Ganztag aus der Perspektive von Kindern im Grundschulalter - Bastian Walther - E-Book

Ganztag aus der Perspektive von Kindern im Grundschulalter E-Book

Bastian Walther

0,0

Beschreibung

Was zeichnet aus der Perspektive von Kindern im Grundschulalter einen guten Ganztag aus? Welche Erfahrungen und Erlebnisse sind für sie von Bedeutung? Worüber beschweren sie sich, was loben sie und welche Verbesserungsvorschläge machen sie? Diesen Fragen hat sich das Forschungsteam Bastian Walther, Iris Nentwig-Gesemann und Florian Fried gewidmet und Kindern dazu das Wort gegeben. Dabei wurden 14 Qualitätsdimensionen eines "guten" Ganztags aus Kindersicht rekonstruiert. Die Studie folgt den Kernprinzipien einer dokumentarischen Kindheitsforschung und erkennt Mädchen und Jungen als Subjekte von Forschung und Qualitätsentwicklung an. Die Autor:innen diskutieren im Kontext zunehmender Institutionalisierung von Kindheit, welche Potenziale mit dem Ganztag verbunden sein können und vor welchen Herausforderungen sein Ausbau steht, wenn das Wohlergehen, das Glück und die Rechte der Kinder ins Zentrum gestellt werden. Beauftragt von der Bertelsmann Stiftung, wurde diese Kinderperspektivenstudie realisiert mit Unterstützung des Arbeiterwohlfahrt Bundesverbands, der Robert Bosch Stiftung und der Stiftung Mercator.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 283

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Bastian Walther, Iris Nentwig-Gesemann, Florian Fried

Ganztag aus der Perspektive von Kindern im Grundschulalter

Eine Rekonstruktion von Qualitätsbereichen und -dimensionen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2021 Verlag Bertelsmann Stiftung, Gütersloh

Verantwortlich: Vera Steinmann, Dirk Zorn

Lektorat: Heike Herrberg

Herstellung: Sabine Reimann

Umschlaggestaltung: Elisabeth Menke

Umschlagabbildung: © Tom Wang – stock.adobe.com; DESI (Institut für Demokratische Entwicklung und Soziale Integration), Berlin

Fotos und Abbildungen im Inhalt: Aufnahmen der Autoren, die Rechte für die

Veröffentlichung sind nur für diese Buchpublikation freigegeben

Layout und Satz: Büro für Grafische Gestaltung, Kerstin Schröder, Bielefeld

ISBN 978-3-86793-930-0 (Print)

ISBN 978-3-86793-931-7 (E-Book PDF)

ISBN 978-3-86793-932-4 (E-Book EPUB)

www.bertelsmann-stiftung.de/verlag

Inhalt

Auf die Kinder hören!

Einleitung

Theoretische Verortungen

Ganztag als Ort der Gestaltung (inter- und intra-) generationaler und organisationaler Ordnungen

Institutionalisierung und Pädagogisierung von Kindheit

Qualitätsentwicklung und Professionalisierung im Feld des Ganztags

Forschungsstand

Forschungsdesign

Sample

Erhebungsmethoden

Dokumentarische Methode

Ergebnisse: Qualitätsbereiche und -dimensionen aus der Perspektive von Kindern im Grundschulalter auf ihren Ganztag

1. Qualitätsbereich: Die Gestaltung positiver pädagogischer Beziehungen

1.1In Lern- und Arbeitssettings von Pädagog:innen unterstützt werden, die aufmerksam und respektvoll an die Interessen und Bedarfe von Kindern anknüpfen

1.2In Alltagssituationen mit Pädagog:innen in Beziehungen interagieren, die von Emotionalität, Vertrauen und Ebenbürtigkeit gekennzeichnet sind

1.3Sich in ernsten Konfliktsituationen auf Pädagog:innen verlassen können, die verständnisvoll und fair intervenieren und den Kindern helfen, Strategien für ein friedliches und demokratisches Miteinander zu entwickeln

1.4An der Gestaltung eines »schönen« Ganztags beteiligt sein, mitreden und mitbestimmen

2. Qualitätsbereich: Die Gestaltung einer positiven Peer-Kultur

2.1»Wild« spielen: sich gegenüber anderen behaupten, sich mit anderen messen und in der Gruppe selbst tragfähige Regeln entwickeln

2.2Sich zurückziehen, sich unterhalten und soziale Beziehungen verhandeln

2.3Sich einen Ort aneignen und Fantasiespiele spielen

2.4Freund:innen haben, Freundschaft erleben und sich auf Freund:innen verlassen können

3. Qualitätsbereich: Die produktive Bearbeitung von Themen und Aufgaben der mittleren und späten Kindheit

3.1(Noch) Verbotenes tun und Grenzen austesten

3.2Zerstreuenden, unterhaltsamen und entspannenden Aktivitäten nachgehen

3.3Handlungspraktischen Tätigkeiten lang anhaltend nachgehen und sich in Situationen mit Ernstcharakter bewähren

3.4Sich in riskante, herausfordernde Bewegungsaktivitäten und in (kompetitive) Bewegungsspiele vertiefen

4. Qualitätsbereich: Die Erweiterung des Bildungsraums Ganztag in die Natur und die Außenwelt

4.1Naturerfahrungen machen

4.2Ausflüge machen und die Außenwelt erfahren

Zusammenfassung und Diskussion

Literatur

Anhang

Dank

Die Autor:innen

Abstract/Zusammenfassung

Auf die Kinder hören!

Die Große Koalition hat in ihrem Koalitionsvertrag vom 12. März 2018 die Einführung eines Rechtsanspruchs auf ganztägige Bildung und Betreuung für Kinder im Grundschulalter ab dem Jahr 2025 angekündigt. Dieser Rechtsanspruch soll im Sozialgesetzbuch VIII verankert werden. Das in der laufenden Legislaturperiode aufgelegte Investitionspaket des Bundes in Höhe von zwei Milliarden Euro zur Förderung des Ausbaus von Betreuungsplätzen für Grundschulkinder wurde durch das Ganztagsfinanzierungsgesetz bis 2028 gesichert. Im Rahmen des Corona-Konjunkturpakets ist der Umfang der Investitionsmittel um weitere 1,5 Milliarden Euro erhöht worden.

