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Eine glamouröse Stadt voller Magie, ein schrecklicher Fluch und eine unerwiderte Liebe
Seit Marlow aus dem prächtigen Evergarden ins zwielichtige Hafenviertel fliehen musste, verdient sie ihren Lebensunterhalt als Fluchbrecherin. Und sie ist die beste in ganz Caraza. Trotzdem kann sie sich in der illustren Gesellschaft nicht sehen lassen, seit ihre Mutter plötzlich verschwunden ist. Bis ausgerechnet Adrius Falcrest, Erbe der angesehensten Familie der Stadt und ihr Ex-Schwarm, sie um Hilfe bittet. Mit ihm will sie nie wieder zu tun haben, denn er hat sie tödlich gekränkt. Doch als klar wird, dass sie so herausfinden kann, was mit ihrer Mutter passiert ist, lässt sie sich widerwillig auf eine Fake-Beziehung mit ihm ein, um seinen Fluch zu brechen. Bei ihren Nachforschungen stößt sie auf gefährliche Geheimnisse, die ganz Caraza ins Wanken bringen könnten ...
Katy Pools atemlose Enemies-to-Lovers-Romantasy besticht durch großartige Figuren, eine faszinierende Welt und überraschende Wendungen bis zur letzten Seite.
Die Garden-of-the-Cursed-Reihe:
Garden of the Cursed (Band 1)
Masquerade of the Heart (Band 2) erscheint im Frühjahr 2025
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 513
Veröffentlichungsjahr: 2024
KATY ROSE POOL
Aus dem amerikanischen Englischvon Barbara Imgrund
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Erstmals als cbt Taschenbuch Januar 2025
© 2023 by Katy Rose Pool. All rights reserved.
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Garden of the Cursed« bei Henry Holt and Company, Publishers since 1866.
Henry Holt is a registered trademark of Macmillan Publishing Group, LLC, 120 Broadway, New York, NY 10271 · mackids.com
© 2025 für die deutschsprachige Ausgabe cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
www.cbj-verlag.de
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Aus dem amerikanischen Englisch von Barbara Imgrund
Lektorat: Stefanie Rahnfeld
Umschlaggestaltung: semper smile, München, unter Verwendung von Motiven von © Shutterstock.com (Chikovnaya, eren.yeager, Na Ko, Here)
Innengestaltung unter Verwendung der Bilder von: © Adobe Stock (YummyBuum)
kk · Herstellung: DiMo · ChS
Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg
ISBN 978-3-641-31525-2V001
Für Brian Dein Vertrauen in mich als Autorin ist die wahre Magie
Man sagt, dass Sommergewitter in Caraza mehr als nur Regen mit sich bringen. Wenn die Blitze über den Himmel zucken und die Luft zum Schneiden ist, dann bedeutet das, dass Probleme nicht lange auf sich warten lassen.
Marlow war nicht anfällig für Aberglauben, doch als sie auf den Anleger bei Breaker’s Neck trat und es genau in diesem Augenblick zu schütten begann, musste selbst sie zugeben, dass der Zeitpunkt unheilvoll war.
Auf der schlammigen Landenge unterhalb des Stegs lagen Schiffsrümpfe aus Rost und Stahl wie gestrandete Walkadaver; einige von ihnen waren noch unberührt, andere bereits ausgeschlachtet. Arbeiter weideten die Schiffskörper wie Aasfresser aus, die an den Knochen eines kolossalen Ungeheuers nagten; das Getöse der fallenden Trümmer war nicht vom Donner zu unterscheiden, der den Himmel erschütterte.
Normalerweise mied Marlow Breaker’s Neck, wann immer sie konnte, und zwar nicht nur wegen des Lärms und des Gestanks nach angeschmortem Metall und brackigem Salzwasser, den die Abwrackwerft ausdünstete. In den Marschen war es fast überall laut, doch Breaker’s Neck stellte eine zusätzliche Bedrohung dar – es war Copperhead-Territorium. Ein gefährlicher Ort für jeden in den Marschen, aber besonders riskant für Marlow.
Allerdings hatte sie keine große Wahl. Dieser Fall zog sich jetzt schon fast zwei Wochen hin und die Zeit lief ab. Heute Abend fand die große Premiere der Ballade von der Monddiebin statt, und wenn die Primaballerina sie tanzen sollte, dann würde Marlow der Gefahr ins Auge sehen müssen.
Sie zog die Kapuze ihrer Jacke über den Kopf und ging mit platschenden Schritten über den krummen Bohlenweg, der am Ufer der Landenge entlangführte; ihr Ziel waren die verrosteten Überreste eines Schlachtschiffs. Es ruhte mit dem Kiel nach oben halb versunken im Schlamm, aber anders als die anderen Schiffe rundherum gab es hier niemanden, der es auseinandernahm.
Marlow stieg vorsichtig die Stahlleiter hinunter, die aus dem gewölbten Leib des Schiffs emporragte; die letzten paar Sprossen übersprang sie und landete auf dem einstigen Schott einer der Abteilungen. Eine luftdichte Luke führte zum Hauptdeck. Marlow strich sich eine nasse Strähne aus dem Gesicht und ging hinüber.
»Nachtschatten.« Als sie das Passwort sagte, drehte sich der Griff an der Luke, und sie schwang nach innen auf.
Marlow betrat den Blind Tiger, während sich in ihrem Magen ein ganzer Eimer voller Langusten krümmte und wand.
Biolumineszenzlampen glommen an den geriffelten Wänden des Schlachtschiffs und tauchten die Bar in ein boshaftes dunkles Violett. Stimmen überlagerten einander, durchsetzt vom hohen Klirren der Gläser. So früh am Abend war noch wenig los, und Unterhaltung kam nur von einem einsamen Zitherspieler, der in der Ecke die Saiten zupfte.
Marlow drehte eine langsame Runde durch die illegale Bar und prägte sich jedes Gesicht ein: die Wahrsagerin, die einer jungen Frau mit wachen Augen die Zukunft prophezeite; die Armbänder an ihrem Handgelenk klingelten, als sie eine Schale mit Runensteinen schüttelte. Ein Mann, der allein trank, während sein Blick durch den Raum huschte, als hätte er Angst, hier erwischt zu werden – ein dienstfreier Polizist oder ein Ehemann, der eine Affäre hatte, schätzte Marlow. Eine Gruppe Spieler, die sich um einen der Tische scharte und beim Würfeln lautstark stritt.
Aber keiner sah aus wie Montgomery Flint. Marlows Fluchhändlerkontakt hatte ihr eine ziemlich genaue Beschreibung gegeben – lange dunkle Haare, ein Muttermal unter der Lippe und ein Jadestecker im Ohr.
Marlow hatte die lange, geschwungene Theke erreicht, die das gesamte Heck des ausgehöhlten Decks einnahm, und es war immer noch keine Spur von Flint zu sehen. Sie glitt auf einen der silbernen Hocker, winkte den Barkeeper heran und bestellte einen Maiden’s Prayer. Sie lehnte sich zurück, als würde sie bloß die Atmosphäre auf sich wirken lassen, anstatt nach jemandem Ausschau zu halten.
Ihr Blick blieb an einer großen Frau hängen, die ein paar Hocker entfernt saß und einen stilvollen schwarzen Anzug trug, schlicht, aber elegant. Die kurz geschnittenen dunklen Haare fielen ihr in einer sanften Welle über ein Auge und eine Reihe von Ohrringen glitzerte an ihrer Ohrmuschel. Ihre schlanke Hand hielt ein dickwandiges Glas, und als sie bemerkte, dass Marlow sie ansah, hob sie es zu einem winzigen Gruß, bevor sie einen Schluck trank.
Marlows Puls beschleunigte sich, und sie brauchte eine Sekunde, um zu verstehen, warum. Sie hatte diese Frau schon einmal gesehen – und zwar erst vor Kurzem. Sie hatte dasselbe Wassertaxi bestiegen, das auch Marlow zu Breaker’s Neck übergesetzt hatte.
Marlow wandte sich ihrem Drink zu. Ihr Herz hämmerte immer noch, während sie ihn an die Lippen führte. Der Cocktail brannte auf dem Weg nach unten.
Es musste nicht unbedingt etwas heißen. Viele Leute nahmen Wassertaxis. Und viele Leute gingen in illegale Spelunken, auch in solche, die fest in Copperhead-Hand waren. Aber diese Gedanken konnten das Unbehagen nicht abstellen, das Marlows Wirbelsäule hinaufkroch.
Denn in den letzten paar Wochen war in Marlow die Überzeugung gereift, dass sie verfolgt wurde. Zufall über Zufall – sie sah denselben alten Mann an dem Zauberladen vorbeigehen, in dem sie an manchen Tagen arbeitete, und dann wieder an einem Langustenstand auf dem Sumpfmarkt stehen. Einen Botenjungen hatte Marlow nicht nur zweimal, sondern gleich dreimal an einem einzigen Tag diese Woche bemerkt.
Es war ein Muster. Und in Marlows Beruf blieben Muster nicht ungeprüft.
Du bist wegen eines Falls hier, Briggs, ermahnte sie sich. Lass dich nicht ablenken.
Eine schnelle Bewegung am Ende des Tresens erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie sah, wie ein Mann mit langen dunklen Haaren in einen finsteren Korridor huschte, der vom Hauptdeck abzweigte. Im Schein des violetten Lichts blitzte ein Jadestecker in seinem Ohrläppchen auf.
Da bist du ja. Marlow stürzte den Rest ihres Drinks hinunter und stieß sich vom Tresen ab, um ihm zu folgen; die elegante Frau war für den Moment vergessen.
Der Korridor, in dem Flint verschwunden war, war leer und spärlich beleuchtet von kränklich grünen Biolumineszenzlampen. Drei Türen zu Toilettenkabinen reihten sich zur Rechten aneinander; Lichter über den Türknäufen zeigten an, ob sie besetzt waren. Nur an der Tür, die ihr am nächsten war, brannte das Lämpchen.
