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Liebe ist ein Fluch, der nicht zu brechen ist
Nach dem Anschlag auf seinen Vater weigert Adrius sich, mit Marlow zu sprechen, und verkündet öffentlich, noch vor Jahresende eine andere zu heiraten. Trotz ihres Liebeskummers ist Marlow weiter fest entschlossen, den Zwangsfluch zu brechen, der auf Adrius lastet. Dafür muss sie ihrem lange verschollenen Vater die liebevolle Tochter vorspielen – dem Urheber des Fluchs, der alle Macht in Caraza an sich zu reißen versucht. Nach dem Anschlag auf seinen Vater weigert Adrius sich, mit Marlow zu sprechen, und schwört öffentlich, noch vor Jahresende eine andere zu heiraten. Trotz ihres Liebeskummers ist Marlow weiter fest entschlossen, den Zwangsfluch zu brechen, der auf Adrius lastet. Dafür muss sie ihrem lange verschollenen Vater die liebevolle Tochter vorspielen – dem Urheber des Fluchs, der alle Macht in Caraza an sich zu reißen versucht. Doch ist sie auch bereit, das zu opfern, woran ihr Herz am meisten hängt?
Das fulminante Finale der fesselnden Enemies-to-Lovers-Dilogie mit origineller Welt, atemberaubendem Plot und hinreißenden Figuren
Die Garden-of-the-Cursed-Reihe:
Garden of the Cursed (Band 1)
Masquerade of the Heart (Band 2)
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Seitenzahl: 494
Veröffentlichungsjahr: 2025
KATY ROSE POOL
Aus dem amerikanischen Englisch von Barbara Imgrund
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In diesem Buch werden Neopronomen verwendet. Da es zum Zeitpunkt des ersten Erscheinens für die deutsche Sprache noch keine einheitliche Regelung gibt, haben wir uns für das Neopronomen sier entschieden.
Deutsche Erstausgabe Juni 2025
© 2024 by Katy Rose Pool. All rights reserved.
© 2025 für die deutschsprachige Ausgabe cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Masquerade of the Heart« bei Henry Holt and Company, Publishers since 1866.
Henry Holt is a registered trademark of Macmillan Publishing Group, LLC 120 Broadway, New York, NY 10271 · mackids.com
Aus dem amerikanischen Englisch von Barbara Imgrund
Lektorat: Stefanie Rahnfeld
Umschlaggestaltung: semper smile, München,
Umschlagmotive: © Shutterstock (Sergio33, mahiart, puha dorin, exopixel, Sibons photography, mamita, Ekaterina_Klishevnik, nnattalli, Ralfa Padantya, NABODIN, PGMart)
Motive Innengestaltung: © Adobe Stock (YummyBuum)
kk · Herstellung: DiMo
Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg
ISBN 978-3-641-31526-9V001
www.cbj-verlag.de
Für Mom und Dad Dafür, dass sie viel bessere Eltern sind als irgendjemand in diesem Buch
Der Regen strömte warm auf Marlow herab, als sie vor dem hoch aufragenden Tor von Falcrest Hall stand. Es war geschlossen; seine eisernen Zacken bohrten sich wie Reißzähne in den dunkelgrauen Himmel. Unsichtbare Abwehrzauber schlängelten sich durch die Gitterstäbe, um unerwünschte Besucher fernzuhalten.
Und Marlow wusste, dass sie so unerwünscht war, wie man es nur sein konnte.
Sie drückte einen Strauß dunkelvioletter Blumen an die Brust und hob die andere Hand, um auf den Knopf der magischen Gegensprechanlage zu drücken. Ein statisches Knistern ertönte aus dem Lautsprecher, dann sagte eine förmliche, ausdruckslose Stimme: »Falcrest Hall ist um diese Uhrzeit für Besucher nicht zugänglich.«
Marlow räusperte sich. »Ich habe eine Lieferung.«
Auf der anderen Seite der Gegensprechanlage entstand eine Pause. Marlow zog sich die Kapuze tiefer ins Gesicht – sie wusste, dass ihr Bild soeben dem Haushofmeister übermittelt wurde oder mit wem auch immer sie da sprach.
»Einen Augenblick«, sagte der Mann kurz angebunden, dann schaltete sich die Gegensprechanlage aus.
Einige lange Minuten vergingen, während der Regen unaufhörlich auf Marlow herunterprasselte. Sie war längst nass bis auf die Knochen und trotz der schwülen Hitze begann sie zu frösteln.
Gerade als sie der Verdacht beschlich, dass der Haushofmeister vorhatte, sie tropfend und schlotternd im Regen stehen zu lassen, bis sie endlich aufgeben würde, entdeckte sie eine Gestalt, die die Haupttreppe von Falcrest Hall hinabstieg.
Vor dem regenverhangenen grauen Himmel konnte Marlow sie bloß als verwaschenen dunklen Fleck erkennen, bis die Person nur noch ein paar Dutzend Schritte entfernt war.
Ihr sackte das Herz in die Hose.
Amara trat ans Tor. Sie war ganz in Schwarz gekleidet, von dem skulpturalen Cape, das sie über einem schmal geschnittenen Abendkleid trug, bis hin zu dem verzauberten Regenschirm, der über ihr schwebte und sie vor dem Wolkenbruch schützte. Jede Linie ihrer Garderobe, ihr strenges Make-up, sogar ihre glänzenden rabenschwarzen Haare wirkten auf aggressive Art wie poliert.
Marlow konnte nicht umhin, ihr eigenes tropfnasses Äußeres durch Amaras Augen zu sehen – ihre wirren, triefenden blonden Haare, die schlichte, schlecht sitzende Kleidung, die sie sich aus ihrem alten Schrank im Vale-Turm gegriffen hatte, ihr blasses Gesicht mit den tiefen Schatten von fehlendem Schlaf.
Amaras weinrote Lippen verzogen sich zu einem Fauchen. »Was? Bist du hier, um meinem Vater den Rest zu geben?«
Marlow schluckte schwer. Sie ließ die Hand mit den Blumen fallen und mit ihnen den Vorwand, unter dem sie hergekommen war. »Ich will mit Adrius sprechen.«
Ein ungläubiges Lachen kam wie Gebell aus Amaras Mund. Ihre dunklen Augen loderten. »Du wirst nie wieder mit irgendjemandem aus meiner Familie sprechen.«
Marlow erlaubte sich nicht, vor dem tiefen Hass in Amaras Blick zusammenzuzucken. Sie wusste, dass Streiten wenig Sinn machte – Amara hatte keinen Grund, sie ausreden zu lassen. Nach ihrem Kenntnisstand hatte Marlow versucht, kaltblütig ihren Vater zu ermorden.
Sie hätte ahnen müssen, dass es sinnlos war, nach Falcrest Hall zu gehen, aber sie hatte es wenigstens versuchen müssen. Adrius’ Leben hing womöglich davon ab.
»Bitte.« Sie umklammerte die Gitterstäbe des Tors. »Ich brauche nur fünf Minuten. Bitte.«
»Ich soll dir die Chance geben, noch mal deine Klauen in ihn zu schlagen?«, schnaubte Amara. »Niemals.«
»Ich wäre nicht hergekommen, wenn es nicht wichtig wäre.« Marlows Knöchel wurden weiß, so fest packte sie zu, als würde Loslassen bedeuten, dass sie diese dumme Mission verloren gab.
»Ach, wirklich?«, höhnte Amara. »Na wenn es so wichtig ist, warum sagst du’s nicht mir?«
Amara wusste nichts von dem Nötigungsfluch, unter dem Adrius stand. Womöglich ahnte sie etwas – zumindest hatte Silvan das geglaubt –, aber die volle Wahrheit kannte sie nicht. Und Marlow würde ihr dieses Geheimnis nicht verraten. Adrius war zwar Amaras Bruder, aber wie ihr Vater sah auch sie in ihm jemanden, der kontrolliert werden musste.
Und zur Hölle, Marlow würde ihr diese Kontrolle auf keinen Fall zuspielen.
Doch als Marlow in ihr Gesicht sah, begann sie Risse in Amaras Panzer zu bemerken. Die Schatten unter ihren Augen. Die Rötung von Wangen und Nase, die vermuten ließ, dass sie geweint hatte.
Amara konnte von Adrius’ Verfluchung nichts wissen, da war Marlow sich sicher. Aber Amara war nicht so gefühllos, wie sie sich gab. Ihr Vater lag irgendwo in Falcrest Hall im Sterben, und so schrecklich dieser Mann auch war, so klar konnte Marlow doch sehen, dass Amaras Trauer um ihn aufrichtig war.
Sie verdiente die Wahrheit darüber zu hören, wer versucht hatte, ihn ihr zu nehmen.
»Es geht um euren Vater«, begann Marlow.
Amaras Gesicht verzerrte sich vor unverkennbarem Zorn. »Sprich nicht von ihm.«
»Ich weiß, dass du mich hasst«, sagte Marlow. Verzweiflung schwang in ihren Worten mit. »Und du hast allen Grund dazu. Aber du kennst nicht die ganze Wahrheit darüber, was passiert ist. Wenn du mich einfach nur anhören würdest –«
»Marlow?«, ertönte eine Stimme durch das Trommeln des Regens.
Sie kam von jemandem hinter Marlow. Sowohl sie als auch Amara wandten sich ihm zu.
Marlows Herz hämmerte gegen ihre Rippen, als ihr Blick auf Cormorant Vale landete.