Flankierend zu diesem Gesetzesvorhaben haben Arbeiterwohlfahrt Bundesverband, Bertelsmann Stiftung, Robert Bosch Stiftung und Stiftung Mercator eine Workshopreihe initiiert. Expert:innen aus Politik, Verwaltung und Verbänden arbeiten seit Herbst 2018 in einem vertraulichen Rahmen zusammen, um maßgebliche offene Fragen, die für eine qualitätsvolle Umsetzung des Rechtsanspruchs auf einen Ganztagsplatz beantwortet werden müssen, zu identifizieren und teilweise in zu diesem Zweck beauftragten Expertisen auch zu beantworten. Mit der Einrichtung dieses Expert:innenkreises wollen die vier Organisationen einen Beitrag dazu leisten, das guten Ganztagsangeboten innewohnende Potenzial für mehr Chancengerechtigkeit und bessere Entwicklungs- und Teilhabechancen von Kindern auszuschöpfen.

Die Runde der Expert:innen hat dazu in der Workshopreihe eine systematische Darstellung unterschiedlicher Perspektiven auf ganztägige Bildungs- und Betreuungsangebote für Grundschulkinder verfolgt. Die Diskussionen machten deutlich, dass für die Erarbeitung von Leitlinien für einen guten Ganztag insbesondere auch die Sichtweisen der Kinder in den Blick genommen werden müssen. Angesichts der relativ schmalen empirischen Forschungslage entschlossen sich die vier Ausrichterorganisationen, auch zu diesem Thema eine Studie in Auftrag zu geben.

Als wissenschaftliche Partner:innen konnten Professorin Iris Nentwig-Gesemann und ihre Kollegen Bastian Walther und Florian Fried vom Institut für Demokratische Entwicklung und soziale Integration (DESI) in Berlin gewonnen werden. Sie verfügen u.a. über intensive methodische Kompetenz in der qualitativ-rekonstruktiven Erforschung der Perspektive von Kindern. Die in einem vielfältigen Metho-denmix im Rahmen der Studie erarbeiteten Qualitätsbereiche und -dimensionen demonstrieren deutlich, wie anders ganztätige Settings gestaltet werden müssen, wenn sie die Stimmen von Mädchen und Jungen in sie betreffenden Angelegenheiten einbeziehen und ernst nehmen.

Wir sind überzeugt: Nur, wenn Kinder gehört und an der Ganztagsgestaltung beteiligt werden, entstehen Lern- und Lebensorte, die Chancen auf gutes Aufwachsen und eine gute Entwicklung bieten. Als Organisationen, die den Teilhabechancen der kommenden Generationen verpflichtet sind, werden wir uns daher weiter dafür engagieren, dass die Perspektiven von Grundschulkindern auf guten Ganztag beim weiteren Ausbau eine zentrale Rolle spielen.

Berlin, Essen, Gütersloh und Stuttgart, im März 2021

Dieter Eckert, Arbeiterwohlfahrt Bundesverband

Dirk Zorn, Bertelsmann Stiftung

Carolin Genkinger, Robert Bosch Stiftung

Viktoria Latz, Stiftung Mercator

Einleitung

Der Ausbau der Ganztagsschulen in Deutschland hat sich in den vergangenen Jahren schnell und dynamisch entwickelt: »Lag der Anteil an Ganztagsschulen an allen schulischen Verwaltungseinheiten im Jahr 2005 noch bei 28 Prozent, liegt er inzwischen laut aktueller Statistik der Kultusministerkonferenz (KMK 2018) im Schuljahr 2016/2017 bei knapp 68 Prozent« (DIPF et al. 2019: 8). Wenn im Jahr 2025 der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung eingeführt wird, ist anzunehmen, dass – analog zur Einführung des Rechtsanspruchs auf einen Kitaplatz – die Besuchsquoten des Ganztags stark steigen werden (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2020: 121 f.). Um eine ganztägige Betreuung von Grundschulkindern gewährleisten zu können, müssen in den nächsten sechs Jahren etwa 820.000 neue Plätze geschaffen werden (DJI 2019). Mit dieser Entwicklung ist auch der klassische Hort (der vor allem in den ostdeutschen Bundesländern eine ausgeprägte Tradition hat, vgl. Autorenkollektiv 1987) als sozialpädagogisches Angebot der Kinder- und Jugendhilfe mit einem Erziehungs-, Bildungs- und Betreuungsauftrag wieder in den Blick gerückt und die Debatte um eine Professionalisierung der Hortpädagogik ist angestoßen worden. Nordt und Strätz (2017) konstatieren diesbezüglich einen Mangel an Verknüpfungen zwischen unterrichtlichen und außerunterrichtlichen Angeboten sowie an Konzepten zur Kooperation von schul- und sozialpädagogischen Fachkräften.

Verbunden mit dem Rechtsanspruch auf eine ganztägige Betreuung schreitet die Entwicklung zur »Kindheit in Institutionen« (Baader 2014: 442 ff.) weiter voran und es stellt sich dringlicher denn je die Frage nach den Erfahrungen, Orientierungen, Einschätzungen und Wünschen der Kinder. In Schule, Ganztag und Hort geht es ganz zweifelsfrei um das Kind direkt »berührende Angelegenheiten« und darum, sein »Wohl« vorrangig zu berücksichtigen (UN-Kinderrechtskonvention 1989; Wapler 2020). Dieses Wohl (»best interests of the child«) kann – werden Kinder als gleichwürdige und mit Rechten ausgestattete Subjekte anerkannt – nicht nur von außen bestimmt werden, sondern muss die Perspektiven der Kinder und ihr subjektives Wohlbefinden maßgeblich berücksichtigen. Die Rechte der Kinder – ihr Recht auf Achtung ihrer Würde, ihr Recht auf Bildung sowie auf Spiel, Freizeit und Erholung, ihr Recht auf Beteiligung, also darauf, gehört zu werden, mitwirken und mitbestimmen zu können – bilden auch in Schule, Ganztag und Hort das Fundament, auf dem Beziehungs- und Bildungsarbeit ruhen.

Im Zentrum der explorativen Studie, deren Ergebnisse hier zusammenfassend vorgestellt werden, stand die Rekonstruktion der Erfahrungen und Praktiken, der Orientierungen und Relevanzen von Grundschulkindern in Bezug auf den Ganztag1. In einem kontinuierlichen Prozess des Vergleichens konnten 14 Qualitätsdimensionen in vier Qualitätsbereichen herausgearbeitet werden. Dabei handelt es sich um – zwischen positiven Horizonten und negativen Gegenhorizonten2 aufgespannte – typische Orientierungen von Kindern hinsichtlich der Frage, was aus ihrer Perspektive einen guten Ganztag ausmacht. Eingegangen sind auch explizite Einschätzungen und Bewertungen der Kinder, doch der Formulierung der Qualitätsdimensionen liegen vor allem ihre impliziten Wissensbestände zugrunde, die aus Fokussierungssequenzen3 rekonstruiert wurden.