Marlow lehnte sich an die Wand gegenüber und wartete. Sie spielte mit ihrem Feuerzeug, ließ es auf- und zuschnappen, während sie leise zum fernen Zupfen der Zither summte und versuchte, sich an den Titel des Liedes zu erinnern. Als die Musik in einem Crescendo lauter wurde, schwang die Toilettentür auf.
»Hallo«, sagte Marlow, als Flint heraustrat. Er sah sie an, überrascht, aber nicht ängstlich. Noch nicht.
»Kann ich dir helfen, Süße?«, fragte er gedehnt.
Süße? Das war ja geradeso, als wollte er mit Gewalt verhext werden.
»Aber sicher kannst du das!«, flötete sie und stieß sich von der Wand ab. »Du kannst damit anfangen, dass du mir erzählst, warum du die Primaballerina des Monarch-Balletts verflucht hast.«
Er erstarrte. »Ich weiß nicht, wovon du redest.«
»Das hier wird folgendermaßen ablaufen«, sagte Marlow, während sie die Hände in die Taschen steckte. »Ich werde dich einmal bitten, sehr nett, mir die Fluchkarte auszuhändigen. Und wenn ich ein zweites Mal bitten muss – na ja, dann werde ich nicht mehr so nett sein.«
Flint starrte sie an, während er offensichtlich seine Optionen abwog. Dann, ohne Vorwarnung, stieß er Marlow nach hinten und stürmte den Korridor hinunter. Marlow stolperte. Ihre Beine rutschten unter ihr weg, als sie gegen die Wand prallte. Aber sie hielt die Hexkarte bereits mit spitzen Fingern fest.
»Congelia«, murmelte sie. Glühende rote Schriftzeichen wirbelten von der Karte hoch auf ihr Ziel zu wie Aale, die durch dunkles Wasser schossen. Der Bann traf den Mann zwischen die Schulterblätter und er sackte wie ein nasser Karton in sich zusammen.
Marlow kam auf die Füße und stolzierte zu ihm hinüber.
»Ich habe gelogen«, sagte sie und trat mit ihrem Stiefel gegen seinen Arm, sodass er vor Schmerz aufstöhnte. »Ich bitte dich kein zweites Mal.«
Sie rollte ihn auf den Rücken und tastete schnell seine Jacke ab, während er wimmernd ein paar schwache Atemzüge tat. Marlow widerstand der Versuchung, die Augen zu verdrehen. Es war ein schlichter Lähmungshex. Deswegen musste man sich doch nicht so kindisch aufführen.
Etwas knisterte in einer der Innentaschen. Mit einem Blick über die Schulter, der sicherstellen sollte, dass sie noch immer allein auf dem Korridor waren, holte Marlow eine Broschüre heraus.
Nein, keine Broschüre. Ein Programmheft, auf dem das gleiche schwarz-goldene Werbebild prangte, mit dem in den letzten paar Wochen die ganze Stadt zugepflastert gewesen war. Der goldene Hof des Sonnenkönigs und das Gesicht der Primaballerina Corinne Gaspar, das einen daraus anblickte, ihre dunkle Haut leuchtend vor dem silbernen Mond. Die Ballade von der Monddiebin stand in fetten dunklen Buchstaben auf dem Heft.
Marlow blätterte es durch. Darin steckten eine Eintrittskarte und eine schwarze Fluchkarte mit Streifen aus einander überlagernden goldenen Diamanten. Sie drehte die Karte um und stieß auf die aufwendig geätzte Abbildung eines tanzenden Mädchens, über dem Musiknoten schwebten. Die Abbildung bewegte sich und zeigte, wie das Mädchen hintenüberfiel, einen Arm dramatisch vors Gesicht geschlagen. Goldene und weiße Schriftzeichen liefen über die Ränder der Karte. Marlow erkannte, dass der Fluch bereits ausgeführt war: Die Schriftzeichen glühten nicht mehr, weil ihre Magie aufgebraucht war.
»Was ist das?« Sie wedelte mit der Fluchkarte vor Flints panisch verzerrtem Gesicht herum und schob die Eintrittskarte in ihre Tasche. »Ein Fluch, bei dem das Opfer ein lähmender Schwindel befällt, sobald es ein bestimmtes Musikstück hört? Was für ein sonderbarer Zufall, denn mir kam zu Ohren, dass Corinne Gaspar an genau diesem Problem leidet. Wie, meinst du wohl, ist das zugegangen?«
Flint stieß gurgelnd eine Antwort hervor; eine Grimasse der Überraschung war auf seinem Gesicht eingefroren. Marlow packte ihn an seinem goldenen Seidenhemd und zog ihn hoch, damit er nicht an seiner eigenen Spucke erstickte.
»Willst du mir verraten, warum ein mittelprächtiger Schiffsverschrottungsvorarbeiter über zweihundert Perlen investiert, um die Primaballerina des Monarch-Balletts zu verfluchen?«
Sie hatte jede Menge Theorien durchdacht, wer hinter Corinnes Fluch stecken könnte und was denjenigen dazu veranlasst haben mochte. Corinne hatte einen eifersüchtigen Ex-Geliebten verdächtigt, sie sabotieren zu wollen – eine naheliegende, fast allzu offensichtliche Antwort. Aber der Ex-Geliebte hatte sich als Sackgasse herausgestellt, und Marlow hatte ihre Aufmerksamkeit auf den größten Rivalen des Monarch-Balletts gerichtet, das Belvedere-Theater. Was wäre besser dazu geeignet, dem Monarch-Ballett eine Niederlage zuzufügen, als seinen größten Star zu sabotieren? Aber sie hatte keine Verbindung zwischen dem Theater und Flint herstellen können. Das Einzige, was sie von ihm wusste, waren sein Name und die Tatsache, dass er seinen Fluch einem Händler abgekauft hatte, der – wie das Schicksal es wollte – Marlow einen Gefallen schuldete.
»Du willst es wissen?«, nuschelte Flint. »Ich sag’s dir.«
Er spuckte Marlow ins Gesicht. Ein Speichelklecks landete feucht auf ihrer Wange und einen Augenblick lang war sie sprachlos. Langsam, bedächtig wischte sie ihr Gesicht trocken und sagte in einem Ton, in dem die Verheißung von Gewalt mitschwang: »Das wirst du wirklich bereuen.«
Doch bevor sie ihrer Drohung Taten folgen lassen konnte, ertönte eine schaurig vertraute Stimme vom Ende des Gangs.
»Täuschen mich meine Augen, oder ist das Marlow Briggs, die hier in diesem herrlichen Etablissement herumschleicht?«
Marlow erhob sich auf unsicheren Beinen und drehte sich um zu Thaddeus Bane – dem zweitmächtigsten Mann der Copperheads und der zweitletzten Person, auf die sie je irgendwo treffen wollte, schon gar nicht hier. Er nahm fast die gesamte Breite des Korridors ein, die trommelförmige Brust in eine protzige violette Weste gezwängt, die vor goldglänzenden Ketten starrte. Zwei Copperhead-Lakaien standen rechts und links von ihm, gekleidet in nur wenig dezenteren Zwirn; wie bei Bane wand sich auch bei ihnen das bronzefarbene Schlangentattoo um den Hals.
»Weißt du, als unser Türsteher sagte, er hätte dich hereinkommen sehen, dachte ich zuerst an einen Irrtum«, fuhr Bane in gemächlichem Ton fort. »Sicher wäre die geniale Marlow Briggs nicht so dumm, noch einmal einen Fuß in einen Copperhead-Laden zu setzen.«
Er bellte ihren Namen wie der Ansager eines Boxkampfs, seine Augen schimmerten dabei manisch in dem grünen Licht auf. Ein kaltes Rinnsal Angst floss Marlows Wirbelsäule hinunter. Thaddeus Bane hatte jeden Grund, sich an ihr rächen zu wollen, nachdem sie ihn und seinen Boss Leonidas Howell vor neun Monaten gedemütigt hatte – und es sah ganz so aus, als wäre seine Chance jetzt endlich gekommen. Er strahlte vor Zornesröte und Entzücken.
»Schätze, du bist nicht so schlau, wie du denkst«, höhnte er.
»Immer noch schlauer als du, Thad«, gab Marlow süßlich zurück.
Bane schüttelte glucksend den Kopf, während er näher schlenderte wie ein träges Raubtier, das wusste, dass es seine Beute in die Enge getrieben hatte. »Und du bist allein gekommen. Wo ist dein Freund Swift? Ist schon eine Weile her, dass wir ihn gesehen haben, und er fehlt uns irgendwie schrecklich.«
Banes zwei Kumpane rückten weiter auf dem Gang vor, um Marlow in die Zange zu nehmen. Sie wich keinen Zentimeter von der Stelle, während sie die beiden taxierte. Den mit dem roten Bart kannte sie vage, und der andere – ein drahtiger Typ mit einer Nase, die wie der Schnabel eines Tintenfischs anmutete – sah aus, als könnte er nicht viel älter sein als sie. Ein neuer Rekrut. Vielleicht sogar der Ersatz für Swift.
Marlow lächelte und steckte eine Hand in die Tasche ihrer Regenjacke. »Genau genommen hat er sogar eine Nachricht für dich.«
»Ach?«
»Er sagt, dass er wirklich geschmeichelt ist, aber dass dein Boss einen solchen Narren an ihm gefressen hat, wird allmählich peinlich.«
Bane zeigte ein Krokodilsgrinsen und kam näher. »Da wir gerade von ihm sprechen: Ich wollte, der Boss wäre jetzt hier. Aber keine Sorge – ich werde ihm später todsicher deine Schreie in allen Einzelheiten beschreiben.«
Einen Moment lang raubte Marlows Angst ihr beinahe den Verstand. Sie schluckte sie herunter und zwang sich, Banes grausamen grauen Augen erneut mit einem Lächeln zu begegnen.
