Gedanken über die Religion und einige andere Themen - Blaise Pascal - E-Book

Gedanken über die Religion und einige andere Themen E-Book

Blaise Pascal

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Beschreibung

»Ich werde hier meine Gedanken ordnungslos aufschreiben ... Das ist die wahre Ordnung …« So beginnt Pascal sein Hauptwerk, dessen System die Systemlosigkeit ist. In brillanter Prosa – von aphoristischen Einzelsätzen bis zu ausgefeilten Essays – behandelt er Themen wie Ordnung, Eitelkeit, Elend, Langeweile, Ursachen und Wirkungen, Widersprüche, Zerstreuung, das höchste Gut, Natur, vor allem aber Religion und christliche Moral.Die vorliegende Gesamtausgabe fußt auf Pascals Originalsammlung und eigenen Abschriften, die inzwischen als verbindliche Textgrundlage für jede wissenschaftliche Edition gelten. E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel benutzt werden.

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Seitenzahl: 649

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Blaise Pascal

Gedanken über die Religion und einige andere Themen

Herausgegeben von Jean-Robert ArmogatheAus dem Französischen übersetzt von Ulrich Kunzmann

Reclam

Originaltitel: Pensées sur la Religion et sur quelques autres sujets

 

1987, 2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Durchgesehene und aktualisierte Ausgabe

Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2021

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-961945-3

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014227-1

www.reclam.de

Inhalt

Gedanken

Abteilung I

Abteilung II

Abteilung III

Abteilung IV

Pascal zugeschriebene Äußerungen

Zur dieser Ausgabe

Konkordanz

Anmerkungen

Abteilung I

Abteilung II

Abteilung III

Abteilung IV

Nachwort

Verzeichnis der Aktenbündel, die in den Abschriften mit Titeln versehen sind

Titelblatt der 1669 erschienenen Vorausausgabe der Pensées, von der nur zwei Exemplare bekannt sind

[7]Gedanken

[9]Abteilung I

Eingeordnete Papiere

1 Ordnung

1/596 Die Psalmen werden von der ganzen Erde gesungen.

Wer gibt Zeugnis von Mohammed? Er selbst.

Jesus Christus will, dass sein eigenes Zeugnis nichts gelte.

Ihre Eigenschaft als Zeugen bewirkt, dass sie stets überall und auch elend sein müssen. Er ist allein.

 

2/227 Ordnung in Dialogform.

Was soll ich tun? Ich sehe überall nur Dunkelheit. Soll ich glauben, dass ich nichts bin? Soll ich glauben, dass ich Gott bin?

 

3/227 und 244 Alle Dinge wandeln sich und folgen aufeinander.

Ihr täuscht Euch, es gibt …

Wie denn, sagt Ihr nicht selbst, dass der Himmel und die Vögel Gott beweisen? Nein. Und sagt es nicht Eure Religion? Nein. Denn obgleich das in gewissem Sinne für einige Seelen wahr ist, denen Gott diese Erleuchtung eingab, ist das im Hinblick auf die meisten dennoch falsch.

 

4/184 Brief, der dazu bewegen soll, Gott zu suchen.

Und ihn dann bei den Philosophen, Pyrrhonikern und Dogmatisten suchen lassen, die denjenigen quälen werden, der ihn sucht.

 

[10]5/247 Ordnung.

Ein Ermahnungsbrief an einen Freund, um ihn zur Suche zu bewegen. Und er wird antworten: Aber, was mag es mir nützen, dass ich suche, nichts wird offenbar. Und ihm erwidern: Verzweifelt nicht. Und er würde antworten, dass er glücklich wäre, wenn er irgendeine Erleuchtung fände. Aber wenn er, gerade dieser Religion selbst zufolge, solcherart glaubte, würde ihm das nichts helfen. Und dass er es deshalb vorziehe, überhaupt nicht zu suchen. Und ihm darauf erwidern: die Maschine.

 

6/60 (1.) Teil. Elend des Menschen ohne Gott.

(2.) Teil. Glückseligkeit des Menschen mit Gott.

In anderer Form

(1.) Teil. Dass die Natur verderbt ist, anhand der Natur selbst.

(2.) Teil. Dass es einen Versöhner gibt, anhand der Heiligen Schrift.

 

7/248 Brief, der die Nützlichkeit der Beweise angibt. Anhand der Maschine.

Der Glaube unterscheidet sich vom Beweis. Der eine ist menschlich, und der andere ist eine Gottesgabe. Justus ex fide vivit. (»Der Gerechte wird seines Glaubens leben.« Röm 1,17.) Diesen Glauben flößt Gott selbst dem Herzen ein, dessen Werkzeug oft der Beweis ist, fides ex auditu (»der Glaube aus der Predigt«, Röm 10,17), dieser Glaube aber wohnt im Herzen und lässt nicht sagen: scio (»ich weiß«), sondern: Credo (»ich glaube«).