Die Studie verortet sich methodologisch-methodisch in einer spezifisch wissenssoziologisch fundierten, praxeologisch ausgerichteten Kindheitsforschung, in deren Zentrum die Dokumentarische Methode (Bohnsack 2014, 2017; Bohnsack, Nentwig-Gesemann und Nohl 2013) steht. Im Folgenden werden wir kurz von »Dokumentarischer Kindheitsforschung« sprechen (Nentwig-Gesemann et al. 2021; Wagner-Willi, Bischoff-Pabst und Nentwig-Gesemann 2019).

1Mit Ganztag sind im Folgenden alle Formen der ganztägigen Betreuung von Schulkindern in Grundschulen und Horten gemeint.

2Mit (Gegen-)Horizonten werden in der Dokumentarischen Methode explizite und vor allem implizite (z. B. narrativ entfaltete) Vergleichshorizonte bezeichnet, zwischen denen ein Orientierungsrahmen gleichsam aufgespannt ist: Wohin streben Orientierungen, was ist ihr positives Ideal und wovon grenzen sie sich ab? (Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014: 296).

3Mit Fokussierungssequenzen werden in der Dokumentarischen Methode Fokussierungs-metaphern und Fokussierungsakte bezeichnet, besonders selbstläufige, interaktiv dichte, metaphorisch-szenisch aufgeladene Passagen, in denen sich Erlebniszentren dokumentieren (vgl. genauer: Nentwig-Gesemann 2010).

Theoretische Verortungen

Ganztag als Ort der Gestaltung (inter- und intra-) generationaler und organisationaler Ordnungen

Die Dokumentarische Kindheitsforschung ist dadurch gekennzeichnet, dass die kollektiven Erfahrungen und Erlebnisse von Kindern, ihre handlungsleitenden Orientierungen und Praktiken sowie die sozialen (u. a. auch pädagogischen) Praktiken rekonstruiert werden, in denen Kindheit, Kinder und Kindsein immer wieder neu hervorgebracht und ausgestaltet werden. Dabei wird auch die Mit-Wirkung von räumlichen, materialen und zeitlichen Arrangements an der Hervorbringung bzw. Genese von Praxis in den empirischen Blick genommen. Die generationale Ordnung betrachten wir nicht als binäres Gegeneinander, sondern als ein komplexes (pädagogisches) Feld, das im Sinne Karl Mannheims von Gleichzeitigkeit und Ungleichzeitigkeit geprägt ist: »Er [Mannheim] geht davon aus, dass auf der einen Seite jedes Individuum ›mit Gleichaltrigen und Verschiedenaltrigen in einer Fülle gleichzeitiger Möglichkeiten‹ lebt, also in gemeinsamer Zeitgenossenschaft, dass auf der anderen Seite für jeden die gleiche Zeit eine andere Zeit, nämlich ein anderes Zeitalter selbst ist, das er nur mit Gleichaltrigen teilt« (Hengst 2009: 59).

Der rekonstruktive Blick auf das Binnenleben in den Einrichtungen, und dabei noch einmal fokussiert auf die Perspektiven und Interaktionsgeflechte der Kinder, sucht also immer auch nach empirischen Spuren für den praktischen Umgang mit der generational-pädagogischen Rahmungshoheit der Erwachsenen zum einen und der organisationalen Rahmungshoheit zum anderen (Nentwig-Gesemann und Gerstenberg 2018). Im Ganztag werden nicht nur (inter- und intra-)generationale Ordnungen aus- und umgestaltet, sondern die (teils noch unklaren) Normen, Programmatiken und Rollenerwartungen des Ganztags als eines multiprofessionellen Handlungsfeldes, in dem eine Kooperation von Schul- und Sozialpädagogik erwartet wird, treffen auf habituelle Muster der Akteur:innen im Feld. In den konkreten Ganztagen, die in diese Studie einbezogen wurden, konnten dementsprechend sehr unterschiedliche normative Vorstellungen zum Wesen des Ganztags, wie auch ganz verschiedene habituelle Praktiken der Ausgestaltung dieses pädagogischen Feldes durch die in ihm handelnden und interagierenden Akteur:innen vorgefunden werden.

Immer wieder stoßen Kinder mit ihrem kindspezifischen Orientierungsrahmen auf andere (organisationale, pädagogische und generationale) Rahmungen, die sich als nicht kongruent erweisen: Das, was die raum-zeitlichen Strukturen, die materialen und sozialen Arrangements, die organisationalen Regeln, Normen und Rollenerwartungen vorgeben, ist der Raum, in dem die Kinder im Ganztag sich bewegen und den sie mitgestalten. Immer dann, wenn Spannungen deutlich wurden, konnte in der Studie ein besonders klarer Blick auf die Spezifität der Perspektiven der Kinder geworfen werden. Dabei fragen die empirischen Rekonstruktionen in einer soziogenetischen Einstellung auch nach dahinterliegenden gesellschaftlichen, organisationalen und interaktionalen Milieus bzw. konjunktiven Erfahrungsräumen, in die die Perspektiven der Kinder eingebettet sind.

Institutionalisierung und Pädagogisierung von Kindheit

Die Geschichte der Kindheit und ihrer zunehmenden Institutionalisierung(en) (Zeiher 2009; Betz et al. 2018) ist durchzogen von gesellschaftlichen Diskussionen darüber, was eine gute Kindheit ist und wie Institutionen ausgestaltet sein müssen, damit sie Kindern bestmögliche Entwicklungs- und Bildungschancen eröffnen. Institutionen sind aber nicht nur Orte der Pädagogik und der pädagogischen Beziehungsarbeit, sondern gesellschaftliche Orte, in denen Kindheit und Kindsein formiert und normiert wird. Kindheit im Kontext von Institutionalisierung zu analysieren bedeutet sie als »Konfiguration sozialer Prozesse, Diskurse und rechtlicher, zeitlicher und räumlicher Strukturen« aufzufassen, »die zu einer bestimmten Zeit in einer bestimmten Gesellschaft das Leben der Kinder formen« (Zeiher 2009: 105). Kinder besuchen nicht nur ab einem jüngeren Alter eine öffentliche Einrichtung der Betreuung, Bildung und Erziehung, sondern verbringen dort auch durchschnittlich mehr Zeit als früher. Dem Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz in einer Kindertageseinrichtung in den ersten drei Lebensjahren, der ab 2013 besteht, folgte der Beschluss, ab 2025 die Ganztagsbetreuung in Schulen zu gewährleisten.