Er stand unter dem Schutz seines eigenen verzauberten Regenschirms, sein kobaltblauer Anzug verschmolz fast mit den grauen Wolken hinter ihm. Sein warmherziges, jungenhaftes Gesicht war voller Sorgenfalten, seine grauen Augen ruhten auf Marlow. Sie hatte ihn erst vor wenigen Stunden zuletzt gesehen, im Wohnzimmer ihrer Wohnung im Vale-Turm, wo sie die einzelnen Puzzleteilchen all seiner Taten endlich zusammensetzen konnte, als er sie in die Arme schloss.
Er trat auf sie zu. »Marlow, was machst du hier?«
Ein Schauer lief ihre Wirbelsäule hinab. »Bist du mir gefolgt?«
Vale runzelte verwirrt die Stirn. »Natürlich nicht. Amara gibt ein Essen für die Oberhäupter der Fünf Familien und die Vasallenhäuser der Falcrests.«
Überrascht drehte sich Marlow wieder zu Amara um. Es waren nicht einmal zwei Tage seit dem Anschlag auf ihren Vater vergangen und Amara lud schon wieder zu einem Essen?
Andererseits ergab es vielleicht durchaus einen Sinn. Ihr fiel die Anspannung in Amaras Kiefer auf. Das Essen war nicht nur ein gesellschaftliches Ereignis. Amaras Trauer war echt, ebenso wie der politische Fakt, dass es die Fünf Familien gab. Und wenn Marlow etwas über Amara wusste, dann, dass sie strategisches Vorgehen über emotionale Befindlichkeit stellte. Da ihr Vater zwischen Leben und Tod schwebte, musste sich Amara unter Druck gesetzt fühlen, die Vormachtstellung der Falcrest-Familie zu festigen, bevor jemand einen Vorteil aus ihrer geschwächten Position ziehen konnte.
»Und?«, fragte Amara, ohne im Geringsten auf Vale zu achten. Ihr Blick brannte sich in Marlow. »Was wolltest du mir nun sagen?«
Marlow konnte auch Vales Augen auf sich spüren. Ein hysterisches, verzweifeltes Bedürfnis wallte in ihr auf. Sie hätte Amara am liebsten durch die Gitterstäbe hindurch gepackt und gesagt: Er ist es, er ist verantwortlich für das Attentat auf deinen Vater, lass ihn nicht herein, lass ihn bitte nicht in die Nähe von Adrius, bitte, Amara.
Sie schluckte die Worte herunter. Vale ahnte nicht, dass sie wusste, was er getan hatte – dass er Adrius den Nötigungsfluch auferlegt hatte, dass er ihm den Befehl gegeben hatte, seinem eigenen Vater ein Messer ins Herz zu stoßen. Und so musste es bleiben, bis Marlow herausfand, was er wirklich vorhatte.
Sie senkte den Blick und löste die kalten, nassen Finger von den Gitterstäben des Tors. »Sag Adrius, dass es mir leidtut«, bat sie. Dann drehte sie sich um und ging durch den Regen davon.
»Halte sie zur Hölle von meiner Familie fern!«, fauchte Amara Vale an.
Er nahm ihren Befehl nicht einmal zur Kenntnis. Sein Blick blieb auf Marlow gerichtet, seine grauen Augen so dunkel wie Sturmwolken. Er machte einen Schritt auf sie zu und legte ihr eine Hand auf die Schulter, bevor sie an ihm vorbeigehen konnte.
Marlow riss sich zusammen und unterdrückte ein Schaudern.
»Wir reden morgen darüber«, sagte er in grimmigem Ton.
Reden worüber? Darüber, dass Marlow mit dem dümmsten aller dummen Vorhaben am Tor von Falcrest Hall aufgetaucht war? Sie biss die Zähne angesichts der Wut zusammen, die sich in ihrem Bauch sammelte, doch sie zwang sich, Vales Blick mit einem Nicken zu begegnen.
Vale nickte zufrieden zurück, klopfte ihr einmal auf die Schulter und gab sie dann frei.
Es erforderte ihre ganze Willenskraft, sich abzuwenden und zuzulassen, dass Vale durch das Tor von Falcrest Hall schritt, obwohl sie wusste, dass Adrius irgendwo dort drinnen war. Obwohl sie wusste, dass er noch immer unter dem Bann des Nötigungsfluchs stand. Obwohl sie wusste, dass Vale derjenige war, der ihn damit belegt hatte.
Und obwohl sie nicht wusste, was Vale mit dieser Macht vorhatte.
Der erste Gang war bereits serviert und wieder abgetragen worden, als Adrius ins Esszimmer kam. Er konnte noch die Überreste eines Appetithappens aus kandierten Feigen und hauchdünn geschnittenem Pökelfleisch erkennen.
»Adrius«, begrüßte ihn Amara von der Stirnseite des Tischs aus. Die Falten um ihre Mundwinkel verrieten ihr Missfallen. »Ich wusste nicht, dass du uns Gesellschaft leisten wolltest.«
Adrius schlenderte an der Tafel entlang, an der die Gäste saßen, und stibitzte im Vorübergehen beiläufig ein Glas Wein vom Tisch, um sich dann auf einen leeren Stuhl links von Amara fallen zu lassen. »Machst du Witze? Das würde ich niemals verpassen.«
In Wahrheit hatte er durchaus beschlossen, diese kleine Zusammenkunft auszulassen und den Abend damit zu verbringen, so sturzbetrunken zu werden, dass er nicht mehr geradeaus sehen konnte. Aber irgendwann, als er gerade auf den Boden einer leeren Flasche starrte, hatte er spontan entschieden, dass ein Abendessen mit den Oberhäuptern der wichtigsten Familien von Caraza doch eigentlich spaßig klang – und sei es nur, weil seine bloße Anwesenheit die wie auch immer gearteten Pläne durchkreuzen würde, die Amara so blindwütig in die Tat umzusetzen versuchte.
Seit dem Tag ihrer Hochzeit hatte Amara sich nach Kräften bemüht, Adrius’ Existenz zu ignorieren, und er hatte es nun endlich satt.
Er lächelte sie munter über den Rand seines Weinglases hinweg an und wandte seine Aufmerksamkeit dann den Gästen zu. Vertreter aller Vasallenhäuser der Falcrests saßen um die Tafel herum, dazu die Oberhäupter der übrigen Fünf Familien – Zeno Morandi, Dahlia Starling und Cormorant Vale. Natürlich fehlte die Delvigne-Familie. Während sie nominell noch immer den Fünf Familien angehörte, war die Familie, der Adrius’ Mutter entstammte, schon lange von den Falcrests vereinnahmt worden.
»Also!«, sagte er überschwänglich, wobei Wein aus dem Glas schwappte und sich über das feine Tischtuch ergoss. »Worüber reden wir gerade?«
»Tatsächlich sprachen wir über dich«, erwiderte Amara scharf. »Und ich sollte dir wirklich dafür danken, dass du meinen Standpunkt so eindrucksvoll untermauert hast.« Sie wandte sich an ihre Gäste. »Wie Sie mit eigenen Augen sehen können, ist Adrius wohl kaum dazu in der Lage, die Falcrest-Familie als Erbe anzuführen.«
Adrius zuckte übertrieben zusammen. »Du redest nicht lange um den heißen Brei rum, oder?«
Ein kahl werdender Mann mit Brille und einer dünnen Nase räusperte sich. Adrius kannte ihn – es war Jean Renault, das Oberhaupt eines der mächtigsten Vasallenhäuser der Falcrests. Adrius hatte ihn immer schon sträflich verklemmt und spießig gefunden, aber er hatte in der Tat viel Einfluss auf die anderen Vasallen. »Obwohl wir Ihre Offenheit und Meinung in dieser Sache schätzen, müssen wir uns doch fragen – was genau ist es, das Sie in die Lage versetzt, die Führung der Familie zu übernehmen? Es ist Ihr Bruder, den Aurelius als Erben benannt hat. Offensichtlich hatte er durchaus das Gefühl, dass Adrius dieser Aufgabe gewachsen wäre.«
Adrius konnte Amaras Anspannung spüren, als sie die Zähne zusammenbiss. Doch ihre Stimme klang ruhig, als sie entgegnete: »Mein Vater hat diese Entscheidung getroffen, bevor Adrius beschlossen hat, sich von der Familie abzuwenden.«
Renault sah Adrius an. »Ist das wahr?«
Adrius zuckte die Achseln. Die Wahrheit spielte keine Rolle – was eine Rolle spielte, war, ob Amara diese Männer davon überzeugen konnte, dass es in ihrem eigenen Interesse war, ihr die Verantwortung zu übertragen. Es war ihr nicht gelungen, ihren Vater davon zu überzeugen – und Adrius schätzte, dass er ein ganz klein wenig neugierig darauf war, ob sie bei diesen Männern besser abschneiden würde.
»Es ist wahr«, antwortete Amara. »Am Abend vor meiner Hochzeit hat Adrius Falcrest Hall verlassen und erklärt, nie mehr zurückzukehren. Ich glaube, sowohl mein Ehemann als auch Lord Vale können das bezeugen.« Sie sah nach rechts, wo Darian saß, der wie immer ganz den pflichtbewussten Gatten gab.
»Er hat jene Nacht tatsächlich im Vale-Turm verbracht«, bestätigte Darian.
