Im Banne  des Gehörnten - Alice Alderwood - E-Book

Im Banne des Gehörnten E-Book

Alice Alderwood

0,0

Beschreibung

In dieser neuartigen Romanausgabe beweisen die Autoren erfolgreicher Serien ihr großes Talent. Geschichten von wirklicher Buch-Romanlänge lassen die illustren Welten ihrer Serienhelden zum Leben erwachen. Es sind die Stories, die diese erfahrenen Schriftsteller schon immer erzählen wollten, denn in der längeren Form kommen noch mehr Gefühl und Leidenschaft zur Geltung. Spannung garantiert! Die Welt glitt aus den Fugen. Verblüfft registrierte Felicitas, wie das Gewölbe rings um sie verschwand und einer diffus leuchtenden Dunkelheit wich. Sie hatte bislang nicht angenommen, daß von etwas absolut Schwarzem Licht ausgehen konnte. Dann sah sie ihn. Er sah gar nicht so schlimm aus, mit den Hörnern auf dem Kopf und dem zottigen Fell eher wie ein trauriger Bulle denn wie ein bösartiger Dämon. Eine bestimmte Größe schien er nicht zu haben, wie ein unstetes Bild schwamm seine Gestalt vor ihr, groß, riesengroß, um gleich darauf wieder zu menschlicher Größe zu schrumpfen. Seine Augen glühten in düsterem Gelb. »Ich will nicht da rein!« Felicitas Garringhouse schob ihre Unterlippe nach vorn und verschränkte die Arme vor der Brust. Ihre Füße stemmte die gerade fünfzehnjährige junge Dame an die gegenüberliegende Sitzbank der Kutsche, als wollte sie sich mit ganzem Körpereinsatz im Inneren des Gefährtes verkeilen. »Bitte, Lizzy! Du glaubst doch nicht etwa, daß mir das hier alles irgendeine Freude bereitet?« Janice, mehr als fünf gewichtige Jahre älter als der blondgelockte Trotzkopf, schlug den schwarzen Spitzenschleier, der von ihrem Hut herabhing und ihr Gesicht verhüllte, zurück, um ihrer Schwester besser in die Augen sehen zu können. »Es ist unsere Pflicht, Mister Svenson aufzusuchen! Er wird uns jetzt offiziell das Testament unseres Vaters vorlesen und du, Lizzy, wirst schön ernst und gesittet zuhören! Unsere Miß Patters würde vor Entsetzen in Ohnmacht fallen, wenn sie dich jetzt hier so sehen könnte!« Die Erwähnung der alten Gouvernante und Hauslehrerin der beiden Garringhouse-Schwestern entlockte Felicitas zwar ein kurzes Lächeln, aber gleich darauf quoll ihr eine dicke Träne aus dem Augenwinkel, rollte ihre noch kindliche Stupsnase entlang und tropfte von der Nasenspitze. »Ich will nicht, daß Papa tot ist!« murmelte sie erstickt. Mit einer Geste, die unendliche Müdigkeit ausdrückte, fuhr sich Janice mit beiden Händen über das Gesicht.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 143

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Gaslicht – 63 –

Im Banne des Gehörnten

Unveröffentlichter Roman

Alice Alderwood

Die Welt glitt aus den Fugen. Verblüfft registrierte Felicitas, wie das Gewölbe rings um sie verschwand und einer diffus leuchtenden Dunkelheit wich. Sie hatte bislang nicht angenommen, daß von etwas absolut Schwarzem Licht ausgehen konnte. Dann sah sie ihn. Er sah gar nicht so schlimm aus, mit den Hörnern auf dem Kopf und dem zottigen Fell eher wie ein trauriger Bulle denn wie ein bösartiger Dämon. Eine bestimmte Größe schien er nicht zu haben, wie ein unstetes Bild schwamm seine Gestalt vor ihr, groß, riesengroß, um gleich darauf wieder zu menschlicher Größe zu schrumpfen. Seine Augen glühten in düsterem Gelb. Felicitas vergaß völlig, daß sie Angst haben mußte, und starrte fasziniert auf das Maul, in dem eine blutrote Zunge zwischen erstaunlich weißen und gefährlich spitzen Fangzähnen züngelte…

»Ich will nicht da rein!« Felicitas Garringhouse schob ihre Unterlippe nach vorn und verschränkte die Arme vor der Brust. Ihre Füße stemmte die gerade fünfzehnjährige junge Dame an die gegenüberliegende Sitzbank der Kutsche, als wollte sie sich mit ganzem Körpereinsatz im Inneren des Gefährtes verkeilen.