Für die Kinder bedeutet dies auch, dass sie immer früher und länger mit (überwiegend weiblichen) Erwachsenen konfrontiert sind, die für die (sozial-)pädagogische Arbeit mit Kindern ausgebildet wurden. Kinder erleben und gestalten also immer mehr Beziehungen mit, bei denen es sich in einer primären Rahmung um rollenförmige Beziehungen handelt – in der Grundschule begegnen Schüler:innen Lehrkräften und anderen pädagogischen Professionellen, die zum einen für ihre Bildungs- und Erziehungsarbeit mit Kindern bezahlt werden und zum anderen einen gesellschaftlichen Auftrag zu erfüllen haben. Auch die Kinder sind hier mit bestimmten Rollenbildern und -erwartungen an ihr Schulkindsein konfrontiert und unterliegen damit normativ-kontrollierenden Erziehungs- und Bildungsvorstellungen.

Ist auch die verbleibende Freizeit von Kindern stark an institutionalisierte Freizeitangebote gebunden – Fölling-Albers (2000: 124) spricht diesbezüglich von einer »Scholarisierung« der Freizeit –, ist von einer Dominanz pädagogischer bzw. pädagogisierter Räume auszugehen: Kindheit vollzieht sich in speziell für Kinder vorbereiteten Räumen und wird von speziell ausgebildeten Fachkräften begleitet. Hitzler sprach schon 1995 von einer »Zerstückelung und Entsinnlichung der Raumerfahrung aufgrund der Spezialisierung und Differenzierung von Räumen« (Hitzler 1995: 131). Je spezialisierter Außen- und Innenräume zudem sind und je mehr sie auf Kinder zugeschnitten werden, umso weniger Gestaltungsmöglichkeiten bleiben den Kindern, die Räume mit ihren Spielideen zu beleben und sie im Sinne von Muchow zu »überlagern«, zu »durchwachsen« und »umzuleben« (Muchow und Muchow 2012: 160).

Nicht nur die weitgehend unbeaufsichtigte »Straßenkindheit« bzw. Draußen-Kindheit ist passé (Zinnecker 1990), sondern auch die Zeiten und Räume, in denen Kinder sich selbst in Peergroups organisieren und Kinderkulturen (Klaas et al. 2011) entfalten können, werden kürzer bzw. weniger. Und mehr noch stellt sich die Frage, ob das Spielen als ko-konstruktive und freie Aktivität (Youniss 1994), die Kindern über die UN-Kinderrechtskonvention als Recht verbrieft ist, sich in einer institutionalisierten und pädagogisierten sowie »verhäuslichten« Kindheit (Zinnecker 1990) noch hinreichend gut und lange entfalten kann.

Den Überlegungen von Zinnecker (2001) folgend, der die Bedeutung der Straße als »gesellschaftlichen Handlungsort für Kinder« herausgearbeitet hat, stellt sich auch in Bezug auf den Ganztag (als einem ganztägigen Lebensort für Kinder) die Frage, ob und wie er zum einen Lernraum und zum anderen Lebensraum sein kann. Zinnecker (ebd.: 83) formuliert: »Zunächst ist der Lebensraum Straße auf Bewegung und Beweglichkeit ausgerichtet und stellt somit ein Gegenmilieu zur eingrenzenden, abschließenden Welt der Familie und anderer pädagogischer Einrichtungen dar. Hier können Kinder ohne Kontrolle ihre Umwelt erkunden, auf Entdeckungsreise gehen. Andererseits nutzen sie diesen öffentlichen Raum auch, um ihre Kompetenzen zu präsentieren.« Aus heutiger Perspektive ist der »Handlungsort Straße« als Metapher zu lesen: Die institutionalisierte Kindheit gewährleistet allen Kindern auch ein Mehr an Schutz und Förderung und trägt zur Bildungs- und Chancengerechtigkeit bei. In Überlegungen zur Qualität des Ganztags muss aber zweifelsfrei die Bedeutung von Explorations- und Bewegungsräumen für Kinder einbezogen werden.

Folgen wir hier weiter den Ergebnissen zweier Studien von Blinkert (Blinkert 1993; Blinkert et al. 2015), ist Kindheit heute vor allem geprägt von einem Verlust an Aktionsräumen bzw. einer zu geringen »Aktionsraumqualität« im Wohnumfeld von Kindern. Unter Aktionsräumen werden Räume verstanden, »welche für Kinder frei zugänglich sind und ein gefahrloses, gestaltbares Territorium mit Interaktionschancen darstellen« (Blinkert 1993: 7 f.). Dort können Kinder sich wild und ein bisschen riskant bewegen (Bewegung), Neues, Unerwartetes, Herausforderndes und Unbekanntes entdecken und tun (Kontingenz und Vielfalt), sich von unablässig sichernden und kontrollierenden Erwachsenen entfernen (Selbstständigkeit und Selbstbestimmheit) und lernen, (Mit-)Verantwortung für die Gemeinschaft und Regeln des Miteinanders zu übernehmen (Peer-Gemeinschaft). Eine Studie von Weidel (2015) zeigt, dass Kinder in besonderer Weise sozialraumorientiert sind: Sie sind daran orientiert, »in der sie umgebenden Umwelt selbstständig Orte auf(zu)suchen, die ihnen interessant und erlebenswert erscheinen und die somit zur Basis von Lernerfahrungen werden. […] In den meisten Fällen stellten diese keine gesondert für Kinder konzipierten Bereiche dar« (ebd.: 60 f.).

Damit wird die Orientierung der Kinder daran, Räume zu erkunden, sie sich anzueignen, umzugestalten, zu umleben und an ihrer Qualität mitzuwirken, unterstrichen. Und damit werden Potenziale des Ganztags deutlich: Das Erkunden, Erschließen und Erspielen von Aktionsräumen kann Kindern sowohl innerhalb als auch außerhalb der physischen Räume, in denen ganztägige Erziehung, Bildung und Betreuung gewährleistet wird, ermöglicht werden.

