Tessiner Feuerprobe - Andrea Mattiotti - E-Book

Tessiner Feuerprobe E-Book

Andrea Mattiotti

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Beschreibung

Für Tessiner Feuerprobe (Lago Maggiore Krimi No 3) schlüpft Carlo Flury in die Rolle eines Privatdetektivs, um die Enkelin eines Waffenhändlers aus der Gewalt lateinamerikanischer Entführer zu befreien. Dabei riskiert er nicht nur den Bruch mit seiner Freundin. Am Ende steht immerhin eine unerwartete Belohnung... Wenn Sie Guido Brunetti in Venedig oder Salvo Montalbano in Sizilien mögen, wird Ihnen auch Carlo Flury gefallen (ohne dass KI am Werk gewesen wäre...). Andrea Mattiottis Lago Maggiore Krimis um Carlo Flury: Genügend Lesestoff für einen ganzen Urlaub.

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Seitenzahl: 213

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Text + Umschlaggestaltung © Copyright by Andrea Mattiotti

Verlag:Andrea Mattiotti ::: Klevendeicher Ch. 7 ::: [email protected]

Herstellung: epubli - ein Service der neopubli GmbH, Köpenicker Straße 154a, 10997 BerlinKontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected]

TESSINER FEUERPROBE

ANDREA MATTIOTTI

LAGO MAGGIORE KRIMI No. 3

1

Als sie aufwachte, hatte sie einige Mühe, sich zu erinnern, was geschehen war. Wo war denn Luca geblieben? Der war doch gerade noch da gewesen. Oder? Ach ja, der hatte sich ja schon vrher mit Dennis verdrückt. Als sie mit dem fremden Mädchen gesprochen hatte. Und dann……da waren doch plötzlich zwei Kerle neben ihr aufgetaucht und hatten sie festgehalten…

Aber da versank ihre Erinnerung bereits in Nebel. Als sie sich auf der Matratze umdrehen wollte, auf der sie lag, bemerkte sie, dass sie mit Fussschellen gefesselt war.

Sie sah sich in dem dunklen Raum um, in den nur durch den Türrahmen ein wenig Licht fiel. Es war kalt und feucht und roch modrig.

»Hallo?« rief sie, aber es kam nirgendwo eine Reaktion. Nur der Wind pfiff hörbar um das Haus, von dem sie nicht einmal ahnte, wo es stand. Mulmig war ihr schon vorher gewesen. Jetzt stieg Panik in ihr auf.

2

»Komm, den noch! Einer passt noch rein!«, rief Gabriella strahlend und sprang auf Carlo zu, einen ausnehmend grossen Pilz in der rechten.

»Sweetheart, geliebte Pilzfee, das ist ein schöner, keine Frage«, sagte Carlo tröstend. »Leider bloss ein Hallimasch. Ein Lamellenpilz. Essbar, aber kein Grund, auch den zweiten Beutel zu überfüllen. Hier, schau, Lamellen drunter, keine Röhren. Bei Champignons würde ich eine Ausnahme machen, bloss, die gibt es hier kaum…«

Gabriella neigte glücklicherweise nicht zur Rechthaberei. So zog sie nur ein Gesicht und verscharrte ihre Beute widerwillig im offenen Boden.

»Aber dann ist jetzt auch wirklich Picknick-Zeit«, grummelte sie, als wäre nicht sie es gewesen, die nach immer noch einem Fund gegiert hatte, wenn Carlo das Thema Pause anschnitt. Der nutzte jetzt die Chance und packte erleichtert die Brottasche aus. Augenblicklich merkten beide, wie hungrig sie waren.

Warum er zum Pilzesammeln sein Handy mitgenommen hatte, hätte Carlo Flury selbst nicht ohne weiteres sagen können. War der Empfang schon in bewohnten Gegenden um den Lago Maggiore unzuverlässig, so konnte man hier oben auf dem Bergim Gambarogno-Gebiet erst recht keinen brauchbaren Empfang erwarten. Eigentlich gar keinen. Umso überraschter war Carlo, als er das Brummen in seiner Hosentasche bemerkte. An der Nummer des Anrufers las er ab, dass es sich um Freund Max handeln musste, aber als er tatsächlich auf den richtigen Knopf gedrückt hatte, was ihm nicht immer gleich gelang, hörte er nur ein Rauschen, wie es die transatlantischen Telefonverbindungen der dreissiger Jahre begleitet haben mochte. Ansonsten nur Schweigen. Nun gut, es würde schon nichts Dringliches anliegen. Bald würden sie ja zurück in der Zivilisation sein. Bei Gabriella in Locarno oder bei ihm in Caviano, an der Landesgrenze zu Italien.

