. Den ganzen Tag hatte er über die Geschichte nachgedacht und wollte wissen, was als Nächstes passierte. Aber das konnte er vorerst vergessen.

Er kramte einen dunkelblauen Pullover hervor, den seine Schwester Izzy ihm zu Weihnachten geschenkt hatte, und zog ihn über sein Thermooberteil und die abgetragenen Jeans, die für ihn seine »guten« Jeans waren, weil er sie noch nie zur Arbeit angehabt hatte. Außerdem waren sie sauber. In den letzten drei Jahren hatte er sich nicht mehr so viel Mühe mit seinem Erscheinungsbild gegeben. Was spielte es schon für eine Rolle, was er trug oder wie er aussah? Wen kümmerte das? Ihn jedenfalls nicht. Ihn kümmerte in letzter Zeit herzlich wenig, abgesehen von seiner Familie und seinem Job. Das waren auch die einzigen Dinge in seinem Leben, für die er Zeit und Energie aufbringen konnte. So lief er auch nicht Gefahr, ernsthaft verletzt zu werden.

Noah hatte gelernt, Menschen und Situationen zu vermeiden, die ihn traurig stimmen könnten. Davon hatte er genug.

Kurz bevor er losfuhr, startete er seinen Truck mit der Fernbedienung, damit er schon mal warm wurde. Er packte sich gut ein und trat hinaus in den frostigen Abend. Dann stieg er in die immer noch eiskalte Kabine seines Trucks.

Nach der Arbeit hatte er zehn Minuten damit verbracht, die alten Kaffeebecher und den anderen Müll, der sich auf der Mitfahrseite angesammelt hatte, zu entsorgen. Es fuhr nie jemand in seinem Truck mit, außer ab und zu die Hunde seiner Tante und seines Onkels, wenn er auf sie aufpasste.

Sein Leben war eintönig und langweilig, und das war auch gut so. Er hatte am eigenen Leib erfahren, was passieren konnte, wenn man zu viel erwartete. Es war besser, wenn er einfach in seiner Spur blieb und nichts von dem riskierte, was er nicht verlieren durfte: sein Herz, seinen Verstand, und seine Fähigkeit, jemand anderem als den Mitgliedern seiner Familie zu vertrauen.

Und ja, er war reflektiert genug, um zu wissen, dass seine Verbitterung der Grund dafür war, dass er einen Großteil seiner Verbindungen zur Außenwelt abgebrochen hatte. Aber die Verbitterung war mittlerweile so sehr Teil von ihm, dass er sich selbst ohne sie kaum noch wiedererkannte. Zum ersten Mal hatte er sie gespürt, als sein Vater sich einfach davongemacht hatte. Und seitdem waren immer wieder Dinge passiert, die ihn noch tiefer in diesen Strudel hineingezogen hatten.

Auf dem Weg zu dem Haus, das Brianna in der Nähe seines Cousins Will gemietet hatte, versuchte Noah, sich zurechtzulegen, worüber er während des Essens mit ihr reden könnte. Es wäre sicher gut für sie beide, wenn sie das Thema, das sie beide in diese Situation gebracht hatte, so gut es ging mieden.

Es interessierte die Leute immer, wie es war, als eines von acht Geschwistern und zehn Cousins und Cousinen, die ebenfalls wie Geschwister für ihn waren, aufzuwachsen. Das war ein unverfängliches Gesprächsthema. Er konnte ihr von den Jahren erzählen, die er in Kalifornien verbracht hatte, am USC mit einem Stipendium für sein Studium in Maschinenbauingenieurwesen. Während er dort war, hatte er ein heftiges Erdbeben überlebt. Das war doch eine gute Geschichte. Für die Vorspeise sollte das genügen.

Noah konnte kaum sagen, wie sehr ihm vor dieser Unternehmung graute.

Er bog in ihre Einfahrt ein und dachte an seinen Schulfreund Kent Barclay, der in dem Haus gewohnt hatte, als sie klein gewesen waren. Kents Dad war ein Jahr nach Noahs Dad gegangen, das war also etwas, das sie verband. Kent hatte mal einen Witz darüber gemacht, dass sich sein Vater Noahs Vater zum Vorbild genommen hatte. Noah fragte sich, wo Kent wohl gerade war und ob das Haus immer noch seiner Familie gehörte.

An der Haustür brannte Licht. Sollte das heißen, dass Noah klingeln sollte, um sie abzuholen?