Qualitätsentwicklung und Professionalisierung im Feld des Ganztags

Qualität kann nur in Bezug auf bestimmte, die Qualitätsentwicklung orientierende, Ziele bestimmt, untersucht und weiterentwickelt werden. Zudem haben verschiedene Akteur:innen bzw. Akteursgruppen unterschiedliche Perspektiven auf die – vom eigenen Standort und aus dem eigenen Erleben heraus wahrgenommene – Qualität von etwas.

In Bezug auf das aktuelle Bildungs- und Qualitätsverständnis von Ganztagsschulen spiegelt auf der Ebene der Ideal- bzw. Zielvorstellungen die folgende Definition den fachwissenschaftlichen Diskurs wider: »Unter der Prämisse, dass Ganztagsschule einem gegenüber reinem Fachlernen aber auch ›bloßer Aufbewahrung‹ der Schüler/-innen erweiterten Bildungsverständnis folgt, ist die umfassende Entwicklung der Persönlichkeit der Schüler/-innen Ziel von Bildung und Erziehung in der Ganztagsschule. (…) Zu betrachten sind demnach nicht nur die Lernfortschritte der Schüler/-innen im kognitiven Bereich, sondern auch fächerübergreifende Wirkungen auf z.B. Motivation, Wohlbefinden und soziales Lernen in Abhängigkeit schulischer Qualitätsmerkmale« (Fischer et al. 2012: 24). Erkennt man die Gültigkeit dieser sehr allgemein gehaltenen Kriterien für den aktuellen Diskurs zum Thema Ganztag und seiner Qualitätsentwicklung an, stellt sich dennoch die Frage, aus wessen Perspektive Qualität beschrieben und bewertet wird, wer dabei mitreden kann und wer nicht. Werden über wissenschaftlich fundierte Kriterien hinaus auch die Qualitätsvorstellungen von Trägern, Fachkräften und Eltern einbezogen? Wird vor allem den Kindern in dieser sie unmittelbar betreffenden Angelegenheit das Gehör geschenkt, das ihnen rechtlich verbrieft ist?

Eine konsequent interperspektivisch konzipierte Qualitätsentwicklung (vgl. Nentwig-Gesemann et al. 2021) impliziert, dass es weder für den empirischen Zugang zu Qualität noch für die praktische Herstellung von Qualität und die Qualitätsentwicklung ausreicht, wenn die verschiedenen Perspektiven nebeneinander gedacht und behandelt werden. Vielmehr muss es darum gehen, das Zusammenspiel der diversen Ebenen und Akteursgruppen, die wechselseitigen Wirkmechanismen und Spannungsfelder zwischen Norm und Habitus, die bei ihrem Aufeinandertreffen entstehen, in den Blick zu nehmen und zu bearbeiten. Die Kernprinzipien einer solchen Qualitätsentwicklung sind Transparenz, Diskurs und Kompromissfreundlichkeit.

Ohne Zweifel zählen die pädagogischen Fachkräfte zu den qualitätsrelevanten Akteursgruppen im Ganztag: Sie müssen – in den gegebenen Rahmenbedingungen – tagtäglich und in der direkten Interaktion mit den Kindern (und Eltern) professionell agieren und die Qualität des Ganztags als Lern- und Lebensort hervorbringen. Darüber hinaus sind sie als Mitglieder eines pädagogischen Teams mit der Erwartung konfrontiert, den Ganztag als Organisation so weiterzuentwickeln, dass er den an ihn gerichteten Erwartungen gerecht wird. Die Rede vom Ganztag als »Schule der Zukunft« und die damit verbundenen Hoffnungen auf »eine Neuordnung des Lernens durch die Verbindung von fachlichen und überfachlichen Gegenstandsbereichen« (Jürgens 2018: 5 f.) schrauben die Erwartungen in die Höhe und bleiben zugleich – zwangsläufig – diffus. Im Sinne eines »Doing Ganztag« kann die Qualität (hier im Sinne von Beschaffenheit) der ganztägigen Erziehung, Bildung und Betreuung nur in komplexen Wechselwirkungsbeziehungen hergestellt werden, zu denen neben den Menschen auch Programmatiken, Strukturen, zeitliche und räumlich-materiale Settings gehören.

Die Praxis der pädagogischen Fachkräfte im Ganztag kann dann als professionell bzw. professionalisiert betrachtet werden, wenn es ihnen gelingt, eine »konstituierende Rahmung« (Bohnsack 2020: 30 ff.) zu entwickeln, eine habitualisierte, verlässliche Praxis, welche nicht in erster Linie an vorgegebenen Programmatiken und deren Umsetzung orientiert ist, sondern auf das eigene Erfahrungswissen ebenso rekurriert wie auf die Orientierungsrahmen bzw. den Habitus der Eltern und vor allem der Kinder. Ein auf den Ganztag bezogenes Beispiel wäre, dass Fachkräfte eine konstituierende Rahmung in Bezug auf die Frage entwickeln müssen, wie sie mit dem Spannungsverhältnis zwischen der organisationalen Norm der Hausaufgabenbetreuung und dem Wunsch der Kinder nach Spielen und Erholung umgehen wollen. Als professionell zu bezeichnen wäre, wenn es den Fachkräften gelingt, auf eine monoperspektivische Fremdrahmung zu verzichten (in deren Folge dann das Hausaufgabenmachen zur Pflichtaufgabe bzw. sogar zum Zwang wird) und stattdessen mit den Beteiligten (hier den Eltern und vor allem den Kindern) in einen kompromissorientierten Diskurs zu gehen und eine verlässliche Regelung zu finden, wo die Stimmen der Kinder angemessen Gehör gefunden haben.

Forschungsstand

Die Perspektiven von Grundschulkindern auf die Ganztagsbetreuung wurden bereits in Studien mit unterschiedlichen Schwerpunkten untersucht; allerdings lassen sich noch größere Forschungsdesiderate ausmachen, wenn es um Erkenntnisse geht, die sich auf ganz Deutschland beziehen und die verschiedenen Formate des Ganztags umfassen.

