Gaslicht 13 - April March - E-Book

Gaslicht 13 E-Book

April March

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Beschreibung

In dieser neuartigen Romanausgabe beweisen die Autoren erfolgreicher Serien ihr großes Talent. Geschichten von wirklicher Buch-Romanlänge lassen die illustren Welten ihrer Serienhelden zum Leben erwachen. Es sind die Stories, die diese erfahrenen Schriftsteller schon immer erzählen wollten, denn in der längeren Form kommen noch mehr Gefühl und Leidenschaft zur Geltung. Spannung garantiert! Liebkosend strich Sean über Tamys blondes Haar, über ihren Nacken, küßte ihre Augen, ihre Stirn – und kehrte gleich wieder mit den Lippen zu ihrem Mund zurück. Und Tamy genoß es, von einem Mann so umworben zu sein. Ihr Herz floß über vor Glück und Seligkeit. Eine halbe Ewigkeit schien vergangen, bevor sich ihre Lippen voneinander lösten. Für einige Herzschläge standen beide noch im Banne dieses Kusses. In diesem Moment wurde die fast feierliche Stimmung durch häßliche, krächzende Laute gräßlich zerrissen. Entsetzt blickte Tamy nach oben. Über der Burgmauer kreiste ein ganzer Schwarm schwarzer Krähen, die ihre heiseren Schreie ausstießen. »Ich fürchte mich vor ihnen!« flüsterte Tamy und drückte sich an Seans breite Brust. »Sie heißen die neue Herrin auf Caer Macbeth willkommen!« sagte Sean, doch sein beruhigendes Lächeln war nicht ganz echt. Auch Sean war erschrocken… Tamy Cronach fühlte sich an diesem Abend völlig ausgepumpt. Der Tag in der Boutique war anstrengend gewesen, nachdem der Großteil der neuen Frühjahrskollektion eingetroffen war. Tamy spürte kaum noch ihre Arme, weil die Chefin ausgerechnet sie angewiesen hatte, die Ware in Empfang zu nehmen. Das bedeutete das Ausladen eines ganzen Kleintransporters. Dazu mußte sie Blusen, Röcke, Hosen und Jacken auf Bügel hängen. Mit jeder Minute wurden die Textilien schwerer. Die Chefin und Sharon Beller hatten es einfacher. Während die Chefin die Preisetiketten unauffällig anheftete, suchte Sharon einige schöne Stücke aus, die sie wirkungsvoll im Laden dekorierte. Die besten probierte sie allerdings erst einmal selbst an. Denn Laura Jennings, die Chefin, hielt viel davon, wenn die Kundschaft sah,

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Gaslicht – 13 –

Wenn dich die Toten rufen

April March

Liebkosend strich Sean über Tamys blondes Haar, über ihren Nacken, küßte ihre Augen, ihre Stirn – und kehrte gleich wieder mit den Lippen zu ihrem Mund zurück. Und Tamy genoß es, von einem Mann so umworben zu sein. Ihr Herz floß über vor Glück und Seligkeit. Eine halbe Ewigkeit schien vergangen, bevor sich ihre Lippen voneinander lösten. Für einige Herzschläge standen beide noch im Banne dieses Kusses. In diesem Moment wurde die fast feierliche Stimmung durch häßliche, krächzende Laute gräßlich zerrissen. Entsetzt blickte Tamy nach oben. Über der Burgmauer kreiste ein ganzer Schwarm schwarzer Krähen, die ihre heiseren Schreie ausstießen. »Ich fürchte mich vor ihnen!« flüsterte Tamy und drückte sich an Seans breite Brust. »Sie heißen die neue Herrin auf Caer Macbeth willkommen!« sagte Sean, doch sein beruhigendes Lächeln war nicht ganz echt. Auch Sean war erschrocken…

Tamy Cronach fühlte sich an diesem Abend völlig ausgepumpt.

