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Ein Gebremster Fall (Lago Maggiore Krimi No 2) kommt in Gang, als Bergsteiger am Fusse eines Zweitausenders die Reste einer Leiche finden. Rasch geht es um Rauschgiftschmuggel, ein Millionengeschäft im Tessin. Carlo Flury muss die junge Inspektorin Candy einschleusen und selbst mehrere Attentate überleben, bis die Drahtzieher hinter Gittern sitzen. Wo sie allerdings nicht lange bleiben...
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Seitenzahl: 340
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Verlag:Andrea Mattiotti ::: Klevendeicher Ch. 7 ::: [email protected]
Herstellung: epubli - ein Service der neopubli GmbH, Köpenicker Straße 154a, 10997 BerlinKontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected]
Der Pfad endete in zweitausenddreihundert Meter Höhe auf einem überraschend geräumigen Plateau. An dessen Rand das riesige Gipfelkreuz. Nach Süden bis zum Horizont nur indigoblauer Himmel. Am Rand die Kante, hinter der, wie sie wusste, die Wand mehr als siebenhundert Meter senkrecht abstürzte.
»Komm, lass uns schauen, wie weit wir uns trauen«, sagte sie, und er nickte. »Du hast doch gesagt, du bist schwindelfrei«, sagte sie, und er nickte erneut.
Noch zwei Schritte, dann durfte sie es wagen.
»Ab jetzt wird es…«, sagte er, als sie sanft die Hand auf seinen Rücken legte und ihr Gewicht in einen Stoss verwandelte.
Seinen Fall sahen nur die Adler, die am Gipfel kreisten. Erst tief unten begann Gebüsch, noch tiefer folgten Bäume, die auch ganz anderes hätten bergen können.
»Wart mal«, sagte Kurt Gruber, in der Internet-Gruppe hikr bekannt als grubbi, und Walter Hürlimann, alias waldi88, blieb stehen. »Schau mal da drüben. Das ist mir schon heute morgen beim Aufstieg aufgefallen.«
Er zeigte auf eine Stelle an der Gegenseite der mächtigen Bergflanke, die das Valegg della Rozzera nach Süden begrenzt.
Walter wischte sich den Schweiss vom Gesicht. Nach der langen Strecke hatte er Durst, aber er tat Kurt den Gefallen.
»Ich bin bisschen kurzsichtig, musst du wissen«, sagte er. »Was gibts denn da?«
»Aber die beiden Raubvögel siehst du doch, die da kreisen, oder«, meinte Kurt. »Die waren am Morgen auch schon da. Da liegt irgendwas Grösseres, und es ist keine verreckte Gams. Ich mein, ich seh da etwas Rotes, wie aus Stoff. Blöd, haben wir kein Glas dabei. Oder hast du eins?«
»Wenn ich auf den Berg will, da bohr ich mir Löcher in die Zahnbürste«. grinste Walter. »Wenn ich überhaupt eine mitnehm. Muss ja alles geschleppt werden. Nee, lass mal. Nicht unser Bier.«
»Na ja«, beharrte Kurt. »Zwar. Wenn da einer liegen tät, dann gewiss nicht erst seit gestern. Dringend wirds nicht sein. Aber irgendwie nimmts mich schon wunder. Kurios!«
Zwei Stunden später standen die beiden am Auto. Sie hatten im Verzascatal geparkt, neben der Osteria am Wegesrand.
»Weisst du was«, fing Kurt noch einmal an, »erzählen wirs doch wenigstens dem Beizer. Die Sache mit den Aasgeiern da oben. Vielleicht weiss der, was man da macht. Komm, Durscht hab ich sowieso. Ich geb einen aus.«
Drinnen, in einer Ecke der dämmrigen Gaststube, sassen ein paar Bergler beim Jassen, sonst war sie leer. Es roch nach altem Holz. Kurt und Walter setzten sich aufseufzend an einen Tisch beim Fenster.
Die Saaltochter brachte bald die bestellten Biere, aber als sie ihr von der Beobachtung auf ihrer Bergtour erzählen wollten, winkte sie ab. »Un attimo. Arriva il nonno«, sagte sie und verschwand in Richtung Küche.
Von dort erschien nach einer Weile ein kugelrunder, glatzköpfiger Mann von etwa siebzig und sah sich fragend um. Die Enkelin zeigte auf Kurt und Walter und zog sich hinter den Tresen zurück.
Der Patriarch kam langsam an den Tisch geschlurft und setzte sich ohne weiteres dazu. Er sagte keinen Ton, blickte die beiden aber auffordernd an. Kurt berichtete, was er am Berg gesehen hatte, nachdem er »deutsch?« gefragt und ein Nicken geerntet hatte.
Der Alte schloss die Augen und dachte kurze Zeit nach. Dann stand er mühsam auf, schlurfte zum Tisch der Stammgäste hinüber und liess sich dort nieder. Als diese ihre Runde beendet hatten, richtete er das Wort an sie.
Es entstand eine Pause. Dann fingen die Spieler ungefähr gleichzeitig an zu reden, hitzig erst, allmählich aber doch zu einer Einigung gelangend. Der Jüngste von ihnen nickte gottergeben, kritzelte etwas auf einen Zettel und steckte ihn in die Hosentasche. Der Wirt stand ächzend auf, offenbar zufrieden, und kehrte an den Tisch der beiden Bergsteiger zurück.
»Isch guet«, nickte er und schlurfte zur Küche zurück. Die Kartenspieler waren schon mit der nächsten Runde beschäftigt.
Die frühsommerliche Sonne hatte genügend Zeit gehabt, die Luft aufzuheizen. Erstmals im Jahr war die Dreissig-Grad-Marke fast erreicht worden. Carlo Flury trug nur eine Sporthose und ein T-Shirt. Er sass im Schatten der Hortensienhecke neben dem Haus im Garten und sah von Ermittlungsakten auf, als er seine Freundin die wenigen Stufen von der Strasse heraufsteigen hörte.
Er hatte sich die Woche freigenommen, um unbeschwerte Zeit mit ihr verbringen zu können. Beglückend war es gewesen, und bislang war es ihm recht gut gelungen, das nahende Ende zu verdrängen. Aber das Verdrängen war nicht seine Stärke. Schon Mittwochnachmittag. Also nur noch vier Tage miteinander. Er könnte etwas zu Essen machen. Das würde ihn auf andere Gedanken bringen.
Gabriella kam von der Nachbarin aus dem Garten links nebenan zurück. Sie strahlte und setzte sich in den Korbstuhl neben Carlo. Der bemerkte die kleinen Stiche in der Herzgegend auf einmal deutlicher.