»Als Adrius Falcrest Hall verlassen hat, hat er jeden Anspruch als Erbe verwirkt«, fuhr Amara mit distanzierter, herrischer Stimme fort. »Die einzige Person, die einen rechtmäßigen Anspruch auf die Falcrest-Familie erheben kann, bin deshalb ich.«
Die Oberhäupter der Vasallenhäuser schienen einen Augenblick zu brauchen, um das aufzunehmen, und wechselten Blicke untereinander. Schließlich ergriff wieder Renault das Wort. »Wir schätzen Ihre Haltung in dieser Sache, aber sicher können Sie verstehen, dass wir … zögern, einem Mädchen im Teenageralter die Führung der Falcrest-Familie anzuvertrauen.«
»Bei allem gebotenen Respekt«, erwiderte Amara kühl, »es ist nicht an Ihnen, mir die Verantwortung anzuvertrauen oder nicht.«
Renault kniff die Augen zusammen. »Und dennoch werden Sie feststellen, dass Sie – wenn die Vasallenhäuser kein Vertrauen in Ihre Führungsqualitäten haben – unser aller Unterstützung vielleicht verlieren. Wir müssen an das Schicksal unserer eigenen Familien denken, das eng mit den Geschäften der Falcrest-Familie verwoben ist.« Er warf einen raschen Blick zu Zeno Morandi. »Wir könnten uns genötigt sehen zu überlegen, ob unsere Interessen nicht in den Händen von jemand anderem besser aufgehoben wären.«
Adrius unterdrückte ein Schnauben. Die Drohung war deutlich. Wenn Amara sich den Forderungen der Vasallenhäuser nicht beugte, würden sie ihr gesamtes Kapital der Falcrest-Familie entziehen und eine andere Möglichkeit finden, ihr Geld zu investieren. Wenn nur einige der größten Vasallen ausstiegen, würden die anderen bestimmt folgen.
Amaras Ton war eisig. »Ich versichere Ihnen, dass ich durchaus fähig bin, die Falcrest-Familie anzuführen. Ich habe mich mein ganzes Leben lang auf diese Aufgabe vorbereitet.«
Sie klang knallhart und ruhig, aber das reichte nicht aus, um Adrius zu täuschen. Er kannte sie seit achtzehn Jahren, und er merkte es, wenn sie wütend war. Und jetzt tobte sie innerlich. Sie hasste es, dass sie die Zustimmung dieser Leute brauchte, die sie zweifellos für unter ihrer Würde hielt.
»Wenn sich die Vasallenhäuser dann wohler fühlen, können wir das vielleicht anders lösen«, schaltete sich Vale vom anderen Ende der Tafel ein. »Vielleicht könnte eine … Aufsichtsinstanz Ihre Bedenken zerstreuen?«
Adrius zog die Augenbrauen hoch. Er war sich nicht sicher, welche Position Vale hier einnahm – so wie er ihn kannte, würde er aufrichtig versuchen, Amara zu helfen, ohne zu ahnen, wie sehr sie ihm dieses Angebot übel nehmen würde.
Renault hingegen wirkte fasziniert. »Aufsichtsinstanz?«
Vale neigte den Kopf. »Amara und mein Sohn sind jetzt verheiratet. Als ihr Schwiegervater wäre ich mehr als gewillt, einzuspringen, bis sie sich zurechtgefunden hat.«
»Einzuspringen?«, stieß Zeno Morandi hervor. Er schürzte die Lippen, als er sich Renault zuwandte. »Darüber können Sie nicht ernsthaft nachdenken. Dem Oberhaupt einer anderen der Fünf Familien die Verantwortung für die Falcrest-Familie zu übertragen, ist absolut aberwitzig. Ein klarer Interessenkonflikt.«
»Beruhige dich, Zeno, niemand hat etwas von Verantwortung übertragen gesagt«, widersprach Vale begütigend. »Das wäre eine rein beratende Funktion. Natürlich vorübergehend. Amara würde die volle Kontrolle behalten.«
»Oh, bitte«, schnaubte Morandi. »Damit greifst du ganz klar nach der Macht und die anderen Familien werden das nicht dulden.«
»Nun, das ist ja etwas, womit du dich auskennst, nicht wahr, Zeno?«, fragte Vale.
Adrius konnte nicht anders, er musste grinsen. Er hatte Morandi nie besonders gemocht – er hatte ihn immer für genauso grausam und skrupellos wie seinen eigenen Vater gehalten und für doppelt so feige.
Morandis wachsame Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Was willst du damit andeuten?«
»Es geht das Gerücht, dass die Morandi-Familie vorhat, die talentiertesten Zauberer der Falcrests und einen Teil der Sammlung der Falcrest-Bibliothek zu übernehmen«, gab Vale zurück. »Hältst du es nicht für ein bisschen unfein, um die Falcrest-Bibliothek herumzuschnüffeln, während der Falcrest-Patriarch im Sterben liegt?«
»Du willst mir sagen, was unfein ist?« Morandi spuckte die Worte geradezu aus. »Wie würdest du es dann bezeichnen, der Person Unterschlupf zu gewähren, die Falcrest angegriffen hat, um keine zwei Tage später zu versuchen, dich selbst in eine Machtposition zu bringen?«
Adrius zuckte zusammen. Obwohl Morandi Marlows Namen nicht ausgesprochen hatte, schien plötzlich die Luft aus dem Raum gewichen zu sein.
»Die Gerichte werden entscheiden, wer den Mordanschlag verübt hat«, sagte Vale langsam.
Sein Blick huschte für einen flüchtigen Moment zu Adrius. Ein unbehaglicher Schauer durchfuhr Adrius. Kannte Vale die Wahrheit – dass es nicht Marlow gewesen war, die seinen Vater niedergestochen hatte, sondern er? Hatte Marlow es ihm verraten?
Adrius griff tollpatschig nach seinem Weinglas und trank einen weiteren großen Schluck. Schon der bloße Gedanke an Marlow schnürte ihm die Brust zusammen.
»Meine Herren«, ließ sich Renault wieder vernehmen. »Wir sind nur hier, um eine Antwort auf die Frage zu finden, wer die Geschäfte der Falcrest-Familie führen soll. Das ist alles. So, wie ich das sehe, würde eine Aufsicht durch Lord Vale einige unserer Bedenken ausräumen. Ansonsten könnte die Kontrolle über die Falcrest-Familie vielleicht in eine Art Treuhandschaft durch die Vasallenfamilien überführt werden, zumindest bis Lord Falcrest … äh … wieder gesund ist.«
Eine drückende Stille folgte seinen Worten. Adrius’ Blick fiel auf das Tischtuch vor ihm. Der Wein, den er vergossen hatte, zeichnete sich dunkelrot auf dem weißen Leinen ab. Es sah fast wie Blut aus. Übelkeit stieg in ihm auf und er schloss die Augen.
Niemand an der Tafel glaubte, dass sein Vater auf dem Weg der Besserung war. Am wenigsten Adrius selbst.
»Nein«, sagte Amara steif. »Nein, das wird nicht notwendig sein. Ich würde es mehr als begrüßen, wenn sich mein Schwiegervater einbringen wollte, sofern sich die Vasallenfamilien wohler damit fühlen.«
Ihre Stimme klang honigsüß, doch Adrius konnte das Gift darin hören.
»Bevor wir darüber entscheiden, würde ich gern wissen, wie Adrius dazu steht«, sagte Renault. »Immerhin ist er der derzeitige Erbe. Hast du dem etwas hinzuzufügen?«
Adrius verzog den Mund zu einem hässlichen, boshaften Lächeln und kam auf die Füße. »Ich sage, dass ihr meinetwegen die Falcrest-Bibliothek bis auf die Grundmauern niederbrennen könnt.«
* * *
Am Ende des Gangs brannte Licht. Adrius hatte das nicht erwartet. Es war spät und das Essen längst vorüber, die Gäste waren gegangen, und die Dienstboten hatten sich zur Nachtruhe zurückgezogen. Er hätte ebenfalls im Bett liegen müssen. Aber in diesen Tagen kümmerte er sich wenig darum, weil er wusste, dass er nicht vor der Morgendämmerung einschlafen würde, wenn überhaupt.
Stattdessen war er hier, im Zimmertrakt seines Vaters. Und es sah so aus, als wäre er nicht der Einzige, den es heute Nacht hierhergezogen hatte.
Durch die halb offene Tür konnte er Amaras Rücken sehen; sie saß über das Krankenbett ihres Vaters gebeugt. Sie sprach mit leiser, sanfter Stimme, aber Adrius konnte nicht verstehen, was sie sagte.
Er trat näher, dabei machten seine Schuhe ein Geräusch auf dem polierten Fliesenboden.
Amara fuhr zu ihm herum. Ihre Augen waren rot umrandet. Sie hatte geweint. Adrius wusste, dass auch sie in letzter Zeit nicht viel Schlaf bekommen hatte.
Aurelius war seit Amaras Hochzeit nicht wieder aufgewacht. Zahllose Zauber und Banne hielten seinen Körper am Leben, aber keiner davon konnte die schwärende Wunde in seiner Brust heilen. Die Wunde, die Adrius in sein Fleisch gebohrt hatte.
Adrius hatte es in den letzten beiden Tagen vermieden, diesen Gang zu betreten, aber heute Abend hatte ihn etwas hierhergetrieben. Erst als er jetzt seiner Schwester ins Gesicht sah, wusste er, was es gewesen war. Er war gekommen, um den Kummer zu suchen, den er so deutlich in Amaras Augen sah.
»Was willst du hier?«, fragte sie.
Adrius stand noch immer in der Tür; er zögerte, einzutreten. »Ich bin gekommen, um zu sehen, wie es ihm geht.«
»Was kümmert es dich?«
Adrius antwortete nicht. Er wusste keine Antwort darauf. Amara hatte recht – es kümmerte ihn nicht. Er fühlte nichts.
»Du hast mehr Zeit damit verbracht, über diese Mörderin nachzudenken, als dir Sorgen um deinen eigenen sterbenden Vater zu machen«, zischte Amara. »Das ist krank.«
Marlow ist keine Mörderin, hätte Adrius am liebsten gesagt. Ich bin der Mörder.