Der Tag in der Boutique war anstrengend gewesen, nachdem der Großteil der neuen Frühjahrskollektion eingetroffen war. Tamy spürte kaum noch ihre Arme, weil die Chefin ausgerechnet sie angewiesen hatte, die Ware in Empfang zu nehmen. Das bedeutete das Ausladen eines ganzen Kleintransporters. Dazu mußte sie Blusen, Röcke, Hosen und Jacken auf Bügel hängen. Mit jeder Minute wurden die Textilien schwerer. Die Chefin und Sharon Beller hatten es einfacher.

Während die Chefin die Preisetiketten unauffällig anheftete, suchte Sharon einige schöne Stücke aus, die sie wirkungsvoll im Laden dekorierte.

Die besten probierte sie allerdings erst einmal selbst an. Denn Laura Jennings, die Chefin, hielt viel davon, wenn die Kundschaft sah, daß sich das Personal der Boutique nach neuestem Stil kleidete.

Tamy hatte in dieser Zeit das Verpackungsmaterial wegzuräumen und den Laden zu säubern. Dabei hätte es sie sehr gereizt, auch einmal in eine der schicken Kreationen zu schlüpfen.

Doch sie gehörte nicht zum Stammpersonal der Boutique und wurde nur dann kurzfristig eingestellt, wenn es besonders und ungewöhnlich viel zu tun gab oder wenn Sharon oder die Chefin Urlaub machten.

Während Tamy müde die vier Treppen zu ihrem kleinen Appartement im Londoner Stadtteil Kensington emporstieg, haderte sie wieder einmal mit dem Schicksal, das sie nicht gerade zu seinem Lieblingskind erkoren hatte. So sehr sie sich auch Mühe gab, einen festen Job zu finden, es war unmöglich. Der abgebrochene Collegebesuch hatte alles vereitelt.

Mit neunzehn Jahren war sie durchgebrannt – mit ihrer großen Liebe. Doch was romantisch und richtig abenteuerlich begonnen hatte, war im Grunde nichts anderes als Herumvagabundieren gewesen.

Andy Barrel gehörte zu den Typen, die jeder geregelten Arbeit aus dem Wege gingen, dabei aber der Ansicht waren, daß sie gut leben müßten. Während Tamy sich für den Rest ihrer Ersparnisse eine alte Gitarre beim Trödler kaufte und in den Straßen für ein paar Pennys sang, verlegte sich Andy auf kleinere Diebstähle, die bald auch schwerere Ausmaße annahmen.

Als Tamy dahinter kam, daß Andy sie nur ausnutzte, war es bereits zu spät.

Mochte der Himmel wissen, was aus ihm geworden war. Das letzte, was Tamy Cronach von ihm gesehen hatte, waren seine verzweifelten Augen, als ihn die Polizei abführte.

Eine ganze Welt brach für das zierlich gebaute Mädchen mit den langen, mittelblonden Haaren und den strahlend blauen Augen zusammen. Für sie war es Liebe gewesen. Nun saß der Mann, an dem ihr Herz gehangen hatte, hinter Gittern und sie auf der Straße.

Zu ihren Eltern konnte sie nicht. Sie waren zu konservativ, um für so etwas Verständnis zu haben.

Tamy hatte Andy bis zu dem Tag geliebt, an dem sie das erste Mal durch Zufall Zeuge seiner üblen Machenschaften geworden war. Alle Vorhaltungen hatten nichts genützt, und Andy hatte prompt von der Justiz die Quittung für seine Gesetzwidrigkeiten bekommen.

Das College war ebenfalls stockkonservativ und lehnte es ab, Tamy wieder aufzunehmen. Nun saß sie da, mit abgebrochenem Studium für Kunst und Anglistik. Der Arbeitsmarkt war übervoll und nur Fachkräfte waren gefragt.

Tamy konnte von Glück sagen, wenn Laura Jennings ihr für einige Tage oder Wochen einen Job gab. Davon konnte sie die Miete für ihr kleines Appartement und die wenigen Dinge des täglichen Bedarfs decken.

Tamys schlanke Figur kam nicht von diversen Diäten oder Schlankheitstests. Sie entstand zwangsläufig, weil nicht immer genügend zu essen da war. Und weil das Mädchen, statt die U-Bahn zu benutzen, die Geld kostete, mit ihrem klapprigen Fahrrad zur Boutique in der Bond-Street fuhr.