»Signora Casetti ist ein Schatz«, sagte Gabriella munter. »Man muss sie ein bisschen ausquetschen, aber dann hat sie eine Menge Spannendes zu erzählen. Übrigens, apropos ausquetschen, knurrt dir der Magen auch so wie mir?«
Carlo behauptete, das Knurren schon von der Strasse her vernommen zu haben. Er nickte erleichtert und stand auf. Die Ablenkung war ihm willkommen. Die Ablenkung vom Schwinden der Restzeit mit der Freundin. Und die von seiner Akte.
Aber während er ins Haus ging, glitten seine Gedanken doch zu dem Fall zurück, der ihn beschäftigt hatte. Im Grunde ein Cold Case, an dem bereits ein Kollege vor ihm gescheitert war. Nun gut, Rossi hatte schon darum aufgeben müssen, weil er in Pension ging; Carlo hatte sein Erbe angetreten. Leider war der Fall jetzt überhaupt nicht mehr cold, obwohl es keine Hinterbliebenen gab, die ihn hätten heiss halten können. Das taten jetzt andere umso energischer.
Wie war dieser Job eigentlich bei ihm gelandet? Nun ja, in seiner kurzen Zeit bei der Kriminalpolizei Bellinzona hatte er sich ein wenig den Ruf eines Spezialisten für Spezielles erworben. Auch war der Mord im Gambarogno passiert, also praktisch vor seiner Haustür. Vor allem aber hatte er gerade nicht viel zu tun gehabt und war zu ehrlich gewesen, das Gegenteil vorzutäuschen.
Drinnen machte Carlo einen einfachen grünen Salat mit Sherryessig und Baumnussöl an. Als Hauptgang briet er Raclette-Tranchen in wenig Butter mit reichlich Pfeffer aus der Mühle und bettete sie auf geröstetes Dinkelbrot. Raclettemochte Gabriella ebenso gern wie er.
Sie assen an dem alten Gartentisch vor der Haustür, mit Genuss und schweigend, wie meist. Der Autoverkehr von der Kantonsstrasse tief unten am See war nur ein fernes Rauschen. Über den Bergen auf der gegenüberliegenden Seeseite, wenige Kilometer westlich, brummte ein Sportflugzeug.
Kurz vor Ende der Mahlzeit, nach der zweiten Raclette-Portion, kam eine Spannung auf, die Carlo nicht durch Ankündigungen löste. Stattdessen ging er mit geheimnisvoller Miene in seine winzige Küche, zu einer Küchenmaschine, die ihm Gabriella einmal geschenkt hatte. Hinein warf er gefrorene Heidelbeeren, die er mit etwas braunem Zucker würzte. Darauf goss er einen Becher kalten Rahm. Aus dem pürierten Obst wurde im Nu ein cremiger Glacé, den er in zwei Glasschalen füllte.
Gabriella war hingerissen, aber das war sie beinah immer. Ihre Mutter kochte so überwältigend gut, dass weder sie noch ihre Schwester jemals Ehrgeiz entwickelt hatten, diese Kunst zu erlernen.
Die beiden löffelten das Dessert andächtig.
Nach dem Essen sassen sie mit einem einfachen Fendant noch eine Weile vor dem kleinen Häuschen oben am Hang, in Caviano, dicht an der Grenze zur Lombardei. Der Blick von dort reichte über den obersten Teil des Lago Maggiore, hinüber zu den Zweitausendern, die nach rechts in die Flussebene um Ascona und Locarno übergingen. Noch weiter rechts türmten sich entferntere Berggipfel auf, die im Dunst verblassten. Um diese Aussicht ganz zu geniessen, musste man allerdings mindestens aufstehen, denn das kleine Grundstück war zum Fahrsträsschen hin durch die Hortensien begrenzt. Weder Carlos Freund Urs, der Eigentümer, noch Carlo selbst neigten zu nennenswertem gärtnerischen Ehrgeiz. So war die Hecke übermannshoch und ziemlich dicht gewachsen.
Es wurde Abend. Endlich liess die Hitze nach. Aus den Nachbarhäusern drangen wieder hörbare Lebenszeichen. Gabriella hatte den Esstisch abgeräumt und blätterte in einer Kunstzeitschrift. Carlo hatte nach der langen Pause pflichtbewusst noch einmal seine Akte zur Hand genommen. Jetzt gab er die Hoffnung auf eine bahnbrechende Idee ein weiteres Mal auf.
Er ging ins Haus, um sein Handy zu kntrollieren. Obwohl er nicht an Neujahrsvorsätze glaubte, hatte er sich irgendwann geschworen, das ungeliebte Gerät immer vor der Tiefentladung zu bewahren. Für diesen Vorsatz hatte es einmal einen dramatischen Anlass gegeben, einen zu viel. Bis dato hatte er es geschafft, eine Wiederholung zu verhindern,
Zu seiner Beruhigung zeigte der Akku einen Füllungsgrad über drei Vierteln, die Mailbox jedoch einen eingegangenen Anruf. Carlo setzte sich an den Tisch und zündete sich erwartungsvoll eine Brissago an.
»Ciao, Carlo«, hörte er Rita Favini, seine vertraute Kollegin, auf dem Band. »Wenn du nicht gerade in DomRep oder auf Malle am Strand herumliegst, ruf doch bitte mal zurück!« Sie klang geschäftsmässig.
Natürlich wusste Rita, dass derlei Urlaubsfreuden bei ihm nicht zu gewärtigen waren. Aber sie wusste auch, wer ihn gerade besuchte. Das liess mehr Möglichkeiten offen als sonst.
Wie bei ihr üblich, nahm Rita schon nach dem ersten Klingelton ab. Da sie seinen Lebensstil kannte, war sie nur mässig erstaunt, als er erzählte, wie er seine freien Tage verbracht hatte. Dann kam sie zur Sache.
»Also, ich weiss selbst nicht, was los ist, aber die Chefin hat mich vorhin gebeten, dich aufzuspüren, soweit möglich. Ruf sie doch mal zurück, sie müsste jetzt eigentlich zu Hause sein.«
Rita hatte zu tun. Sie wünschte noch schöne Ferien.
Carlo überlegte einen Moment, bevor er die Privatnummer von Vivienne Dufour wählte. Jetzt war er wirklich gespannt. Obwohl er zu seiner Chefin nicht nur einen beruflichen, sondern auch einen alten privaten Kontakt hatte — sie war vor vielen Jahren Mitarbeiterin seines Vaters gewesen —, war es noch nicht oft vorgekommen, dass sie ihn ausserhalb der Dienstzeit zu Hause anrief. Schon gar nicht in einer Urlaubswoche.
Er war darauf vorbereitet, lange klingeln zu lassen, denn die Hauptkommissarin sass seit einem Skiunfall vor Jahrzehnten im Rollstuhl und lebte, soweit er wusste, allein.