Es war ein Sonntagnachmittag im September, und es war wieder warm geworden. An den Vortagen waren einige Tropfen Regen gefallen. Eine Kombination, die Carlo magisch nach draussen zog, denn um diese Jahreszeit verhiess sie Pilze. Und eine Wanderung, die nicht nur das Auge erfreute und den Kreislauf in Schwung brachte, sondern sogar Beute versprach.

Gabriella hatte er nicht lange überreden müssen. Sie war nach den ersten Bergwanderungen, auf die er sie mitgenommen hatte, schnell angefixt gewesen, wie man das in Carlos Jugend nannte. Jung war sie sowieso, aber ihre langen, schlanken Beine hatten sich auch als unerwartet steigfähig erwiesen.

»Wollen wir nicht einfach ´s Velo nehmen bis Orgnana?«, hatte sie gefragt. »So weit kann das doch nicht sein.« Aber Carlo hatte sie an eine Gewalttour erinnert, die er mit ihr schon einmal unternommen hatte. Und an sein fortgeschrittenes Alter. Immerhin schon Mitte vierzig.

So war man bis zur Abzweigung in Magadino mit Carlos altem Volvo gefahren und hatte auch die steile Auffahrt bis zum Ende der Bergstrasse nicht zu Fuss bewältigt.

Der Aufstieg zum Poncino della Croce hätte weitere tausend Höhenmeter gekostet. Carlo war nicht böse gewesen, als ihnen schon auf halber Strecke ganze Familien schöner Maronen und Steinpilze ins Auge sprangen. Das erlaubte Maximum, grosszügig geschätzt, war rasch in die Beutel gewandert. Carlo war zufrieden. Müde war er schon vorher gewesen.

Danach war die Luft raus. Beide wussten, dass das Putzen der Beute den Abend füllen würde. So sassen sie jetzt auf einem umgestürzten Baumstamm und genossen ihr bescheidenes Picknick aus Brot, Salami und einem leichten Roten, das Carlo aus seinem Rucksack gezogen hatte. Auf der Wiese um sie herum zirpten monoton unzählige Grillen, was zu einem einheitlichen, luftfüllenden Brummen verschmolz. Es war heiss. Der Spätsommer umgab sie mit den intensiven Aromen der Wildkräuter.

»Der September oder Oktober, das sind im Tessin die regenreichsten Monate, habe ich mal gelesen. Bis jetzt haben wir offenbar Glück gehabt. Wie mag das auf Sizilien sein?«, fragte Carlo.

»Ich habe keinen Schimmer«.

»Na, bald wissen wirs genau. Der Sommer sollte sich da jedenfalls hartnäckiger halten als hier.«

»Ob es auf Levanzo auch Pilze gibt?«, fragte Gabriella versonnen.

»Keine Ahnung«, brummte Carlo. »Das müsstest doch eigentlich du wissen. Es würde mich allerdings wundern. Dürfte zu trocken sein da unten. Montalbano jedenfalls hat sich nie beim Pilzesuchen erwischen lassen.«

»Na ja, das war ja auch sizilianisches Festland. Ausserdem hätte der bestimmt dafür gesorgt, dass niemand ihn beobachten kann. Livia ist bestimmt nie in die Pilze gegangen. Camilleri schon gar nicht.«

»Stimmt. Der ist ja Literat und war es sein ganzes Leben lang. Da geht man nicht ohne Not vor die Tür. Warum fragst du nicht deine Mutter?«

»Das ist überhaupt eine Idee. Die muss ich sowieso nochmal anrufen, bevor wir losfahren. Aber wenn, dann hat sie die Pilze höchstens gebraten. Eine richtige Waldläuferin war sie nämlich auch nie. Ich könnte Papa fragen, der hat da unten sicher nicht nur gebadet.«

»Wolltest du nicht auch deine Freunde anrufen?«

»Stimmt, muss ich noch machen. Aber Annika will nur schwimmen und Beat seine Ruhe. Für die kommen Pilze aus der Blechose, genau wie der Strom aus der Steckdose. Die brauche ich mit dem Thema gar nicht zu langweilen.«

Gabriella schwieg eine Weile. »Jedenfalls freu ich mich einen Schranz auf da unten. Du dich auch?«

Carlo widerstand der Versuchung, aus reiner Höflichkeit Begeisterung vorzutäuschen.