Im Vorbeigehen zahlte Tamy noch die rückständige Miete für den letzten Monat. Es war wichtig, das sofort zu regeln, damit man nicht aus einer Emotion heraus das Geld für andere Dinge ausgab.

Immerhin lag die Boutique in der Nähe eines Restaurants und die appetitanregenden Düfte hatten Tamy fast verrückt gemacht.

Zu allem Überfluß war dann noch ein Mann wie aus einem Modejournal in die Boutique gekommen. Ein echter Traumtyp.

Tamy machte sich schon Hoffnungen, weil er über sie gestolpert war, als sie den Laden aufwischte. Sie mußte an einen der Liebesromane denken, die ihr Sharon manchmal auslieh. Da hätte ihr in einer solchen Situation der Mann galant beim Aufstehen geholfen, sich höflich bei ihr entschuldigt und sie zum Essen eingeladen.

Ach, das wäre zu schön gewesen…

Essen gehen in einem vornehmen Restaurant…

Aber leider erlebte sie nur die rauhe Wirklichkeit, und die bestand in einem gemurmelten »Verzeihung«.

Denn in diesem Moment kam Sharon mit ihrem besten berufsmäßigen Verkaufslächeln auf ihn zu. Ein Lächeln, das Tamy oft vor dem Spiegel geübt, aber nie in dieser Perfektion erreicht hatte.

Das blondhaarige Mädchen mußte aus der Entfernung miterleben, wie aus dem Verkaufsgespräch ein Flirt wurde. Schließlich kaufte der Mann einen Anzug, für dessen Preis Tamy gut drei Monate hätte leben können.

Und weil gerade Mittagspause war, lud er Sharon zum Essen ein.

Tamy sah, wie die beiden in einem Bentley davonrauschten.

Am Nachmittag bat Sharon die Chefin, sich ein Modellkleid ausleihen zu dürfen. Der nette Herr vom Vormittag habe sie zu einem Konzert im Covent-Garden eingeladen – ein Mann von Welt, der nicht nur Geld hatte, sondern es auch auszugeben verstand…

Warum passierte es immer anderen und mir nicht? dachte Tamy verbittert. Als das Schicksal die Lose nummerierte, hätte eigentlich auch für Tamara Cronach ein winziger Treffer dabei sein müssen…

Tamy betrachtete ihr Bild in dem großen Spiegel neben dem uralten Bett aus Schmiedeeisen. Der Spiegel war das einzige Schmuckstück ihres kleinen Zimmers, und sie hatte ihn bei der Auflösung eines Flohmarktes einmal geschenkt bekommen.

Nein, ein Mädchen in verwaschenen Jeans und T-Shirt sah kein Mann aus besseren Kreisen an. Da hatte sie absolut keine Chance. Nicht einmal Geld für etwas Make-up und andere Kosmetikartikel hatte sie übrig. Nur wer ganz genau hinsah, stellte fest, daß Tamy Cronach eine natürliche Schönheit besaß, die es eigentlich nicht nötig hatte, besonders betont zu werden.

Wie sagte Laura Jennings immer? Auf die Verpackung kommt es an.

Tamy Cronach zuckte die Schultern. Sie wollte versuchen, nicht mehr daran zu denken. Das Bad, das sie sich genehmigte, war zwar nur lauwarm, weil heißes Wasser extra berechnet wurde, tat aber gut.

Als das Wasser im Teekessel lustig zu summen begann und Tamy noch zwei Eier im Kühlschrank fand, sah der Abend schon sehr viel besser aus.

Tamy begann gerade, die zweite Tasse Tee zu genießen, als sie halblautes Klopfen an der Tür aufschreckte…

*

Die Frau war mittelgroß und hatte eine auffallend dunkle Stimme. Ihrer Aufmachung nach zu urteilen, paßte sie absolut nicht in diese Gegend. Zwar nicht nach der neuesten Mode, aber zeitlos und geschmackvoll war sie gekleidet.