»Carlo, wie schön, da bist du ja tatsächlich! Und es klingt nicht einmal, als ob du weit weg wärst?« Dufour wirkte angenehm überrascht, als sie mit der üblichen Verzögerung abnahm.
Er beruhigte auch sie, dass es sich nicht um ein Interkontinentalgespräch handelte. Dass man so tat, als sei auch damit zu rechnen gewesen, hielt er für eine reine Höflichkeitsfloskel.
Was sich auch gleich bestätigte.
»Also, wenn du eh da bist, dann entlastet mich das ja tatsächlich von meinem schlechten Gewissen«, leitete Dufour zum Dienstlichen über. »Vielleicht gibt es die Möglichkeit, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden. Ich fange mal mit einer Vorfrage zum vielleicht Angenehmen an: Sagt dir der Poncione d’Alnasca etwas? Ich weiss nur ungefähr, wo und was das ist, aber ich konnte die Reaktion der ortskundigen Kollegen beobachten. Als der Name fiel, ist denen der Unterkiefer entglitten. Vielleicht geht das alles sowieso gar nicht…?«
Sie wollte ihn nicht unter Druck setzen, so schien es.
Carlo spürte, wie neue Spannung in ihm heraufstieg. Das versprach ein Abenteuer.
»Tja«, sagte er mit nur dünn verschleiertem Stolz, »glaub es oder nicht: Da war ich schon drauf. Anderthalbmal.«
»Tatsächlich?«, meinte Dufour beeindruckt. »Einmal hätte mir schon gereicht. Wie kam es denn zu dem halben Mal?«
»Na ja, da war gerade die Jagdsaison ausgebrochen, und es ballerte um mich herum aus allen Rohren. Und dann war ich auch noch in tarngrün unterwegs… Damals bin ich auf halber Höhe umgekehrt. Abe das Jahr drauf war ich dann tatsächlich oben.«
Seine Erinnerungen nahmen Farbe an.
»Mehr als fünfzehnhundert Höhenmeter Aufstieg! Ein bisschen hoch für Bungee, aber sonst ideal dafür, die Flanke stürzt glatt und praktisch senkrecht ab, wie eine Hausfront. Das ist ein Wahnsinnsberg. Und eine knackige Wanderung. Aber, wie gesagt, es ist zu machen. Sogar für einen Amateur wie mich.«
Dufour gab ihrer Bewunderung durch eine Schweigesekunde Ausdruck.
»Na toll«, sagte sie endlich. »Meinst du, du könntest da noch mal rauf? Die Kollegen heute morgen haben alle abgewunken. Es ist eine Leiche geborgen worden, gestern, weiter unten an der Flanke. Die hatte da aber schon eine ganze Weile gelegen; Dr. Ponti kümmert sich drum. Ich glaube zwar nicht, dass da noch irgendwas zu ermitteln sein wird, schon wegen der vergangenen Zeit. Aber wenigstens mal nachsehen müssen wir schon, glaube ich.«
Sie überlegte.
»Es ist nämlich etwas merkwürdig: Weder eine Unfallmeldung noch eine Vermisstenanzeige hat es je gegeben, nicht in den letzten zehn Jahren. Das haben wir inzwischen geprüft. Weder von hier noch aus Italien, Frankreich oder Deutschland ist irgendwas gekommen. Die Sache können wir also nicht sofort zu den Akten legen.«
Carlo hatte schon, während seine Chefin noch sprach, seine Entschlüsse gefasst. Das war ein Auftrag nach seinem Geschmack. Was er sonst zu tun hatte, konnte warten. Ausser vielleicht dem zähen Problemfall war nichts wirklich Dringendes darunter. Allerdings, Gabriella würde er überzeugen müssen. Aber da war er zuversichtlich. Vorerst sah es ja wirklich nach einer ermittlungstechnischen Formalität aus, anstrengend zwar, aber auch rasch erledigt. Und auf keinen Fall alltäglich. Er entzündete sein Cigarillo erneut und sagte zu.
Man plauderte noch ein wenig über das Wetter und mögliche Urlaubsziele. Von Gabriella erzählte er nichts.
»Ellina, Carissima«, sagte Carlo gedehnt, als die Freundin eine Viertelstunde später wieder von der Strasse heraufgestiegen kam, mit einigen Zucchini in der Hand, die ihr die Nachbarin mitgegeben hatte, der sie beim Abnehmen der Wäsche im Garten geholfen hatte. »Du musst jetzt ganz tapfer sein.«
Gabriella kannte ihn inzwischen gut genug, um nicht ernsthaft beunruhigt zu sein. Sie hatte sich ein wenig daran gewöhnt, dass in Carlos Leben immer mal wieder Unvorhergesehenes eintrat. Vor allem wusste sie, er würde ernsthafter klingen, wenn es um tatsächlich dramatische Ankündigungen ginge. So legte sie denn das Gemüse vorsichtig auf den Tisch, setzte sich daneben und sagte, mit einer blossen Andeutung von Lächeln, »Ich höre…«
»Es ist ja nun so, dass die ersten beiden Haxentests zu unserer vollen Zufriedenheit ausgefallen sind. Nicht nur den Gambarogno hast du ohne Wimpernzucken, in guter Form und ebensolcher Zeit, gemeistert, nein, sogar den Tamaro hast du genauso souverän bezwungen; er hatte keine Chance gegen dich. Soweit also tutto bene.«
Carlo holte nach dem Anlauf noch einmal Luft.
»Bevor wir miteinander ein richtig steiles Ding machen, hatte ich eigentlich noch eine mittlere Aufbaustufe im Sinn. Unser nachbarliches Alpettozum Beispiel, mindestens das. Aber nun ist, durch eine Fügung des Schicksals, alles anders gekommen.«
Gabriella, die ihm andächtig gelauscht hatte, deutete mimisch eine Panikreaktion an und klopfte, dadadadum, mit der Hand den Anfang von Beethovens Fünfter.
»Man hat mir eben«, fuhr Carlo fort, »ein Angebot gemacht, das ich unmöglich ablehnen konnte. Ich soll, und zwar in dienstlichem Auftrag, alsbald eine Bergbesteigung vornehmen. Zu welchem Ende, erzähle ich dir gleich. Es ist nur so: Das ist ein ziemlicher Mocken. Wenn wir das morgen machen, überspringen wir auf der oben offenen Messner-Skala mindestens einen Grad, eher zwei oder drei.« Er zögerte. »Ich würde das notfalls auch alleine machen. Aber, das muss ich dir doch nicht erklären, mit dir zusammen würde es…«
»…ungleich amüsanter werden«, unterbrach ihn Gabriella. »Das wolltest du doch gerade sagen, oder? Nun gut, ich bin dabei.« Sie grinste. »Kann dich doch da nicht alleine rauf lassen. Wenn mir aber schwindelig wird? Trägst du mich dann?«, fragte sie mit Kinderstimme.