Er hatte ein Messer in die Brust seines eigenen Vaters gestoßen. Und als er auf dieses bleiche, stille Gesicht hinunterschaute, empfand er – nichts.
Deshalb hat er mich ausgewählt. Der Gedanke überraschte ihn. Seitdem sein Vater ihnen mitgeteilt hatte, dass er Adrius zum Erben ernannt hatte, war die Frage nach dem Warum da gewesen. Doch jetzt sah er die Antwort, schonungslos und schrecklich im kalten Licht des Krankenlagers seines Vaters.
Denn so gern Amara auch wie ihr Vater sein wollte – skrupellos und unnachgiebig –, es war Adrius, der ihm am meisten ähnelte. Es war Adrius’ Herz, das so kalt und hart war wie das Eis in der Brust seines Vaters.
Und trotz ihres Panzers und ihrer Boshaftigkeit hatte Amara niemanden ermordet, so wie sie beide.
»Du musst dich für eine Seite entscheiden, Adrius.« Amara stand auf.
»Wovon redest du?«
»Ich rede von Vale!«, fauchte Amara. »Er versucht die Falcrest-Bibliothek an sich zu bringen.«
»Du bist paranoid«, gab Adrius zurück. »Er hat doch nur angeboten, dich zu beraten.«
»Du bist so gottverdammt naiv«, entgegnete sie. »Er hat dafür gesorgt, dass deine kleine Freundin aus dem Gefängnis entlassen wurde, wusstest du das? Nach allem, was wir wissen, haben sie zusammen den Plan ausgeheckt, Vater zu ermorden.«
»Das ist – komm schon, Amara, das ist doch –«
»Ich werde nicht herumsitzen, während Vale versucht, mir die Kontrolle über das Falcrest-Imperium aus den Händen zu reißen. Ich werde selbst Schritte unternehmen.« Amaras Lippen verzogen sich zu einem grimmigen Lächeln. »Und du wirst mir dabei helfen. Kein Aussitzen mehr, Bruder.«
Manchmal, wenn Marlow in einem Fluchbrecherfall gar nicht mehr weiterkam, setzte sie sich hin und legte eine Liste all dessen an, was sie wusste. Es war eine Methode, das Chaos in ihr zu ordnen und ihre Aufmerksamkeit nicht auf die Fragen zu richten, die ihr durch den Kopf schwirrten, sondern darauf, was als Nächstes zu tun war.
Deshalb saß sie am Tag nach ihrem gescheiterten Besuch in Falcrest Hall am Schreibtisch ihrer Mutter und hielt alles fest, was ihr bekannt war. Der erste Punkt lautete: Adrius weiß nicht, dass Vale ihn verflucht hat.
Gestern war ihr Versuch missglückt, mit Adrius zu sprechen, aber sie hatte die Hoffnung nicht aufgegeben, ihm eine Nachricht zukommen lassen zu können. Amara konnte ihn nicht für immer in Falcrest Hall einsperren. Marlow würde einfach auf eine passende Gelegenheit warten.
Der nächste Punkt auf der Liste war: Swift hat sich noch nicht wieder gemeldet.
Es war zwei Tage her, dass sie ihm aufgetragen hatte, bei der Schwarzen Orchidee Zuflucht vor den Copperheads zu suchen. Marlow nahm an, dass er von ihrer Verhaftung erfahren hatte und wahrscheinlich auch davon, dass sie jetzt im Vale-Turm wohnte. Er machte sich vermutlich Sorgen um sie, und sie hasste es, ihm Sorgen zu machen. Es beunruhigte sie außerdem, dass er keinen Weg gefunden hatte, Verbindung zu ihr aufzunehmen – was, wenn sie sich getäuscht hatte und man der Schwarzen Orchidee nicht trauen konnte? Was, wenn er es vielleicht gar nicht bis dorthin geschafft hatte?
Der dritte Punkt auf ihrer Liste: Adrius ist immer noch verflucht.
Inzwischen blieben ihr nicht einmal mehr zwei Wochen, um die Fluchkarte zu finden und zu verbrennen, bevor der Nötigungsfluch, der auf Adrius lastete, nicht mehr aufzuheben war. Und sie wusste nicht, wo sie mit der Suche anfangen sollte.
Ein Klopfen an der Tür riss sie aus ihren Gedanken. Vales Stimme drang durch die Tür herein. »Marlow, ich bin’s. Darf ich reinkommen?«
Sie ging zur Tür und öffnete. Vale stand lächelnd davor. Immer wieder durchfuhr sie ein verwirrender Schauer des Unbehagens, wenn sie ihn ansah – ein Teil von ihr fand Trost in seinem vertrauten, herzlichen Auftreten, der andere Teil war verstört von der Leichtigkeit, mit der er diese Fassade aufrechterhielt.
»Ich möchte mit dir über gestern Abend sprechen«, begann er zögernd, aber bestimmt. »Ich halte es für keine gute Idee, den Vale-Turm zu verlassen.«
Vales Ton klang vielleicht liebenswürdig, doch seine Worte sagten ihr, dass sie im Grunde eine Gefangene hier war. Sie packte den Türknauf fester.
»Zumindest nicht allein«, fuhr Vale mit einem gepressten Lächeln fort.
Marlow zwang ihren Körper dazu, sich zu entspannen. »Ich bin nicht wirklich daran gewöhnt, jemandem Rechenschaft abzulegen.«
»Das weiß ich«, entgegnete Vale leise. »Ich bin nicht so dumm zu glauben, dass ich nur, weil ich dein Vater bin, hier hereinspazieren und dir sagen kann, was du zu tun und lassen hast. Aber ich möchte für deine Sicherheit sorgen. Und im Moment ist angesichts all dessen, was vor sich geht, der sicherste Platz für dich hier. Zu Hause.«
Zu Hause. Dieser Turm war vielleicht früher ein Zuhause gewesen. Jetzt war er das nicht mehr.
»Was wolltest du denn überhaupt in Falcrest Hall?«, fragte Vale weiter. Marlow musterte ihn, um herauszufinden, ob er den wahren Grund ahnte, weshalb sie dort gewesen war. Er hatte keine Veranlassung, zu denken, dass sie über Adrius’ Verfluchung Bescheid wusste, geschweige denn darüber, dass er derjenige war, der ihn verflucht hatte. Trotzdem pochte ihr Herz bei dem Gedanken, aufzufliegen. Aber bevor ihr eine zufriedenstellende Antwort einfallen konnte, senkte Vale die Stimme und fragte: »Warst du dort, um Adrius zu sehen?«
Marlow zog die Unterlippe zwischen die Zähne. Ihre Mutter hatte immer gesagt, der einfachste Weg, jemanden zu täuschen, bestehe darin, ihm genau das zu zeigen, was er zu sehen erwartete.
Vale schien zu glauben, dass sie ein liebeskranker Teenager war. Also würde sie ein liebeskranker Teenager sein.
Sie nickte und blinzelte ein paarmal schnell hintereinander, als müsste sie die Tränen zurückhalten.
»Mein Liebes«, sagte Vale in tröstendem Ton. »Ich hätte gern unrecht behalten, was ihn betrifft. Aber es ist besser, dass du es jetzt erfährst. Egal, welche Gefühle er für dich hat, er wird dich nie an die erste Stelle setzen. Es ist nicht sein Fehler – nicht wirklich. Er kann es einfach nicht. Er ist seinem Vater zu ähnlich.«
Marlow schluckte an dem Kloß in ihrer Kehle. Sie hatte vielleicht gedacht, dass sie ihre Tränen für Vale vortäuschte, doch ihr Bauch sagte ihr etwas anderes. Ein Teil von ihr – ein Teil, auf den sie nicht stolz war – fragte sich, ob Vale mit Adrius recht hatte.
»Komm doch heute rüber und iss mit mir und der ganzen Familie zu Abend«, schlug Vale vor.
Marlow wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. »Glaubst du nicht, dass es ein bisschen zu früh dafür ist?«
»Keineswegs«, gab er zurück. »Ehrlich gesagt ist es längst überfällig.«
»Ich bin doch erst zwei Tage hier.«
Er bedachte sie mit einem liebevollen Blick. »Ich meine, dass wir das schon vor Jahren hätten tun sollen. Wenn ich damals nur schon gewusst hätte, wer du bist … wenn deine Mutter nicht so versessen darauf gewesen wäre, ihre Geheimnisse für sich zu behalten …« Er schüttelte den Kopf. »Ich schätze, es hat keinen Sinn, sich Gedanken darüber zu machen, was hätte sein können. Wichtig ist nur, dass wir jetzt die Wahrheit kennen. Es ist nie zu spät, etwas richtig zu machen.«
Es war erschreckend, Vale davon reden zu hören, »etwas richtig zu machen«, während er doch Adrius mithilfe eines Fluchs dazu nötigte, jeden seiner Befehle auszuführen.
»Du hast keinen Grund, nervös zu sein«, fuhr Vale fort. »Ich habe Elena schon alles erklärt. Welchen Groll es auch geben mag, ich allein muss dafür geradestehen.«
Vale mochte es so sehen, allerdings bezweifelte Marlow, dass seine Frau ihm darin zustimmte. Aber obwohl Marlow kein Interesse an einem Familienessen hatte, war es ganz offensichtlich etwas, das Vale von ihr wollte, und sie hatte definitiv ein Interesse daran, ihn sich gewogen zu halten.
»Gib mir nur schnell Zeit, mich frisch zu machen«, sagte sie.