»Da ich offenbar schon so viel Zeit in deinem Hohlkopf verbracht habe, solltest du mal darüber nachdenken, Miete zu verlangen«, erwiderte sie und tastete dabei in ihrer Tasche den schmalen Stapel Zauberkarten in der Hoffnung ab, sie könnte irgendwie durch Berührung erraten, welche sie davon brauchte.
»Du meinst wirklich, du bist besser als wir«, knurrte Bane. »Weil du früher Umgang mit der Nouvelle Noblesse hattest. Aber dann hat deine Schlampe von Mutter dich wieder in die Marschen verfrachtet, oder?«
Marlow biss die Zähne zusammen, während der Zorn wie heiße Säure durch ihre Adern ätzte.
»Schätze, sie hat rausgefunden, was wir anderen schon wussten – Sumpfratte bleibt Sumpfratte, egal, wie oft du sie wäschst.«
Banes Kumpane wieherten los. Marlows Finger schlossen sich um etwas, von dem sie inständig hoffte, dass es ein vorübergehender Blendhex war.
Als sie den Mund öffnete, um das Zauberwort zu sprechen, ließ der rothaarige Bursche ein Springmesser aufschnappen und hielt es ihr an die Kehle.
»Hände dort, wo wir sie sehen können«, sagte er mit leiser Stimme.
Marlow tat einen tiefen Atemzug, der sich eher wie ein Schluchzer anfühlte, und riss die Hände hoch, sodass die Handflächen nach vorn zeigten. Tintenfischschnabel rückte ihr auf die Pelle, packte sie grob an den Handgelenken und drehte sie ihr auf den Rücken.
Sie war allein. Swift und Hyrum hatten keine Ahnung, wo sie steckte. Und sie konnte sich nicht aus dieser Situation herausreden, -denken oder -hexen.
Die Klinge grub sich in ihre Haut, und Marlow verbiss sich ein jämmerliches Wimmern, als Bane sich zu ihr vorbeugte. Sein Atem fühlte sich auf ihrer Wange so warm und feucht wie ein Sommergewitter an.
»Weißt du, was?« Er klang verschwörerisch. »Du kannst dir aussuchen, was wir dir abnehmen, wie findest du das? Ein paar Unzen Blut vielleicht? Ich könnte dir auch die Nase abschneiden, damit du sie nicht mehr dorthin stecken kannst, wo sie nicht hingehört. Vielleicht ist es dir ja auch lieber, wenn ich dir ein paar Erinnerungen abknöpfe – die an die liebe Mami vielleicht?«
Marlow ließ ein tiefes, kehliges Knurren hören.
»Also, was sagst du, Briggs?«, fragte Bane. »Mach schnell, bevor ich die Geduld verliere und mir einfach alles nehme. Unsere Zauberer können immer neue Zutaten gebrauchen.«
Sie hegte keinen Zweifel daran, dass Bane nichts lieber getan hätte, als sie auszuschlachten, um Ersatzteile für weitere illegale Flüche zu gewinnen. Tränen brannten hinter ihren Lidern. Sie kniff die Augen zu. Was Bane ihr auch Schreckliches antun wollte, sie würde ihm nicht die Genugtuung gönnen, sie weinen zu sehen.
»Messer weg«, sagte eine Stimme kristallklar und gebieterisch.
Als Marlow die Augen aufriss, sah sie eine Frau, die am Ende des Gangs lässig an der Wand lehnte. Ihr Herz machte einen Satz, als sie erkannte, wer es war: die elegante Frau vom Tresen, die mit ihr zusammen im Wassertaxi hierhergefahren war.
Also definitiv kein Zufall.
»Schätzchen, vielleicht kapierst du nicht, wie das hier läuft.« Bane drehte sich zu ihr um. »Oder vielleicht weißt du einfach nicht, mit wem du sprichst.«
Ein dünnes Lächeln umspielte die Lippen der Frau. »Ich weiß genau, wer du bist, Thaddeus Bane. Die Frage ist doch wohl eher, ob du weißt, wer ich bin.«
Bane starrte sie einen Augenblick lang an und brach dann in schallendes Gelächter aus. Seine beiden Spießgesellen taten es ihrem Anführer gleich und dröhnten los.
Die Frau schob einen Ärmel ihrer Jacke hoch und ließ flüchtig ein schwarzes Tattoo aufblitzen. Es war zu schnell für Marlow, um die Einzelheiten zu erkennen, aber es schien den gewünschten Effekt zu haben – Bane hörte abrupt auf zu lachen. Ihm fiel die Kinnlade herunter und seine Augen wurden groß.
»Oh, du weißt also doch, wer ich bin.« Die Frau legte den Kopf schräg. »Jetzt sag deinen Freunden hier, dass sie das Mädchen loslassen sollen.«
»Wer bist du, dass du uns rumkommandierst?«, wollte Rotbart wissen. »Das hier ist unser Revier.«
»Das ist ein bisschen zu hoch für deine Gehaltsklasse, denke ich«, erwiderte die Frau, und ihr Blick glitt zu Bane zurück.
»Lasst sie gehen.« Bane straffte die Schultern und gab sein Bestes, vor seinen Männern nicht verunsichert zu wirken. Doch der Schaden war schon angerichtet. »Sie ist unsere Zeit sowieso nicht wert.«
Die beiden Männer zogen sich zögernd von Marlow zurück; offenbar erwischte sie der plötzliche Sinneswandel ihres Chefs auf dem falschen Fuß, obwohl sie nicht wagten, seinen Befehl infrage zu stellen. Sobald ihre Hände von ihr abließen, zuckte Marlow zurück und suchte Halt an der Wand, während ihr Blick von Bane zu der Frau und zurück huschte.
»Komm mit.« Die Frau warf einen letzten abschätzigen Blick auf Bane und machte auf dem Absatz kehrt; sie schien geradezu über den Boden zu schweben. Ganz eindeutig erwartete sie, dass Marlow ihr folgte.
Marlow blieb in der Tür stehen und wog ihre Möglichkeiten ab. Am Ende gewann ihr unstillbarer Hunger nach Antworten. Wie immer.
Sie sah kurz zu dem noch immer bewegungsunfähigen Flint und folgte der Frau dann durch die Bar, zurück durch die Luke und die Leiter hinauf in ein feuchtes, drückendes Zwielicht. Das Gewitter hatte sich gelegt, doch die Luft war immer noch aufgeladen von den Blitzen.
»Warten Sie.« Marlow blieb dort, wo der Bohlenweg begann, stehen. »Sagen Sie mir, wer Sie sind und warum Sie mir gefolgt sind.«
Sie wedelte mit dem Blendhex.
Die Frau drehte sich so schwungvoll zu ihr herum, dass ihr das kurze dunkle Haar über ein Auge fiel. »Wie wäre es mit einem Dankeschön? Was, glaubst du wohl, hätte Thaddeus Bane mit dir gemacht, wenn ich nicht dazwischengegangen wäre?«
»Ich hatte Ihre Hilfe nicht nötig«, log Marlow. »Ich hatte schon früher mit ihm zu tun.«
»Ich weiß«, gab die Frau zurück. »Was die Frage aufwirft, wie genau es ein siebzehnjähriges Mädchen fertiggebracht hat, der skrupellosesten Straßengang von Caraza ans Bein zu pinkeln.«
Marlow ließ ein munteres Lächeln aufblitzen. »Offenbar habe ich einfach diese Wirkung auf Menschen.«
Die Lippen der Frau zuckten und sie hob die Hände. »Du kannst den Bann wegstecken. Ich werde dir nichts tun.«
Der Ärmel ihrer Jacke rutschte nach unten und legte das Tattoo frei, auf das Marlow in der Bar nur einen flüchtigen Blick hatte erhaschen können. Eine Blume in Mitternachtschwarz prangte auf dem Unterarm der Frau, die Blütenblätter so scharf und gefährlich wie Krallen. Marlow hatte das Gefühl, dass die Frau es sie nicht zufällig sehen ließ.
»Das ist ein Gangabzeichen, das ich noch nie gesehen habe«, sagte sie misstrauisch.
»Weil es kein Gangabzeichen ist.«
Marlow begegnete wieder dem Blick der Frau. Die erwiderte ihn mit einem erwartungsvollen Schimmer in den bernsteinfarbenen Augen.
Marlows Haut kribbelte, ihr sträubten sich die Nackenhaare. Es war eine Empfindung, die sie gut kannte. Die Empfindung, die sich einstellte, wenn etwas nicht ganz passte, wenn sie etwas bemerkte, das den meisten anderen entging. Wenn dieser seltsame, unverständliche Teil von ihr – das, was sie Instinkt nannte – einen Anhaltspunkt in eine Lücke einpasste und zwei scheinbar harmlose Wahrheiten miteinander verband.
Aber es waren weder Corinnes Fall noch die Copperheads, zu denen Marlows Gedanken schweiften.
Sondern ihre Mutter und eine Erinnerung an die Nacht, in der sie verschwunden war.
Diese Erinnerung beschwor Marlow nicht mehr oft herauf, aber als sie es noch getan hatte, war sie immer sofort in ihre noble Unterkunft im Vale-Turm zurückversetzt worden. Als könnte sie noch immer die brennende Kerze und den Hauch von Vetiver- und Bergamotteparfüm darunter riechen, könnte ihre Mutter an ihrem Schreibtisch sitzen und eine Zauberkarte an die Flamme halten sehen.
»Was machst du da?«, hatte Marlow von der Tür her gefragt.