Carlo versicherte ihr, dass er sie in diesem Falle auf Händen tragen würde. Über ein Kurzes wirst du mich tragen müssen, mein Schatz…, dachte er flüchtig, eingedenk des Altersabstands. Was für ein prachtvolles Mädchen. Er war mit ihr, sich selbst und der Welt zufrieden.
Die spärlichen Hintergründe des Auftrags erzählte er nur in groben Zügen. Absturz über die glatte Steilwand des Poncione d' Alnasca, was für eine Horrorgeschichte allein das. Die Besonder-heiten der Route erwähnte er schon gar nicht. Bevor er selbst sich diesen Berg zutraute, hatten ihn die Warnhinweise seiner Wanderführer lange zögern lassen. Besser keine Details verraten.
Er hoffte auf klare Sicht am Gipfel.
Man nahm ein leichtes Abendbrot und ging früh schlafen. Es würde anstrengend werden morgen. Mindestens das.
Der Mordfall war vorübergehend vergessen.
»Pronto.«
»Rico, hör zu, es ist was passiert!«
»Erzähl.«
»Bei uns ist eine Leiche eingeliefert worden, aber keine gewöhnliche! Eher bloss noch ein Skelett. Ist hier in der Nähe gefunden worden.«
»Aha. Und?«
»Hast du nicht mal erzählt, dass bei deinen Hombres irgendwann einer verschwunden ist? So ungefähr vor zwei Jahren?«
»Hm. Kann mich nur noch ganz dunkel erinnern.«
»Willst du nicht mal nachfragen? Stell dir vor, das ist euer Mann! Ich konnte nur einen flüchtigen Blick drauf werfen, um kein Aufsehen zu erregen. Ungefähr eins sechzig gross, am linken Bein was auffälliges…«
»Na gut, sicher ist sicher. Ich frag mal nach.«
»Gut. Und sag gleich Bescheid, wenn ich was unternehmen soll!«
»Klar. Mach ich. Du hörst von mir.«
Der würzige Duft aus der Küche füllte die ganze zwölfte Etage.
Es gab etwas zu feiern, aber Tony hatte angekündigt, spät aus seinem Büro zu kommen. Da würden sie zum Ausgehen keine Lust mehr haben. Eigentlich konnte sie gar nicht richtig kochen, aber Sobrebarriga aus Rindsfilet mit Arepa, Maisfladen, das hatte sie doch immer halbwegs hingekriegt. Altes Hausrezept ihrer Mutter. Ach, der müsste sie auch mal wieder telefonieren. Hoffentlich würde Tony das Rind schmecken; ihr schien es gelungen.
Jedenfalls, Blumen hatte sie besorgt und einen ordentlichen Cava auch. Obwohl Tony immer sagte, dass ihm das Zeug wie Sprudelwasser schmeckte. Na, es war auch noch ein Aguardiente zur Hand, den hatte sie sich von zu Hause schicken lassen. Sie selbst würde sich an den Cava halten.
Als sie Tony unten seinen Mercedes parken hörte, öffnete sie einladend schon einmal die Wohnungstür und wartete am Fahrstuhl auf ihn, wie immer.
»Siehst ausgelutscht aus, mein Lieber«, sagte sie nach einem prüfenden Blick und küsste ihn.
»Ah, bah«, meinte er wegwerfend und straffte sich. »War mal wieder ein bisschen anstrengend mit Osvaldo. In letzter Zeit macht der mich irgendwie nervös. Und die Herren Chefs sind auch nicht das reinste Vergnügen. Na, gehen wir erstmal rein.«
Sie folgte ihm und schloss die Tür.
»Was ist denn los?«, fragte sie.
»Irgendwas liegt in der Luft, Eni. Weiss bloss noch nicht, was. Ob ich da ewig bleibe? Na, mal sehen…« Er schüttelte den Gedanken ab. »Aber es riecht überwältigend bei dir! Genial!«
»Höchste Zeit, dass wir in ein vernünftiges Land übersiedeln!« Sie schwelgte einen Moment in der Vorstellung. »Nach Hause zum Beispiel. Wo man nie friert und solche Sachen isst. Na, nimm erst mal einen Drink.«
»Besonderer Anlass?«
»Wir haben was zu feiern!«, sagte sie stolz. »Ich hab eine Wohnung verkauft! Da hab ich das zum Anlass genommen und Sobrebarriga gemacht. Und übrigens, noch was Erfreuliches: Demnächst kommen endlich neue Mädchen! Höchste Zeit, die letzten waren quengelig geworden wie ein Sack Vipern. Wirklich nicht mehr zum Aushalten.«
»Prima Idee. Genial.«
Er trank einen Schluck vom Cava.
»Nachher muss ich leider kurz noch mal weg, sorry. Ein Kontakt, der für uns wichtig werden könnte. Bin aber bald wieder da.«
Sie sah ihn scharf an.
»Na, solange du nicht bloss mal Zigaretten holen gehst…«
Tony grinste.
»Wirst schon sehen…«
Der Morgen hatte blasses Blau über die Berge gezaubert. Auch die Wetterprognose in den Radionachrichten klang erfreulich.
Carlo quälte sich aus den Federn des spartanischen Doppelbetts, das fast nur zum Schlafen taugte; ach, sogar dazu nur in Grenzen. War das mit dem Poncione eine gute Idee gewesen? Beim letzten Aufstieg war er besser trainiert gewesen. Gabriella schien guter Dinge, aber die wusste ja auch nicht, was ihr bevorstand.
Na, erst mal einen Kaffee, das hellte die Sicht auf den Tag meist spürbar auf. Sogar, wenn der Tag als Krönung eine Gewalttour bereithielt.
Das Frühstück in der Morgenkühle unten vor dem Gartenfenster fiel üppiger aus als sonst. Aber Carlo drängte früh zum Aufbruch. Mit Zeitreserve fühlte er sich sicherer. Würden sie es überhaupt bis zum Gipfel schaffen? Und dann von diesem steilen Berg wieder herunter, womöglich im Dunklen? Besser beizeiten los.
Auf dem schattigen Parkplatz im Verzascatal standen nur zwei Autos, die Einheimischen gehören mochten. Carlo und Gabriella wanderten auf der Strasse ein paar Schritte zurück und stiegen vorsichtig das Treppchen zur Hängebrücke hinunter. Das Rauschen des Flusses übertönte jedes Wort. Er führte reichlich Wasser, aber an dieser Stelle war sein Bett auch breit genug dafür. Nur die lange, schmale Kettenbrücke schaukelte bedenklich, ohne dass das Gabriella erkennbar aus der Ruhe gebracht hätte. Carlo war wieder einmal erstaunt.