 

[11]8/602 Ordnung.

Prüfen, was es in der gesamten Lage der Juden an Klarem und Unbestreitbarem gibt.

 

9/291 Im Brief über die Ungerechtigkeit kann vorkommen:

die spaßhafte Geschichte von den Erstgeborenen, die alles haben. Mein Freund, Ihr seid diesseits des Gebirges geboren, also ist es gerecht, dass Euer ältester Bruder alles haben soll.

Warum tötet Ihr mich?

 

10/167 Das mannigfaltige Elend des menschlichen Lebens hat all dies begründet. Da man dies erkannt hat, hat man sich für die Zerstreuung entschieden.

 

11/246 Ordnung. Nach dem Brief, dass man Gott suchen muss, den Brief über das Beseitigen der Hindernisse schreiben, der die Abhandlung über die Maschine ist, wie man die Maschine vorbereitet, wie man mit der Vernunft sucht.

 

12/187 Ordnung.

Die Menschen schätzen die Religion gering. Sie hassen sie und fürchten, dass sie wahr sei. Um dafür Abhilfe zu schaffen, muss man zunächst zeigen, dass die Religion keineswegs der Vernunft widerspricht. Sie verehrungswürdig machen, ihr Achtung verschaffen.

Sie hierauf liebenswert machen, den Guten den Wunsch eingeben, dass sie wahr sein möge, und danach zeigen, dass sie wahr ist.

Verehrungswürdig, weil sie den Menschen gut erkannt hat.

Liebenswert, weil sie das wahre Glück verheißt.

[12]2 Eitelkeit

13/133 Zwei ähnliche Gesichter, von denen keines für sich allein lächerlich wirkt, reizen gemeinsam durch ihre Ähnlichkeit zum Lachen.

 

14/338 Die wahren Christen fügen sich dennoch den Torheiten, nicht weil sie Achtung vor den Torheiten haben, sondern weil sie Achtung vor Gottes Ordnung haben, der die Menschen diesen Torheiten unterworfen hat, um sie zu bestrafen. Omnis creatura subjecta est vanitati, liberabitur. (»Sintemal die Kreatur unterworfen ist der Eitelkeit […], wird [sie] frei werden«, Röm 8,20 f.) So erklärt der heilige Thomas die Stelle bei Jakobus, wo es um die Bevorzugung der Reichen geht, dass, wenn sie nicht in Hinblick auf Gott so handeln, sie die Ordnung der Religion verlassen.

 

15/410 Perseus, König von Makedonien. Aemilius Paullus.

Man warf Perseus vor, dass er sich nicht das Leben nahm.

 

16/161 Eitelkeit.

Dass etwas so Augenfälliges wie die Eitelkeit der Welt so wenig bekannt ist, dass es seltsam und überraschend ist, wenn man sagt, es sei dumm, nach Größe zu streben. Das ist erstaunlich.

 

17/113 Unbeständigkeit und Absonderlichkeit.

Allein von seiner Arbeit zu leben und über den mächtigsten Staat der Welt zu herrschen sind sehr gegensätzliche Dinge. Sie sind in der Person des Großherrn der Türken vereint.

 

[13]18/955 (751.) Eine Kapuzenspitze bringt 25 000 Mönche in Aufruhr.

 

19/318 Er hat vier Lakaien.

 

20/292 Er wohnt jenseits des Wassers.

 

21/381 Wenn man zu jung ist, urteilt man nicht gut, ebenso, wenn man zu alt ist.

Wenn man nicht genug daran denkt, wenn man zu sehr daran denkt, so versteift man sich auf seine Ansicht und lässt sich ganz davon einnehmen.

Wenn man sein Werk betrachtet, gleich nachdem man es vollendet hat, ist man noch ganz davon ergriffen, wenn man es zu lange danach tut, erfasst man es nicht mehr.

Wie bei den Bildern, die man aus zu großer oder zu kleiner Entfernung betrachtet. Und es gibt nur einen unteilbaren Punkt, der die richtige Stelle ist.

Die übrigen sind zu nahe, zu fern, zu hoch oder zu niedrig. Die Perspektive bestimmt ihn in der Malkunst, wer aber bestimmt ihn bei der Wahrheit und bei der Moral?

 

22/367 Die Macht der Fliegen, sie gewinnen Schlachten, sie verwehren unserer Seele, tätig zu sein, sie fressen unseren Leib.

 

23/67 Eitelkeit der Wissenschaften.

Die Wissenschaft von den äußerlichen Dingen wird mich in der Zeit der Bedrängnis nicht über die Unkenntnis der Moral hinwegtrösten, die Wissenschaft von den Sitten [14]indes wird mich stets über die Unkenntnis der äußerlichen Wissenschaften hinwegtrösten.

 

24/127 Lage des Menschen.