»Ich bitte Sie, die späte Störung zu entschuldigen!« sagte die Besucherin mit etwas rauchiger Stimme. »Ich bin Vertreterin der Trainton-Cosmetic-Enterprises. Darf ich Ihnen die neue Kollektion unseres Hauses vorstellen?«

»Nein… nein danke«, stammelte Tamy verwirrt. »Ich kaufe nichts… ich kann gar nichts kaufen… kein Geld… tut mir leid… auf Wiedersehen!«

»Aber es verpflichtet Sie zu nichts!« sagte die Vertreterin schnell. »Wissen Sie, ich bin Kosmetikerin aus Leidenschaft. Die Hausbesuche mache ich im Grunde aus Langeweile. Eigentlich verdient mein Mann genug Geld, daß ich mir zu Hause einen guten Tag machen könnte. Aber auf die Dauer ist mir das nicht genug und…«

Tamy schaltete geistig ab. Die Frau redete wie ein Wasserfall und schnitt ihr jedes Wort ab, das wie ein Rauswurf geklungen hatte. Außerdem ging eine eigenartige Faszination von dieser attraktiven Kosmetikerin aus. Tamy sah, daß sie dezent geschminkt war. Nichts war übertrieben. Nichts wurde hervorgehoben – nur unterstrichen.

Während Tamy die Frau, die während des Redens schon halb durch die Tür gekommen war, noch einmal förmlich um Eintritt bat, wirbelten ihre Gedanken durcheinander. Was konnte man doch alles mit Creme, Puder oder Parfüm machen. Wie konnte sich ein Mensch verändern, wenn mit künstlerischer Hand das Gesicht gepflegt wurde.

Schon das Parfüm, das die Frau benutzte, fand Tamy faszinierend.

»Ich bin Jennifer Henson!« stellte sich die Frau vor, während sie auf dem alten Sofa neben Tamy Platz nahm. Das Mädchen hatte bemerkt, wie sie mit den Augen eines Habichts die hoffnungslos veraltete, aber blitzsaubere Einrichtung ihres Appartements musterte. Auch sie selbst war von Jennifer eingehend gemustert worden, und Tamy stellte fest, daß sie bei diesem Blick innerlich in sich zusammensank.

Das arme Londoner Ladenmädchen und die Dame von Welt, die in den obersten Gesellschaftsschichten zu Hause war.

»Darf ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten« fragte Tamy höflich. Mit einem Lächeln dankte Jennifer Henson für die Einladung.

Dann begann sie in ihrem Köfferchen zu kramen. Mochte der Teufel wissen, warum eine solche Frau eine Rolle Bisquits mit sich herumschleppte.

»Ich glaube, etwas Gebäck gehört zu einer gepflegten Tee-Stunde!« sagte sie freundlich. »Nur so kann ich mich erst richtig entspannen!«

»Das… das wäre doch nicht nötig!« brachte Tamy Cronach hervor. »Allerdings ist es eine gute Idee, denn ich habe gerade nichts im Haus…«

Obwohl die Kosmetikerin mit einigen wohlgesetzten Worten erklärte, daß sie vollstes Verständnis habe, spürte Tamy doch, daß Mrs. Henson sie längst durchschaut hatte. Jennifer Henson schien zu spüren, daß es Tamy wirtschaftlich miserabel ging.

Während die beiden Frauen Tee tranken und Tamy den größten Teil der Bisquits aß, plauderten sie über die üblichen Frauensorgen und -freuden. Jennifer war eine angenehme Unterhalterin, die viel aus der Welt der Londoner High-Society zu erzählen wußte, teilweise sogar selbst Erlebtes – angeblich. Immerhin war ihr Gatte ein erfolgreicher Geschäftsmann, dessen Verbindungen bis in den Buckingham-Palast reichten.

»Sie sind sehr schön, Tamy!« sagte Jennifer Henson plötzlich. »Wissen Sie das?«

»Ich habe einen Spiegel!« wich Tamy aus. »Aber was ich schön finde, finden die Männer noch lange nicht schön!«

»Etwas Kosmetika und die Marquise von Kensington würde Sie glatt in ihre Gesellschaft aufnehmen. Kennen Sie das Musical ›My fair Lady‹?«

Tamy nickte. In der Zeit, als sie noch bei ihren Eltern lebte, waren Theaterbesuche in London an der Tagesordnung gewesen. Selbstverständlich hatte sie dort auch das Musical vom kleinen Blumenmädchen Elisa Doolittle gesehen, das von Professor Higgins so umerzogen wurde, daß es auf einem Ball am Königshof für eine adlige Lady gehalten werden konnte.