Die Luft atmete sich leicht. Auf der dicht bewaldeten Gegenseite des Tals ging es steil bergauf.
Beinahe hätten sie diesmal den Einstiegspunkt in den Pfad übersehen, nur ein unauffälliges Schild wies den Weg. Anfangs mussten die beiden ihre Wanderstöcke gehörig einsetzen. Der zerklüftete Boden zwischen dunklen Bäumen zwang zu sorgfältiger Schrittwahl. Gut nur, dass man von unten den Gipfel nicht sehen konnte. Der Anblick hätte sonst Grund zu sofortiger Umkehr geliefert.
Zwei Stunden später ging es ein erstes Mal nicht weiter. Sie hatten nur kurze Atempausen eingelegt, aber der Höhenmesser zeigte erst tausendfünfhundert Meter. Carlo schätzte die Strecke, die noch vor ihnen lag, auf weitere achthundert Meter, hütete sich aber, sein Wissen weiterzugeben. Gabriella liess erstaunlich wenig Erschöpfung erkennen, aber wer wusste, wie lange noch. Nach wenigen Minuten stiegen sie weiter, schweigend. Der Atem war kostbar.
Noch einmal zweieinhalb Stunden später, die Baumgrenze war längst überschritten, kam dann doch die Krise.
»So«, seufzte Gabriella und setzte sich auf eine Felskante, ohne dass aus ihrem Tonfall etwas zu schliessen gewesen wäre. »Für mich war das genug. Geh du ruhig weiter. Ich warte hier.«
Carlo überlegte kurz und nickte dann wortlos. Zwar wusste er, dass zwischen ihnen und dem Gipfel keine halbe Stunde mehr liegen konnte. Er wusste aber auch, dass unmittelbar vor diesem ein, wennauch kurzes, Kletterstück zu überwinden war, das beide Hände verlangte. Er würde es bis zum Gipfel schaffen, da war er sicher. Dann allerdings würden auch seine Kräfte zu Ende gehen.
Beim letzten Mal hatte es hier Beeren gegeben. Aber jetzt war erst Frühsommer.
Das Finale dauerte schliesslich nur noch zwanzig Minuten. Die freilich hatten es in sich. Die Kletterstelle immerhin erwies sich als ungefährlicher, als er sie im Gedächtnis gehabt hatte.
Und dann, neben dem riesigen Gipfelkreuz vor der Absturzkante, war er am Ziel.
Welche Enttäuschung. Der überwältigende Ausblick nach Süden, der ihn beim letzten Mal sämtliche Mühen hatte vergessen lassen, er blieb diesmal verwehrt. Alle Hoffnungen, die Wolken, die in den beiden letzten Stunden aufgezogen waren, würden sich rechtzeitig auflösen, wenigstens Richtung Süden, platzten auf einen Schlag. Die Sicht reichte gerade einmal drei Dutzend Meter weit. Dann verschwamm alles in Nebelsuppe.
Gut nur, dass er die Freundin nicht auch noch zu der allerletzten Etappe überredet hatte.
Ein Reinfall.
Carlo schluckte für einen Moment. Dann besann er sich, warum er diese Strapaze überhaupt absolviert hatte. Er grinste.
Sieh an. Dass hinter dem Aufstieg ein ernsthaftes Vorhaben gestanden hatte, nicht nur Abenteuerlust, das wäre ihm doch beinah entfallen. Dieses Vorhaben erwies sich jetzt als Rettungsanker. Er konnte immerhin seinen Auftrag erfüllen und musste nicht mit dem Schicksal hadern. Auf einmal machte alles wieder Sinn.
Gabriella freilich… Die würde er trösten müssen. Viel öde Steigerei für nichts, so musste es für sie aussehen.
Er wagte sich an die scharfe Gipfelkante heran und setzte sich sicherheitshalber auf den Fels. Die vielen Hunderte Meter glatten Absturzes direkt vor ihm übten eine spürbare Sogwirkung aus, der er bewusst widerstehen musste.
Nur ein schwacher Wind wehte. Sonst war es absolut still. Seine Nerven beruhigten sich allmählich.
Ach ja, da unten in der Tiefe, da hing ja tatsächlich etwas an der Wand. Etwas Rotes. Er zog seinen Feldstecher aus der Tasche und peilte das Objekt an. Es mochte beim Fall von einem winzigen Sporn aufgehalten worden sein, ein Stück Stoff von der Länge eines Ärmels. Es wedelte im leichten Luftzug. Ohne genaueres Hinsehen hätte er es sicher übersehen. Von unten wäre es unmöglich auszumachen gewesen.
Carlo hob sich seufzend auf die Beine und trat einige Schritte von der Kante zurück, um sich dem Sog der Tiefe zu entziehen. Er suchte die Umgebung minutiös ab, fand aber nichts, was irgendwie auf einen Absturz hingedeutet hätte. Kein Wunder; dieser musste ja auch vor Monaten, wenn nicht Jahren passiert sein.
Ohne die Fernsicht, die sich diesmal ohnehin verborgen hielt, eines weiteren Blickes zu würdigen, trat Carlo den Rückweg an.
Als er bei ihr ankam, hatte Gabriella es sich auf der Felsplatte halbwegs bequem gemacht,. Ihr Atem hatte sich längst beruhigt.
»Du hast nichts verpasst«, sagte er bedauernd, »auf der Südseite sieht es genauso trübe aus wie hier. Klarer Fall von Schuss in den Ofen. Wenn du hässig bist, hast du mein volles Verständnis.«
Aber die Freundin überraschte ihn ein weiteres Mal.
»Ich traue dir ja allerhand zu, aber ich halte dich nicht für einen Wettergott. Andernfalls, tja, dann müsstest du mir jetzt ein Eis spendieren… Hast du denn wenigstens einen rauchenden Colt gefunden?«
Carlo beugte sich erleichtert zu ihr hinunter und gab ihr einen langen Kuss. Schon wieder, was für ein Schatz. Wenn das so bliebe…
»Auf das Eis komme ich freiwillig zurück, sobald wir unten sind. Nein, kein Colt, aber immerhin etwas, mehr als gar nichts.« Er erzählte ihr von dem ominösen roten Ärmel.
Das Picknick aus Brot, würzigem Bergkäse und Coppa, das Carlo aus dem Rucksack zog, schmeckte ihnen wie nie zuvor.
Auch beim langen, kräftezehrenden Abstieg mussten sie ihre Wanderstöcke beständig einsetzen. So zitterten ihnen die Knie noch, als sie Stunden später die schwankende Flussbrücke erneut überschritten. Mittlerweile hatte sich schüchtern eine milchige Sonne vorgewagt.