Vale lächelte erfreut über ihre Zusage. »Natürlich. Wir warten unten im Familienflügel auf dich. Du weißt, wo das ist?«
»Klar«, nickte Marlow. Sie hatte nie einen Fuß in die privaten Gemächer der Familie gesetzt, als sie damals hier gelebt hatte, aber sie wusste, wo sie lagen. »Ich bin gleich unten.«
Vale sandte ihr ein letztes strahlendes Lächeln und ging dann.
Marlow trat vor ihren alten Schrank und fand einige Kleider, die sie vor über einem Jahr zurückgelassen hatte; nur eines davon passte ihr noch. Es hatte ein langärmeliges silbernes Oberteil und einen mitternachtsblauen Stufenrock, der mit Perlen bestickt war. Für ein Evergarden-Kleid war es ziemlich dezent, aber Marlow fühlte sich trotzdem vollkommen overdressed für ein Abendessen. Selbst wenn es ein Abendessen mit drei Menschen war, denen es wahrscheinlich lieber gewesen wäre, wenn es sie gar nicht gäbe, sowie mit dem Mann, in dem sie erst kürzlich ihren Vater und ein reueloses Monster erkannt hatte.
Aber wenn sie lange genug im Vale-Turm bleiben wollte, um Adrius’ Fluch zu brechen, würde sie das Spiel mitspielen müssen.
Sie sollte inzwischen daran gewöhnt sein, eine Rolle anzunehmen. Vorher war es die von Adrius’ verliebter Freundin gewesen. Sie hatte sie einfach gegen diese hier ausgetauscht – Vales gerade erst entdeckte Tochter, die verzweifelt darauf aus war, eine Verbindung zu einer Familie zu knüpfen, auf die sie keinen rechtmäßigen Anspruch erheben konnte.
Nachdem sie sich umgezogen hatte, verließ sie die Wohnung, schloss hinter sich ab und nahm den Aufzug in Vales Privatflügel.
Der Fahrstuhl öffnete sich in eine hochherrschaftliche, aber geschmackvoll eingerichtete Eingangshalle mit zwei gepolsterten Stühlen, die aussahen, als hätte sich noch nie jemand daraufgesetzt, und einigen Vasen mit sorgsam arrangierten Grünpflanzen. An der gegenüberliegenden Wand hing ein goldgerahmtes Porträt der vier Vales – Silvan und Darian vorn, Vale und Elena dahinter. Sie alle trugen verschiedene Blautöne und alle vier lächelten.
Durch die bogenförmige Türöffnung konnte Marlow das Esszimmer mit einer schön gedeckten Tafel unter einem funkelnden Kristalllüster sehen. Am Tisch saß eine einsame Gestalt, deren eisblonde Haare im Lampenschein hell leuchteten, das vertraute Haustier, eine blaue Schlange, spiralförmig um den Arm gewickelt.
Silvans Blick flog hoch, als Marlow den Raum betrat.
Marlow hatte das Gefühl, sein Gesicht zum ersten Mal zu sehen. Er war ihr Bruder. Halbbruder.
Er kam hauptsächlich nach seiner Mutter – seine eleganten, scharfen Züge waren so ganz anders als das weichere, jungenhafte Gesicht seines Vaters. Aber seine Augen – auch wenn sie hellblau waren – hatten genau dieselbe Form wie die von Vale. Wie ihre eigenen.
Sobald diese Augen sie erspähten, sprang Silvan auf. »Was zur Hölle machst du hier? Solltest du nicht irgendwo hinter Schloss und Riegel sitzen?«
Marlow blieb stehen; einen Moment lang war sie fassungslos. »Er hat es dir nicht gesagt?«
Silvans Augen wurden schmal. »Wer hat mir was nicht gesagt?«
»Dein Vater hat mich aus dem Gefängnis geholt«, sagte sie.
»Er hat was? Warum sollte er das tun?«
Es sah so aus, als hätte Vale zwar mit seiner Frau geredet, es aber unterlassen, dasselbe Gespräch mit seinen Söhnen zu führen. Ein Teil von Marlow war entsetzt. Ein anderer Teil konnte es gar nicht erwarten, Silvans Reaktion zu erleben, wenn er erfuhr, dass sie verwandt waren.
Und dann ließ sie ein dritter Teil – der, der ständig Pläne in ihrem Hinterkopf schmiedete – zu ihm hinüberlaufen.
Instinktiv wich er vor ihr zurück und sah auf das Besteck, als könnte sie sich ein Buttermesser greifen und versuchen, es ihm ins Fleisch zu bohren.
»Hast du Adrius seit der Hochzeit schon getroffen?«, fragte Marlow. »Geht es ihm gut?«
Silvan starrte sie mit einem Argwohn an, der an offene Feindseligkeit grenzte. »Ob es ihm gut geht? Das ist deine Frage? Du hast einen Mordanschlag auf seinen Vater verübt und willst wissen, ob es ihm gut geht?«
»Hör zu, es ist … kompliziert«, erwiderte Marlow. Silvan wusste von dem Fluch. Sie konnte versuchen, ihm zu erklären, dass Adrius befohlen worden war, seinen eigenen Vater anzugreifen, und dass sie nur die Schuld auf sich genommen hatte, um ihn zu schützen. Sosehr ihr Silvan auch immer auf die Nerven gegangen war, vertraute sie doch darauf, dass seine Freundschaft zu Adrius echt war. Sie hegte keineswegs den Verdacht, dass Silvan die leiseste Ahnung hatte, wer sein Vater in Wahrheit war und was er getan hatte. Aber sie wusste auch, dass er keinen Grund hatte, ihre Seite der Geschichte zu glauben, und dies war wohl kaum der Zeitpunkt oder der Ort dafür, um ihn vom Gegenteil zu überzeugen.
Stattdessen fügte sie hinzu: »Kannst du ihm einfach sagen, er soll zu mir kommen, wenn du das nächste Mal mit ihm sprichst?«
»Ich bin nicht dein Botenjunge«, gab er höhnisch zurück.
Marlow hatte gehofft, der Umstand, dass sie ihn vor einem Dutzend Copperheads gerettet hatte, hätte ihn ihr gegenüber ein bisschen milder gestimmt. Offenbar war das Wunschdenken gewesen. »Silvan –«
»Oh, gut, du bist hier.« Vales joviale Stimme drang in den Raum.
Marlow sah auf. Vale und seine Frau standen in dem offenen Durchgang, der in die privaten Gemächer der Vales führte. Elena Vale war eine dünne, blasse Frau mit denselben feinen, hellen Haaren wie ihr jüngster Sohn. Sie war noch kleiner als Marlow, alles an ihr wirkte schmal und zart. Neben ihrem Mann, dessen breite Statur und ungestüme Art ihn größer wirken ließen, als er war, sah sie besonders zierlich aus. Ihre grünen Augen schweiften kühl über Marlow und Silvan und verrieten nichts.
Silvan stürzte auf seine Eltern zu. »Was ist hier los?«
»Dein Vater hat ein paar Neuigkeiten zu verkünden«, antwortete Elena verhalten.
»Wo ist dein Bruder?« Vale sah sich im Raum um, als könnte sein Ältester sich irgendwo in einer Ecke verstecken.
»Vergiss Darian«, zischte Silvan. »Was macht eine Mörderin hier in unserem Esszimmer?«
»Silvan!«, rief Vale bestürzt. »Marlow, es tut mir so –«
»Ist schon gut«, fiel Marlow ein. »Ich wäre an seiner Stelle auch misstrauisch.«
»Tut mir leid, dass ich zu spät komme, Mutter, Vater.« Darians Stimme drang herein, Sekunden bevor er selbst auftauchte. Er wirkte ein wenig gehetzt. »Amara hat ein paar neue Heiler nach Hause mitgebracht, damit sie ihren Vater behandeln, und ich wollte sie nicht allein lassen, während –«
Er unterbrach sich mitten im Satz, als sein Blick auf Marlow fiel.
»Darian, kennst du Vaters neuen Gast schon? Du erinnerst dich vielleicht noch von eurer Hochzeit an sie. Sie war diejenige, die mit dem blutigen Messer über deinem Schwiegervater stand, der jetzt im Sterben liegt.«
Marlow überlegte, ob es klug wäre, aus dem Vale-Turm zu fliehen und ihr Glück in den Marschen zu suchen. Sie war sich ziemlich sicher, dass keine Folter, die die Copperheads ersannen, qualvoller sein konnte als das hier.
»Marlow ist keine Mörderin«, sagte Vale in herrischem Ton. »Wenn sich alle jetzt bitte hinsetzen, erkläre ich es euch.«
Darian gehorchte und setzte sich auf den Stuhl gegenüber Silvan, nicht ohne Marlow wachsame Blicke zuzuwerfen. Elena rauschte an ihr vorbei und nahm den Platz neben ihrem Jüngsten ein, wobei ihre Hand kurz innehielt, um ihm durch die langen Haare zu fahren – eine unerwartet zärtliche Geste.
Vale stellte sich neben Marlow, legte ihr die Hände auf die Schultern und wandte sein Gesicht dem Rest der Familie zu. Marlow erschauerte. »Zunächst einmal, um es klarzustellen – Marlow ist vollkommen unschuldig. Sie war bloß zur falschen Zeit am falschen Ort.«
»Sie hat gesagt, dass sie es war!«, rief Silvan. »Wir waren alle dabei.«
»Sie hat gelogen, um den wahren Schuldigen zu schützen«, entgegnete Vale sanft. Seine Worte erinnerten an eine Probe im Theater – und genau das war das hier auch, begriff Marlow. Vale probte die Lüge, die er dem Rest der Nouvelle Noblesse vorsetzen würde, um Marlows Namen reinzuwaschen. Und der erste Test bestand darin, herauszufinden, ob seine eigene Familie ihm glaubte.