Ausnahmen sind hier das LBS-Kinderbarometer (ProKids 2018) mit der Befragung von 10.025 Kindern im Alter von neun bis 14 Jahren und die World-Vision-Studie mit der Befragung von über 2.500 Kindern zwischen sechs und elf Jahren (Pupeter und Hurrelmann 2013). Durchaus interessante Ergebnisse – etwa dass derzeitige Ganztagsangebote bei Kindern aus sozial benachteiligten Milieus weniger beliebt sind (ebd.: 122 f.) oder dass 59 Prozent der Befragten ihre Hausaufgaben lieber zu Hause machen, Kinder mit Migrationshintergrund aber mehrheitlich die Schule als Ort der Hausaufgabenerledigung vorziehen (ProKids 2018: 130 ff.) – müssten jedoch qualitativ vertieft werden, um daraus Schlussfolgerungen für eine Qualitätsentwicklung ableiten zu können, die die Kinderperspektiven einbezieht.

Auf eine quantitative Studie, die zwar regional begrenzt ist, aber sehr interessante Ergebnisse zu verschiedenen Themenfeldern liefert, soll hier ebenfalls verwiesen werden: Andreas Wildgruber (2017) befragte 71 Kinder aus sieben offenen Ganztagsschulen des Modells »OGTS-Kombi« in Bayern mit einem Fragebogen. Dieser umfasste zehn Bereiche, unter anderem das Mittagessen, Räumlichkeiten und Materialien, freizeitpädagogische Aktivitäten, Hausaufgabenzeit, Partizipation, soziale Beziehungen und Kooperationspraxis zwischen Fach- und Lehrkräften sowie Fragen danach, was die Kinder nach vier Wochen vermissen würden, wenn der Ganztag geschlossen wäre. 96 Prozent der Kinder nannten in Bezug auf den letzten Aspekt das Zusammensein mit anderen Kindern. Aber auch das Außengelände (90 %), die Lehrkräfte (84 %) und die Betreuer:innen im Offenen Ganztag (82 %) sowie Ausflüge (80 %) und Nachmittagsangebote (78 %) würden vermisst (ebd.: 22). Sehr positiv wurden auch die Beziehungen zu anderen Kindern bewertet: So stimmen die Befragten auf einer Skala von 0 (gar nicht) bis 5 (ganz) im Schnitt mit 4,7 der Aussage zu, im Ganztag gute Freunde zu haben. Bei der Aussage »wenn ich von jemandem geärgert werde, dann helfen mir andere Kinder« liegt die Zustimmung etwas niedriger bei 4,1 (ebd.: 19). Wildgruber findet zudem Hinweise auf grundlegend positive Beziehungen der Kinder zu den Fachkräften und macht dies beispielsweise an ihrer Zustimmung zu den Items fest, dass sie von den Fachkräften herzlich begrüßt und verabschiedet werden, sich bei Streit an ihre:n Betreuer:in wenden können und diesen vertrauen. Die Zustimmung liegt auf einer Skala von 0 (gar nicht) bis 5 (ganz) bei diesen drei Aspekten bei 4,5, 4,3 und 4,1 (ebd.).

Insgesamt besteht in der Forschung zum Thema Ganztag Einigkeit darüber, dass sich die Frage nach den Wirkungen eines ganztägigen Aufenthalts von Kindern in einer Ganztagsschule bzw. in Schule und Hort nicht auf die Verbesserung formaler Schulleistungen beschränken kann. Zunehmend setzt sich auch die Einsicht durch, dass die Perspektiven von Kindern, als den eigentlichen Adressat:innen einer Schulreform, viel stärker als bislang in die Überlegungen zur Qualität einbezogen werden müssten (Staudner 2018: 64; Plehn 2019: 68; Neuss 2017: 22 ff.) und dass für einen vertiefenden Einblick in die Kinderperspektiven qualitative Studien notwendig und zielführend sind.

Nicht zuletzt aufgrund der heterogenen Landschaft der Angebote fokussieren vorliegende qualitative Studien (zum Teil ergänzt durch einen standardisierten methodischen Zugang) typischerweise eine bestimmte Form des Ganztags in einer bestimmten Region (vgl. Tabelle 1).

Die Forschungsarbeiten zum Thema Ganztag aus Kindersicht sind mit dem Setting der offenen (Beher et al. 2007; Deinet et al. 2018) oder gebundenen (Staudner 2018) Ganztagsschule verbunden. So begleiteten Karin Beher und Kolleg:innen (2007) die Einführung der offenen Ganztagsschule (OGS) in Nordrhein-Westfalen (NRW) unter anderem mit der Befragung von Kindern mittels standardisierter Fragebögen und verschiedener qualitativer Interviewformen zu ihren Perspektiven auf die OGS und verfolgten damit ein methodentriangulierendes Forschungsdesign.

Ein sehr elaboriertes Erhebungsdesign verwendete die ebenfalls in NRW angesiedelte Studie »Offene Ganztagsschule – Schule als Lebensort aus Sicht der Kinder« der Forschungsgruppe um Ulrich Deinet (Deinet et al. 2018). Die Forscher:innen befragten Kinder in offenen Ganztagsschulen zu ihrem »Erleben«, der »Nutzung der Räumlichkeiten und ihrem subjektiv wahrgenommenen Grad an Partizipation bei der Gestaltung der OGS« (ebd.: 18). Dazu wurde ein Mixed-Methods-Ansatz gewählt, der die Instrumente Kinderfragebogen, Nadelmethode, subjektive Schulkarte und Landkarte, Gruppeninterviews sowie Autofotografie (ebd.: 19 f.) beinhaltete und damit den Kindern eine Vielfalt an Möglichkeiten gab, etwas über ihre Erfahrungen, Orientierungen und Einschätzungen zum Ausdruck zu bringen. Auch die methodische Herangehensweise von Stephanie Staudner (2018) erscheint interessant: Sie verglich Tagebuchprotokolle von Drittklässler:innen aus Regelklassen zu den für sie bedeutsamen Aktivitäten über einen Tag hinweg mit denen aus Halbtagsklassen in einer oberbayerischen Grundschule und führte dazu anschließend vertiefende Interviews mit den Kindern.

In der qualitativen Studie des StEG-Konsortiums (2016) steht das Lernen an Ganztagsschulen aus Sicht der Schüler:innen im Fokus. Zur Frage, was ein »schüleraktivierendes außerunterrichtliches Angebot« ausmacht, wurden Kinder aus vier Ganztagsschulen der Primarstufe und fünf der Sekundarstufe in Interviews und Gruppendiskussionen befragt und die pädagogische Praxis teilnehmend beobachtet.