»Bitte, Lizzy! Du glaubst doch nicht etwa, daß mir das hier alles irgendeine Freude bereitet?« Janice, mehr als fünf gewichtige Jahre älter als der blondgelockte Trotzkopf, schlug den schwarzen Spitzenschleier, der von ihrem Hut herabhing und ihr Gesicht verhüllte, zurück, um ihrer Schwester besser in die Augen sehen zu können.

»Es ist unsere Pflicht, Mister Svenson aufzusuchen! Er wird uns jetzt offiziell das Testament unseres Vaters vorlesen und du, Lizzy, wirst schön ernst und gesittet zuhören! Unsere Miß Patters würde vor Entsetzen in Ohnmacht fallen, wenn sie dich jetzt hier so sehen könnte!«

Die Erwähnung der alten Gouvernante und Hauslehrerin der beiden Garringhouse-Schwestern entlockte Felicitas zwar ein kurzes Lächeln, aber gleich darauf quoll ihr eine dicke Träne aus dem Augenwinkel, rollte ihre noch kindliche Stupsnase entlang und tropfte von der Nasenspitze.

»Ich will nicht, daß Papa tot ist!« murmelte sie erstickt.

Mit einer Geste, die unendliche Müdigkeit ausdrückte, fuhr sich Janice mit beiden Händen über das Gesicht. Erst vor zwei Tagen hatten sie Nicolas Garringhouse, ihren Vater und erfolgreichen Handelshaus-Betreiber, zur letzten Ruhe neben seiner Frau gebettet. Die Mutter der beiden Mädchen war nach Felicitas’ Geburt am Kindbettfieber gestorben. Jetzt waren die Schwestern allein, und Janice, die in den letzten Tagen kaum Zeit zur Trauer hatte, fühlte, wie eine alles verschlingende Leere auf sie zukroch. Sie hatte sich in den vergangenen Tagen um den Haushalt, die Trauergäste und die Beerdigung gekümmert, weil halt sonst niemand da war, der ihr diese Pflichten hätte abnehmen können. Die ganze Familie Garringhouse bestand jetzt nur noch aus Janice und Felicitas. Der einzige Anverwandte, den es sonst noch gab, war ein Bruder von Nicolas. Aber Kasimir Garringhouse hatte es nicht einmal für nötig gehalten, zur Beerdigung zu erscheinen.

»Bitte Lizzy!« mahnte Janice nochmals. »Du bist kein kleines Kind mehr! Ich erwarte jetzt einfach von dir, daß du dich benimmst wie eine junge Lady aus gutem Hause!«

Etwas in Janices Stimme ließ Felicitas gehorchen. Mit einem leisen Seufzer setzte sie sich gerade und rückte das Korsett gerade, welches sie neuerdings auf Miß Patters’ Geheiß tragen mußte. Obwohl das Teil ordentlich geschnürt war, fand es irgendwie nie Halt auf Lizzys schlankem Mädchenkörper. Schniefend wischte sie sich die Augen aus und tastete nach dem schwarzen Tüll, den ihr die Gouvernante in den Locken festgesteckt hatte.

»Ist schon in Ordnung!« flüsterte Janice und drückte Lizzys Hand, bevor sie den Schlag öffnete. Dienstbeflissen eilte der Kutscher hinzu, um ihr beim Aussteigen zu helfen. Felicitas stolperte hinter ihrer großen Schwester her und hatte Mühe, nicht aus dem Wagen zu fallen, denn sie hatte sich mit einem ihrer Schnürschuhe wieder einmal in diesem furchtbaren Unterrock verfangen. Lizzy griff etwas zu heftig nach der ausgestreckten Hand des Kutschers, um sich abzufangen. Erschrocken stützte er die junge Miß Garringhouse und empfand Mitleid mit dem Mädchen. Auch das viele Geld ihres Vaters konnte das Schicksal, plötzlich zur Waise geworden zu sein, nicht mildern. Der brave Mann konnte nicht ahnen, daß Lizzys Gedanken sich jetzt völlig auf diese vertrackte Kleidung konzentrierten. Schon allein wegen dieser unpraktischen Aufmachung wollte Felicitas gern darauf verzichten, erwachsen zu werden. Sie sehnte sich nach ihren bequemen Kinderkleidern zurück.