»Na ja, in erster Linie freue ich mich auf Urlaub mit dir«, sagte er diplomatisch. »In zweiter auf Urlaub schlechthin, ich hab ihn nötig. Die Insel kenne ich ja noch nicht. Wie sind denn Imhofs eigentlich darauf verfallen?«

»Meine Eltern sind da mal vor Jahrzehnten mehr zufällig gelandet, da gab es erst eine einzige Pension. Und ebenfalls per Zufall war da unten gerade jemand gestorben. Die Erben seines Hauses waren heilfroh, dass gleich ein Kaufinteressent zur Stelle war. Sonst hätten die sich wahrscheinlich ewig bekriegt. Damals war das wohl so billig, dass Papa sofort zugeschlagen hat. Und anschliessend haben sie wahrscheinlich Jahr für Jahr ein bisschen Geld abgezweigt und in die Hütte gesteckt. Es ist nicht luxuriös, aber kommode. Meerblick! Du könntest angeln, wenn uns nichts Besseres einfällt. Und uralte Ausgrabungen soll es auch geben, in der Nähe. Dafür hab ich mich ehrlich gesagt nie richtig begeistern können…«

»Na, ich seh schon, langweilen werden wir uns nicht«, meinte Carlo beruhigt. Reines Nichtstun, das reichte ihm höchstens für zwei Tage. So weit kannte er sich.

Beide hatten sich im dichten, warmen Gras neben dem Baumstamm ausgestreckt. Der Wein nach dem Aufstieg und der Pilzernte tat das seine, um Ruhe einkehren zu lassen. Carlo genoss die Harmonie aus den Aromen des Südens und dem schweren Brummen der Insekten. Dazu die Wärme, die wegen der leichten Brise nicht zu intensiv wurde. Und die Liebste lag direkt neben ihm. Er dachte, dass diese Kombination seiner Vorstellung von Glück ziemlich nahe kam.

Nach einer Weile sagte Gabriella schläfrig: »Wenn ich einen Wunsch frei hätte…«

»Na sag schon. Natürlich nur jugendfreie Wünsche hier draussen! Also: Wenn du einen Wunsch frei hättest…?«

»Dann könnte Giulia ruhig noch ein Weilchen länger als geplant in Paris bleiben…«

Carlo seufzte. »Geht mir auch so. Früher soll das Wünschen ja geholfen haben. Wenn du in Giulias Wohnung nicht bleiben kannst, müssen wir nämlich demnächst anfangen, dir eine neue zu suchen. Ende nächsten Monats sollten wir uns als Stichtag setzen. Wenn bis dahin nichts Neues in Sicht ist…«

Gabriella sagte nichts, obwohl sie derselben Meinung war.

Sie hatte die Mittagsruhe gestört, das war ihr klar. Na gut, man konnte sowieso nicht ewig in der Sonne liegenbleiben. Die beiden begaben sich halb widerwillig in aufrechte Position.

»Na, wie gesagt, ich freu mich wie verrückt auf die Insel. Weiss gar nicht mehr, wann ich zuletzt da war. Es wird dir gefallen.«

Carlo lächelte unverbindlich. Richtig sicher war er sich da nicht. Im Grunde fühlte er sich in seinem Tessin, seit nunmehr einigen Jahren, wohler als irgendwo sonst auf der Welt. Soweit er die Welt kannte. Sizilien kannte er nicht, Levanzo schon gar nicht. Aber es würde gut sein, einmal richtig raus zu kommen aus den gewohnten Bahnen und Routinen. Urlaubsreif war er, da gab es keinen Zweifel.

Ach, da war ja noch der Fall Farinelli… Der ging ihm eh durch den Kopf. Ein Mordfall. Freilich, da war mit neuen Erkenntnissen oder gar Ereignissen nicht zu rechnen. Nicht in den nächsten drei, vier Wochen. Oder? Richtig sagen konnte man das nie.