Den Apfelmost, den Carlo in Frostmanschetten gelagert hatte, fanden sie immerhin noch kühl vor. Sie stürzten jeder einen halben Liter herunter. Wie Carlo zum ersten Mal bemerkte, hatte Gabriella die seltene Gabe, den Most ohne Schluckbewegungen in sich hineinlaufen zu lassen. Es war nicht der Moment, solchen Beobachtungen nachzugehen. Schon das Stehen kostete Kraft.
Aber sein Termin bei Dr. Zuber fiel ihm ein. In der Vorwoche war er in die Centovalli gefahren, um endlich die internistische Pflichtuntersuchung zu erledigen, die alle drei Jahre dienstlich fällig war, mittlerweile längst überfällig. Die Besprechung der Ergebnisse stand noch aus. Na, der heutige Gipfelsturm hatte eigentlich gezeigt, dass er in Form war. Prinzipiell.
Im Alpino in Sonogno, am oberen Talende, wo sie eine ländliche Colazione zu sich nehmen wollten, gab es gerade kein Eis, das sie gereizt hätte. Aber die Formaggini waren so vorzüglich, dass beide eine zweite Portion assen.
Carlo hatte seinen alten Volvo gemächlich talabwärts rollen lassen. Einige Kilometer weiter unten, in Lavertezzo, hielt er dicht neben dem Fluss. Der Parkplatz dort war mittlerweile halbleer.
Gabriella sah ihn fragend an. Die vorbeigleitende Landschaft, wie zusammengedrängt zwischen imposanten Berggipfeln, und die leise Musik aus der Stereoanlage hatten sie nach der enormen Strapaze des Aufstiegs in angenehm träge Stimmung gelullt.
»Komm, wo wir schon mal hier sind«, sagte Carlo aufmunternd. »Musst nur ein paar Schritte laufen. Oder ich trag dich. Wenn du deiner Mutter erzählst, du warst im Verzascatal und bist nicht mal ausgestiegen, an dieser Stelle… Sie würde dich zur Adoption freigeben!«
„Grummel, Groll, Seich«, murmelte Gabriella schläfrig. »Mussndassein?« Aber sie quälte sich ergeben aus ihrem Sitz und streckte demonstrativ touristisch eine Hand als Blendschutz über die Augen.
»Ponte Romano. Die Römerbrücke.Die Attraktion des Tals, Abbildung in jedem Reiseführer«, erklärte Carlo. »Muss man gesehen haben. Auch wenn sie aus dem siebzehnten Jahrhundert stammt. Da waren die Römer schon längst wieder in Rom. Wo sie bekanntlich hergekommen waren.«
Sie traten einige Schritte näher.
Die schön geschwungene, schmale Brücke mit ihren drei Stützposten, immer noch von filmenden Touristen bevölkert, zog tatsächlich den Blick auf sich. Gabriellas Aufmerksamkeit fiel aber sofort auf etwas ganz anderes. Unten am Rand des dort ziemlich schmalen Flusses watschelten drei Menschen in schwarzen Taucheranzügen und Schwimmflossen, mit Druckluftgeräten auf dem Rücken, über die imposanten Felsen und sprangen schliesslich ungelenk ins Wasser.
Gabriella schüttelte den Kopf.
»Sag mal, was machen die denn da? Gibts da was umsonst?«
„Tja, das hab ich mich auch oft gefragt«, lachte Carlo. »Nee, das Wasser ist hier gerade mal ein paar Meter tief, unten kommt Sandboden. Um die paar Forellen, die hier noch überlebt haben, kanns eigentlich auch nicht gehen. Zu sehen gibt es die riesigen Felsbrocken in dem wunderbar grünen Wasser. Aber die sehen wir von hier aus ja auch.«
»Komisch«, sagte Gabriella ratlos. »Vielleicht werden hier ja Froschmänner trainiert? Oder Schmuggler?«
»Auf Schmuggeln wäre ich nicht gekommen. Aber nichts ist unmöglich!«, grinste Carlo. »Übrigens, da drüben haben die sogar ein Clubhaus. Vielleicht eine Schmugglerhöhle? Komischer Sport.Also, das wars. Jetzt kannst du endlich allen deinen Freunden erzählen, du hast die Welt gesehen.«
Gabriella blieb noch stehen und liess den Blick über das Flussufer wandern. Die kleine Abwechslung hatte sie aus ihrer Lethargie geholt.
»Letzte Woche hatte ich eine Anfrage für eine Modestrecke«, sagte sie nachdenklich. »Die hätte ich schön da unten fotografieren können. Aber ich wollte ja partout nach Amerika, da musste ich das absagen. Selbst schuld. Schade.« Sie schüttelte den Kopf und drehte sich um.
Klingt nach Aufhören, wenns am schönsten ist, dachte Carlo. Und, dass er das schon lange nicht mehr getan hatte.
Sie tranken noch einmal vom Suuremoscht aus den Kühlmänteln. Dann fuhren sie heim, erschöpft, aber zufrieden.
An das rote Tuch dachte keiner mehr.
Aus den Tiefen des lombardischen Südens hörte man das leise Grummeln eines aufziehenden Gewitters.
»Lena? Bist du allein?«
»Ja, ich sitz am Tresen, Rodolfo bringt grad den Müll raus. Momentan ist nichts los. Aber mach schnell, es kann jeden Augenblick jemand vorbeikommen!«
»Okay, dann in aller Eile. Ich hab das durchgegeben mit der Leiche bei euch. Du hattest recht, die muss schnellstens aus dem Verkehr gezogen werden, unbedingt! Gut, hast du aufgepasst. Es kommt jemand und kümmert sich drum. Der holt vorher den Schlüssel bei dir ab.«
»Ja, gut! Wann kommt der?«
»Morgen abend. Die Aktion dann am Wochenende.«
»Knapp! Müsste aber reichen. Das Gerippe ist nicht vor Montag dran, ich hab nachgesehen.«
»Bestens. Tüchtiges Mädchen.«
»Kommst du am Wochenende?«
»Kaum. Ich hab jede Menge zu tun. Sonst ruf ich nochmal an.«
Der Morgen erwachte spät. Das Wetter, grau und windig, empfahl barsch, gleich weiterzuschlafen. Alle Glieder schmerzten wie nach einem Marathonlauf. Nicht zum ersten Mal überlegte Carlo, ob er das wildromantische, aber kurze Bettgestell aus Schmiedeeisen, das Freund Urs von seinen Eltern geerbt und seiner Schönheit wegen übernommen hatte, endlich gegen etwas Kommoderes austauschen sollte. Aber um nicht unnötig unter Zugzwang zu geraten, legte er den Gedanken gleich auf Wiedervorlage. Soweit er sich erinnerte, war Gabriella mit der Bettgrösse zufrieden.