Unbeständigkeit, Langeweile, Ruhelosigkeit.

 

25/308 Die Gewohnheit, dass man die Könige in der Begleitung von Wachen, Trommlern, Staatsbeamten und zusammen mit allen Dingen sieht, welche die Welt zu Achtung und Schrecken nötigen, bewirkt, dass ihre Gestalt, wenn sie sich zuweilen allein und ohne ihre Begleitung zeigt, Achtung und Schrecken bei ihren Untertanen erregt, denn im Gedanken trennt man ihre Personen nicht von ihrem Gefolge, das man im Allgemeinen zusammen mit ihnen sieht. Und die Welt, die nicht weiß, dass diese Wirkung aus dieser Gewohnheit herrührt, glaubt, sie käme von einer natürlichen Kraft. Und daher kommen diese Worte: Das göttliche Wesen ist seinem Angesicht eingeprägt usw.

 

26/330 Die Macht der Könige beruht auf der Vernunft und der Narrheit des Volkes, und zwar weitaus mehr auf der Narrheit. Die größte und wichtigste Sache der Welt hat die Schwäche zur Grundlage. Und diese Grundlage ist bewundernswert sicher, denn nichts ist sicherer, als dass das Volk schwach bleiben wird. Was auf die gesunde Vernunft gegründet ist, hat sehr schlechte Grundlagen, wie etwa das Ansehen der Weisheit.

 

27/354 Der Natur des Menschen entspricht es nicht, immer in eine Richtung zu gehen; sie hat ihr Kommen und Gehen.

Das Fieber hat seine Schauer und seine Glut. Und die [15]Kälte zeigt ebenso gut die Größe der Fieberglut wie die Hitze selbst.

Gleichermaßen setzen sich die Erfindungen der Menschen von Jahrhundert zu Jahrhundert fort, ebenso gilt das im Allgemeinen für die Güte und die Bosheit der Welt.

Plerumque gratae principibus vices. (»Oft gefallen die Abwechslungen den Vornehmen.« Horaz, Oden III,29.)

 

28/436 Schwäche.

Alle Beschäftigungen der Menschen sind darauf gerichtet, ein gutes Vermögen zu haben, und sie können doch keine Urkunde vorlegen, mit der sich beweisen ließe, dass sie es von Rechts wegen besitzen, denn sie haben dafür nur die menschliche Phantasie und keine Macht, um es sicher zu besitzen.

Ebenso verhält es sich bei der Wissenschaft. Denn die Krankheit hebt sie auf.

Wir sind ebenso unfähig zur Wahrheit wie zum Besitz.

 

29/156Ferox gens nullam esse vitam sine armis rati. (»Ein wildes Volk, das glaubt, ohne Krieg sei’s nicht der Mühe wert zu leben.« Livius XXXIV,17.)

Sie lieben den Tod mehr als den Frieden, die anderen lieben den Tod mehr als den Krieg.

Jede Meinung kann dem Leben vorgezogen werden, das man so stark und so natürlich zu lieben scheint.

 

30/320 Man wählt, um ein Schiff zu steuern, nicht denjenigen von den Reisenden aus, der dem vornehmsten Geschlecht entstammt.

 

[16]31/149 In den Städten, die man als Durchreisender betritt, kümmert man sich nicht darum, geachtet zu werden. Doch wenn man dort einige Zeit bleiben muss, kümmert man sich darum. Wie viel Zeit ist nötig? Eine Zeit, die im Verhältnis zu unserer nichtigen und erbärmlichen Lebensdauer steht.

 

32/317a Eitelkeit.

Die Ehrfurchtsbezeigungen bedeuten: Nehmt Unbequemlichkeiten auf euch.

 

33/374 Was mich am meisten erstaunt, ist, zu sehen, dass niemand über seine eigene Schwäche erstaunt ist. Man handelt in vollem Ernst, und jeder richtet sich nach seiner Stellung, nicht etwa, weil es, da es der Mode entspricht, tatsächlich gut wäre, sich nach ihr zu richten, sondern, als wüsste jeder mit Gewissheit, wo Vernunft und Gerechtigkeit sind. Man sieht sich zu jeder Stunde getäuscht, und in lächerlicher Demut glaubt man, dass man selbst schuld hat und nicht die Kunst, deren Beherrschung man sich stets rühmt. Doch ist es zum Ruhm des Pyrrhonismus gut, dass es in der Welt so viele jener Leute gibt, die keine Pyrrhoniker sind, damit sich zeigen lässt, dass der Mensch die überspanntesten Meinungen leicht annehmen kann, da er ja fähig ist zu glauben, er sei nicht im Zustand dieser natürlichen und unvermeidlichen Schwäche, und auch zu glauben, er sei stattdessen im Zustand der natürlichen Weisheit.

Nichts stärkt den Pyrrhonismus mehr, als dass es Menschen gibt, die keine Pyrrhoniker sind. Wenn alle es wären, hätten sie unrecht.