Ihre Mutter war zusammengefahren und hatte mit dem Ellbogen ihre Parfümflasche umgestoßen, sodass sich ihr Inhalt über einen Papierstapel auf dem Tisch ergoss. »Minnow! Ich habe dich gar nicht kommen gehört.«
Die Zauberkarte fing Feuer, und die Flammen fraßen sie rasch auf, sodass nur noch Asche übrig blieb. Aber zuvor hatte Marlow ein Symbol auf der Rückseite entdeckt – eine schwarze Blume mit Blütenblättern, so scharf wie Krallen.
Marlow knallte die Tür zu dieser Erinnerung zu, bevor sie weiterlaufen konnte. Sie heftete den Blick wieder auf die Frau und erkannte in dem leichten Aufflackern von Zufriedenheit in ihrem Gesicht, dass sie wusste: Marlow hatte das Symbol erkannt.
Krachend zerriss ein Donnerschlag die Luft. Marlow zuckte gegen ihren Willen zusammen, ihr Blick flog instinktiv nach oben. Die Gewitterwolken hatten sich aufgelöst, der Abend war klar, und Marlow begriff erst verspätet, dass das Getöse von der Werft der Schiffsverschrotter gekommen war. Natürlich.
Als sie wieder zu der Frau mit dem Tattoo blickte, war sie verschwunden.
Es war über ein Jahr her, dass Marlow zum letzten Mal einen Fuß nach Evergarden gesetzt hatte. Durch das Fenster des Straßenbahnwagens konnte sie die gleißende Skyline sehen, die sich im Stadtzentrum erhob. Die letzten Sonnenstrahlen gossen ihr Blutorange über die fünf Kanäle, die vom Zentrum Evergardens in alle Richtungen strebten wie die Speichen eines Rads und so anders waren als die gewundenen, dreckstarrenden Wasserwege der Marschen. Während die Straßenbahn an den äußersten Ausläufern der Marschen vorbeisauste, konnte Marlow das Frösteln immer noch nicht abschütteln, das nach der Begegnung mit Bane und der Frau mit dem schwarzen Blumentattoo ihre Wirbelsäule emporgekrochen war. Ein Teil von ihr wünschte sich, sie könnte einfach nach Hause fahren, sich auf der Couch mit ihrer Katze Toad zusammenrollen und mit Swift eine Runde Hexer spielen, aber der Auftrag war noch nicht erledigt.
Die Füße gegen die Seitenwand des Wagens gestemmt, blätterte Marlow das Programmheft durch, das sie Flint abgenommen hatte, und grübelte über die immer noch offenen Fragen, als wäre es Schorf über einer Wunde, an dem zu zupfen sie nicht aufhören konnte. Ja, sie hatte die Fluchkarte an sich bringen können, aber sie hatte bisher nicht herausgefunden, wer Flint war oder warum er Corinne überhaupt mit einem Fluch belegt hatte.
Wenn es eines gab, was Marlow nicht ertragen konnte, dann waren es unbeantwortete Fragen.
Die Bahn kam an der Pearl-Station schaukelnd zum Stehen. Marlow schob das Programmheft in ihre Jacke und trat auf den Bahnsteig hinaus.
Die Luft auf dieser Seite der Stadt war so viel süßer als in den Marschen, wo der Schwefelgestank noch im allerletzten Winkel hing. Das war zum Teil dem Umstand geschuldet, dass der Wind in die andere Richtung wehte, aber hauptsächlich damit zu erklären, dass jede erdenkliche Oberfläche in Evergarden mit Bougainvilleen und Jasminranken bedeckt war. Der Duft versetzte Marlow sofort in die Zeit vor einem Jahr zurück, als sie in diesem Teil der Stadt zu Hause gewesen war.
Aber das war eine andere Zeit gewesen. Und sie war jetzt eine andere Marlow.
Evergarden summte vor Magie. Die breiten Promenaden waren mit einem Zauber belegt, der ihren Glanz und ihre Makellosigkeit bewahrte, egal, wie viele Füße über sie hinweggingen. Pflanzgefäße, die mit Moskito abwehrenden Blüten befüllt waren, schwebten über den Kanälen. Marlow ging die Pearl-Straße entlang, das Haupteinkaufsviertel des Outer-Garden-Bezirks. Beruhigende Düfte wehten aus Parfümerien und Salons, die magische Elixiere verkauften, die reine Haut und immerwährende Jugend versprachen. Ateliers präsentierten die neueste Mode, von Stoffen aus verzauberten Flammen bis hin zu Kleidern, die die Farbe wechselten, je nach Stimmungslage ihrer Trägerin. Eine entzückende Konditorei hatte Gratisproben von Süßigkeiten ausgelegt, die die Laune hoben, und buntes Baiserkonfekt mit einer Vielzahl von Wirkungen, je nach Geschmack. Zauberkaufhäuser, die viel größer als die schäbigen Zauberläden in den Marschen waren, boten eine fast endlose Auswahl an Zauberkarten und verzauberten Gegenständen an.
In einem einzigen Block des Outer-Garden-Bezirks fand sich mehr Magie als in den ganzen Marschen zusammen – obwohl es natürlich nichts von diesen glitzernden Zaubern und Zaubermitteln ohne die Zutaten gäbe, die von den Menschen in den Marschen gewonnen worden waren.
Als Marlow die Azalea-Brücke zur Starling überquerte, begannen die Laternen gerade zu leuchten und malten die Pflastersteine scharlachrot und golden. Die kronenförmige Fassade des Monarch-Theaters beherrschte den Platz am Ende der Straße. Große Premiere: Die Ballade von der Monddiebin stand auf der blutrot-goldenen Markise.
Marlow blieb neben einem der Terrakottagefäße stehen, die den Platz säumten, und pflückte eine Handvoll korallenfarbener Amaryllisblüten, bevor sie die Stufen zu den glänzenden Goldtüren des Theaters hinaufstieg.
Ein Portier in einem todschicken blutroten, mit Goldstickerei verbrämten Smoking musterte Marlow, die auf ihn zukam, mit vor Missbilligung verkniffenem Gesicht.
»Die Türen öffnen erst in dreißig Minuten«, sagte er.
Marlow bedachte ihn mit ihrem gewinnendsten Lächeln, drückte die Blumen an ihre Brust und säuselte: »Ich will nur meiner Freundin viel Glück für die Premiere heute Abend wünschen. Sie war die ganze Woche so aufgeregt, und ich weiß, dass sie sich wahnsinnig über diese Unterstützung freuen würde, bevor sie auf die Bühne geht.«
Sie konnte dem Portier nicht einfach den wahren Grund verraten, warum sie hier war – erstens hatte Corinne sie angefleht, niemandem von dem Fluch zu erzählen, und Marlow wusste, was Diskretion war. Zweitens konnte sie sich ohnehin nicht vorstellen, dass ihr dieser Portier glauben würde.
»Ihrer Freundin. Sicher«, erwiderte der Mann mit einem vernichtenden Blick auf Marlows Aufzug – eine viel zu große olivgrüne Regenjacke über einem dünnen schwarzen Top und verlotterten Shorts. Praktisch, um in der sommerlichen Schwüle herumzulaufen, aber nicht wirklich passend für einen Abend im Theater. »Die Türen öffnen trotzdem erst in dreißig Minuten.«
Marlow streckte ihm die Eintrittskarte hin, die sie Flint abgenommen hatte. »Ich habe eine Karte.«
»Karte oder nicht Karte, die Türen öffnen –« Sein Blick fiel auf das Ticket und er unterbrach sich abrupt. »Ich … bitte um Entschuldigung«, stotterte er. »Mir war nicht klar, dass Sie eine Freundin von Miss Sable sind!«
Marlow blinzelte ihn an. Nach einer recht langen Pause sagte sie: »Miss Sable. Richtig. Das ist die Freundin, von der ich sprach. Woher … wissen Sie das?«
»Die Karte?« Er wedelte damit vor Marlow herum. »Es ist einer von Miss Sables Gästeplätzen. Beide Hauptdarsteller haben ihre eigene private Loge am Premierenabend.«
»Hauptdarsteller?«, wiederholte Marlow.
»Sie hat es Ihnen nicht erzählt?«, fragte der Portier. »Miss Sable übernimmt heute Abend die Rolle der Monddiebin. Natürlich muss es niederschmetternd für Miss Gaspar sein, die Premiere nicht tanzen zu können – aber ich weiß, dass Miss Sable eine umwerfende Monddiebin geben wird. Sie muss ganz aus dem Häuschen sein, dass sie endlich als Primaballerina debütieren darf, nachdem sie all die Jahre immer den Kürzeren gezogen hat. Hat sie Ihnen wirklich nichts gesagt?«
»Sicher wollte sie, dass es eine Überraschung ist«, antwortete Marlow schwach, während ihr der Kopf davon schwirrte, diese neue Information richtig einzuordnen.
Der Portier kniff die Augen zusammen. »Woher, sagten Sie noch mal, kennen Sie Miss Sable?«
»Wir sind zusammen aufgewachsen«, sagte Marlow. Das war eine glatte Lüge. »Werden Sie mich nun einlassen, damit ich ihr gratulieren kann, oder muss ich mich hier draußen rechtfertigen, während Viv einen Nervenzusammenbruch wegen ihres Debüts hat?«
Er gab den Weg frei, bevor Marlow darüber nachdenken konnte, ob sie ihn mit ihrem Blendhex belegen sollte. Sie ging schnell hinein und stürmte weiter über den vergoldeten Boden des Foyers und an dem ausladenden Treppenaufgang vorbei.
Marlow hatte vor langer Zeit gelernt, dass Leute selten versuchten, einen aufzuhalten, wenn man so aussah, als wüsste man, wohin man wollte, und einen entschlossenen Schritt an den Tag legte. Deshalb hatte sie den Korridor zu den Garderoben hinter der Bühne schon zur Hälfte hinter sich gebracht, als sie von einem Mädchen aufgehalten wurde, das ganz in Schwarz gekleidet war und die dunklen Haare in einen ordentlichen Pferdeschwanz zurückgebunden trug.