Nein, das sähe zu sehr nach einem Date aus. Und das hier war kein Date.

Noah hatte keine Dates. Er traf sich ab und zu mit einer Freundin aus der Highschool, die ebenfalls eine unangenehme Scheidung durchgemacht hatte – waren nicht alle Scheidungen unangenehm? – und jetzt drei Kinder alleine großziehen musste.

Glenda war wirklich nett, und sie hatten alle paar Monate ein bisschen Spaß zusammen, aber das war auch schon alles. Mehr wollten sie beide nicht.

Er wollte gerade auf die Hupe drücken, damit Brianna wusste, dass er da war, als die Tür aufging und sie auf die Schwelle trat, eingerahmt vom goldenen Licht der Außenlampe.

Sie hielt einen Finger hoch – noch eine Minute – und verschwand wieder im Haus.

Neben ihrem Fußweg war der Schnee von vier verschiedenen Schneestürmen aufgehäuft. Um diese Jahreszeit war das eben so, mit jedem Sturm wuchsen die Schneemauern neben den Straßen und Wegen. Er fragte sich, ob sie selbst Schnee schaufelte oder jemanden dafür bezahlte.

Menschen, die nicht in Vermont aufgewachsen waren, waren meistens überfordert von der schieren Menge an Schnee. Die Verlobte seines Bruders, Emma, und ihre Schwester Lucy, die mit Noahs Cousin Colton verheiratet war, waren in New York City aufgewachsen. Er hatte Emma einmal sagen hören, dass sie nicht gedacht hätte, dass es überhaupt möglich wäre, dass es so viel schneite, wie das in Vermont der Fall war. Sie sagte, sie würde nachts davon träumen, unter einer riesigen Ladung Schnee vergraben zu sein und verzweifelt nach dem Weg nach draußen zu suchen.

»Ich würde schon nach dir suchen«, hatte Grayson mit dem unbeschwerten Lächeln gesagt, das sich so oft auf sein Gesicht schlich, jetzt, da Emma und ihre Tochter Simone in sein Leben getreten waren.

Noah war froh, dass Gray so glücklich war. Als ihr Dad abgehauen war, hatte sein Bruder die Hauptlast tragen müssen, und er hatte es nun wirklich mehr als verdient, jemanden an seiner Seite zu haben, der ihn unentwegt zum Lächeln brachte.

Noah allerdings würde diesen Weg nie wieder einschlagen. Er war alleine besser dran, und das war auch gut so.

Brianna kam aus der Tür und schloss zweimal ab.

Bevor ihr wunderbar sauberer Staat zum Zentrum für Heroin, Oxycodon und andere Drogen geworden war, hatten alle ihre Türen meistens offen gelassen. Jetzt verließ niemand mehr das Haus, ohne abzuschließen, und er war froh, dass Brianna das auch tat. Vermutlich hatte sie sich das schon in Boston angewöhnt. Er mochte sie zwar nicht besonders, aber er wollte trotzdem nicht, dass ihr etwas passierte.

Langsam und sehr vorsichtig kam sie nun auf dem Gehweg auf ihn zu.

Steig aus und mach ihr die Tür auf!

Die Stimme seines Großvaters war so tief in seinem Unterbewusstsein verankert, dass Noah beinahe nicht anders konnte, als Elmers Anweisung zu folgen.

Ich werde ihr nicht die Tür öffnen, das ist Schwachsinn. Schließlich ist das hier kein Date.

Um seinem Großvater zumindest einen Kompromiss zuzugestehen, lehnte sich Noah zur anderen Seite und machte die Tür von innen für sie auf. Als er sah, dass sie fast zu klein war, um den Tritt zu erreichen und einzusteigen, hielt er ihr eine Hand hin, die sie dankbar annahm.

Sobald ihre Hand die seine berührte, strömte eine Energie seinen Arm hinauf. Er begriff sofort, dass es ein großer Fehler gewesen war, sie zu berühren, und ließ ihre Hand los, sobald sie sicher im Truck saß.

Es dauerte ungefähr drei Sekunden, dann erfüllte ein faszinierender, weiblicher Geruch die Kabine.

Na super.

Wenn es nur nicht so verdammt eiskalt wäre, könnte er wenigstens die Fenster öffnen. Aber weil das keine Option war, musste er wohl mit dem Geruch und der verdammten Erektion, die Briannas Nähe bei ihm ausgelöst hatte, leben.