 

[17]34/376 Diese Schule wird mehr durch ihre Feinde als durch ihre Freunde gestärkt, denn die Schwäche des Menschen zeigt sich viel deutlicher bei jenen, die sie nicht erkennen, als bei jenen, die sie erkennen.

 

35/117 Schuhabsatz.

Oh, wie gut das ausgeführt ist! Ist das ein geschickter Arbeiter! Ist dieser Soldat kühn! Darin liegt die Quelle unserer Neigungen und der Wahl der Stellungen. Dass jener reichlich trinke, dass jener andere wenig trinke: Das eben macht die Leute enthaltsam und trunksüchtig, zu Soldaten, Feiglingen usw.

 

36/164 Wer die Eitelkeit der Welt nicht sieht, ist selbst sehr eitel. Und wer sieht sie auch nicht, außer jungen Leuten, die alle mit dem lärmenden Treiben, den Zerstreuungen und den Gedanken an die Zukunft beschäftigt sind.

Nehmt ihnen jedoch die Zerstreuungen, so werdet ihr sehen, wie sie vor Langeweile vergehen. Dann fühlen sie ihre Nichtigkeit, ohne sie zu erkennen, denn es heißt wohl unglücklich sein, wenn man einer unerträglichen Traurigkeit ausgeliefert ist, sobald man gezwungen wird, sich selbst zu betrachten, und nicht durch Zerstreuungen davon abgelenkt wird.

 

37/158 Berufe.

Ruhm bereitet so großen Genuss, dass man ihn liebt, mit welcher Sache man ihn auch immer verbindet, und sei es selbst mit dem Tod.

 

[18]38/71 Zu viel und zu wenig Wein.

Gebt ihm nichts davon: Er kann die Wahrheit nicht finden.

Gebt ihm zu viel davon: das Gleiche.

 

39/141 Die Menschen beschäftigen sich damit, einem Ball und einem Hasen nachzujagen: Das ist selbst das Vergnügen der Könige.

 

40/134 Welch eine Eitelkeit ist doch die Malerei, die Bewunderung erregt, weil sie die Dinge so ähnlich darstellt, deren natürliche Urbilder man keineswegs bewundert!

 

41/69 Wenn man zu schnell oder zu langsam liest, versteht man nichts.

 

42/207 Wie viele Königreiche wissen nichts von uns!

 

43/136 Wenig tröstet uns, weil wenig uns betrübt.

 

44/82 Einbildung.

Dieser beherrschende Bestandteil des Menschen, diese Gebieterin über Irrtum und Falschheit – und sie ist noch weitaus trügerischer, da sie dies nicht immer ist, denn sie wäre ja eine unfehlbare Richtschnur der Wahrheit, wenn sie es unfehlbar für die Lüge wäre. Und doch –

Obwohl sie zumeist lügenhaft ist, gibt sie kein Anzeichen ihrer Beschaffenheit zu erkennen und verleiht dem Wahren und dem Falschen das gleiche Gepräge. Ich spreche nicht von den Narren, ich spreche von den Weisesten, und gerade bei ihnen hat die Einbildung das gewaltige Recht, [19]die Menschen zu überzeugen. Die Vernunft mag noch so laut rufen, sie kann den Wert der Dinge nicht bestimmen.

Diese stolze, der Vernunft feindliche Macht, die sich darin gefällt, sie zu überwachen und zu beherrschen, um so zu zeigen, wie viel sie in allen Dingen vermag, hat im Menschen eine zweite Natur begründet. Sie hat ihre Glücklichen und ihre Unglücklichen, ihre Gesunden und ihre Kranken, ihre Reichen und ihre Armen. Sie lässt glauben, zweifeln, die Vernunft leugnen. Sie setzt die Sinne außer Kraft, sie macht sie wahrnehmbar. Sie hat ihre Narren und ihre Weisen. Und nichts bekümmert uns mehr, als zu sehen, dass sie diejenigen, die sie beherbergen, mit weitaus vollständigerer und uneingeschränkterer Zufriedenheit als die Vernunft erfüllt. Die Menschen, die sich in ihrer Einbildung für klug halten, gefallen sich selbst viel mehr, als die Besonnenen sich vernünftigerweise gefallen können. Sie sehen die Leute mit Herrscherstolz an, sie streiten kühn und zuversichtlich – die anderen furchtsam und unsicher –, und dieser heitere Gesichtsausdruck gibt ihnen in der Meinung der Hörer oft die Überlegenheit, in so großer Gunst stehen die eingebildeten Weisen bei wesensgleichen Richtern. Sie kann die Narren nicht weise machen, doch sie macht sie glücklich, im Wettstreit mit der Vernunft, die ihre Freunde nur elend machen kann, und so überhäuft die eine sie mit Ruhm, die andere mit Schande.