Janice nickte dem Kutscher dankend zu.

»Bitte warten Sie auf uns. Ich hoffe, daß uns Mr. Svenson nicht allzu lange aufhält!« Damit schob sie Lizzy sanft auf die dunkle schwere Holztür zu, die in das große Stadthaus führte, in der der Advokat sein Bureau betrieb.

Mr. John Svenson empfing Janice und Felicitas persönlich im geräumigen Vestibül seiner Geschäftsräume. Drei Sessel bildeten hier eine gemütliche Sitzgruppe, damit die Kunden des Advokaten es recht bequem hatten, falls sie einmal etwas auf den großen Meister der Paragraphen warten mußten.

»Darf ich den Damen eine Erfrischung anbieten, bevor wir uns dem letzten Willen Ihres Vaters zuwenden?« schnarrte der ältere Herr mit dem schütteren Haar und deutete eine leichte Verbeugung an.

»Vielen Dank, Mr. Svenson, aber Sie verstehen sicher, daß wir diese traurige Angelegenheit recht schnell hinter uns haben möchten!« Janice stieß während ihrer Antwort mit dem Ellenbogen leicht und wie sie hoffte, unauffällig, ihre jüngere Schwester an. Felicitas hatte den hageren Anwalt immer mit einem dürren und etwas zu lang geratenen Raben verglichen, der mit nickendem Schnabel über die Wiesen stakste. Es war wohl besser, Lizzy mit einem kleinen Schubs an ihr Versprechen zu erinnern, den Mund im Bureau von Mr. Svenson nur zu öffnen, wenn sie direkt gefragt wurde, und selbst dann nur ganz vorsichtig. Janice seufzte leise. Ihre jüngere Schwester hätte eine viel bessere Erziehung genießen müssen. Aber ihr Vater hatte dem kleinen Wildfang alles und jedes verziehen, selbst Miß Patters hatte die Manieren Lizzys nicht sonderlich richten können. Für das Abrichten ungestümer Fohlen war die viel zu gutmütige Gouvernante einfach nicht geeignet. Die Hauslehrer, die Nicolas Garringhouse für seine Töchter engagiert hatte, fühlten sich berechtigterweise nicht für den gesellschaftlichen Feinschliff der Zöglinge des Hauses zuständig. Während Janice unwillkürlich die Rolle der Hausfrau übernehmen mußte und in Begleitung ihres Vaters lernte, sich in Adelshäusern und im großbürgerlichen Milieu zu bewegen, waren Felicitas alle Freiheiten geblieben. Mit dem Tod von Nicolas lastete nun plötzlich auch noch die Sorge um die Zukunft der Schwester auf Janices schmalen Schultern. Die junge Frau gestattete sich nicht, ins Grübeln zu verfallen, denn Mr. Svenson bat die Garringhouse-Töchter nun in sein Arbeitszimmer.

Janice und Felicitas nahmen in den angebotenen Sesseln Platz, Janice vornehm vorn auf der Kante der Sitzfläche, während sich Felicitas versuchte, bequem anzulehnen, was sie schon wieder in Konflikt mit ihren Röcken brachte. John Svenson übersah diskret die Versuche des Mäd­chens, sich in eine ordentliche Sitzposition zu bringen, richtete seine Brille und kramte auf seinem riesigen Schreibtisch, bis er gefunden hatte, was er suchte. Unheilvoll rot leuchtete das Siegel auf dem Umschlag.

»Das ist das Testament Ihres Vaters!« erklärte er. »Ich weiß natürlich als Rechtsbeistand von Nicolas Garringhouse um seinen Inhalt. Um allen Förmlichkeiten Genüge zu tun, werde ich jetzt das Siegel erbrechen und Ihnen den letzten Willen des Verstorbenen kundtun. Bitte lassen Sie mich nochmals mein tiefempfundenes Beileid zu Ihrem schmerzlichen Verlust versichern, meine Damen!«

Er rückte umständlich erneut seine Brille zurecht und räusperte sich, bevor er das Siegel öffnete. Janice konnte das Knacken des erhärteten Wachses deutlich hören.