»Danke, dass du mich mitnimmst. Ich bin kein großer Fan davon, nachts hier herumzufahren. Da gibt es doch diesen Elch, der sich einem ständig in den Weg stellt, und dazu noch die vielen lebensbedrohlichen Schluchten.«

»Dann hast du also schon von dem Elch gehört?«

»Äh, ja, so ziemlich am ersten Tag. War es nicht die Frau von deinem Cousin, die ihn angefahren hat?«

»Ja. Cameron ist Fred etwa eine Meile nach dem Ortsschild begegnet. Will hat sie bis zu den Knien im Matsch gefunden. Ihr Gesicht war genauso verbeult wie ihr Auto. Der Rest ist, wie man so schön sagt, Geschichte.«

»Ich kann nicht fassen, dass sie danach trotzdem hiergeblieben ist.«

»Ich glaube, das liegt an meinem Cousin, aber am besten fragst du sie selbst.«

»Mich wird jedenfalls nichts zum Bleiben bewegen können, sobald meine Arbeit hier getan ist.«

»Dann kann ich also annehmen, dass es dir hier nicht besonders gut gefällt?«

»Überhaupt nicht. Es gibt geradezu lächerlich viel Schnee, dazu Elche auf den Straßen. Jeder Kilometer, den man hier fährt, ist wie ein Videospiel, weil man dauernd mit irgendetwas zusammenstoßen könnte, es ist nichts los, und die Leute sind schlecht gelaunt.«

»Alle Leute oder einer ganz speziell?«

»Einer ganz speziell. Und das ist leider auch noch der, mit dem ich die meiste Zeit verbringen muss.«

Noah verzog das Gesicht, auch wenn er sich insgeheim das Lachen verkniff. Es war mutig von ihr, das so geradeheraus zuzugeben, das musste er ihr lassen. »Na ja, abgesehen von den schlecht gelaunten Menschen ist Butler wirklich eine tolle kleine Stadt, vor allem um diese Jahreszeit. Die Leute kommen aus der ganzen Welt hierher, um auf Butler Mountain Ski zu fahren.«

Aus dem Augenwinkel sah er, wie sie die Nase rümpfte. »Ich habe noch nie verstanden, was so toll daran sein soll, stundenlang draußen in der Kälte zu sein, um im Stehen irgendwelche Berge runterzurutschen.«

»Hast du es schon mal probiert?«

»Nein, weil ich es hasse, wenn mir kalt ist.«

»Wenn du dich richtig anziehst, wird dir auch nicht kalt.«

»Doch, mir wird kalt. Mir ist immer kalt, das ist ein weiterer Grund, warum ich mich nie mit Butler anfreunden werde.«

»Was hast du denn drunter?«

»Wie bitte?«

Noah musste über ihren entsetzten Tonfall lachen. Und ja, ihm war bewusst, dass er schon zweimal gelacht hatte, seit sie bei ihm eingestiegen war. Er hatte nicht erwartet, dass irgendetwas an diesem Abend lustig werden würde. »Ich meine die lange Unterwäsche. Was für eine hast du?«

»Ganz normale Thermounterwäsche. Nicht, dass dich das was angeht.«

»Na ja, okay, aber im Country Store gibt es welche aus Seide, die ist tausendmal besser als die normale Thermounterwäsche. Ich besorg dir welche.« Die Worte waren aus seinem Mund, bevor er sich darüber Gedanken machen konnte, was es bedeutete, ihr angeboten zu haben, Unterwäsche für sie zu kaufen.

Du magst sie nicht, weißt du noch?

Glaub mir, das weiß ich nur zu gut, aber das bedeutet noch lange nicht, dass ich will, dass sie die ganze Zeit friert.

Halt die Klappe.

Halt du die Klappe.

Nein, du.

Na toll, jetzt stritt er wegen ihr mit sich selbst. Er war sich ziemlich sicher, dass ihr das gefallen würde, wenn sie es wüsste. Nicht, dass er es ihr erzählen würde. Er hatte in den ersten zehn Minuten schon mehr als genug gesagt.