Unten in Orgnana kam nach dem langen Abstieg noch einmal Durst auf. Sie gingen mit zittrigen Knieen hinüber zum Ristorante alla Rocca, wo die wenigen Tische vor der schon ewig verwaisten Bocciabahn mit Dörflern gut gefüllt waren. Deren Wortführer kam mit gelöster Zunge vom Nebentisch und bot an, die Pilzbeute zu begutachten. Carlo grinste zufrieden, als er alle für buoni befand, auch wenn er da selbst keine Zweifel gehegt hatte. Beim Pilzesuchen hatte er hier zwar Touristen und Grenzgänger aus Italien, aber noch nie einheimische Sammler getroffen. Dennoch erkundigte sich einer: »Wo habt ihr die gefunden?« Wurde jedoch vom Capo zurechtgewiesen: »Das fragt man nicht!« Allgemeines Gelächter folgte. Carlo und Gabriella tranken gelassen ein zweites Bier und brachen auf.

Bevor sie losfuhren, die Pilzbeutel hingen schon im Auto an einem Haken, fiel Carlo der Anruf von Max wieder ein. Der Hitze wegen liess er die Wagentür offen. Wochen später würde er sich erinnern, dass in diesem Moment ein friedlicher Abschnitt seines Lebens geendet hatte.

3

Ungefähr zur selben Zeit, keine zehn Kilometer weiter westlich, sass der Waffenhändler Kurt Hunziker in seinem altertümlichen Sessel und war verzweifelt. Wenige Stunden zuvor war er von seinem Laden in Ascona nach Hause gekommen. Auf den Abend allein mit seiner einzigen Enkelin hatte er sich gefreut. Auch wenn sie ihm, dem alten Mann, wahrscheinlich nur in gröbsten Zügen von ihren Abenteuern auf dem Kastanienfest in Mendrisio erzählen würde. Von einer Sechzehnjährigen durfte man da keine ausufernden Details erwarten, so viel hatte Hunziker inzwischen gelernt. Na immerhin, Vanessa schien freiwillig zu ihm zu kommen, vielleicht sogar ganz gerne. Bei ihrer Mutter war das anders, da ging es schon lange mehr um Höflichkeit. Die Höflichkeit wahrte sie wohl schon, um Vanessa gelegentlich beim Nonno unterbringen zu können, wenn sie und ihr Mann beruflich auf Reisen wollten. Wie vorgestern, auf eine Lehrerfortbildung in Engelberg.

Aber nun war alles anders gekommen.

Als er nach Hause kam, hatte er sich schon ein wenig gewundert, dass das Mädchen noch nicht zurück war, eigentlich hatte sie um diese Zeit eine Fernsehsendung ansehen wollen. Er, Hunziker, hatte schon einmal den Tisch gedeckt, denn Vanessa kam normalerweise mit dem gesunden Appetit ihres Alters nach Hause. Gerade war er fertig gewesen, als der Anruf einging.

Ein ganz grober Klotz war dran gewesen, der ohne Vorwarnung Italienisch sprach, und was für eins! Schnell und laut, und obendrein technisch verzerrt, kaum zu verstehen. Aber worum es gehen sollte, war rasch klar geworden. Man habe Vanessa entführt, darum ging es. Und um fünfhundert Sturmgewehre. Kalaschnikows, neuere Bauart. Die sollten geliefert werden, subito, und an wen, das konnte er, Hunziker, sich ohne weiteres ausrechnen.

Er musste nicht lange überlegen, um sich zu erinnern, dass er seit einigen Jahren von eher ungewöhnlichen Kunden belagert wurde. Politische Rebellen aus Lateinamerika, die ihm gar nicht geheuer waren, hatten schon einmal zwei Dutzend Handfeuerwaffen bei ihm gekauft. Vielmehr, er hatte erst nachträglich erfahren, wen er da beliefert hatte, über einen Mittelsmann, der ihm vage bekannt gewesen war.

Jetzt war, seit gut vier Jahren, der ganze Markt in Aufruhr geraten. Der grösste und skrupelloseste aller Händler weltweit, der Rebellen genauso beliefert hatte wie die Regierungen, die die Rebellen stürzen wollten, war in Asien verhaftet und in die USA geschafft worden. Das hatte den internationalen Waffenhandel spürbar erschüttert.