»… erben meine beiden Töchter Janice und Felicitas Garringhouse mein gesamtes Vermögen zu gleichen Teilen. Ausführungsbestimmungen für meinen Anwalt John Svenson zu meinem Immobilienbesitz und dem Geschäft folgen im Text… Möchten Sie diese Einzelheiten hören, oder soll ich Ihnen eine Abschrift zukommen lassen?«

»Was bedeutet das: Ausführungsbestimmungen?« Janice zog die Brauen hoch, was Svenson durch den Schleier natürlich nicht sehen konnte.

»Ihr Vater wollte Sie nicht mit der Verwaltung der Häuser und Grundstücke belasten, erst recht nicht mit den Belangen des Handelshauses. Diese unangenehmen Aufgaben hat Mr. Garringhouse mir und seinem langjährigen Vertrauten und Prokuristen Mr. Levin zugewiesen, während Ihnen selbstverständlich die Gewinne zufließen. Vielleicht findet sich ja später ein Ehemann, der Gefallen an der Fortführung der Firma findet, oder aber, Sie entschließen sich zum Verkauf!«

Janice strich sich einige kaum sichtbare Falten aus dem dunkel­blauen Seidenrock über ihren Knien. Sie kannte Svenson praktisch schon ihr ganzes Leben lang, und etwas in seiner Stimme gefiel ihr ganz und gar nicht.

»Dann ist ja vorläufig alles geklärt, Mr. Svenson, nicht wahr? Dann werde ich mit Felicitas jetzt nach Hause zurückkehren!« Sie warf einen forschenden Blick auf Lizzy, die jetzt offenbar begriffen hatte, daß sie sich nur auf der Kante des Sessels niederlassen konnte, ohne Chaos in ihren Unterkleidern auszulösen. Ein zweiter Blick auf den Advokaten sagte ihr, daß ihr Instinkt sie nicht verlassen hatte. Die Haut auf der Stirn Svensons hatte sich in dicke Falten gewellt, und er hatte sein Brillengestell abgenommen, um sich mit der freien Hand über die Augen fahren zu können.

»Einen Moment noch, Miß Garringhouse!« Svenson zog ein Gesicht, als hätte er in einen Dornenbusch gegriffen, als er seine Brille wieder auf der Nase plazierte. Janice erstarrte förmlich. Irgendein nahendes Unheil baute sich zwischen ihr und dem Schreibtisch des Anwalts auf, etwas Dunkles, das seine Schattenfinger nach ihrem Herzen ausstreckte.

»Es gibt da noch ein kleines Problem! Sie sind noch nicht volljährig!«

»Ich werde in nicht einmal drei Monaten einundzwanzig!« entgegnete Janice kühl, obwohl sie das Gefühl hatte, ihre Stimme könnte jeden Augenblick versagen.

»Ja, in drei Monaten sieht die Sache völlig anders aus! Aber bis dahin dürfen Sie laut Gesetz nicht selbst über Ihr Vermögen verfügen!«

»Ist es denn nicht machbar, Mr. Svenson, wenn Sie das für uns bis dahin übernehmen? Sie betreuen unsere Familie und das Vermögen schon so viele Jahre und ich hoffe, daß dies auch weiterhin so bleibt. Selbst nach meinem Geburtstag werde ich nicht urplötzlich alle Konten auflösen oder die Immobilien verschleudern…«

Svenson beugte sich über den Schreibtisch, um Janice zu unterbrechen. »Meine liebe Miß Janice!«

Er sprach sie tatsächlich mit dem Vornamen an, wohl ganz bewußt, um die Vertraulichkeit des Gesprächs deutlich zu machen.

»Ihr Vater hat versäumt, eine Festlegung bezüglich Ihrer Vormundschaft zu treffen! Nicolas ist sicher gar nicht in den Sinn gekommen, daß er sterben könnte, bevor Sie ein entsprechendes Alter erreicht haben. Nun schreibt das Gesetz den nächsten lebenden Verwandten als Vormund vor…«

»Ach du liebes Kuckucksei! Der liebe Onkel Kasimir!« Lizzys Aufschrei unterbrach den Anwalt und löste bei Janice einen kleinen verzweifelten Seufzer aus.

Aber Svenson nickte sogar auf die völlig unpassende – oder doch ganz zutreffende? – Bemerkung Felicitas’ freundlich, und wie Janice schien, auch etwas mitleidvoll zu.