»Ich habe einige Muster bei mir, die aus Ihnen eine begehrenswerte Frau machen können, Tamy Cronach!« lockte Jennifer.

»Ich habe doch erklärt, daß ich nichts kaufe… nichts kaufen kann«, stieß Tamy plötzlich heftig hervor. »Ich habe kein Geld. Der Aushilfsjob reicht eben für das Lebensnotwendigste. Ich bin pleite, verstehen Sie? Völlig pleite. Sie leben in einer Welt von Luxus und Überfluß, Ihr Mann arbeitet in gehobener Stellung, und es macht Ihnen nichts aus, ob sie zehn oder hundert Pfund für ein Kleid ausgeben. Das einzige Kleid, was ich besitze, ist vom Trödelmarkt.«

»Na, na, nicht gleich so verzweifeln, Tamy«, tröstete Jennifer Henson. »Wer redet von kaufen? Ich sprach von Mustern, und die gibt es kostenlos. Ich werde Ihnen einige hier lassen. Damit können Sie sich so zurechtmachen, daß Ihre Schönheit voll zur Geltung kommt.«

»Das kann ich nicht annehmen«, wehrte Tamy ab.

»Doch, mein Kind. Und da ich es hier so gemütlich finde, daß ich keine Lust habe, weitere Kunden aufzusuchen, möchte ich Ihnen zeigen, wie Sie damit umgehen müssen.«

»Sie kennen mich doch überhaupt nicht. Und Sie haben nichts davon…«, wandte Tamy ein.

»Ich habe mehr davon, als Sie ahnen, Tamy Cronach!« sagte Jennifer leise und etwas rätselhaft.

»Wie meinen Sie das?«

»Ich meine, daß ich Sie vielleicht doch noch als Kundin bekomme!« erklärte die Kosmetikerin, ohne daß Tamy durch die Erklärung schlauer geworden wäre. »Dann nämlich, wenn Sie sich mit den Produkten meiner Firma den reichen Mann ihrer Träume geangelt haben!«

Tamy nickte unsicher. Sie spürte, daß Jennifer Henson in diesem Augenblick nicht ehrlich zu ihr war. Sie hatte etwas ganz anderes sagen wollen…

Tamy Cronach konnte sich nicht vorstellen, wie sie einer Frau wie Jennifer Henson jemals nützlich sein konnte. Die Kosemetik-Vertreterin umgab ein Hauch von Geheimnisvollem, dem sich das Mädchen nicht entziehen konnte.

Tamy wurde aus ihren Gedanken gerissen, als ihr Jennifer die verschiedenen Cremes und Emulsionen erklärte.

»Und hier ist das Beste!« pries sie fast flüsternd an.

»Ein Parfüm, wie es nur in den Kreisen benutzt wird, bei denen Geld keine Rolle spielt. Ein Tropfen genügt. Ihre Wirkung auf die Männer wird gewaltig sein.«

Fast feierlich hielt sie eine kleine, schwarze Flasche mit goldfarbenem Verschluß und metallisch blinkendem Etikett hoch.

»Es ist ein Spitzenprodukt unseres Hauses. Wir haben das Parfüm ›Amun-Re‹ genannt, weil sein Duft die Erinnerung an das alte Ägypten wachruft. Hier, Tamy«, sie öffnete den Verschluß der Flasche und hielt ihn dem Mädchen hin. »Ist das nicht verführerisch?«

Das Mädchen griff fast mechanisch nach dem Flacon. Der starke Duft, den das Parfüm verströmte, war betäubend.

Im Unterbewußtsein spürte sie, wie sich Jennifer Henson neben sie setzte. War das ihre Hand, die ihren Kopf hielt und verhinderte, daß sich Tamy abwenden konnte, als sie der geheimnisvolle Duft zu übermannen drohte? War es Jennifers Hand, die dafür sorgte, daß sie immer mehr von den Parfümdämpfen einatmete?