»Sie können da nicht rein«, sagte sie.
»Es dauert nur eine Sekunde«, gab Marlow zurück. Sie lief auf die offene Tür zum Künstlerbereich zu, wo sie Bühnentechniker bei den Vorbereitungen für die abendliche Vorstellung sah und Tänzer, die glitzerndes Make-up auflegten und aufwendige Kostüme anzogen.
»Ich kann Sie nicht –«
»Marlow, bist du das?« Corinnes melodische Stimme übertönte den Lärm. Marlow sah sie mit ungeschminktem Gesicht und in einer schlichten Robe, die wie ein Umhang hinter ihr herwehte, auf sich zuschweben. Sie wirkte so, wie Marlow sich fühlte – vollkommen erschöpft –, aber sie tanzte durch den Raum wie die Primaballerina, die sie war. »Teak, lass sie rein.«
Das Mädchen in Schwarz trat sofort beiseite, und Marlow ging schnurstracks auf Corinne zu, wobei sie zwei Bühnenarbeitern auswich, die einen großen goldenen Thron trugen.
Corinne griff nach Marlows Hand. »Ich bin so froh, dass du hier bist. Sie haben mir erst vor ein paar Stunden gesagt, dass ich heute –« Sie holte Luft, während sie die Tränen zurückhielt. »Dass ich heute Abend nicht tanzen kann. Mit dem«, sie senkte die Stimme, »dem Fluch, sagen sie, sei das Risiko zu groß. Bitte sag mir, dass du so was wie eine Spur hast.«
»Oh, besser sogar«, versprach Marlow. »Komm mit.«
Sie hakte Corinne unter und zog sie auf die beleuchteten Schminkspiegel zu, vor denen sich ein paar Tänzerinnen schminkten und frisierten.
»Marlow, was hast du –«
Marlow achtete nicht auf sie, sondern marschierte zu der Tänzerin vor dem letzten Spiegel. Ihr rabenschwarzes Haar türmte sich auf dem Kopf, auf ihrer blassen Haut schimmerte silberner Glitzer. Sie sah genau wie die Monddiebin im Programmheft aus.
»Vivian Sable?«, fragte Marlow und blieb dicht neben dem Ellbogen der Frau stehen.
»J-ja?«, erwiderte Vivian und sah blinzelnd auf Marlows Spiegelbild.
»Ich wollte Ihnen nur gratulieren«, erklärte Marlow, »dass Sie die Hauptrolle der Monddiebin bekommen haben. Tatsächlich hatte ich gehofft, dass Sie mir ein Autogramm geben könnten.«
Sie zog Flints Fluchkarte heraus und knallte sie vor Vivian auf den Schminktisch.
Vivian wurde bleich. »Ich … verstehe nicht ganz.«
»Aber sicher tun Sie das«, widersprach Marlow. »Sie haben Ihren Freund oder wen auch immer dazu gebracht, auf dem Schwarzmarkt einen Fluch zu kaufen, um dafür zu sorgen, dass Corinne nicht auftreten kann. Sodass Sie, ihre Zweitbesetzung, die Rolle übernehmen können.«
Marlow konnte Corinnes Gesicht im Spiegel sehen. Ihr blieb vor Schreck der Mund offen stehen und ihre dunklen Augen trübten sich vor Schmerz.
»Das … das ist nicht wahr«, entgegnete Vivian kleinlaut, während sich ihre hellgrünen Augen mit Tränen füllten. »Corinne, ich würde niemals –«
»Sparen Sie sich das Theater für die Bühne«, sagte Marlow. »Oder nicht, schätze ich, denn Sie werden heute Abend nicht auftreten, wenn ich erst den Fluch gebrochen habe und Sie den Produzenten erklärt haben, was Sie getan haben.«
Vivian setzte an: »Ich schwöre –«
»Oh, und wenn Sie das nicht tun, werde ich Ihre Füße verfluchen, sodass sie Ihnen von den Beinen faulen«, ergänzte Marlow.
Sie besaß eigentlich gar keinen derartigen Fluch, aber er eignete sich besser als Drohung als der Blendhex.
Vivian brach geräuschvoll in Tränen aus. »Es tut mir leid«, schluchzte sie in ihre Hände. »Corinne, es tut mir so leid, ich wollte dich niemals verletzen. Ich wollte nur – ich tanze seit Jahren für dieses Ensemble, und jedes Mal, wenn ich denke, dass ich endlich die Hauptrolle bekomme, verliere ich sie an den neuen leuchtenden Star. Ich konnte es nicht mehr ertragen!«
»Und Sie wussten, dass Sie es aus eigener Kraft nicht schaffen würden«, sagte Marlow. »Denn Corinne tanzt zehnmal besser, als Sie es je tun werden.«
Corinne starrte Vivian fassungslos an. »Ich hätte nie gedacht, dass du zu so etwas fähig sein könntest. Du warst meine Freundin.«
Marlow fiel auf, wie unglaublich niedergeschlagen Corinne klang. Sie lernte gerade die Lektion, die Marlow bereits nur zu gut kannte – dass die Menschen, aus denen man sich etwas machte, einen am Ende nur enttäuschten.
Vivian blickte aus wässrigen Augen zu Corinne auf, aber Marlow sah ihr an, dass sie das, was sie getan hatte, nicht bereute – wohl aber, dass sie dabei erwischt worden war.
Marlow winkte die Bühnenmeisterin mit dem Pferdeschwanz herüber. »Sie. Bringen Sie Miss Sable hier zu den Produzenten. Es gibt da etwas sehr Dringendes, was sie ihnen zu sagen hat.«
Nach einem raschen Blick der Vergewisserung zu Corinne führte die Bühnenmeisterin die schniefende Vivian weg. Das Theater, das sie machte, begann die Aufmerksamkeit der anderen Tänzerinnen und Tänzer zu erregen, aber Marlow hatte nur Augen für Corinne, die langsam auf die Fluchkarte auf dem Schminktisch zuging und sie mit bebender Hand berührte.
Marlow holte ihr Feuerzeug aus der Jackentasche und hielt es ihr hin. »Willst du dir die Ehre geben?«
Corinne schluckte und nahm das Feuerzeug entgegen. »Ich verbrenne sie – und der Fluch ist gebrochen, einfach so?«
»Einfach so.«
Corinne holte Luft, um Kraft zu sammeln, und ließ das Feuerzeug aufschnappen. Sie brauchte einige Versuche, bis eine Flamme brannte, doch endlich konnte sie die Fluchkarte darüberhalten. Anstatt Feuer zu fangen, erglühte die Karte in einem tiefen Lila – ebenso wie Corinne. Ihre Aura, die dunkel und mit schwarzen Adern durchsetzt war, wurde zur Fluchkarte gezogen wie Wasser, das man durch einen Strohhalm saugt. Die Fluchkarte absorbierte die Magie, dann erlosch das Glühen, und die Karte flackerte noch einmal lila auf, um sich schließlich zu einem stumpfen Grafitgrau einzutrüben.
Corinne stand sprachlos da, den ausgebrannten Fluch und das Feuerzeug in der Hand.
»Na?«, sagte Marlow.
Corinne gab ihr die Karte und das Feuerzeug, drehte sich in einem perfekten Kreis und flog zu einem dunkelhaarigen Jungen hinüber, der eine Violine in der Hand hielt.
»Xander! Spiel ›Eine Diebin am Hof des Sonnenkönigs‹.«
Er gehorchte sofort und schon wehten die ersten Akkorde des Liedes wie Rauch durch den Raum. Corinne ging in Position, und dann bewegte sich ihr Körper in präzisen, kontrollierten Figuren, während sie zu dem Musikstück tanzte, das sie noch vor einer Minute nicht hätte hören können, ohne in Ohnmacht zu fallen. Selbst in einer einfachen Robe anstatt im aufwendigen Kostüm der Monddiebin war sie hinreißend.
Applaus brandete im Raum auf, als die anderen Tänzer und Musiker Corinne springen und herumwirbeln sahen; ihre Erleichterung und Freude darüber, dass sie ihre Primaballerina zurückhatten, war mit Händen zu greifen. Sie würde heute Abend unglaublich sein. Niemand würde den Blick von ihr wenden können.
Marlow lächelte, als sie die ausgebrannte Fluchkarte in ihre Tasche zurückgleiten ließ. Ihre Zauberkraft war restlos aufgebraucht, sie würde nie wieder jemandem schaden. Aber für Marlow war sie eine Mahnung – solange es Flüche gab, würde sie weiter versuchen, sie zu brechen.
»Ich weiß nicht genau, was Sie getan haben, aber danke.«
Marlow drehte sich um und entdeckte die Bühnenmeisterin mit dem seidig glänzenden Pferdeschwanz – Teak – neben sich. Sie beobachtete Corinne, wie sie sich zu der immer lauter werdenden Violine bewegte.
»Ich habe nur meinen Job gemacht«, erwiderte Marlow.