»Ich habe in den letzten Tagen Kontakt zu Ihrem Onkel aufgenommen, mit dem Ziel, seine schriftliche Zustimmung zu erhalten, Ihre Vormundschaft bis zu Ihrem einundzwanzigsten Geburtstag zu übernehmen. Aus mir unverständlichen Gründen hat er das abgelehnt.»

Svenson schien echt bekümmert über sein Scheitern. Sein langer dünner Zeigefinger schob schon wieder das Brillengestell auf der Nase zurecht.

»Ich habe hier ein Schreiben von Kasimir Garringhouse vorliegen, in dem er fordert, daß Sie beide unverzüglich in seinem Hause erscheinen sollen. Er möchte persönlich über das Wohlergehen seiner Nichten wachen…«

»Ha!« fauchte Felicitas und wurde puterrot unter den tadelnden Blicken ihrer großen Schwester und des Anwaltes.

»Oh, Entschuldigung! Aber dieser Onkel Kasimir hat sich noch nie um uns gekümmert! Noch nie! Nicht einmal zur Beerdigung unseres Vaters ist er gekommen!« Lizzy mußte ihren Zorn loswerden, sonst wäre sie ganz sicher geplatzt.

Janice faltete die Hände auf ihrem Schoß und wandte kurz die Augen zur Zimmerdecke, als wollte sie ein Stoßgebet zum Himmel schicken.

»Felicitas! Es handelt sich nur um ein paar Wochen, die wir aushalten müssen! Nach meinem Geburtstag bin ich dann dein Vormund, und wir können in unser Haus zurückkehren! Das stimmt doch so, Mr. Svenson?« Jetzt konnte Janice das leichte Zittern ihrer Stimme nicht mehr unterdrücken. Irgendwie fürchtete sie sich vor Svensons Antwort, und sie sehnte sich nach jemanden, bei dem sie Trost und Wärme finden konnte. Seit dem Tod des Vaters hatte sie immer nur stark und entschlossen sein müssen, vor den Dienstboten, vor den Angestellten des Handelshauses, vor Felicitas. Da war niemand gewesen, der ihr Halt gab, sie tröstete und ihre heimlich in der Nacht vergossenen Tränen trocknete. Janice gönnte sich einen kleinen Seufzer, dann straffte sich ihre schlanke Gestalt und sie zwang sich, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten. Zu ihrer Erleichterung huschte die Spur eines Lächelns über Svensons Gesicht.

»Natürlich! Sie sind dann Miß Felicitas’ nächste volljährige Verwandte, und Ihr Onkel hat Ihnen nichts mehr zu sagen! Ansonsten würde ich Ihnen empfehlen, noch diese Woche aufzubrechen und Quartier bei Ihrem Onkel zu nehmen, ganz so, wie er es verlangt hat!«

Janice hatte ihre Fassung zumindest äußerlich wiedergefunden.

»Nun, es dürfte kein Problem sein, bereits morgen mit Miß Patters und unserem Kutscher aufzubrechen…«

»Mit der Kutsche?« empörte sich Lizzy. »Wozu gibt es die Eisenbahn?«

Während Janice noch nach einer Antwort für ihre Schwester suchte, übernahm Mr. Svenson wieder das Wort.

»Ihr Onkel, liebe Miß Felicitas, wohnt leider in einer Gegend, die sicher auch in hundert Jahren noch nicht durch Schienenwege erschlossen sein wird. Außerdem empfehle ich eine Mietkutsche. Kasimir Garringhouse hat darauf bestanden, daß sie keine eigenen Dienstboten mitbringen!« Die letzten Worte waren schon wieder an Janice gerichtet, der für einen Moment der Mund offen blieb.

»Was? Unser Onkel verbietet uns, unsere Gouvernante mitzubringen? Lizzy ist erst fünfzehn und braucht noch Anleitung und Unterricht? Was soll das?«

Der Anwalt konnte nur bedauernd mit den Schultern zucken. »Am liebsten hätte Ihr Onkel sogar gesehen, wenn Ihr gesamtes Hauspersonal entlassen würde. Allerdings obliegt eine solche Entscheidung nicht ihm, sondern mir als Verwalter der Immobi­lien. Sie werden also Ihre gewohnten Leute im Hause vorfinden, wenn Sie aus Ihrer kleinen Verbannung zu­rückkehren!«

Svenson hatte wohl einen kleinen Scherz machen wollen, aber weder Janice noch Felicitas reagierten darauf. Den Garringhouse-Schwestern war im Gesicht abzulesen, wie begeistert sie davon waren, die nächsten Wochen bei einem Mann zuzubringen, den sie seit Jahren nicht gesehen hatten. Aber offenbar ließ sich daran nichts ändern.