Studien zur Qualität außerschulischer Betreuung aus Kindersicht sind auch in Österreich und Island zu finden: So interessierte sich eine Gruppe um Waltraud Gspurning (Gspurning et al. 2010) für die pädagogische Qualität der Nachmittagsbetreuung in Österreich und befragte dazu Kinder mittels Gruppendiskussionen. Kolbrún Þorbjörg Pálsdóttir (2019) ließ isländische Kinder Bilder zeichnen zum Übergang von der Schule ins »Freizeitzentrum« (vergleichbar mit dem Hort) und führte dazu Interviews.

Sofern in diesen Studien eine Auswertungsmethode angegeben wird, handelt es sich um die qualitative Inhaltsanalyse, mittels derer Kategorien entwickelt wurden, die die Perspektiven und Vorstellungen der Kinder zu einem guten Ganztag inhaltlichthematisch bündeln. In den Forschungsberichten werden allerdings, mit Ausnahme der Dissertation von Staudner (2018), weder der systematische und regelgeleitete Entwicklungsprozess der Kategorien aus dem gesammelten empirischen Material heraus noch differenzierte Kategoriensysteme mit Ober- und Unterkategorien dargestellt; dies erschwert die Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse erheblich. Waren auch quantitative Erhebungen eingeschlossen, so wurden diese Daten mittels deskriptiver Statistik ausgewertet und zu einzelnen entwickelten Kategorien in Beziehung gesetzt.

Vergleicht man die Ergebnisse der Studien, erweisen sich einige Themen – unabhängig vom Setting (Nachmittagsbetreuung/Hort vs. Ganztagsgrundschule) und von regionalen Schwerpunkten – als besonders relevant und damit in ihrer Verallgemeinerbarkeit empirisch gut abgesichert: In der Perspektive von Kindern gehören die Themen Freundschaft, Spiel und Bewegung, Partizipation, soziales Klima bzw. Fachkräfte sowie Lernen und Hausaufgaben zu ihren fokussierten Erfahrungsbereichen im Ganztag. Darauf soll hier genauer eingegangen werden.

Tabelle 1: Qualitative bzw. methodentriangulierende Forschungsarbeiten zum Thema »Ganztag aus Kindersicht«

Freundschaft

Kinder legen großen Wert auf »selbstbestimmte Aktivitäten« (Beher et al. 2007: 234) und unverplante Freizeit (Staudner 2018: 215), die sie mit ihren Freund:innen verbringen können. Auf die Frage, was sie am meisten vermissen würden, antwortet mit 88,75 Prozent die überwältigende Mehrheit der Kinder: »das Spielen mit Freunden« (Deinet et al. 2018: 23).

Die meisten Kinder geben an, als Erstes zu Freund:innen zu gehen, wenn sie Ärger haben oder traurig sind – noch vor den Lehrer:innen, Fachkräften oder Eltern (Deinet et al. 2018: 28). Die Autor:innen leiten davon ab, dass die Freund:innen die wichtigsten Bezugspersonen der Kinder im Ganztag seien. Auch in der Studie von Pálsdóttir (2019: 106 f.) zeichneten Kinder in vielen Bildern ihre Freund:innen und machten deutlich, dass ihnen in den Einrichtungen wichtig sei, sich auf diese verlassen zu können. Die Arbeitsgruppe um Gspurning (2010) differenziert dies noch etwas aus, wenn sie konstatiert, dass besonders die gegenseitige Unterstützung und das Helfen unter Freund:innen von den Kindern geschätzt (ebd.: 125) werden, während das Ausgeschlossen-Werden eine negative Erfahrung darstellt (ebd.: 126).

Spiel und Bewegung

Was die favorisierten Aktivitäten der Kinder im Ganztag betrifft, sortieren die Studien die Antworten der Kinder vor allem in die beiden Kategorien »Spiel« und »Bewegung«, die zudem häufig gemeinsam genannt werden. So deklarieren Kinder sportliche Aktivitäten bzw. Bewegung sowie bestimmte Spiele als »positive Erlebnisse« (Gspurning et al. 2010: 177 f.) oder als »beliebte Komponenten« (Deinet et al. 2018: 38 f.) im Ganztag – und nennen diese ungefähr doppelt so häufig wie »Lernen« oder »Unterricht« (ebd.). Dabei weisen sie auch auf die nötigen Voraussetzungen hin: So betonen sie die Bedeutung von »ungebundene[r] Freizeit« für Aktivitäten wie Fußballspielen oder Draußenspielen (Staudner 2018: 215) und mahnen ein ausreichendes Platzangebot für das Spielen (drinnen wie draußen), für Bewegungs-, aber auch Rückzugsmöglichkeiten (Beher et al. 2007: 204) und darüber hinaus für naturnahe Erfahrungen an. So kommentiert Ahmet Derecik (2018) die Befunde aus der Studie der Gruppe um Deinet (2018) und empfiehlt die Gestaltung von »Schulfreiräumen im Schulgebäude« (Derecik 2018: 119 ff.) sowie »naturnahe Nischen als entwicklungsgerechte Bewegungs-, Spiel- und Rückzugsräume« für Kinder (ebd.: 125 ff.).

Partizipation

Die vorliegenden Studien arbeiten überwiegend ein Partizipationsdefizit heraus: So können Kinder im Ganztag ihrer Meinung nach bei vielen Aspekten, wie einer flexiblen Bearbeitung der Hausaufgaben (Beher et al. 2007: 221), dem Mittagessen, Ausflügen oder der Gestaltung des Schulhofes (Deinet et al. 2018: 42), nur wenig mitentscheiden und sie wünschen sich stärkere Partizipationsmöglichkeiten (ebd.). Entsprechend wird die Fremdbestimmung durch die Erwachsenen beklagt (Gspurning et al. 2010: 109; Pálsdóttir 2019: 109), weil diese oft mit negativen Erfahrungen verbunden sei. So zeigt Pálsdóttir, wie häufig Kinder auf irgendetwas warten müssen, weil die Fachkräfte dies bestimmen (ebd.: 109). Die Autorin unterstreicht zudem, wie wichtig die Partizipation von Kindern ist, um sich als Mitglied einer Einrichtung fühlen zu können und das Zugehörigkeitsgefühl und die Identifikation zu steigern (ebd.: 103).

Für einen kindorientierten Ganztag müssen die Kinder also mit ihren Interessen ernst genommen werden und ihre Autonomie und Mitbestimmung ist sicherzustellen (Staudner 2018: 226; StEG-Konsortium 2016: 32). In diesem Zusammenhang fordert Sturzenhecker (2018), der die Ergebnisse der Studie von Deinet und Kolleg:innen (2018) in einem Gastbeitrag kommentiert, eine stärker demokratische Partizipation an Ganztagsschulen, die über ein Verständnis von Partizipation als bloßer Teilhabe hinausgeht und Kinder als gleichwertige Akteur:innen im demokratischen Diskurs der offenen Ganztagsschule anerkennt.