»Nein, Sie haben das Ballett gerettet«, sagte Teak. »Alle Kritiker kommen zur Premiere, und wenn wir Vivian die Monddiebin hätten tanzen lassen müssen, wären wir mit ein paar ziemlich unerfreulichen Worten in den Morgenblättern aufgewacht. Ganz abgesehen davon habe ich einen der Platzanweiser munkeln hören, dass die Sprösslinge der Fünf Familien zur Premiere kommen. Ich kann mir diese Peinlichkeit nicht einmal vorstellen, wenn –«
»Was?«, fiel ihr Marlow ins Wort. Ihr klingelten die Ohren. »Die Sprösslinge der Fünf Familien kommen hierher? Heute Abend?«
Teak bedachte sie mit einem seltsamen Blick. »Ja, aber nichts für ungut, ich bezweifle, dass Sie einen ›ganz zufälligen‹ Zusammenstoß mit Adrius Falcrest inszenieren können, wenn es das ist, woran Sie denken.«
Ein hohes, hysterisches Lachen entschlüpfte Marlow. »Ich kann versprechen, es ist nicht das, woran ich denke.«
Teaks Augen wurden schmal. »In Ordnung. Ich sage das nur aus Erfahrung. Nicht, dass ich je versucht hätte –«
»Ja, schon gut, alles klar«, unterbrach sie Marlow erneut. »Hören Sie, sagen Sie Corinne, dass ich in ihrer Garderobe bin, wenn sie so weit ist. Ich sollte vermutlich hier weg sein, bevor die Massen auflaufen.«
»Sie wollen nicht bleiben und zuschauen?«
Marlow lächelte schmallippig. »Vielleicht ein andermal. Ich bin sicher, Corinne wird fantastisch sein. Aber ich hatte einen ziemlich langen Tag und muss einfach raus hier.«
Und zwar so schnell sie nur konnte.
* * *
Der Portier hatte offensichtlich bereits mit dem Einlass begonnen. Als Marlow mit Jackentaschen, die ein paar Perlenschnüre schwerer waren, ins Foyer zurückkehrte, wimmelte es von Leuten. Jeder trug sein feinstes Gewand – Anzüge und Kleider in satten Juwelentönen mit extravaganten Silhouetten und magischem Schnickschnack –, und all das für den zweifelhaften Ruhm, in der Menge erkannt und hoffentlich morgen in den Modekolumnen erwähnt zu werden.
Marlow bekam ihr eigenes Maß an Aufmerksamkeit aus vollkommen anderen Gründen, obwohl sie annahm, dass sie mit ihrer noch immer feuchten Jacke, den schlammigen Stiefeln und den schmutzig blonden Haaren, die ihr wirr auf die Schultern fielen, eine sichere Kandidatin für die Abteilung »Modekatastrophen« war.
Ein Grund mehr, unverzüglich von hier zu verschwinden.
Dieser Plan scheiterte grandios, als sie das Foyer durchqueren wollte – und abrupt stehen blieb, genau wie alle anderen Anwesenden. Sämtliche Blicke schienen sich an Gemma Starling und Amara Falcrest festzusaugen, die gerade durch den Haupteingang hereinschwebten. Gemurmel perlte durch den Raum wie Kohlensäure durch eine Flasche Champagner.
Amara und Gemma waren an eine solche Aufmerksamkeit gewöhnt und beachteten ihre Zuschauer gar nicht. Gemma glänzte unter dem Licht des Kronleuchters in einem gewagten fuchsiafarbenen Kleid mit einer voluminösen Schleppe, die an das Gefieder eines exotischen Vogels erinnerte. Goldene Reife schwebten ihre Arme hinauf, verziert mit Juwelenperlen, die sie wie kleine Planeten umkreisten. Ihre rosenfarbenen Locken waren raffiniert hochgesteckt und ihre Augen mit einem goldenen Strich umrahmt, der sich zur Stirn hin zu einem satten Bronzeton vertiefte.
Amara trug eine spektakuläre ausladende Robe in einem dunklen Amethystviolett; ihr schnurgerades mitternachtschwarzes Haar wand sich wie eine Krone um ihren Kopf und war mit Perlen übersät. Kleinere Perlen saßen in ihren Augenwinkeln und auf ihren hohen Wangenknochen. Marlows Blick blieb an dem filigranen silbernen Edelsteinband hängen, das um ihren Hals lag – ein Schmuckstück, das eigentlich nur verlobte Frauen trugen, die bald heiraten würden.
Marlow stand wie erstarrt da, während die beiden näher kamen und Gesprächsfetzen heranwehten.
»... wenn Adrius gewollt hätte, dass wir auf ihn warten, dann hätte er nicht so lange im Teehaus mit Wie-heißt-sie-noch-gleich flirten sollen. Ich schwöre dir, inzwischen muss er jede geeignete Kandidatin in Evergarden flachgelegt haben.«
»Und jede Menge von den ungeeigneten auch«, fügte Amara schneidend hinzu.
Gemma stieß ein trällerndes Lachen aus, und Marlow seufzte erleichtert, als die beiden ohne einen Seitenblick an ihr vorbeispazierten.
Doch weil es heute mit ihrem Glück nicht weit her zu sein schien, hörte sie eine Sekunde später erneut Amaras Stimme.
»Gemma, warte – ist das Marlow Briggs?«
Mist. Die beiden hatten sie entdeckt. Mit eingezogenem Kopf schlich Marlow Richtung Ausgang.
Gemma lachte laut. »Ja klar, weil Marlow Briggs so oft ins Ballett – Götter, sie ist es wirklich. Marlow!«
Marlow warf einen verzweifelten Blick auf die offene Tür und überlegte, ob sie einfach fliehen sollte, bevor Amara und Gemma sie erreicht hätten.
Stattdessen nahm sie sich zusammen, holte Luft und drehte sich zu den beiden um.
»Hallo, Gemma«, grüßte sie so freundlich, wie sie konnte. »Amara.«
Gemma pfiff leise. »Wow, Marlow Briggs. Das ist ja Ewigkeiten her.«
Ein Jahr und fünf Wochen, aber wer erinnerte sich schon an den genauen Tag, an dem ihre Mutter verschwunden war und Marlows ganzes Leben mit sich genommen hatte?
»Wir dachten, du hättest dich wie deine Mom in Luft aufgelöst«, fuhr Gemma fort. Nichts deutete darauf hin, dass sie sich gefragt hatte, ob das ein heikles Thema sein könnte. »Was treibst du im Monarch-Theater? Arbeitest du hier?«
Sie klang skeptisch, auch wenn Marlow nicht wusste, ob sie das Konzept Arbeit an sich ablehnte oder aber den Gedanken, dass Marlow an einem so glamourösen Ort wie dem Monarch angestellt sein könnte. Letzteres konnte Marlow ihr nicht wirklich übel nehmen – sie hatte keinen Zweifel daran, dass die Menge, die noch immer über Amaras und Gemmas Ankunft tuschelte, darüber grübelte, warum genau Carazas gefragteste Promis ausgerechnet mit ihr sprachen.
»Ich bin nur vorbeigekommen, um einer Freundin zu helfen«, antwortete Marlow. Es entstand eine peinliche Pause, und eine bessere Gelegenheit würde sie nicht bekommen, den Rückzug anzutreten. »Es hat mich so gefreut, dass ich euch hier treffe, aber ich muss –«
»Marlow?«, wurde eine satte, tiefe Stimme im Getümmel hörbar, als Darian Vale auftauchte. »Götter, das ist ja –«
»Ewigkeiten her«, beendete Marlow den Satz für ihn. »Wurde mir jedenfalls gesagt.«
Darian blieb neben Amara stehen und legte ihr einen Arm um die Hüfte. Marlows Blick folgte Amaras zarter Hand, die über Darians glatte kobaltblaue Weste glitt, um seine Fischgrätkrawatte zurechtzurücken. Marlow sah noch einmal auf Amaras silbernes Halsband und stellte eine Verbindung her. Sie und Darian waren verlobt.
Marlow fühlte sich plötzlich unermesslich weit entfernt von dem Mädchen, das sie vor einem Jahr gewesen war, als sie vollkommen in der Welt dieser Leute aufgegangen und auf dem Laufenden über jedes Rendezvous und jede dramatische Trennung gewesen war. Es war damals wie die Luft gewesen, die sie geatmet hatte, ein unausweichlicher Teil ihres Lebens inmitten der Nouvelle Noblesse, den oberen Zehntausend.
Darian auf den Fersen folgte sein Bruder Silvan, unverwechselbar mit seinen langen eisblonden Haaren, dem hochmütigen Ausdruck auf dem kantigen Gesicht und seinem Haustier, der Schlange, die sich träge um seinen Arm wand, ein leuchtend blauer Hingucker an Silvans silbrig perlmuttfarbenem Ärmel. Gleichgültigkeit wurde zu höhnischer Verachtung, als sein Blick über Marlow glitt und sofort wieder auf der Menge ringsum landete. Seine Ablehnung war eindeutig.
Marlows Pulsschlag dröhnte in ihrem Kopf, nicht weil es ihr etwas ausgemacht hätte, dass Silvan sie verabscheute – was er tat, auch wenn sie damit wohl kaum allein war –, sondern weil seine Anwesenheit bedeutete, dass sein bester Freund auch nicht weit sein konnte.
»Na, wie ist es dir ergangen?«, fragte Darian höflich. Anders als sein Bruder ließ er seine guten Manieren immer heraushängen. Das lag vermutlich daran, dass sehr wenig Substanz hinter seinem markanten Kiefer und unter dem honigblonden Haar zu finden war.
Gemma dagegen hatte es nicht so mit Artigkeiten. »Ernsthaft, wohin bist du denn verschwunden?«
Marlow wusste, dass ihre Neugier keineswegs freundschaftlicher Natur war. Ihr Interesse an Marlow ähnelte dem, das vielleicht ein Kind an einem glänzenden neuen Spielzeug hatte. Eine Freundschaft mit ihr war nie eine Option gewesen, auch nicht, als Marlow noch Teil der feinen Gesellschaft von Evergarden gewesen war. Mädchen wie Amara und Gemma hatten keine Freundinnen, sie hatten Speichellecker und Opfer. Schon damals war Marlow zu dickfellig gewesen, um ein überzeugendes Opfer abzugeben, und zu misstrauisch für eine fügsame Schmeichlerin. Sie war deshalb überwiegend unsichtbar für die beiden gewesen, was ihr ziemlich gelegen gekommen war.
Sie war nicht die Tochter eines niederen Lords, sondern die Tochter der einstigen Vale-Ritterin – nicht gerade eine gewöhnliche Bürgerliche, aber definitiv nicht der Nouvelle Noblesse zugehörig, auch wenn man ihr gestattet hatte, mit dieser zusammen zur Schule zu gehen. Eine seltene Ehre für jemanden ihres Standes und eine, für die sie jetzt noch dankbar war.