Darian sah Marlow ernst an. »Marlow? Was ist denn in Wahrheit passiert?«
Sie spürte Vales Augen auf sich. Dann testete er also auch sie – um herauszufinden, ob sie mit seiner Lüge mitziehen würde.
Marlow glaubte vor allem anderen an die Wahrheit. Das war es, was sie ihnen allen sagen wollte – diesen Menschen, die Vale so gut zu kennen glaubten und trotzdem keinen Schimmer hatten, wozu er wirklich fähig war. Sie stellte sich vor, das laut in den Raum hineinzusagen: Der wahre Schuldige ist Vale. Er hat Adrius verflucht und ihn gezwungen, seinen eigenen Vater niederzustechen.
Aber solange Adrius unter dem Nötigungsfluch stand, konnte sie die Wahrheit nicht offenbaren. Es würde ihn in zu große Gefahr bringen. Und wer würde ihr schon glauben, solange sie keinen Beweis dafür hatte, dass Vale für den Fluch verantwortlich war?
Und wenn sie ihre eigene Lüge noch einmal bekräftigte – dass sie es gewesen war, die Aurelius hatte ermorden wollen –, dann würde Vale sicher anfangen, sich zu fragen, warum sie Adrius so unbedingt schützen wollte.
Sie begegnete Darians ernstem Blick. Er sah genauso jungenhaft und gut wie sein Vater aus, doch seine Augen waren die seiner Mutter: hell und grün wie Chrysanthemenblätter. Marlow hatte das Gefühl, dass seine Meinung über sie – anders als bei Silvan – noch nicht feststand. Aber sie wusste, dass das, was sie in diesem Raum sagte, den Weg zu Amara finden würde, die zweifellos gerade einen Plan ersann, um sie lebenslang hinter Gitter zu bringen. Marlow wollte ihr nicht noch mehr Munition liefern, wenn sie es vermeiden konnte.
Sie musste ihre Worte – ihre Lügen – sorgfältig wählen. »Es … es ist alles so schnell gegangen«, sagte sie. »Lord Falcrest war wütend auf Adrius, weil er sich von der Familie abgewendet hat. Aber er hat mir die Schuld daran gegeben. Er hat am Abend eurer Lichterzeremonie versucht, mich zu vergiften. Und als er mich auf der Hochzeit sah, hat er mich wieder bedroht. Ich … ich hatte Angst. Ich habe das Messer gezogen, um mich zu verteidigen, und – ich weiß zwar nicht genau, was bei dem Handgemenge geschehen ist, aber …« Sie brach ab und vergrub ihr Gesicht in den Händen, als könnte sie es nicht ertragen, weiterzusprechen.
Vale tätschelte sie tröstend. »Es ist unglücklich und tragisch, dass Aurelius’ Raserei Marlow dazu genötigt hat, sich gegen seine Gewalttätigkeit zur Wehr zu setzen – aber wir alle haben schon erlebt, wie schnell Aurelius’ Temperament mit ihm durchgehen kann.«
»Das erklärt noch nicht, warum sie hier ist«, knurrte Silvan.
»Nun, das wird jetzt wahrscheinlich ein Schock für euch sein«, antwortete Vale. »Es war auch für mich einer, als ich davon erfahren habe. Aber die Wahrheit ist … Marlow ist meine Tochter.«
Darians Augen wurden groß. Silvan sah leicht angewidert aus.
Er begann: »Deine … Nein. Niemals. Das ist … Du kannst das nicht ernst meinen. Das ist ein Scherz, oder?«
Glaub mir, dachte Marlow, ich bin genauso begeistert wie du.
Darian runzelte die Stirn. »Ich …« Dann brach es aus ihm heraus: »Aber Marlow ist jünger als ich. Du … Das heißt, dass du …«
Er verstummte, offenbar unfähig, die Schlussfolgerung, dass sein Vater als Ehemann untreu gewesen war, auch nur auszusprechen. Er sah wie vernichtet aus.
»Marlows Mutter und ich haben eine komplizierte Geschichte«, erwiderte Vale. »Ich habe nie behauptet, vollkommen zu sein. Und während ich viele meiner Taten bereue – besonders die, die euch und eurer Mutter Schmerzen bereitet haben –, hoffe ich doch, dass ihr über meine Verfehlungen hinwegsehen und Marlow in der Familie willkommen heißen könnt. Sie verdient eine Chance, uns kennenzulernen, aber sie verdient es nicht, für mein fehlgeleitetes Handeln bestraft zu werden.«
Elena räusperte sich geziert. »Jungs. Ich weiß, dass das schwer zu verkraften ist. Ich war genauso schockiert und aufgebracht wie ihr, als ich es erfahren habe. Aber euer Vater hat recht – Marlow trifft keine Schuld.«
Etwas an ihrem Ton klang falsch in Marlows Ohren. Als sie Elena ansah, hatte sie das Gefühl, ihre wahre Wut unter der ruhigen Maske brodeln zu sehen. Marlow kannte sie nicht gut, aber sie kannte Evergarden, und sie kannte die Art von Berechnungen, die die Nouvelle Noblesse anstellte. Elena musste begriffen haben, dass der Versuch, Vale dazu zu bringen, sie zu verstoßen und loszuwerden, nur für noch mehr Zwietracht zwischen ihr und ihrem Mann sorgen würde. Stattdessen hatte sie beschlossen, ihn glauben zu lassen, dass sie sein uneheliches Kind aus einer ehebrecherischen Beziehung akzeptierte, um es sich mit ihm, der Hauptquelle ihrer Macht und gesellschaftlichen Stellung, nicht zu verscherzen. Entweder sah Vale den Zorn seiner Frau nicht oder er wollte ihn nicht sehen.
Aber Marlow sah ihn. Sie sah ihn sehr deutlich. Und sie wusste: Die Tatsache, dass Elena dieses Schauspiel für ihren Mann und ihre Söhne inszenierte, bedeutete nicht, dass sie diesen Affront einfach so hinnehmen würde.
»Es ist nicht ihre Schuld, dass ihre Mutter eine unmoralische, niederträchtige Person war«, fuhr Elena fort.
Marlow musste die Zähne zusammenbeißen, um Elena nicht anzufauchen, doch ihren eigenen Ehemann anzuschauen, wenn sie wissen wollte, wie eine unmoralische und niederträchtigePerson wirklich aussah.
»Tja, wie heißt es so schön«, stieß Silvan hervor und stemmte sich von der Tafel hoch. »Wie die Mutter, so die Tochter.«
Er stolzierte aus dem Raum, bei jedem Schritt Verachtung verströmend.
Darian schüttelte den Kopf und stand ebenfalls auf. »Es tut mir leid. Ich – das ist zu viel. Tut mir leid.«
Er ging davon, und Elena erhob sich, um ihm zu folgen.
Als sie alle das Esszimmer verlassen hatten, wandte sich Vale mit einem traurigen Blick Marlow zu.
Sie rang sich ein Lächeln ab. »Na, das ist doch grandios gelaufen.«
Als Marlow am nächsten Morgen erwachte, stand ein Frühstückstablett auf ihrem Esstisch, mit einer Nachricht von Vale, in der er sie bat, ihm am Nachmittag zum Tee Gesellschaft zu leisten. Seine Bitte machte ihre sowieso schon finstere Laune noch finsterer.
Sie hasste es, eine bessere Gefangene im Vale-Turm zu sein. Sie hasste es, gezwungen zu sein, sich mit Leuten zu vertragen, die sie wahrscheinlich lieber vom Angesicht der Erde getilgt sähen. Sie hasste es, so tun zu müssen, als bekäme sie bei Vales Anblick keine Gänsehaut.
Sie wollte Adrius sehen. Sie wollte mit Swift reden.
Stattdessen saß sie hier fest, stocherte in einer Schale mit Obst und süßem Brot herum und schmorte in ihrer eigenen Nutzlosigkeit. Sie hatte zwei erfolglose Versuche unternommen, mit Adrius Kontakt aufzunehmen, und es war jetzt drei Tage her, dass sie Swift zum letzten Mal gesehen hatte. Mit jedem Augenblick, der verging, wollte sie sich dringender vergewissern, dass er in Sicherheit war.
Ein grünes Licht neben der Wohnungstür zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Sie brauchte einen Moment, bis ihr wieder einfiel, dass die Lampe aufleuchtete, wenn unten in der Eingangshalle des Turms Besucher für sie eingetroffen waren. Sie lief zur Tür und stolperte vor lauter Hast über den Läufer am Boden.
Es musste entweder Swift oder Adrius sein. Wer sonst sollte sie sehen wollen?
»Hallo?«, sagte sie in die Gegensprechanlage aus Messing.
»Marlow, hier ist Gemma.«
Marlow erstarrte, ihre Hand schwebte weiter über dem Summer. »Gemma?«
Sie konnte sich keinen Grund vorstellen, warum Gemma Starling sie wohl sehen wollte – vielleicht hatte Adrius es ihr aufgetragen? Vielleicht wollte er durchaus Verbindung mit ihr aufnehmen, konnte aber nicht selbst kommen, weshalb er Gemma an seiner Stelle geschickt hatte?
»Kannst du mich reinlassen?«, fragte Gemma ungeduldig.
Mit rasendem Herzschlag drückte Marlow den Knopf, der Gemma die Fahrt hinauf zu ihrem Stockwerk erlaubte.
Noch bevor Gemma ein zweites Mal anklopfen konnte, riss Marlow die Tür auf.
»Hat Adrius dich geschickt?«
Gemma sah immer bezaubernd aus, egal, wo sie gerade hinging, aber heute war etwas anders an ihr. Ihre Haare waren von einem dunklen, fast schwarzen Burgunderrot und ihre Lippen leuchteten in einem tiefen Blutrot. Ihr Gesicht war ernster, als Marlow es je bei ihr erlebt hatte.