Wer gewährt Ansehen, wer verschafft den Menschen, den Werken, den Gesetzen, den Großen Achtung und Verehrung, wenn nicht dieses Einbildungsvermögen. Alle Schätze der Erde (sind) ohne ihre Billigung unzureichend. Würdet ihr nicht sagen, dass dieser hohe Staatsbeamte, dessen ehrfürchtiges Alter einem ganzen Volk Achtung [20]abverlangt, sich von einer reinen und erhabenen Vernunft leiten lässt und dass er die Dinge nach ihrem Wesen beurteilt, ohne sich bei jenen eitlen Umständen aufzuhalten, die nur die Einbildung der Schwachen berühren? Seht ihn, wie er zu einer Predigt geht, wo er einen ganz hingebungsvollen Eifer an den Tag legt, indem er die Sicherheit seiner Vernunft durch die Inbrunst seiner christlichen Liebe bestärkt; so ist er nun bereit, die Predigt mit beispielhafter Hochachtung anzuhören. Wenn der Prediger erscheinen sollte und die Natur ihm eine heisere Stimme und einen seltsamen Gesichtsschnitt gegeben (hat), wenn etwa sein Barbier ihn schlecht rasiert und er sich noch dazu durch einen Zufall beschmutzt hat, so mag er noch so große Wahrheiten verkünden, ich wette, unser Senator verliert seine ernsthafte Haltung.

Bei dem größten Philosophen der Welt, der auf einem Brett steht, das breiter als notwendig ist, wird, wenn unter ihm ein Abgrund liegt, obgleich seine Vernunft ihn von seiner Sicherheit überzeugt, seine Einbildungskraft die Oberhand gewinnen. Manche könnten nicht den Gedanken daran ertragen, ohne zu erbleichen und zu schwitzen.

Ich will nicht alle ihre Wirkungen aufführen; wer weiß nicht, dass der Anblick von Katzen oder Ratten, das Zerschlagen eines Kohlestücks usw. die Vernunft aus den Angeln heben. Der Ton einer Stimme imponiert den Weisesten und verändert die Wirkung einer Ansprache und eines Gedichtes.

Zuneigung oder Hass verändern das Recht grundsätzlich, und wie viel gerechter findet ein im Voraus gut bezahlter Advokat die Sache, die er vor Gericht vertritt. Wie sehr lässt sein kühnes Auftreten sie den Richtern, die von [21]diesem äußerlichen Eindruck getäuscht werden, besser erscheinen. Eine lächerliche Vernunft, die ein Wind – und noch dazu in alle Richtungen – lenkt. Ich könnte beinahe alle Handlungen der Menschen aufführen, die fast nur durch deren Erschütterungen in Bewegung geraten. Denn die Vernunft ist zum Nachgeben gezwungen worden, und die weiseste nimmt jene Prinzipien als die ihren an, die überall die menschliche Einbildung leichtfertig eingeführt hat. (Wer nur der Vernunft folgen wollte, wäre ein ausgemachter Narr. Wir müssen, weil wir daran Gefallen gefunden haben, den ganzen Tag für anerkanntermaßen eingebildete Güter arbeiten, und wenn der Schlaf uns von den Mühen unseres Verstandes erfrischt hat, heißt es sogleich aufspringen, um dem eitlen Rauch nachzujagen und die Einwirkungen dieser Herrin der Welt zu ertragen.)

(– Das ist eine der Grundursachen des Irrtums, aber das ist nicht die einzige.)

(Der Mensch hat wohl recht gehabt, diese zwei Kräfte zu vereinigen, obgleich bei diesem Frieden die Einbildung sehr weitgehend im Vorteil ist, denn im Kriege ist sie es ja noch viel mehr. Niemals [überwindet] die Vernunft vollständig die Einbildung, [das] Gegenteil [jedoch] ist allgemein verbreitet.)

Unsere Justizbeamten haben dieses Geheimnis genau erkannt. Ihre roten Talare, ihr Hermelin, worin sie sich wie mit Pelzstreifen geschmückte Katzen einwickeln, die Paläste, in denen sie Recht sprechen, die Lilienwappen, diese ganze erhabene Pracht war sehr notwendig, und wenn die Ärzte keine Leibröcke und Pantoffeln hätten und die Rechtsgelehrten keine viereckigen Barette und vierteilige, viel zu weite Roben, so hätten sie nie die Welt betrogen, die dieser so glaubwürdigen Zurschaustellung nicht [22]widerstehen kann. Wenn sie das wahre Recht sprächen und wenn die Ärzte die wirkliche Heilkunst beherrschten, hätten sie keine viereckigen Barette nötig. Die Würde dieser Wissenschaften wäre durch sich selbst ehrfurchtgebietend genug, da sie jedoch nur eingebildete Wissenschaften haben, müssen sie zu diesen eitlen Hilfsmitteln greifen, die auf die Einbildung wirken, mit der sie es ja zu tun haben, und hierdurch verschaffen sie sich tatsächlich Achtung.