Genau dieser Schulbildung hatte sie es zu verdanken, dass sie genug über Zauberei gelernt hatte, um eine so erfolgreiche Fluchbrecherin zu werden.
Aber keiner dieser Sprösslinge, der Crème de la Crème, war je Marlows Freund geworden. Keiner, bis natürlich auf –
Marlow stolperte über ihre Antwort auf Gemmas Frage, als sie einen vertrauten Kopf mit sorgfältig verwuschelten kastanienbraunen Locken entdeckte. Die Menge teilte sich fast wie ein Bühnenvorhang, und Adrius Falcrest erschien, sein flammengoldener Umhang flatterte hinter ihm, eine farbig passende Krawatte lugte aus seiner rubinroten Weste hervor. Vergoldet vom Licht des Kronleuchters, schritt er durch das Foyer mit der löwenhaften Anmut eines Menschen, der sich vollkommen bewusst ist, dass er alle Blicke im Raum auf sich zieht – und damit absolut zufrieden ist.
Marlow sah ihm an, dass er noch nicht begriffen hatte, wer die Person war, die seine Freunde hier umringten. Eine Rechtfertigung prickelte in ihrer Brust, während sie zusah, wie er sie erkannte. Die freundliche Liebenswürdigkeit wich aus seinem Gesicht, sein glatter Gang geriet einen Sekundenbruchteil ins Stocken, bevor er sich wieder fasste und ein unbekümmertes Grinsen zurück an seinen Platz rutschte.
Selbst die anderen Sprösslinge, das wusste Marlow, waren nicht unempfänglich für den gnadenlosen Glanz seiner Gegenwart. Sie spürte, wie sie um sie herum in Bewegung gerieten, um Adrius entgegenzukommen und sich ihm zuzuwenden wie Blumen der Sonne.
»Na, das entwickelt sich ja zu einem interessanten Abend«, sagte Adrius, dessen whiskygoldene Augen Marlow entgegenleuchteten, wobei er eine elegante dunkle Augenbraue hochzog. »Wenn du mich so unbedingt sehen wolltest, hättest du dir nicht die Mühe machen müssen, mich den ganzen Weg zum Ballett zu verfolgen, Minnow.«
Marlow schäumte. Die Demütigung entfachte ihren Zorn. Niemand hatte sie seit über einem Jahr so genannt: Minnow – Fischlein. Die einzigen zwei Menschen, die es je getan hatten, waren ihre Mutter und Adrius gewesen; er hatte den Kosenamen dem kleinen Brief entnommen, den ihre Mutter ihr an ihrem allerersten Schultag in Evergarden zugesteckt hatte. Seither hatte er sich standhaft geweigert, sie je wieder anders zu nennen. Damals hatte es sie nicht gestört – oder es hatte sie eher auf eine ganz andere Weise gestört. Bevor Marlow begriff, was für ein grausamer Seitenhieb es war.
»Nur ein unglücklicher Zufall«, erwiderte sie knapp. Sie dachte kurz daran, wie verlockend es wäre, ihren letzten Hex an Adrius zu verschwenden, einfach zum Spaß. »Ich war eigentlich schon auf dem Weg nach draußen.«
»So schnell?« Adrius runzelte in gespielter Sorge die Stirn. »Wenn es eine Frage des Geldes für die Karte ist, bin ich mir sicher, dass wir noch Platz in der Loge finden, du musst einfach nur fragen. Wir sind schließlich alte Freunde – oder nicht?«
Gemma unterdrückte ein schrilles Kichern und Amara rammte ihr den Ellbogen in die Seite. Silvans Blick wanderte himmelwärts, als würde er darum beten, Gott Ibis käme herabgeschossen, um diesem peinlichen Wiedersehen ein Ende zu machen. Marlow fand sich in der ungewohnten Situation, dass sie von ganzem Herzen seiner Meinung war – auch wenn sie inzwischen so weit war, dass sie es auch begrüßt hätte, wenn die Krokodilsgöttin sich aus den Tiefen des Sumpfs erhoben hätte. Oder besser noch Adrius gleich zwischen die Kiefer genommen hätte.
»Da wir gerade von unserer Loge sprechen – sollten wir nicht nach oben gehen?«, maulte Silvan und sandte Adrius einen verkniffenen Blick. »Ich habe das Gefühl, es ist höchste Zeit, dass wir uns verabschieden von dieser … Menge.« Er betonte den Satz, indem er wenig dezent seine Augen zu Marlow schweifen ließ.
Adrius gab nicht zu erkennen, dass er ihn überhaupt gehört hatte, und fixierte Marlow mit einem spöttischen Grinsen, während er auf ihre Erwiderung wartete.
Sie freute sich, ihn enttäuschen zu können. »Danke für das Angebot, aber ich muss passen.« Sie konnte sich ein ironisches Lächeln nicht verkneifen. »Viel Spaß bei der Vorstellung.«
Sie wandte sich ab, wurde allerdings sofort von Teak ausgebremst, der Bühnenmeisterin, die sie im Künstlerbereich getroffen hatte.
»Miss Briggs!«, rief Teak. »Ich bin ja so froh, dass ich Sie noch erwische, bevor Sie gehen!«
»Corinne hat mich schon bezahlt«, gab Marlow zurück und wich ihr aus, um zur Tür zu kommen.
»Natürlich.« Teak beeilte sich, ihr zu folgen. »Die Produzenten wollen Ihnen ihren Dank ausdrücken – für Ihre Hilfe und für Ihre Diskretion. Bitte nehmen Sie das als Zeichen ihrer Wertschätzung an.«
Sie hielt ihr zwei Tickets hin, und Marlow, die wusste, dass Adrius und die anderen sie immer noch anstarrten, nahm sie ohne Widerrede entgegen.
»Sie haben für jeden Abend Gültigkeit, an dem Sie kommen möchten. Der Portier wird Sie durchwinken«, erklärte Teak. »Wenn es jemals etwas gibt, was das Monarch-Theater für Sie tun kann, würden wir uns glücklich schätzen, Ihnen behilflich zu sein.«
»Das werde ich mir merken.« Marlow konnte sich zwar keine Situation vorstellen, in der sie die Unterstützung einer Balletttruppe benötigen würde, aber sie hatte gelernt, dass es nie schaden konnte, wenn jemand in ihrer Schuld stand. In Caraza waren Gefälligkeiten oft eine kaufkräftigere Währung als Perlen. Besonders für eine Fluchbrecherin.
Als sich Teak mit wippendem Pferdeschwanz entfernte, konnte Marlow endlich gehen. Sie spürte Adrius’ Blick in ihrem Rücken, während sie die Flucht durch die Türen ins Freie antrat. Zorn und Kränkung brannten in ihrem Bauch, aber immerhin würde sie in weniger als einer Stunde zurück in den Marschen sein, wo sie hingehörte, und Adrius Falcrest nie wiedersehen müssen.
Marlow saß auf der Theke des Bowery-Zauberladens, einen schokoladengefüllten Keks in der Hand, und verhexte eine Tasse Tee mit einer geklauten Wärmezauberkarte. Neben ihr hantierte Swift mit seiner Neuerwerbung aus dem Pfandhaus nebenan, einer Art aristanischer Maschine, die nur zu dem Zweck erfunden worden war – jedenfalls soweit Marlow das beurteilen konnte –, ziemlich viel unangenehmen, knatternden Lärm zu machen.
Der Laden war jetzt leer, aber der Vormittag war ungewöhnlich betriebsam gewesen. Marlow machte der Umgang mit Kundschaft nichts aus, aber sie mochte Zeiten wie diese lieber, wenn es still im Geschäft war und sie sich damit beschäftigen konnte, Swift auf die Nerven zu gehen, neue Zauber einzusortieren und Zutaten zu katalogisieren.
Die Bowery lag eingezwängt zwischen der Praxis einer Wahrsagerin und dem Pfandhaus und war eine der ältesten Zauberhandlungen in den Marschen. Ihre winzigen Räume waren vollgestopft mit Zauberkarten aller Art – einfache Sauberzauber, Schwebeamulette, Hexe, um schwere Träume zu lindern oder Glück zu beschwören, Flüche, um die Zunge anschwellen zu lassen, wenn ihr Besitzer log, Zauber, um jemanden mutiger oder begehrenswerter zu machen.
»Das ist reine Zaubereiverschwendung«, knurrte Swift. Er wischte sich die Schweißperlen von der Stirn, während er Marlow dabei beobachtete, wie sie ihren Keks über ihrer inzwischen dampfenden Teetasse balancierte. »Es ist doch schon total schwül hier drin. Wozu brauchst du da noch heißen Tee?«
»Damit das Innere des Kekses schmilzt und er klebrig und lecker wird«, erklärte sie.
Swift sah blinzelnd auf seine Maschine, wobei sich sein hübsches Gesicht missbilligend verzog. »Mit dir ist irgendwas ganz und gar nicht in Ordnung.«
»Du hast deine Vorlieben, und ich habe meine«, entgegnete sie gelassen, wobei sie auf die Maschine deutete, die ein leises Wimmern ausstieß, als ihr Swift einen Schlag versetzte. Mit einem Bissen wunderbar klebriger Schokolade im Mund schlug sie vor: »Versuch es mal fester.«
Swift funkelte sie an. »Wenn du nicht helfen willst –«
»Warum hast du das Ding überhaupt gekauft?«
»Man nennt es Radio, und ich habe es gekauft, weil ich gern wissen würde, was in der Welt jenseits der Marschen vor sich geht.«
Das Radio erwachte knisternd zum Leben, und ein blecherner Song erfüllte den Laden; er verklang, als eine Stimme ertönte.