Tamy Cronach konnte nicht mehr klar denken. Wie ein wallender Nebel überkam sie der Rausch des betörenden Duftes aus der Flasche. Irgend etwas ergriff sie und ließ sie federleicht werden. Tamy spürte, daß sie zu schweben begann.

»Entspanne dich, Tamy Cronach!« hörte sie aus weiter Ferne die einschmeichelnde Stimme Jennifer Hensons. »Laß dich von deinen Gefühlen hinauftragen. Du spürst nichts mehr, denn du bist müde… sehr müde. Wehre dich nicht gegen dieses Gefühl, Tamy Cronach. Der Duft des ›Amun-Re‹ wird dir Zauberwelten zeigen…«

Eine Pause trat ein, doch es schien, als hinge der Klang der beschwörenden Stimme im Raum.

»Laß dich in die Zauberwelt deiner eigenen Fantasie entführen, Tamy Cronach. Dort bist du nicht das arme Mädchen aus Kensington, sondern eine Kaiserin, inmitten einer Welt aus Schönheit und Glanz. Folge dem Fluge deiner Fantasie, Tamy Cronach!«

Der Widerstand des Mädchens wurde schwächer.

Die weißen Nebel wurden dichter, und die Worte klangen wie das leise Rauschen einer Harfe, in deren Saiten ein sanfter Frühlingswind spielt.

Tamy spürte nicht, daß ihr Jennifer Henson keine Chance ließ, sich dem Duft des Parfüms zu entziehen. Sie erkannte nicht, daß ihre Besucherin zwar weiterhin einschmeichelnd zu ihr sprach, aber ihre Gesichtszüge anders geworden waren…

Um Jennifers Lippen zuckte ein triumphierendes Lächeln, als sie spürte, daß Tamy Cronach ihren Widerstand aufgab. Leicht ließ sie den Körper des Mädchens zurücksinken und bettete Tamy auf die Couch.

Jennifer Henson schenkte ihr noch einen befriedigenden Blick, dann schob sie die Parfümflasche in ihre Handtasche. Die anderen Kosmetikartikel ließ sie stehen. Aus ihrer Tasche brachte sie etwas Wachs hervor, mit dem sie einen Abdruck von Tamys Wohnungsschlüssel machte – und von noch etwas anderem…

Kurz darauf verließ Jennifer Henson das Appartement. Sie lächelte triumphierend.

*

Es war eine rotweiße Nebelwelt, durch die Tamy Cronach glitt.

Überall um sie herum formten sich bizarre Figuren. Sie stiegen zu ungeahnter Größe empor, um im nächsten Moment zusammenzufallen.

Manchmal erschien es Tamy, als würde sie mitten in einen bezaubernden Sonnenuntergang hineinfliegen, dann war es, als würde sie von einer Lawine aus Purpurstaub überrollt.

Es ist ein Traum. Alles nur ein Traum! versuchte sie sich immer wieder klarzumachen. Doch der Traum ließ sich nicht abschütteln.

Höchste Glücksgefühle wechselten mit Schreckenslandschaften. Hundert Arme griffen aus Nebelbänken heraus nach Tamy. Vorsintflutliche Ungeheuer krochen auf sie

zu.

Doch es gelang ihnen nicht, das Mädchen im Traum zu fassen.

Tamys Schreie, die sie im Traum ausstieß, waren in Wirklichkeit nur ein Stöhnen.

Und dann flüsterten ihre Lippen verständliche Worte. »Wo bin ich hier?«

»An der Grenze von Raum und Zeit bist du, Tamy Cronach!« hörte sie aus weiter Entfernung eine Stimme. »An der Schwelle zum Jenseits. Du hast bereits die Schwelle des Totenreiches überschritten, Tamy Cronach!«

»Aber warum bin ich hier?« rief Tamy im Traum.

»Ich habe dich her zu mir geholt!« antwortete es ihr.

Tamy glaubte, die Stimme schon einmal gehört zu haben. Wessen Stimme war es?

»Ich will fort von hier! Ich habe Angst!« stieß Tamy hervor.

»Deine Furcht ist unbegründet!« kam wieder die Stimme.