Soziales Klima/Fachkräfte

Die Kinder thematisieren auch die Fachkräfte und deren Rolle für das soziale Klima. So werden als »belastende Situationen« in der Studie von Deinet et al. (2018: 26) neben dem Unterricht vor allem ärgernde Kinder und Streit genannt. Laut Beher und Kolleg:innen (2007: 250) sind in diesem Zusammenhang gerechte und helfende Pädagog:innen aus Kindersicht förderlich für ein positives soziales Klima. Auch bei der Gruppe um Gspurning (2010: 179) finden sich Hinweise darauf, dass »strenge« und »ungerechte« Fachkräfte von den Kindern abgelehnt werden, während »humorvolle«, spielende und helfende Erwachsene geschätzt werden. Das StEG-Konsortium (2016) hebt zudem die Bedeutung von transparenten, gemeinsam festgelegten Regeln sowie die Bedeutung der sozialen Eingebundenheit bzw. des Gemeinschaftsgefühls der Kinder hervor (ebd.: 32).

Lernen und Hausaufgaben

Die Hausaufgaben- bzw. Lernzeit wird von den Befragten offenbar sehr unterschiedlich wahrgenommen und eingeschätzt. So finden sich widersprüchliche Angaben, die von einer sehr positiven Einschätzung der Kinder (Staudner 2018: 214) bis hin zu einer Ablehnung der Hausaufgabenbetreuung (Deinet et al. 2017: 50) reichen. Staudner (2018) berichtet, dass die Kinder vor allem die Unterstützung der Fachkräfte positiv unterstrichen und die Lernzeit als förderlich für die Entwicklung ihrer eigenen Leistungen sahen. Auch Beher et al. (2008: 69) konstatieren, dass knapp die Hälfte der Kinder gern in die Hausaufgabenbetreuung gehe, während sich lediglich 20 Prozent explizit negativ äußerten. Dabei seien vor allem eine flexible Gestaltung und der Austausch mit anderen Kindern eine wichtige Voraussetzung für eine positive Bewertung der Lernzeiten durch die Kinder (Beher et al. 2007; Deinet et al. 2018: 49). Auch die StEG-Q-Studie (StEG 2016) arbeitet diesen Befund heraus und formuliert gleichzeitig eine Erklärung für die positive Bewertung: So wird die Hausaufgabenbetreuung dort von den Schüler:innen – in Abgrenzung zum Unterricht – positiv bewertet und dafür geschätzt, dass die Aufgaben dort flexibler und gemeinsam mit Freund:innen erledigt werden können (StEG-Konsortium 2016: 32 f.). Diese Erkenntnis steht also letztlich nicht im Kontrast zu den Daten von Beher et al. (2008: 70), Deinet et al. (2018: 50) und Gspurning et al. (2010: 179, 183), die konstatieren, dass die Kinder trotzdem lieber weniger bzw. gar keine Hausaufgaben aufhätten.

Darüber hinaus weisen die angeführten Studien darauf hin, dass Kinder am Ganztag soziokulturelle Angebote, vielfältige AGs und Ausflüge als reichhaltige Bildungsgelegenheiten schätzen (Deinet et al. 2018: 51; Gspurning et al. 2010: 176; Staudner 2018: 216).

Das Vorgehen und die Fragestellungen der vorliegenden Studie zu den Kinderperspektiven auf Ganztag weisen einige Parallelen zu der von Deinet et al. (2018) auf (vgl. dazu Kapitel 4). Im Unterschied dazu wird allerdings angestrebt, durch das Sampling und die typenbildende fallübergreifende Komparation Erkenntnisse zu generieren, die über verschiedene Einrichtungsarten und Regionen in Deutschland hinweg Gültigkeit beanspruchen können. Zudem wird im umfangreichen empirischen Teil des Berichts der Auswertungsprozess transparent und damit für die Leser:innen nachvollziehbar gemacht. Das Ergebnis der Rekonstruktionsarbeit ist somit ein komplexes Gefüge aus Qualitätsbereichen und -dimensionen aus Kindersicht.

Im Fokus stehen in dieser Studie über das Thema »Ganztag aus Kindersicht« die folgenden Forschungsfragen: Welche Themen sind für die Kinder wichtig? Welche (expliziten) Einschätzungen und Bewertungen äußern sie? Darüber hinaus ist vor allem relevant, welches Erfahrungswissen und welche (impliziten) handlungsleitenden Orientierungen und Relevanzen sich in den verbalen und nonverbalen Äußerungen der Kinder dokumentieren.

Forschungsdesign

Kinder in pädagogischen Kontexten (und damit auch in der Qualitätsentwicklung) sowie in der Forschung als mit Rechten ausgestattete Akteur:innen und Mit-Konstrukteur:innen zu betrachten, ist grundlegend für den Kinderperspektivenansatz (Nentwig-Gesemann et al. 2021) und war auch in der hier vorgelegten Studie zu den Perspektiven von Kindern auf das Setting Ganztag forschungsleitend. Die Frage der Agency von Kindern ist dabei vor allem in Bezug auf die Forschungsmethoden und die Gestaltung der Beziehungen zwischen Forscher:innen und Kindern relevant: Den Kindern wurde durch die Vielfalt und Offenheit der Erhebungsmethoden und das konsequente Sich-Einlassen auf ihre Themen und Relevanzen ein hohes Maß an Selbstverantwortung und Beteiligung am Forschungsprozess ermöglicht. In einer relationalen Perspektive betrachten wir Agency – die Akteurschaft von Kindern – generell als »Ergebnis sozialer Beziehungen und Geflechte« (Kelle und Hungerland 2014: 229). Auch in Forschungssituationen und -beziehungen gilt es demnach immer wieder, kritisch zu reflektieren, welche Beteiligungs- und Einflussmöglichkeiten Kindern eröffnet werden, damit sie ihre Möglichkeiten, »sich zu äußern, gehört zu werden, sich zu beteiligen und Dinge, die sie betreffen, konkret mitzugestalten«, ausschöpfen und ein sicheres und selbstverständliches Vertrauen in ihre Agency entwickeln können (Nentwig-Gesemann und Großmaß 2017: 215).