»Warum sollte Adrius mich schicken?«, fragte Gemma zurück.
Marlows Herz wurde schwer. »Ich … ich dachte einfach, dass er es vielleicht getan hat. Woher wusstest du dann, dass ich hier bin?«
»Silvan hat’s mir erzählt. Wir waren gestern Abend tanzen und er hat fast die ganze Zeit über dich hergezogen.« Gemma hielt inne. »Ist Vale wirklich dein Vater?«
Marlow nickte. »Ich hab es erst vor zwei Tagen erfahren.«
Eine peinliche Stille trat ein, die schwer von alldem war, was Marlow nicht sagte.
»Äh, willst du reinkommen?«, fragte sie schließlich. »Ich kann uns einen Tee machen.«
Gemmas Blick schweifte durch die Wohnung. Sie war natürlich sehr nobel eingerichtet für Marlows Verhältnisse, aber sie konnte sich vorstellen, dass sie auf Gemma verschroben wirken musste, verglichen mit dem Luxus, in dem sie wahrscheinlich auf Starlinghof schwelgte.
»Ich komme kurz rein«, gab sie endlich zurück und trat ein. »Aber ich kann nicht lange bleiben. Ich … ich bin nur hier, weil ich die Wahrheit wissen muss.«
Marlow schloss die Tür hinter ihr. »Du meinst das, was auf Amaras Hochzeit passiert ist.«
Gemma nickte. »Ich wollte nicht glauben, dass du etwas so … so Abscheuliches tun kannst. Und als ich dich da stehen sah mit dem Messer in der Hand, da dachte ich … Ich hatte das Gefühl, dass ich dich nie wirklich gekannt habe.«
Marlow verschränkte die Arme vor der Brust. Sie war niemals vollkommen ehrlich zu Gemma gewesen – das konnte sie nicht riskieren. Aber sie war überrascht gewesen, wie sehr sie sie doch mochte, als sie sie besser kennengelernt hatte.
»Was willst du mir damit sagen, Gemma?«
Gemma straffte die Schultern und sah Marlow in die Augen. »Bist du mit dem Vorsatz auf die Hochzeit gegangen, Adrius’ Vater zu töten?«
Marlow wusste, warum das Gemmas erste Frage war. Der einzige Grund, warum Marlow überhaupt auf die Hochzeit hatte gehen können, war der, dass sie Gemma überredet hatte, sie als Gast mitzunehmen. Gemma war sogar dankbar für ihre Begleitung gewesen – sie hatte jemanden gebraucht, der sie tröstete, während sie zusah, wie das Mädchen, das sie liebte, jemand anderen heiratete. Und jetzt wollte Gemma wissen, ob Marlows Mitgefühl echt gewesen war oder nur eine List, um ihren eigenen mörderischen Plan umzusetzen.
Marlow konnte ihr nicht die ganze Wahrheit sagen, aber sie musste auch nicht lügen. »Nein. Ich bin hingegangen, um Adrius zu sehen. Das ist alles.«
»Aber es war dein Messer, oder?«, fragte Gemma. »Du hast es mitgebracht. Warum solltest du das tun, wenn du nicht vorhattest …«
Marlow verbiss sich ein Lachen. »Gemma, ich hab dieses Messer immer bei mir. Oder hatte. Du kannst Adrius fragen, wenn du mir nicht glaubst.«
Gemma sah verblüfft aus. »Warum?«
»Ich komme aus den Marschen«, lautete Marlows schlichte Antwort. »Es ist dort meine Lebensversicherung.«
»Oh«, machte Gemma, als hätte sie nicht bedacht, dass Marlow daran gewöhnt sein könnte, in gefährliche Situationen zu geraten, die Gemma sich nicht einmal vorstellen konnte. »Was ist dann wirklich passiert, Marlow? Warum hast du es getan?«
»Um Adrius zu schützen.«
Das immerhin stimmte. Sie hatte Aurelius nicht niedergestochen, aber sie hatte den Kopf für Adrius hingehalten.
Gemma sah zu Boden. »Die Zeitungen sagen etwas anderes.«
Marlows Puls stieg sprunghaft an. Natürlich spekulierten die Zeitungen darüber – das war das Skandalöseste, was seit Jahrzehnten in Caraza vorgefallen war. Aber irgendwie hatte Marlow nicht darüber nachgedacht, was man über sie schreiben könnte.
Mit einiger Beklommenheit fragte sie: »Was sagen sie denn?«
Gemma schluckte. »Dass Vale dich dazu gebracht hat.«
Damit hatte Marlow nicht gerechnet. »Was? Sie geben Vale die Schuld?«
»Es sind Gerüchte und Spekulationen«, erwiderte Gemma. »Niemand weiß es sicher, aber wenn du dir alle Mosaikteilchen anschaust … scheinen sie doch irgendwie zusammenzupassen. Ich meine, er hat dich ja wirklich sofort aus dem Gefängnis geholt, indem er für dich gebürgt hat. So viel ist bekannt.« Sie sah wieder Marlow an. »Obwohl ich schätze, dass ich verstehe, warum er dich nicht hinter Gittern wissen will, wenn er tatsächlich dein Vater ist.«
Marlow zögerte. »Die Wahrheit ist … kompliziert, Gemma.« Es war dieselbe Nicht-Antwort, die sie auch Silvan gegeben hatte. »Selbst ich kenne sie noch nicht ganz. Aber was ich getan habe – warum ich es getan habe … Ich wollte Adrius damit schützen. Das musst du mir glauben.«
»Ich glaube dir«, antwortete Gemma leise. »Aber ich denke, du verstehst nicht. Worum es hier auch geht, was auch immer wirklich passiert ist – es wird keine Rolle spielen.«
»Wie kann es keine Rolle spielen?«, fragte Marlow. Die Wahrheit war die Wahrheit – selbst wenn sie sie Gemma nicht verraten konnte, war sie doch wichtig.
»Das hier ist Evergarden«, erklärte Gemma. »Hier ist die Wahrheit dehnbar. Wenn genügend Leute etwas für die Wahrheit halten – oder auch nur so tun, als würden sie es für die Wahrheit halten –, dann reicht das aus, um es wahr zu machen. Wenn die Leute meinen, dass Vale dich als Schachfigur benutzt hat, wenn sie meinen, dass ich in den Plan eingeweiht war – weil ich diejenige war, die dich zur Hochzeit mitgebracht hat –, dann werden sie denken, dass er die Macht an sich reißen will und dass ihm die Starlings Rückendeckung geben. Und wenn sie das denken, dann ist das eine Rechtfertigung für Vergeltungsmaßnahmen. Die Beziehungen zwischen den Fünf Familien waren eine Weile friedlich. Aber es sieht so aus, als würde sich das jetzt ändern. Es geht hier nicht nur um dich und Adrius. Es geht um die Fünf Familien. Es geht um das Schicksal von Caraza.«
Gemma hatte recht – das hier war größer, als Marlow bewusst gewesen war. Und die Einzigen, die die echte Wahrheit kannten, waren sie und Adrius.
»Was ist denn laut Adrius passiert?«, fragte Marlow.
Gemma schüttelte den Kopf. »Er will überhaupt nicht darüber reden. Zumindest nicht mit mir.«
In den letzten Sekunden vor ihrer Verhaftung hatte Marlow ihm befohlen, niemandem zu sagen, was wirklich vorgefallen war. Sie konnte nicht zulassen, dass er ihrer Geschichte widersprach, womöglich seine Verfluchung verriet und sich damit in noch größere Gefahr brachte.
»Geht’s ihm wenigstens gut?«, wollte Marlow wissen. »Ich meine – du hast ihn gesehen, oder? Scheint er in Ordnung zu sein?«
Gemma zögerte. »Ich habe ihn gesehen.«
»Weiß er, dass ich hier bin?«
Gemma wandte den Blick ab. »Ja, weiß er.«
Und er hatte nichts unternommen, um sich mit ihr in Verbindung zu setzen. Marlow ignorierte den Knoten in ihrem Bauch, der plötzlich da war.
»Kannst du ihm eine Nachricht überbringen? Von mir?«, bat sie. »Es ist wichtig.«
Gemma fühlte sich sichtlich unwohl. »Ich … kann es versuchen, aber er sagt, dass er dich nicht sehen will. Er meinte … er will dich aus dem Kopf haben. Endgültig.«
Marlows Herzschlag geriet ins Stocken. Sie hatte ihr Leben für ihn aufs Spiel gesetzt, und diesen Dank hielt er für angemessen – sie aus seinem Leben auszuschließen. Schon wieder.
Sie konnte nicht anders, sie musste an das denken, was Vale gesagt hatte, nach der Hochzeit und nach ihrer Verhaftung. Wenn die Realität ins Spiel kommt, wird er dich im Stich lassen und tun, was er tun muss, um sich und seinen Ruf zu schützen. Das ist es, was die Falcrests machen. Das ist es, wer sie sind.
Es gab zu viele Parallelen zu damals, als er ganz plötzlich aufgehört hatte, mit ihr zu reden. Aber – nein, sie konnte nicht zulassen, in eine Spirale des Selbstzweifels und des Zweifels an ihm zu geraten. Er hatte gute Gründe, immer noch wütend auf sie zu sein. Schließlich hatte sie den Nötigungsfluch nicht nur einmal gegen ihn verwendet. Wenn er immer noch sauer auf sie war, weil sie ihm befohlen hatte, ihr die Wahrheit zu sagen, dann konnte sie es ihm nicht verübeln.