Nun klopfte man halt auch bei den kleineren Adressen an. Er, Hunziker, hatte bisher immer abgelehnt. Besser, sich rausgeredet. Man war schliesslich Geschäftsmann. Da war es sicherer, sich nirgends allzu klar zu positionieren. Eine Rebellen-Armee!

Und jetzt also das. Da hatte jemand punktgenaue Präzisionsarbeit geleistet. Vanessa war Hunzikers Ein-und-Ales. Das noch mehr, weil seine Frau Irina, Vanessas Grossmutter, verschwunden war. Vor mehr als zwanzig Jahren war das passiert. Seitdem lebte er allein.

Nach dem Erpresser-Anruf hatte er als erstes seine Tochter Katharina informiert, Vanessas Mutter, gerade erst bei sich zu Hause angekommen. Die Katrin war gar nicht auf die Idee gekommen, dass er selbst sich die schwersten Vorwürfe machte. Fast zusammengebrochen war sie am Telefon, heulend, wie er sie noch nie erlebt hatte.

Schön und gut, er hatte die Erlaubnis erteilt, weil drei Schulfreunde mitkamen — aber kannte er die Schulfreunde? Bloss flüchtig mal gesehen. Reichte das? Sechzehn war sie erst!

Immerhin, am Ende hatte Katrin eine Idee gehabt. Ihr Anwalt galt als erfahren und gewieft. Den kannte er zwar nicht selbst. Aber, und das war das einzig Gute bisher, Anwälte unterlagen der Schweigepflicht. Da würde man mit dem wenigstens reden können, sogar als illegaler Waffenlieferant. Bloss wann?

Hunziker steckte sein Handy gottergeben wieder in die Tasche und ging hinauf zu seiner Kunstsammlung. Auf einmal fiel ihm das Treppensteigen schwerer als sonst. Dreiundsechzig war er jetzt, sieh an. Daran hatte er lange nicht mehr gedacht.

4

»Max? Hier ist Carlo. Das warst du vorhin, oder? Das Telefonino lag unter Zentnern von Pilzen, die wir gefunden haben, da bist du nicht durchgekommen. Aber jetzt bin ich gespannt auf alles, was du zu erzählen haben wirst.«

Am anderen Ende der Leitung entstand eine kurze Pause. Als routinierter Anwalt war Max Pictor sonst nicht leicht zu erschüttern, jetzt suchte er offenbar nach Worten.

»Carlo, mach keine Witze, die Lage ist dramatisch. Hörst du mich gut?«

»Ja, ja — ich sitze mit Gabriella vor einer Beiz am Hang, aber der Empfang ist ganz ordentlich. Du klingst besorgt?«

»Bin ich auch. Es geht um eine Entführung. Tochter einer Klientin. Deutlich angedeutete Morddrohung. Die Klientin ist völlig aufgelöst. Könntest du herkommen? Gleich?«

Jetzt schluckte Carlo. Den Abend hatte er sich anders vorgestellt. Tja, hier ging es quasi um Dienst, um einen anscheinend dringlichen Fall, und obendrein um Freund Max. Er schickte ein resigniertes Grinsen zu Gabriella, die neben ihm sass, und sagte: »Na gut, wenns brennt… So klingst du jedenfalls. Bin jeden Moment da. Hoffentlich hast du etwas Ordentliches zu trinken…« Er legte auf.

»Ach Schatz«, seufzte er. »Mal wieder Drama. Ich setz dich zu Hause ab und muss dann noch zu Max. Eine Entführung. Du könntest schon mit dem Pilzeputzen anfangen. Aber putz allerhöchstens die Hälfte! Ich komm ja bald. Nicht, dass du noch stigelisinnig dabei wirst…«

5

Carlo hatte kaum die Hand vom Klingelknopf genommen, als die Tür auch schon aufgerissen wurde. Elisa, Maxens fünfjährige Tochter, sprang ihm an den Hals und blieb dort so lange, bis Jacob, ihr siebenjähriger Bruder, angerannt gekommen war. Der überreichte zur Begrüssung eine tote Maus aus dem Garten, die er Carlo für dessen Katze mitgeben wollte. Carlo gelang es gerade noch, auf einer Kommode das Pilzkörbchen abzulegen, das er jetzt an Eveline, die Mutter, übergab, nachdem diese ihn von den Kindern befreit hatte.