Nur die Kriegsleute haben sich nicht derart verkleidet, weil ihr persönliches Eingreifen in der Tat wesentlicher ist. Sie setzen sich mit Gewalt durch, die anderen mit Blendwerk.

Daher haben unsere Könige nicht nach derartigen Verkleidungen gesucht. Sie haben sich nicht mit außergewöhnlichen Trachten vermummt, um als solche zu erscheinen. Doch sie lassen sich von Wachen und Tölpeln begleiten. Diese bewaffneten Truppen, die nur für sie ihre Hände und ihre Kraft gebrauchen, die Trompeter und die Trommler, die vorausmarschieren, und diese Heerscharen, die sie umringen, bringen die Standhaftesten zum Zittern. Sie haben nicht die Tracht, allein die Gewalt haben sie. Man müsste eine sehr aufgeklärte Vernunft haben, um den Großherrn der Türken, der in seinem prunkvollen Serail von 40 000 Janitscharen umgeben ist, wie einen beliebigen anderen Menschen anzusehen.

Wir können nicht einmal einen Advokaten im Talar und mit dem Barett auf dem Kopf sehen, ohne eine vorteilhafte Meinung von seiner Tüchtigkeit zu haben.

Die Einbildung bestimmt über alles; sie macht die Schönheit, das Recht und das Glück, das in der Welt alles ist.

[23]Ich möchte von Herzen gern das italienische Buch sehen, von dem ich nur den Titel kenne, der für sich allein sehr viele Bücher aufwiegt, Dell’opinione regina del mondo (»Über die Meinung, die Königin der Welt«). Dem stimme ich zu, ohne es zu kennen, von dem Schlechten abgesehen, falls sich solches darin findet.

Das sind annähernd die Wirkungen dieser trügerischen Fähigkeit, die uns anscheinend ausdrücklich gegeben ist, um uns zu einem notwendigen Irrtum zu verleiten. Wir haben dafür sehr viele andere Grundsätze.

Nicht allein die alten Eindrücke können uns täuschen, die neuen Reize haben die gleiche Macht. Daher kommt aller Streit unter den Menschen, die einander vorwerfen, dass sie entweder ihren falschen Kindheitseindrücken folgen oder leichtfertig neuen nachlaufen. Wer den goldenen Mittelweg geht, soll sich zeigen und es beweisen. Es gibt keinen Grundsatz, so natürlich er auch sein mag, (den man,) selbst wenn er seit dem Kindesalter besteht, (nicht) als einen falschen Eindruck des Unterrichts oder der Sinne ausgegeben hätte.

Denn, so sagt man, ihr habt seit der Kindheit geglaubt, eine Truhe wäre leer; als ihr nichts darin saht, habt ihr die Leere für möglich gehalten. Es sei dies eine Täuschung eurer Sinne, die von der Gewohnheit bestärkt werde, und die Wissenschaft müsse sie berichtigen. Und die anderen sagen, weil man euch in der Schule beigebracht habe, dass es gar keine Leere gebe, habe man euren gesunden Menschenverstand verdorben, der es vor diesem schlechten Eindruck so klar verstanden hätte, und diesen müsse man korrigieren, indem man sich eurer ursprünglichen Natur bediene. Wer hat also getäuscht? Die Sinne oder der Unterricht?

[24]Wir haben eine andere Grundursache des Irrtums: die Krankheiten. Sie verderben uns Urteilsvermögen und Sinneskraft. Und wenn die schweren Krankheiten sie spürbar beeinträchtigen, so zweifle ich nicht, dass die leichten ihrem Ausmaß entsprechend auf sie einwirken.

Unser Eigennutz ist ein weiteres vortreffliches Instrument, um uns auf angenehme Art die Augen zu blenden. Es ist dem gerechtesten Mann der Welt nicht gestattet, Richter in eigener Sache zu sein. Ich kenne Leute, die, um nicht dieser Eigenliebe zu verfallen, auf umgekehrte Weise die Ungerechtesten der Welt gewesen sind. Das unfehlbare Mittel, eine völlig gerechte Sache zu verlieren, bestand darin, sie ihnen von ihren nahen Verwandten empfehlen zu lassen. Gerechtigkeit und Wahrheit sind zwei so feine Spitzen, dass unsere Instrumente zu stumpf sind, um sie genau zu treffen. Wenn sie zu ihnen gelangen, zerquetschen sie deren Spitze und stützen sich ringsumher mehr auf das Falsche als auf das Wahre.

(Der Mensch ist darum so glücklich beschaffen, dass er kein richtiges Prinzip des Wahren und mehrere vorzügliche für das Falsche hat. Sehen wir nun, wie sehr.