»Das musst du nicht. Ich kann mir selbst welche kaufen.«

»Ja, klar, wie du willst, aber du wirst dann jedenfalls nicht mehr so frieren.«

»Danke für den Tipp.«

»Eine lange Jacke und bessere Stiefel wären die Investition auch wert.«

»Was stimmt mit meiner Jacke und meinen Stiefeln nicht?«

»Deine Jacke ist zu kurz, und deine Stiefel sehen schön aus, taugen aber nichts. Der Winter ist hier wirklich eine ernste Sache. Im Store können sie dir alles geben, was du brauchst. Nicht, dass ich Schleichwerbung fürs Familienunternehmen machen will. Ganz ehrlich, ich habe keine Anteile.«

»Haben es nicht deine Großeltern gegründet?«

»Ja, stimmt.«

»Und du hast trotzdem keine Anteile?«

»Nein. Als mein Onkel Lincoln Geschäftsführer wurde, haben er und meine Tante Molly, die Schwester meiner Mutter, angeboten, mich, meine Geschwister und meine Mom auszuzahlen. Weil niemand von uns Interesse am Geschäft hatte, hat meine Mutter das Angebot angenommen. Linc, Molly, die zehn Kinder und mein Großvater haben alle den gleichen Anteil. Wenn mein Großvater stirbt, geht sein Anteil an die zwölf.«

Warum redete er so viel? Und dann auch noch ausgerechnet mit ihr? Er redete nie mit irgendjemandem, wenn es sich vermeiden ließ.

»Das ist wirklich interessant. Ich finde es faszinierend, wie Familienunternehmen funktionieren. Meine Firma gehört drei Brüdern. Zwei von ihnen reden nicht miteinander, ein Albtraum für den dritten.«

»Warum reden sie nicht miteinander?« Und warum interessiert dich das? Halt die Klappe!

»Ich glaube, der eine hat mit der Frau des anderen geschlafen.«

»Ja, das ist Grund genug.«

Sie lachte – laut –, und Noah konnte nicht anders als zu lächeln. Ihr Lachen füllte den kleinen Raum genauso aus wie ihr Geruch.

»Der Ehemann hat sie mit seinem Bruder im Bett erwischt, und es gab ein Riesentheater. Aber weil sie so ein erfolgreiches Unternehmen haben, müssen sie weiterhin zusammenarbeiten, obwohl alle wissen, warum sie nicht miteinander reden.«

»Unangenehm.« Noah tat es in der Seele weh, was der eine der Brüder durchgemacht hatte. Er wusste nur zu gut, wie das war. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als dankbar zu sein, dass er seine Frau nicht mit einem seiner Brüder erwischt hatte.

»Ja, wirklich.«

»Ist die Ehefrau jetzt mit dem anderen Bruder zusammen?«

»Nein. Das macht es meiner Meinung nach nur noch schlimmer. Wenn man dem eigenen Bruder so was antut, dann muss es wenigstens echte Liebe sein.«

»Also, erstens würde ich so etwas niemals einem meiner Brüder antun – oder sonst irgendwem, wenn wir schon dabei sind.« Wenn der eigene Vater die Familie im Stich gelassen hatte, verlor man jedes Interesse daran, sich mit einer verheirateten Frau einzulassen. Es war ein Wunder, dass Noah überhaupt den Mut aufgebracht hatte zu heiraten.

Melinda hatte gewusst, was er durchgemacht hatte, und trotzdem hatte sie sein Vertrauen missbraucht. Seitdem war Noah davon ausgegangen, dass er sich zumindest auf seine eigene Familie verlassen konnte. Zu hören, was mit Briannas Chefs passiert war, ließ ihn allerdings aufhorchen. Doch er schob diesen Gedanken rasch beiseite, bevor er sich verselbständigen konnte. Er hatte keinen Zweifel daran, dass sowohl seine Geschwister als auch seine Cousins und Cousinen für ihn durchs Feuer gehen würden – genau wie er das umgekehrt auch für sie tun würde. Niemals würden sie eine solche Grenze überschreiten. Da war er sich vollkommen sicher.

»Wo fahren wir überhaupt hin?«, fragte Brianna. Sie schaute aus dem Fenster und verfolgte, wie Noah sie durch die schmalen, kurvigen Straßen navigierte, die in die sogenannte Innenstadt von Butler führten. So bezeichneten die Einwohner die Ansammlung von Gebäuden in der Elm Street, wo sich der Green Mountain Store, der Diner, das Hotel, eine Bank, die Post, die obligatorische weiß getäfelte Kirche, die in so gut wie allen Städten in New England zum Inventar gehörte, eine Kunstgalerie, eine Pizzeria und ein paar kleinere Läden befanden. Es war nicht viel, aber es war sein Zuhause.