Die Begeisterung der Hausherrin für das Mitbringsel war so verhalten, dass Carlo augenblicklich eine richtige Schlussfolgerung zog: Er hatte bei Pictors immer gut gegessen, aber was auf den Tisch kam, war wohl von einem Catering-Service geliefert worden. Die weltgewandte Eveline kochte offenbar nicht selbst. Carlo machte eine mentale Notiz, um eine solche Verschwendung kostbarer Ressourcen in Zukunft gar nicht erst in Betracht zu ziehen.

Inzwischen war auch Max, der Hausherr, erschienen, in einem eleganten grünseidenen Morgenmantel. Er zog Carlo auf den Balkon, wo gerade die Sonne unterging, während Eveline, den Pilzbeutel zwischen gespitzten Fingern, die maulenden Kinder in die Küche lotste, was nur darum ohne grössere Schwierigkeiten gelang, weil sie ihnen ein Glacé versprach.

Max öffnete seinen bestens bestückten Rollschrank für Spirituosen. Carlo sah auf den ersten Blick eine kleine Batterie der unvergleichlichen Obstbrände aus Martigny, die er selbst sich nur selten gönnte, und wählte eine PéreWilliam. Max griff zu einem Whisky.

Dann, nach einem ersten andächtigen Schluck kam er zur Sache. Er wirkte, nicht eben typisch für ihn, ernsthaft besorgt.

»Carlo,« hob Max an, »als Strafrechtler ist man ja anderes gewöhnt als Erbstreitigkeiten oder Verkehrsbussen. Aber das hier ist eine brisantere Nummer, und für mich Neuland.«

Er stärkte sich mit einem weiteren Schluck.

»Ich kenne nur die Kindsmutter, und nicht mal die besonders gut, hab sie von Flammer geerbt; du weisst, mein Vorgänger in der Kanzlei. Der, der beim Drachenfliegen abgestürzt ist. Hab bislang nur ein paarmal mit ihr telefoniert gehabt, wegen irgendwelcher Kleinigkeiten. Der Anruf jetzt hat mich schon ein bisschen erschüttert. Die ist vollständig aufgelöst; ihre einzige Tochter halt, sechzehn, wie gesagt. Die hat gebettelt, dass man sie rettet. Diese Entführer haben gedroht, sie zu massakrieren, wenn nicht…«

»Max«, unterbrach ihn Carlo, »ich glaub dir sofort, dass dich das mitnimmt. Jedenfalls hab ich dich noch nie so in Wallung erlebt. Bloss…«

»Na klar bin ich in Wallung!«, fuhr Max dazwischen. »Ich hab ja selbst Kinder, kann mir bestens vorstellen, wie sich das anfühlt! Du hast es da…«

»…leichter, willst du sagen, oder. Hast natürlich auch recht damit. Ich kann mir sowas trotzdem hochvergrössern wie ein Foto. Brauch mir bloss vorzustellen, es ginge um meine Liebste, da würd mir ganz…«

»Ach, gar kein Vergleich! Diese Vanessa ist ja schon sechzehn, trotzdem praktisch noch ein Kind, so wird sie mir jedenfalls beschrieben! Da kann man einfach nicht nichts tun!«

Max hatte sich vorgebeugt. Sein Gesicht war gerötet. Sein Whisky war offenbar nicht der erste des Abends gewesen; jetzt schenkte er sich einen weiteren ein.

Carlo seufzte. Wie kam er da jetzt raus?

»Ach Maxe«, sagte er endlich. »Es spricht für dich, wie du dich für deine Klientin ins Zeug legst. Aber, weiss du, ich bin ein alter Mann und so urlaubsreif, wie ich wahrscheinlich noch nie war. Ich hatte im Studium mal einen Dozenten, der war aus Köln und sagte immer: Am Ende jeht allet joot! Und wenn´s nich jootjejange is, dann war´t noch nich dat Ende! So musst du das sehen. Du wirst nicht die ganze Welt retten können, und ich auch nicht. Schon gar nicht jetzt. Glaub mir!«

Max schwieg.