Carlo kroch in Zeitlupentempo aus dem Lager und warf unten in der Küche die Espressomaschine an. Er sah kaum aus dem Fenster. Es kohnte nicht.
Als er, zwei Tassen und die Kanne auf einem kleinen Tablett balancierend, nach oben zurückgeächzt kam, hatte Gabriella die Augen geöffnet und sich im Bett aufgesetzt. Sie schenkte ihm ein dankbares Lächeln, nachdem sie sich in alle Richtungen gestreckt hatte. Er setzte sich zu ihr.
»Musst nachher auch mal auf die Waage steigen«, empfahl er. »Ich hab gestern zwei Kilo abgenommen. Bei dir fänd ich das allerdings völlig überflüssig… Gönnen wir uns nach dem Gewaltakt ein ordentliches Frühstück. Gut, hats Croissants im Haus. Und noch etliches mehr.« Er füllte die Kaffeetassen.
»Ich hätte ja richtig Lust auf dich«, gestand sie ihm. »Aber erstmal muss ich diesen Muskelkater loswerden. Bin ja keine Masochistin. Gerade auf diesem Bett, so verlockend es aussieht, brauchts intakte Gelenke. Vorfreude ist auch was Schönes…«
Carlo grinste verständnisinnig. Auch er war hin- und hergerissen gewesen. Im Übrigen hatte sich jetzt ein weiterer Grund gemeldet, das Thema Bett nicht auf die lange Bank zu schieben. Er machte eine mentale Notiz.
Nach dem ausgedehnten Frühstück im kühlen Erdgeschoss und den üblichen Morgenritualen erinnerte sich Carlo rechtzeitig an den Arbeitsauftrag vom Vortag. Sie hatten die Strapaze ja nicht zum Vergnügen absolviert, wie ihm zum zweiten Mal einfiel.
Er wählte die Nummer von Francesca Ponti, seiner bevorzugten Amtsärztin. Ein Glück, dass sie und niemand anders den Fall der Leiche vom Berg übernommen hatte. Nicht nur war sie beinahe eine Freundin, er hielt sie auch für die fachlich Versierteste unter ihren Kollegen.
»Ciao, Carlo«, rief Francesca erfreut. »Wie schön, dass du anrufst! Sag mal, könntest du gleich herkommen? Da hast du mal wieder einen speziellen Fall erwischt! Ich stehe gerade in der Forensik. Wenn ich den Sektionstisch frei hätte, wärs mir lieb, wir sind grad ein bisschen beengt. Und ab morgen bin ich ein, zwei Wochen in den Ferien.« Sie stoppte. »Ach, da fällt mir ein, du bist das ja auch gerade, stimmts?«
Carlo wog rasch ab. In der Tat, er war in den Ferien, nicht im Dienst. Und, vor allem, er war nicht allein. Aber andererseits, neugierig war er auch. Na, es würde ihm schon etwas einfallen. Er sagte zu.
Schon wieder Glück, sie hatten für diesen Freitag noch keine festen Pläne. Das machte es einfacher. Er humpelte hinaus zu Gabriella, die vor der Haustür auf dem Boden sass und mit der Katze spielte. Sie sah zu ihm auf.
»Liebes«, sagte Carlo gewinnend, »wir wollten ja Baden gehen, oder, aber es ist eh besser, wir warten damit bis Nachmittag; noch ist es ein bisschen frisch, findest du nicht? Da könnten wir vorher einen Schlenker über Bellinzona machen, das wollte ich dir doch immer schon zeigen, du weisst, die drei Castelli…«
»Mittlerweile kenne ich dich ja doch schon es bitzeli«, unterbrach ihn die Freundin. »Welcher Zufall, dass in Nähe der Castelli auch dein Hauptquartier liegt. Du willst nicht, rein zufällig natürlich, bei deiner Zentrale vorbeischauen?« Aber sie lächelte.
Carlo setzte sich erleichtert neben sie auf den Boden und umarmte sie. Welch ein Glück. Würde das so bleiben? So friedlich war sie nicht immer gewesen; noch im Vorjahr…
Die Katze blickte missbilligend. Er nahm sich vor, ihr eine halbe Dose Thunfisch zu spendieren.
»Ich hoffe, du hast gute Nerven«, sagte Francesca Ponti warnend, als sie ihn beim Empfang abholte, wo er mit der Institutssekre-tärin geplaudert hatte. »Sowas sieht man nicht alle Tage.«
Auf dem Gang zum Sektionssaal im hinteren Teil des flachen Gebäudes schwiegen beide. Carlo fiel auf, dass Francescas weisser Kittel ein wenig tailliert war, was ihre Figur vorteilhaft betonte. Aber er verzichtete darauf, das zu erwähnen. Er war ja nicht zum Vergnügen gekommen. Und Francesca klang eher, als ob ihm etwas bevorstünde.
Der schmale Saal war stark herabgekühlt und wurde von zahlreichen Neonlampen taghell ausgeleuchtet. Trotz der Kühlung roch es unverkennbar nach Desinfektionsmitteln.
Tatsächlich waren alle drei Tische belegt. Carlo spürte eine Andeutung von Magendruck.
Die Ärztin ging an den linken Tisch und hob vorsichtig das Laken, das darübergebreitet war.
Auf der Platte lag ein Objekt, wie man es in archäologischen Ausgrabungsstätten erwartet hätte. Nur die zahlreichen Drahtverbindungen liessen erraten, dass das Gerippe wie die Teile eines Puzzles zusammengesetzt worden war. Der Schädel zeigte Risse.
Carlo hatte sich auf Schrecklicheres vorbereitet. Er atmete einmal durch. »Das hast du aber liebevoll zusammengeflickt«, sagte er erleichtert. »Kompliment!«
»Na ja, das menschliche Skelett besteht bloss aus zweihundertsechs Knochen«, sagte Francesca sachlich. »Ganz so viele Teile waren es hier nicht, weil der Aufprall auf eine schiefe Ebene stattgefunden hat. Der Körper ist sebenhundert Meter gefallen und dann noch ein längeres Stück abwärts gerutscht, bis er dann von einem Bäumchen endgültig gestoppt worden ist. So haben es jedenfalls die REGA-Leute erzählt, die sich am Hang vom Heli abgeseilt haben. Die mussten schon einiges zusammenklauben, und beim Einladen und Transport wird dann noch mehr zu Bruch gegangen sein. Vorher hatten sich die Raubvögel und wer weiss noch dran bedient. Die linke Hand und der rechte Fuss fehlen ganz.«
»Ja, nochmals, Kompliment«, sagte Carlo. Er hätte die Sache gerne abgekürzt. »Du hast nicht zufällig ein Passaporto sichern können? Oder ein amtliches Führungszeugnis?«
»So leicht kann ich es dir leider nicht machen«, lächelte Francesca. »Es ist auch von der Kleidung kaum noch etwas dagewesen. Die war aus Baumwolle, davon sind nur einzelne rote Fetzen übriggeblieben. Jedenfalls kein Kletterer-Habit. Ich schätze, dass die Leiche mindestens ein, höchstens zweieinhalb Jahre gelegen hat. Obwohl ich nicht mal das ganz sicher sagen kann; sonniger Fundort am Berg in dieser Höhe, da gibt es kaum Erfahrungswerte. Immerhin, ein Schuh war ja noch da, und ein Etikett von einem Hemd, das war aus Kunststoff. Beides italienische Marken, aber das wird dir nicht weiterhelfen. Na, vielleicht doch: Bally-Schuhe und Versace-Hose, es war also wohl kein Sozialhilfeempfänger.«
Carlo erzählte von dem roten Ärmel an der Absturzwand, der zu den übrigen Resten zu pasen schien, und Francesca nickte.