»Die Ballade von der Monddiebin hatte gestern Abend Weltpremiere und es war ein voller Erfolg! Der Vorverkauf hat begonnen, also beeilen Sie sich und sichern Sie sich Karten, bevor sie weg sind!«
Es war eindeutig beunruhigend, der körperlosen Stimme eines Fremden zu lauschen, die versuchte, Theaterkarten an den Mann zu bringen, aber Swift sah absolut begeistert aus.
»Ach richtig, wie ist denn der Fall ausgegangen?«, fragte er und drehte die weiterplappernde Stimme leiser. »Du musst den Fluch gebrochen haben, wenn die Vorstellung stattgefunden hat.«
»Oder dein Radio da lügt dich an.«
»Es ist höchst fraglich, ob du hier sitzen und mich nerven würdest, wenn du es nicht geschafft hättest«, gab Swift zurück. »Also, was ist passiert? Wer war es?«
Sie wich seinem Blick aus und schlürfte ihren Tee. »Ihre Zweitbesetzung.«
»Im Ernst?«, sagte Swift. »Das ist alles? Keine weiteren Einzelheiten? Komm schon, dieser Fall war ein Riesending! Gib mir eine kleine Intrige, ein bisschen Marlow-Flair!«
Normalerweise unterhielt Marlow ihn nur allzu gern mit schmutzigen Geschichten von verschmähten Liebenden und bitteren Rivalen – und der Fall der Monddiebin hatte natürlich jede Menge Aufregendes zu bieten. Aber es waren genau diese aufregenden Details, die sie für sich zu behalten hoffte.
Swift kam zu ihr und rüttelte sie an der Schulter. »Du hast mir nicht einmal gesagt, wie sich Orsellas Spur entwickelt hat.«
Es war eher die Information, wohin die Spur geführt hatte, die Marlow nicht preisgeben wollte. »Was gibt’s da schon zu erzählen? Ich habe den Typen gefunden, ich habe den Fluch gebrochen, ich habe das Mädchen gerettet, immer dieselbe alte Leier. Reden wir doch lieber darüber, was bei dir so los war. Wieder mal ein paar charmante Geschichtenerzähler getroffen?«
»Marlow.« Swifts Stimme wurde argwöhnisch. »Was verheimlichst du mir?«
Er war schlauer, als gut für ihn war.
»Es ist sehr ärgerlich, wenn du das tust«, beschwerte sie sich.
»Schön, jetzt weißt du wenigstens, wie wir anderen uns fühlen«, erwiderte Swift. »Ich kann nicht mal meine Frühstücksbestellung ändern, ohne dass du meine tiefsten, dunkelsten Geheimnisse ans Licht zerrst. Also, worum geht’s?«
»Bevor ich dir das sage«, wich Marlow aus, »würde ich gern darauf hinweisen, dass ich hier sitze, vollkommen unversehrt und nicht einmal –«
»Marlow, ich schwöre bei der Krokodilsgöttin –«
»Ich war im Blind Tiger«, gestand Marlow hastig. »Orsella meinte, ich würde dort den Kerl finden, der Corinnes Fluch gekauft hat.«
Swift schwieg einen langen Augenblick, was ehrlich gesagt viel schlimmer war, als wenn er sofort angefangen hätte zu brüllen. Endlich kam von ihm: »Ernsthaft?«
»Ja«, antwortete Marlow. »Ich habe ihn verhext, mir den Fluch geschnappt, und weg war ich.«
»Und?«, fragte Swift. Als sie nicht weitersprach, fuhr er fort: »Lass mich raten – du bist dort über ein paar Copperheads gestolpert. Denn es ist eine Copperhead-Bar. Wie konntest du bloß so leichtsinnig sein?«
»Ich war nicht leichtsinnig, Swift, ich habe nur meinen Job gemacht«, entgegnete sie hitzig. »Manchmal heißt das auch, Risiken einzugehen. Ich bin Fluchbrecherin, keine –«
»Keine was? Angestellte eines Zauberladens?«
»Na ja, eigentlich bin ich das schon auch«, räumte Marlow ein. »Schau, ich hab es nicht so gemeint. Ich bin froh, dass Hyrum dir den Job gegeben hat. Ich bin froh, dass du jetzt in Sicherheit bist. Wenn das jemand verdient hat, dann du.«
»Die Tatsache, dass wir meine Wohnung mit einem Abwehrzauber belegt haben, der es unmöglich macht, sie zu finden, bedeutet noch nicht, dass ich in Sicherheit bin«, stieß Swift hervor. Er korrigierte den Sitz seines linken Ärmels, dort, wo er genau unter dem Ellbogen festgesteckt war, um den fehlenden Teil seines Arms zu verbergen. »Bane könnte immer noch hier auftauchen, um dir einen Besuch abzustatten.«
»Selbst Bane ist nicht dumm genug, Ärger im Reaper-Revier zu machen«, winkte Marlow ab. Die Reapers und die Copperheads waren die beiden größten Banden in den Marschen, zwischen ihnen hatte sich eine bittere, blutige Rivalität entwickelt. Egal, wie sehr es die Copperheads auf Marlow und Swift abgesehen hatten, sie würden sie auf Reaper-Boden nicht anrühren.
Swift schüttelte den Kopf. »Ich schulde dir eine Menge, Marlow, und du weißt, dass ich dich liebe wie meine Familie. Aber manchmal ist es, als würdest du außer dem Rätsel, das du gerade zu lösen versuchst, nichts anderes mehr sehen.«
Eine Saite des Schmerzes begann in Marlows Brust zu schwingen. Was natürlich hieß, dass Swift ins Schwarze getroffen hatte. Es war nichts, was sie nicht schon über sich wusste, aber da es von Swift kam, hatte es mehr Gewicht. Und nicht nur, weil er recht hatte, sondern auch, weil sie die nackte Angst in seinen Augen sehen konnte und sich schämte, dass sie dafür verantwortlich war.
Es katapultierte sie geradewegs in jene ersten paar Wochen nach dem Verschwinden ihrer Mutter zurück, als sie Swift endlich wiedergefunden hatte. Aber er hatte nichts mehr von dem ausgelassenen, albernen Jungen gehabt, den sie als Kind gekannt hatte, der Junge, den sie herumkommandiert und mit dem sie Sumpfmonster gespielt hatte. Der Swift, zu dem sie zurückgekehrt war, war eine leere, gejagte Kreatur gewesen, weniger heil, als er es jetzt war. Der Fluch der Copperheads mochte ihm den Arm genommen haben, aber das war noch ein geringer Preis, den er für seine Freiheit bezahlt hatte.
Sein Fluch war der erste gewesen, den Marlow zu brechen geholfen hatte, und er war der Grund, warum sie sich überhaupt auf das Geschäft des Fluchbrechens eingelassen hatte. Der Ausdruck auf Swifts Gesicht in dem Augenblick, als der Fluch aufgehoben und die Kontrolle der Copperheads über ihn endlich beendet war, hatte sie seither nicht mehr losgelassen. Er erinnerte sie daran, wie viel Gutes sie tun konnte, wenn sie auch nur ein einziges Leben veränderte.
Es war genau diese Erinnerung, die Swifts Enttäuschung so schwer erträglich machte. Sie hätte am liebsten losgeheult.
»Versprich mir, dass du nie mehr nach Breaker’s Neck gehst«, bat Swift ernst.
Sie wollte ihn nicht anlügen. »Ich muss da hin, wohin der Fall mich führt, Swift. Es ist ja nicht so, dass ich hin bin, weil ich so scharf auf Ärger war.«
Seine Miene wirkte bitter, resigniert. »Nein, Marlow, du bist nie scharf auf Ärger, aber er scheint dich trotzdem immer zu finden, oder?«
Die Stimme aus dem Radio drang durch die plötzliche Stille; anscheinend wurde inzwischen der Wetterbericht verlesen.
Die Ladentür schwang auf und sie zuckten beide zusammen. Als sie sich umdrehten, sahen sie Hyrum hereinstapfen, der sich den Regen aus seiner dunklen Mähne schüttelte.
»Bezahle ich euch beide dafür, dass ihr herumsteht und tratscht?« Er sah von Swift zu Marlow und wieder zurück. »Geht und bringt das Abwehrzauberregal in Ordnung oder so was.«
Mit einem letzten finsteren Blick marschierte Swift in die entlegenste Ecke des Ladens.
Marlow sprang von der Theke, um dann Hyrum zu umkreisen wie ein Pelikan, der sein Abendessen erspäht hat.
»Ja?«, knurrte Hyrum und schob den Vorhang zum hinteren Lagerraum beiseite.
»Du weißt viel über die Marschen«, begann sie.
»Ich habe hier mein ganzes Leben verbracht, daher würde ich sagen, dass ich ein bisschen darüber Bescheid weiß«, versetzte Hyrum. Er sprach zur Wand mit den Zauberzutaten – Dosen voller Säuglingszähne, Blut, schimmernden Glücksbringern, gespenstischen Erinnerungen, konserviert in Rauch. Gläsern, die leer zu sein schienen, tatsächlich aber jemandes Stimme enthielten oder seinen letzten Atemzug. Alles von Menschen erstanden, die verzweifelt genug waren, für ein paar Perlen Teile ihrer selbst zu verkaufen.
Es war nicht viel damit zu verdienen, Zauber an Leute aus den Marschen zu verhökern, die es sich oft kaum leisten konnten, ihre Familien zu ernähren, geschweige denn Schutzzauber und stimmungsaufhellende Glücksbringer zu erwerben. Daher kaufte die Bowery – wie die meisten Zauberläden in den Marschen – auch Zutaten an und veräußerte sie gegen einen kleinen Aufpreis an die Fünf Familien. Und wenn Hyrum gelegentlich Zutaten abzweigte, um sie auf dem Schwarzmarkt zu verschieben, dann war das einfach ein gutes Geschäft.