»Sag mal, von der spielentscheidenden Bedingung für die Freilassung haben wir ja noch gar nicht gesprochen! Da hst du nur was angedeutet. Wer ist denn dieser Nonno, bei dem die Kleine war? Soll der bloss ein Lösegeld rausrücken?«

Max zögerte einen Augenblick. »Also, der ist tatsächlich ein möglicher Knackpunkt. Ich kenne ihn selbst nicht, weiss nur, dass er einen kleinen Waffenladen in Ascona hat. Da bin schon mal fussläufig vorbeigekommen, ohne dass der einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen hätte. Es ist etwas merkwürdig, dass er es seiner Tochter überlassen hat, sich um Hilfe zu kümmern. Ganz wichtig war übrigens die Bedingung keine Polizei! Das kann natürlich alles Mögliche bedeuten; garantiert haben das auch die Entführer gefordert. Ist ja normal in solchen Fällen.«

»Und was wollen diese Leute von ihm?«

»Keine Ahnung vorläufig. Aber es dürfte kein Zufall sein, dass der mit Waffen handelt.«

»Richtig, sagtest du schon. Waffen! Da tippe ich jedenfalls nicht auf Zufall. Wie steht denn seine Tochter zu ihm?«

»Es klang nicht besonders innig, wie sie von ihm sprach. Das kann allerdings auch daran liegen, dass er auf die Kleine nicht richtig aufgepasst hat, während die Eltern auf diesem Kongress waren. Die Vanessa scheint jedenfalls sein Herzblatt zu sein, nicht nur ihres, das hat Katrin mehrmals gesagt. Macht ihn ja gleich ein bisschen sympathischer.«

»Und die Mutter von der Mutter?«

»Ja, die ist eins von mehreren Rätseln. Die ist irgendwann vor vielen Jahren spurlos abhandengekommen und nie wieder aufgetaucht. So jedenfalls die Familiensaga. Wenn man weiss, dass ihr Mann mit Waffen gehandelt hat, regt das natürlich die Fantasie an.«

»In der Tat! Hat das Kind auch einen Vater? Ich meine, nicht nur biologisch?«

»Schon klar, von Unbefleckter Empfängnis war nicht die Rede… Ja, den gibts. Ist wesentlich älter als die Mutter, schafft irgendwo in der Kantonsverwaltung. Viel mehr weiss ich nicht.«

Es entstand eine längere Pause.

Schliesslich genehmigte sich auch Carlo einen weiteren Birnengeist. Er seufzte.

»Weisst du, mein Lieber, ich traue mir schon zu einzuschätzen, wie die Lage aus eurer Sicht aussieht, aus deiner, aus der der Mutter, des Vaters, des Grossvaters, ganz zu schweigen von der dieser Kleinen selbst. Bei den meisten der Fälle, mit denen unsereins zu tun bekommt, gibt es ja indirekt Betroffene. Man muss in meinem Job sorgfältig darauf achten, sich nicht zu tief in die einzufühlen, sonst kann man keine gescheiten Entscheidungen mehr treffen. Und nachts nicht mehr schlafen. Mich lässt das kein bisschen kalt, was du mir da von dieser Vanessa erzählst. Aber wäre ich jetzt nicht zufällig zur Stelle gewesen, wäre das Leben trotzdem irgendwie weitergegangen…«

Wieder entstand eine Pause. Max schwieg.

In Carlo arbeitete es. Er nahm einen grossen Schluck.

»Also gut, mich hast du halbwegs weichgekocht. Es ist bloss so: Wie du weisst, sind wir schon beinahe nicht mehr da, Gabriella und ich, sondern auf der Reise in den Süden. In die Ferien…«

Max lauschte aufmerksam auf Zwischentöne.

»…und ich bin dermassen müde wie schon ewig nicht mehr. Mein erster Urlaub, seit ich hier im Dienst bin! Mein erster Urlaub zusammen mit Gabriella! Und die freut sich wie verrückt…«

Max hörte weiter zu und war klug genug, zu schweigen. Carlo trank seine Pére aus.

»Also gut, sofort los können wir sowieso nicht, Gabriella und ich. In dem Ferienhaus ist irgendein Defekt, Wasserrohrbruch oder was ähnliches. Wir beide, du und ich, könnten uns mit dieser Katrin wenigstens mal zusammensetzen, möglichst bald dann. Wer weiss, vielleicht fällt mir ja irgendwas ein. Den Versuch kann ich dir anbieten.«

Max war die Erleichterung anzusehen. Er atmete tief aus, strahlte breit und nickte bloss. Schliesslich drängte er Carlo eine weitere PéreWilliam auf.