»Ein paar Orte weiter.«

»Was ist das für ein Laden, wo Mrs. Hendricks uns hingeschickt hat? Zum Schweinebauch? Heißt das wirklich so?«

»Ja, wirklich. Und dem Namen zum Trotz ist das Essen unglaublich gut. Das beste Grillfleisch, das ich je gegessen habe.«

»Ich nehme an, du warst schon raus aus Vermont?«

Er wollte sie nicht lustig finden, aber er konnte nichts dagegen tun. »Das war ich tatsächlich. Ich habe sechs Jahre lang in Südkalifornien gelebt und bin für meine Arbeit viel gereist.«

»Was hast du gemacht?«

»Ich habe nach dem College ein paar Jahre lang für ein Ingenieursbüro gearbeitet, bevor ich vor acht Jahren wieder nach Hause gekommen bin und meine eigene Firma gegründet habe.«

»Du bist Ingenieur?«

»Ja genau. DI.« Er nahm an, dass sie wusste, dass das für Diplom-Ingenieur stand.

»Hm.«

»Was?«

»Das überrascht mich.«

Er wollte nicht fragen. Das wollte er wirklich nicht. Es war viel besser, wenn er sie unausstehlich fand. »Warum?«

»Ich hätte einfach nicht gedacht, dass du ein Diplom hast.«

»Was hast du denn gedacht?«

»Soll ich diese Frage jetzt wirklich beantworten?« Sie klang hocherfreut über diese Gelegenheit.

»Ja, du hast recht, das überlassen wir wohl besser meiner Vorstellungskraft.« Nach einer langen Pause sagte er: »Es tut mir leid, dass ich so abweisend zu dir war. Das ist eigentlich nicht meine Art.«

Es dauerte eine ganze Weile, bis sie antwortete: »Und mir tut es leid, dass ich so streng war. Mein Boss nervt mich die ganze Zeit damit, dass ich den Auftrag rechtzeitig und unter Budget fertig kriegen soll, und, wie schon gesagt, ich hasse es, wenn mir kalt ist. In Butler ist es ziemlich kalt, und das sorgt bei mir nicht gerade für gute Laune.«

»Wenn wir es schaffen, dass dir warm wird, änderst du vielleicht deine Meinung zu Butler.«

Sie wusste hoffentlich, dass er die Kleidung meinte, die er empfohlen hatte. Für alle anderen Arten des Aufwärmens war er nicht zu haben. Jedenfalls nicht mit ihr. Schweigend saßen sie nun nebeneinander, aber es war ein angenehmes Schweigen, viel besser als alles, was er von diesem Abend erwartet hatte.

Er gab es ja nicht gerne zu, aber vielleicht hatte Mrs. Hendricks recht. Vielleicht würden sie sich besser verstehen, wenn sie außerhalb der Arbeit etwas Zeit miteinander verbrachten, und vielleicht würden sie dann besser zusammenarbeiten können.

Aber mögen würde er sie deswegen nicht.

4

»Herzen werden niemals praktisch sein, es sei denn, man könnte sie unzerbrechlich machen.«

Der Blechmann in ›Der Zauberer von Oz‹

Wer war dieser Mann, und was hatte er mit Noah Coleman gemacht? Mit dem schlecht gelaunten, missmutigen, unerträglichen Noah konnte Brianna umgehen. Diese fast schon charmante, selbstironische Version von ihm sorgte dafür, dass sie sich verloren und unsicher fühlte. War es möglich, dass sie ihn fast schon mochte? Nein. Auf keinen Fall.

»Kann ich dich was fragen?«, bat sie.

»Denke schon.«

Er klang misstrauisch, und aufgrund ihrer Vorgeschichte konnte sie ihm das nicht verübeln. »Liegt es an mir? Oder magst du Frauen oder Architekten generell nicht?«

Er seufzte tief. »Nichts von alledem. Ich habe vier Schwestern, drei Cousinen, die mir sehr nahestehen, und ich wurde von einer alleinstehenden Mutter großgezogen, mit Hilfe ihrer Schwester. Ich habe nichts gegen Frauen, das kann ich dir versprechen.«

»Dann liegt es an mir? Du hast mich einfach von Anfang an nicht gemocht?«

»Nein, das ist es nicht.«

»Dann geht es wohl ums Architekturwesen.«