Sie schob ihre Verletztheit weg. Adrius wollte sie vielleicht vergessen, seine Gefühle für sie ausradieren, aber ihre Mission war wichtiger als jedes Verlangen und jede Verstimmung, die es womöglich zwischen ihnen gab. Sie musste ihn einfach vor Vale warnen.
Gemma biss sich auf die Lippen, ihr Blick flog hoch, um dem von Marlow zu begegnen. »Es tut mir leid, Marlow. Wirklich. Ich meine, ich weiß besser als jeder andere, wie es sich anfühlt, auf einmal fallen gelassen zu werden und zuzuschauen, wie sich die Person, die man liebt, mit jemand anderem verlobt.«
Marlow stolperte über dieses Wort. »Verlobt?«, echote sie.
Gemmas Augen wurden groß. »Oh. Du hast keine … Ich dachte, du weißt Bescheid. Es steht in allen Klatschspalten. Heute Morgen hat Adrius verkündet, dass er die Absicht hat, sich eine Frau zu suchen. Er sagt, er wird sich vor Jahresende entscheiden.«
Marlow schlug das Herz bis zum Hals. Eine Frau? Sie hielt gerade den Kopf für ihn hin, und er hielt Ausschau nach irgendeinem anderen Mädchen, das er heiraten konnte.
Aber was hatte sie erwartet? Dass sie den Nötigungsfluch brechen und er in ihre Arme fallen und ihr seine unsterbliche Liebe erklären würde, und dann würden sie beide gemeinsam durchbrennen und glücklich bis ans Ende ihrer Tage leben?
Sie war so dumm gewesen. Sie war die Monddiebin, und er war der Sonnenkönig, und am Ende des Balletts kehrte er an seinen glänzenden Hof zurück, und sie blieb als Ausgestoßene im Dunkeln, von ihrem eigenen Herzen zugrunde gerichtet. So ging die Geschichte zu Ende. So ging es immer zu Ende.
»Oh«, machte sie schwach.
»Es tut mir leid, Marlow«, wiederholte Gemma.
»Nein, ich … Ich hatte nicht erwartet, dass er –«
Gemma schnaubte. »Denk dran, mit wem du gerade redest. Es ist in Ordnung. Du darfst traurig sein.«
Marlow sah sie an. Gemma kannte sich nur zu gut damit aus, wie es war, von einem Mitglied der Falcrest-Familie auf der Suche nach einer besseren Partie ausgemustert zu werden.
Aber anders als Amara und Gemma waren Adrius und Marlow nie richtig zusammen gewesen. Adrius hatte vielleicht etwas für sie empfunden, er hatte sich vielleicht wahrhaftig etwas aus ihr gemacht, aber das hieß nicht, dass er seine Familie, seine Zukunft aufgeben würde, um mit ihr zusammen zu sein.
Gemma räusperte sich. »Es, äh, gibt da ein Gerücht, demzufolge er auf dem Mitternachtsmaskenball der Falcrests anfangen wird, sich nach geeigneten Kandidatinnen umzuschauen. Jedes Mädchen in Evergarden hat ein Auge auf ihn geworfen.«
»Sie wollen das Fest immer noch geben?«, fragte Marlow. Es sollte in vier Tagen stattfinden, am dritten Tag des Maskierten Mondes.
Weniger als eine Woche, bevor Adrius’ Fluch unumkehrbar werden würde.
»Ich glaube, Amara will Evergarden zeigen, dass sie sich nicht aus der Gesellschaft zurückziehen werden nach der … Tragödie.« Gemma sah Marlow fast entschuldigend an. »Oder vielleicht versucht sie einfach, Adrius so schnell wie möglich zu verheiraten, um ihre geschwächte Position zu stärken.«
So oder so, der Maskenball war eine Gelegenheit für Marlow – eine, die nicht zu ergreifen sehr dumm wäre.
»Gemma«, sagte sie. »Wie fändest du es, mir zu helfen, mich noch einmal ohne Einladung auf eine Falcrest-Party zu schmuggeln?«
* * *
Nachdem Gemma gegangen war, wurde es Zeit für Marlow, sich mit Vale im Salon seines Arbeitstrakts zum Tee zu treffen. Sie freute sich nicht unbedingt auf eine weitere Zusammenkunft, bei der sie die hingebungsvolle Tochter heucheln musste, aber vielleicht konnte sie ihm zumindest einen Hinweis darauf entlocken, was er im Schilde führte.
Nach allem, was sie wusste, sollte es eine zwanglose Teestunde zwischen Vater und Tochter sein, doch als sie im Salon eintraf, bog sich die Tafel unter kleinen Kuchen und Sandwiches – genug, um zwei Dutzend Leute zu verköstigen. Eine hübsche Teekanne stand mitten auf dem Tisch; Blütenblätter schwammen in der goldenen Flüssigkeit.
»Marlow! Ich bin so froh, dass du es einrichten konntest«, sagte Vale mit einem Lächeln, als sie eintrat. »Bitte setz dich. Und nimm dir, was immer du möchtest.«
Marlow blieb vor der Tafel stehen. »Du erwartest nicht noch jemanden, oder?«
Vale blinzelte, und dann, als er auf den überladenen Tisch sah, lachte er lauthals. »Ich habe es wohl etwas übertrieben. Ich war mir nicht sicher, welche Kuchen und Sandwiches du bevorzugst.«
Marlows Lieblingsgebäck zum Tee war eine bestimmte Art Schokoladenkeks, die sie immer auf einem Boot in der Nähe des Bowery-Zauberladens kaufte. Swift brachte ihr manchmal auf seinem Weg zur Arbeit einen mit. Unvermittelt spürte sie einen wehmütigen Stich bei dem Gedanken an Swift und die Bowery und sogar an den mürrischen Hyrum.
»Sieht toll aus«, sagte sie und setzte sich Vale gegenüber an den Tisch.
Vale wählte aus dem Turm der Köstlichkeiten ein puderzuckerbestäubtes Plätzchen mit einem Klecks rubinroter Marmelade in der Mitte. »Hast du die schon mal gegessen? Meine absolute Lieblingssorte.«
Marlow schüttelte den Kopf, nahm sich ebenfalls eines und knabberte den Rand an. »Schmeckt gut.«
Vale lächelte. Er tippte mit dem Löffel gegen die Teekanne, die sich erhob und die goldene Flüssigkeit in Marlows Tasse goss.
»Zucker?« Vale deutete auf eine Schale mit Zuckerstücken in Form filigraner kleiner Blüten.
Marlow ließ eines in ihre Tasse fallen.
»Ich wollte mich für gestern Abend entschuldigen«, begann Vale. »Ich hätte wirklich nicht gedacht, dass meine Söhne so reagieren würden.«
Marlow zuckte die Achseln. Offenbar hatte er sich gewünscht, dass das Abendessen mit einer Bilderbuchszene wie der endete, die in der Vale-Halle hing – eine große, glückliche Familie, vereint und willig, Marlow in ihren Schoß aufzunehmen. Die Fantasie von dieser glücklichen Familie bedeutete, dass Vale sich nie den unschönen Folgen seiner Affäre mit ihrer Mutter würde stellen müssen.
»Silvan hat mich nie richtig gemocht«, entgegnete sie. »Ich bin nicht überrascht, dass er nicht gerade begeistert war zu erfahren, dass wir Halbgeschwister sind.«
Jetzt wirkte Vale noch besorgter. »Er wird schon wieder auftauen«, sagte er bestimmt – als könnte er dafür sorgen, dass es Wirklichkeit wurde, einfach, indem er es sagte.
Marlow glaubte dagegen, dass Silvan ihr gegenüber unter keinen Umständen »auftauen« würde – sie war sich nicht sicher, ob er überhaupt schon mal in seinem Leben jemandem gegenüber »aufgetaut« war. Er war durch und durch aus Eis.
»Da ist noch etwas, das ich mit dir besprechen muss.« Vale legte den Teelöffel hin. »Emery Grantaire, der Stadtadvokat, ist heute Morgen vorbeigekommen, um mit mir über den Falcrest-Fall zu reden. Er hat mich davon in Kenntnis gesetzt, dass sein Büro die Anklage gegen dich voranzutreiben beabsichtigt. Sie werden in einigen Wochen einen Termin für eine Voruntersuchung festsetzen.«
Vale klang frustriert, und Marlow fragte sich, ob er versucht hatte, Grantaire dazu zu überreden, die Anschuldigungen gegen sie vollständig fallen zu lassen. Doch angesichts der Tatsache, dass sie das Attentat zugegeben hatte, schien es wenig wahrscheinlich, dass sie sie davonkommen lassen würden – zumal Amara auf dem Kriegspfad war.
Sie bereute es nicht, die Schuld auf sich genommen zu haben, aber zu diesem Zeitpunkt hatte ein Teil von ihr noch geglaubt, sie würde einen Weg finden, sich den Konsequenzen zu entziehen. Jetzt, mit einer sich abzeichnenden Voruntersuchung und der frischen Erinnerung an Amaras Zorn, war sie sich da nicht mehr so sicher.
Sie schluckte. »Was heißt das genau?«
»Die Stadt wird die Anschuldigungen gegen dich den Oberhäuptern der Fünf Familien vortragen, die dann darüber abstimmen, ob der Fall vor Gericht geht.«
»Warum sollten die Fünf Familien darüber abstimmen dürfen?«, wollte Marlow wissen.
Von der Frage überrascht, zog Vale die Augenbrauen hoch. »Eine Klausel in der städtischen Satzung besagt, dass jedes Strafverfahren, in das ein Mitglied der Fünf Familien verwickelt ist, von diesen selbst geführt wird.«