Sie überlegte einen Moment.
»Ach, überhaupt, das hab ich ja noch gar nicht gesagt: Ein Mann war es, circa einsfünfundsechzig gross. Also wahrscheinlich kein Schwede, aber wer weiss. Ganz grob würde ich den auf Mitte fünfzig schätzen, aber das ist ganz, ganz unsicher.«
»Sonstige Besonderheiten?«
»Ja, hätte ich doch beinahe vergessen.« Sie leerte den Rest ihres Gedächtnisspeichers. »Ein neuerer Goldzahn, was auch gegen Schwede spricht, Gold wird da nämlich schon seit Jahren kaum noch verwendet. Ist dagegen im Süden immer noch ziemlich beliebt. Italienische Erfindung übrigens, wusstest du das? Na, ist schon ewig her… Und eine ältere Fraktur am linken Schienbein, gut verheilt, wahrscheinlich Sportverletzung oder so was. Damit könnte man schon einiges eingrenzen…«
»Nämlich?«, fragte Carlo, noch mit dem Speichern der vielen Informationen beschäftigt.
»Na, ich vermute doch, du willst schon genauer wissen, wer das war, oder? Ein Unfall war das ja wohl nicht?«
Was für eine Frage.
»Kaum, ein Unfall wäre irgendwann gemeldet worden. Jedenfalls, wenn es ein Schweizer war.« Seine Neugier stieg. »Kannst du eine DNS-Analyse in Auftrag geben?«
»Natürlich, ich schick die Probe so bald wie möglich weg.« Sie schaute auf ihre Uhr. »Das ist ja glücklicherweise keine grosse Affäre mehr, heutzutage. Dauert etwa eine Woche, bis das aus Bern zurück ist. Und dann noch ein, zwei Tage bei INTERPOL, bis ihr wisst, ob das vielleicht ein alter Bekannter war.«
Sie deckte das Skelett rasch wieder zu. Ihr war klargeworden, dass sie noch lange nicht Feierabend haben würde.
Carlo war froh, die medizinische Grotte wieder verlassen zu können. Er dankte, verabschiedete sich — Baci links, rechts, links — und suchte erleichtert das Weite.
Draussen war das Wetter freundlicher geworden. Im Auto auf dem Parkplatz hatte Gabriella ihr Tablet herausgekramt und sah sich eine Nachrichtensendung vom Morgen an.
»Na, wars schrecklich?«, fragte sie mitfühlend, als sie den Kopfhörer abgesetzt hatte.
»Wenn das eine frische Leiche gewesen wäre, wärs wahrscheinlich ziemlich gruusig gewesen«, meinte Carlo schaudernd. »Stell dir vor, Absturz auf harten Grund aus siebenhundert Meter Höhe, viel höher als das World Trade Center, praktisch freier Fall…! Kein schöner Tod. Aber so lag da halt ein Gerippe, das man liebevoll wieder zusammengesetzt hatte, so ähnlich wie ein Lego-Modell. Muss schon ein, zwei Jahre gelegen haben, sagt sie, und die Wildtiere hatten sich ausgiebig dran bedient.« Er schüttelte sich. »Na komm, wechseln wir das Thema…«
»Ja, neues Thema«, sagte Gabriella gedehnt. Sie zeigte auf den Schlüsselanhänger, den Carlo am Zündschloss hatte hängen lassen. »Ich habe inzwischen auch recherchiert. Und daraufhin einen Verdacht. Gib zu, du hattest mal was mit Jane Fonda.«
Carlo stutzte. Dann lachte er.
»Das Ding hab ich von miim Bapi geerbt. Der hiess Jakob. Darum JF. Aber es ist wirklich niedlich, oder? Ein Christophorus, den man als solchen erkennen kann, und das in dieser winzigen Grösse!«
»Und wer war GA?« Gabriella drehte den Anhänger um.
»Ach schau, das ist mir ja noch nie aufgefallen, dass der sich da selbst verewigt hat, der Künstler. Das steht für Giovanni Antinori, oder so ähnlich.« Er wollte das Thema jetzt wirklich wechseln. »Na, lass uns erst mal hier weg. Mir hängt noch der Formaldehyd in der Nase.«
Er startete eilig den Volvo und fuhr los.
»Und jetzt noch das Buch zum Film.« Sie konnte hartnäckig sein, das wurde ihm gerade klar. »Antinori kenne ich nur als Weingut…«
»Na, wahrscheinlich hiess der nur so ähnlich. Das war mal der Garagist von meinem Vater, damals in Basel. Hat ihm oft das Auto geflickt, und mir mein Velo, als ich das noch nicht selber konnte. Sehr netter Kerl, der Gianni.«
Sollte er den Rest auch noch erzählen?
»Leider kam der dann auf die sogenannte schiefe Bahn. Und ist abgerutscht. Bei den ersten ein, zwei Malen konnte der Köbi noch was für ihn tun, gutes Wort einlegen oder so. Später gings dann nicht mehr. Schade um den. Möchte wissen, was aus ihm geworden ist…«
Er sollte es bald erfahren.
»Tipografia Ronco«, meldete sich Remigio Furrer, der in der kleinen Druckerei das Mädchen für alles darstellte.
»Salut, Remi, isch der Marco da?«
»Ja, freilich, Bernhard! Ich hol ihn.«
Eine Bürotür öffnete sich und gab den Lärm einer Druckmaschine frei, dann fiel sie zu. Die Geräuschabfolge wiederholte sich.
»Jo, Bernardo, was giits? Wir ham ausnahmsweise zu tun…«
»Gut für euch! Da kommt ihr nicht auf dumme Gedanken… Also: Morgen Abend, acht Kilo, mal wieder! Wie gehabt.«
»Alles klar, Bernardo! Du hasch noch gnug?«