6

Zuhause in Giulias Wohnung nahe der Piazza Grande hatte Gabriella beinah alle Pilze geputzt, als Carlo schwer atmend im vierten Stock ankam. Er war gleich in die kleine Küche gegangen, um wie versprochen seinen Teil der Putzarbeit zu erledigen.

Wie er auf den ersten Blick sah, war Gabriella fast fertig geworden. Allerdings auf ihre Art. Sie hatte alle Stiele rigoros entfernt und von den Köpfen nur die edelsten Teile behalten. Auf diese Weise war die eigentlich erfreuliche Pilzbeute dermassen zusammengeschrumpft, dass sie höchstens für zwei Mahlzeiten reichen würde; zum Trocknen würde nichts übrigbleiben.

Carlo schluckte einmal unhörbar und sagte einige anerkennende Worte dazu, dass sie diese stumpfsinnige Arbeit erledigt hatte, und noch dazu klaglos. Ihr war anzusehen, dass das Sammeln mehr Spass gemacht hatte als das Putzen.

Carlo sicherte die Pilzabfälle unauffällig in einem Papierbeutel. Und begann unverzüglich, Speck und Zwiebeln zu schneiden. Mittlerweile war seit dem Picknick so viel Zeit vergangen, dass man wieder von Hunger sprechen konnte.

Gabriella ging derweil nach nebenan ins kombinierte Wohn-Arbeitszimmer, um eine CD in den Player ihrer gewaltigen Stereoanlage zu schieben. Der grosse Raum, der tagsüber voll von der Sonne beschienen wurde, wirkte nur kahl möbliert, obwohl noch ein halbes Dutzend aufblasbarer Sitzgelegenheiten herumstanden, die Carlo für die Einzugsparty von Freunden geliehen hatte. Max und Eveline, diesmal ohne ihren Nachwuchs, Carlos Kollegin Rita und einige Freunde Gabriellas aus Zürich waren gekommen, und Carlo hatte ein Antipasto-Buffet auf dem grossflächigen Arbeitstisch angerichtet, gefüllte Avocados, Ratatouille, Bündner Fleisch, den unvermeidlichen Tacchino tonnato und einige weitere Spezialitäten, dazu einen spritzigen Rosé aus dem Veneto.

Sobald die Gäste die Strapazen des Aufstiegs überwunden hatten, hatte sich bei einigen ein gewisser Neid bemerkbar gemacht. Die Wohnung war nicht riesig, hatte aber Charme. Drei edle Butterfly-Sessel, die Gabriella von ihrer letzten Wohnung in Basel mitgebracht hatte, standen auf dem Parkettboden um einen niedrigen Bauhaus-Tisch herum; sie waren fast das einzige dauerhafte Mobiliar, abgesehen von dem riesigen Tisch an der rückwärtigen Wand, auf dem sich Magazine, Fachbücher und Fotomappen stapelten, und dem Jasper-Stuhl davor. Acht weisse Glasballons unter der Decke tauchten den Raum in ein gleichmässiges, diffuses Licht, das auf Carlo durchaus nicht beruhigend wirkte, wenn er hier bei der Freundin Abende verbrachte. Die grossen Südfenster wurden von keiner Gardine geschützt, vielmehr liessen sich weisse Jalousien einzeln herunterziehen und durch einen Drehmechanismus sogar vollständig schliessen. Jetzt, am Abend, waren sie hochgezogen und gaben einen Blick über die Altstadt frei, der Carlo immer wieder fesselte.

Carlo hatte Speckwürfel und Zwiebelringe in der grössten vorhandenen Pfanne angebraten, jetzt gab er die geviertelten Pilze und gehackten Knoblauch dazu. Sobald die Pilze sich auf die Hälfte reduziert hatten, löschte er alles mit einer Bouillon ab, pfefferte und liess etwas einkochen.

Carlo und Gabriella sassen an einem Thonet-Tisch aus den Beständen Giulias in der Küche. Dort hatten sie nicht viel verändert; die Besitzerin hatte sie gemütlich eingerichtet und mit den üblichen Gerätschaften versehen.

»Was war denn nun eigentlich bei Max los?«, fragte Gabriella. »Das ging doch so dramatisch los, und jetzt schweigst du dich aus…?«