Doch die lachhafteste Ursache seiner Irrtümer ist der Krieg, der zwischen den Sinnen und der Vernunft geführt wird.)

 

45/83 Der Mensch ist lediglich ein Wesen voll natürlichen Irrtums, und dieser ist ohne die Gnade unüberwindlich. Nichts zeigt ihm die Wahrheit. Alles täuscht ihn. Diesen zwei Prinzipien der Wahrheit, der Vernunft und den Sinnen, fehlt es beiden nicht nur an Aufrichtigkeit, sondern sie täuschen einander auch gegenseitig; die Sinne täuschen die [25]Vernunft durch trügerischen Schein. Und diesen gleichen Betrug, den sie der Seele antun, erleiden sie wiederum von ihr; sie rächt sich an ihnen. Die Leidenschaften der Seele verwirren sie und verleiten sie zu falschen Eindrücken. Sie lügen und betrügen einander um die Wette.

Doch außer diesem Irrtum, der zufällig und durch das mangelhafte Einvernehmen zwischen diesen ungleichartigen Fähigkeiten eintritt …

(Damit muss das Kapitel über die irreführenden Kräfte begonnen werden.)

 

46/163 Eitelkeit.

Die Ursache und die Wirkungen der Liebe. Kleopatra.

 

47/172 Wir halten uns nie an die Gegenwart. Wir rufen uns die Vergangenheit zurück; wir greifen der Zukunft vor, als käme sie zu langsam und als wollten wir ihr Eintreten beschleunigen, oder wir rufen uns die Vergangenheit zurück, als wollten wir sie festhalten, da sie zu schnell vorübereilte, wir sind so unklug, dass wir in Zeiten umherirren, die nicht die unsrigen sind, und nicht an die einzige denken, die uns gehört, und wir sind so eitel, dass wir an jene denken, die nichts sind, und uns unüberlegt der einzigen entziehen, die weiterbesteht. Das kommt daher, weil die Gegenwart uns meistens weh tut. Wir verbergen sie unserem Blick, weil sie uns betrübt, und wenn sie uns angenehm ist, bedauern wir, sie entschwinden zu sehen. Wir bemühen uns, sie durch die Zukunft abzusichern, und meinen die Dinge zu ordnen, die nicht in unserer Macht stehen, und das für eine Zeit, die zu erreichen für uns ganz ungewiss ist.

Jeder prüfe seine Gedanken. Er wird finden, dass sie ganz [26]mit der Vergangenheit oder der Zukunft beschäftigt sind. Wir denken fast überhaupt nicht an die Gegenwart, und wenn wir an sie denken, so nur, um aus ihr die Einsicht zu gewinnen, mit der wir über die Zukunft verfügen wollen. Die Gegenwart ist niemals unser Ziel.

Die Vergangenheit und die Gegenwart sind unsere Mittel; allein die Zukunft ist unser Ziel. Deshalb leben wir nie, sondern hoffen auf das Leben, und da wir uns ständig bereit halten, glücklich zu werden, ist es unausbleiblich, dass wir es niemals sind.

 

48/366 Der Geist dieses höchsten Richters der Welt ist nicht so unabhängig, dass er nicht dem Umstand unterworfen wäre, vom ersten Lärm gestört zu werden, der in seiner Umgebung gemacht wird. Notwendig ist nicht das Dröhnen einer Kanone, um seine Gedanken zu hemmen. Notwendig ist nur das Knarren einer Wetterfahne oder einer Rolle. Wundert euch nicht, wenn er jetzt nicht vernünftig urteilt, eine Fliege summt um seine Ohren: Das reicht aus, um ihm die Fähigkeit zu nehmen, ein guter Ratgeber zu sein. Wenn ihr wollt, dass er die Wahrheit finden kann, verjagt dieses Tier, das seine Vernunft in Schach hält und diesen mächtigen Verstand trübt, der die Städte und die Königreiche regiert.

Welch ein lächerlicher Gott ist das. O ridicolosissime heroe! (Oh, welch überaus lächerlicher Held!)

 

49/132 Cäsar war zu alt, so scheint mir, um zu seinem Vergnügen die Welt zu erobern. Dieses Vergnügen war gut für Augustus und Alexander. Das waren junge Leute, die aufzuhalten schwierig ist, doch Cäsar hätte reifer sein müssen.

 

[27]50/305(Raptus est) (»Raub ist«) (?)

Die Schweizer nehmen es übel, wenn man sie Edelleute nennt, und beweisen ihre bürgerliche Abstammung, um als würdig für die hohen Ämter angesehen zu werden.

 

51/293 Warum tötet Ihr mich, da Ihr mir doch überlegen seid? Ich habe keine Waffen. – Was denn, wohnt Ihr nicht jenseits des Wassers? Mein Freund, wenn Ihr auf dieser Seite wohntet, so wäre ich ein Mörder, und es wäre ungerecht, Euch auf diese Art zu töten. Aber da Ihr ja auf der anderen Seite wohnt, bin ich ein tapferer Mann, und es ist gerecht.