*

Die Kerzen flackerten und bleckten hellauf, obwohl das düstere Kellergewölbe kein natürlicher Luftzug erreichen konnte.

»Der Atem der Hölle!« murmelte ziemlich zufrieden der Mann, der sich auf den Boden gekauert abmühte, mit einem Pinsel ein verworrenes Symbol auf den Boden zu malen. Immer wieder tauchte er den Pinsel in die Schüssel, die eine dickflüssige rote Substanz enthielt. Die Linie auf dem Boden schloß sich, und der Mann gab ein Grunzen von sich, das wohl ein Laut der Zustimmung sein sollte. Ungeduldig schob Kasimir Garringhouse sein seltsames Werkzeug von sich und richtete sich ächzend auf. »Das Alter!« dachte er bei sich. »Es wird Zeit, endlich Erfolg zu haben, Mr. Garring­house!«

Der Mann nahm von dem Tisch im Kellerraum, auf dem allerlei völlig verschmutzte alchemistische Gerätschaften wirr durcheinanderstanden, ein Buch auf und strich beinahe andächtig über die altersdunklen Deckel. Nirgendwo war ein Titel eingeprägt, auch nicht auf dem ledernen Rücken. Garringhouse schlug das Buch auf, blätterte zielsicher einige Seiten um und stieg vorsichtig in die Mitte seines absonderlich verschlungenen Symbols auf dem Boden, fast ängstlich darauf bedacht, die jetzt schmutzig braun wirkenden Linien nicht mit seinen Schu­hen zu be­rüh­ren.

Kehlig schallte seine Stimme in dem alten Gewölbe, als er jetzt begann, etwas aus dem Buch vorzulesen. Die Worte waren unverständlich, kein Sprachkundiger hätte sie einem bestimmten Idiom zuordnen können. Die Sprache, die der Mann da aus dem Buch rezitierte, war vor Jahrtausenden untergegangen mit den Hohepriestern, die sie für ihre grausigen Rituale genutzt hatten. Die letzten Priester dieser Kaste hatten jene Worte von den Zikkuraten des Zweistromlandes gerufen. Mit Blut huldigten sie dem Großen Dunklen, Blut von unzähligen Tieren, Blut von unzähligen Menschen. Sie kannten den Namen des Dunklen, lange Jahrhunderte bevor sein Gegenspieler von den Römern ans Kreuz geschlagen wurde.

Gebannt in mit Keilzeichen übersäten Lehmtafeln hatte die Beschwörungsformel die Zeiten überdauert. Dann fiel das Stück einem Forschungsreisenden in die Hände, der die Lehmtafel mit nach England nahm und den Spruch in seinem Reisebericht zitierte. Er konnte ihn nur lautlich übertragen, denn die Sprache der Priester glich keiner anderen. Nicht einmal Kasimir Garringhouse war an einer Übersetzung interessiert. Der Forscher war später dem Wahnsinn verfallen, die Tontafel verschollen. Sein Buch geriet in Vergessenheit. Nur hier, in diesem Versteck, wurden die alten Worte lebendig. Garringhouse stieß die Laute aus wie heiße Kartoffelbrocken, die seine Zunge versengten. Die Kerzen zischten und flammten plötzlich blau. Gespenstisch zuckten Schatten aus den finsteren Winkeln des Kellers. Garringhouses Augen sprühten förmlich Funken, seine Stimme hob sich und formte fremdartige Worte, die nicht von dieser Welt schienen. Der Luftzug fuhr in sein schütteres Haar, blies ihm schwefligen Rauch ins Gesicht. Ein Grollen stieg aus der Tiefe auf, nicht zu hören, aber wohl zu spüren. Unter den Füßen des Mannes vibrierte der Boden. Und plötzlich war alles vorbei. Kein Grollen mehr, kein Luftzug, die Kerzenflammen züngelten artig und in gewohnter Farbe auf ihren Dochten.