 

52/388 Der gesunde Menschenverstand.

Sie sind gezwungen zu sagen: Ihr handelt nicht aufrichtig, wir schlafen nicht usw. Wie gern sehe ich diese stolze Vernunft gedemütigt und flehend. Denn das ist nicht die Sprache eines Menschen, dem man sein Recht streitig macht und der es mit Gewalt und der Waffe in der Hand verteidigt. Es macht ihm keine Freude zu sagen, dass man nicht aufrichtig handele, aber er bestraft diese Unaufrichtigkeit mit Gewalt.

3 Elend

53/429 Niedrigkeit des Menschen, der sich selbst den Tieren unterwirft, ja sie sogar anbetet.

 

54/112 Unbeständigkeit.

Die Dinge haben verschiedene Eigenschaften, und die [28]Seele hat verschiedene Neigungen, denn nichts ist einfach, was sich der Seele darbietet, und die Seele bietet sich keinem Gegenstand jemals einfach dar. Daher kommt es, dass man über ein und dieselbe Sache weint und lacht.

 

55/111 Unbeständigkeit.

Man glaubt, die Tasten einer gewöhnlichen Orgel anzuschlagen, wenn man die Tasten des Menschen anschlägt. Er ist zwar eine Orgel, doch sie ist seltsam, wandelbar und veränderlich. (Diejenigen, die nur die gewöhnliche Orgel spielen können,) würden sich nicht auf jene einstimmen. Man muss wissen, wo die (Tasten) sind.

 

56/181 Wir sind so unglücklich, dass wir Gefallen an einer Sache nur unter der Bedingung finden können, uns zu ärgern, wenn sie schlecht gelingt, was tausend Umstände bewirken können und zu jeder Stunde bewirken. (Wer) das Geheimnis gefunden hätte, sich über das Gute zu freuen, ohne sich über das entgegengesetzte Übel zu ärgern, hätte den richtigen Punkt gefunden. Das ist das Perpetuum mobile.

 

57/379 Es ist nicht gut, zu frei zu sein.

Es ist nicht gut, alles Notwendige zu haben.

 

58/332 Tyrannei besteht im allumfassenden Verlangen nach der Herrschaft außerhalb ihrer eigenen Ordnung.

Verschiedene Räume mit Starken, mit Schönen, mit Geistreichen, mit Frommen, von denen jeder bei sich zu Hause herrscht, nicht anderswo. Und zuweilen treffen sie aufeinander, und der Starke und der Schöne streiten töricht [29]miteinander, wer der Herr des anderen sein solle, denn ihre Herrschaft ist ja von unterschiedlicher Art. Sie verstehen einander nicht. Und ihr Fehler ist, überall herrschen zu wollen. Nichts vermag das, nicht einmal die Gewalt: Sie bewirkt nichts im Reich der Gelehrten, sie ist nur Herrin über die äußerlichen Handlungen. – Daher sind diese Reden falsch …

 

58a/332 Tyrannei.

Tyrannei ist, etwas auf einem Wege haben zu wollen, was man nur auf einem anderen haben kann. Man teilt verschiedenen Verdiensten verschiedene Pflichten zu, die Pflicht zur Liebe der Anmut, die Pflicht zur Furcht der Gewalt, die Pflicht zur Glaubwürdigkeit der Wissenschaft.

Man muss jene Pflichten erfüllen, man ist im Unrecht, wenn man sie verweigert, und ebenso im Unrecht, wenn man nach anderen verlangt. Daher sind diese Reden falsch und tyrannisch: Ich bin schön, also muss man mich fürchten, ich bin stark, also muss man mich lieben, ich bin … Und ebenso ist es falsch und tyrannisch zu sagen: Er ist nicht stark, also werde ich ihn nicht achten, er ist nicht klug, also werde ich ihn nicht fürchten.

 

59/296 Wenn es um die Entscheidung geht, ob man Krieg führen und so viele Menschen umbringen, so viele Spanier zum Tode verurteilen soll, entscheidet ein einziger Mensch darüber, der auch noch im eigenen Interesse handelt: Das müsste ein unbeteiligter Dritter sein.

 

60/294(Tatsächlich würde er sich von den eitlen Gesetzen frei machen, daher ist es nützlich, ihn zu täuschen.)

[30]Worauf wird er die zweckmäßige Ordnung der Welt, die er regieren will, gründen? Auf die Laune jedes Einzelnen? Was für ein Durcheinander! Auf die Gerechtigkeit? Er weiß nichts von ihr. Gewiss hätte er, wenn er sie kennte, nicht diesen Grundsatz aufgestellt, den am weitesten verbreiteten von all jenen, die es unter den Menschen gibt: Jeder folge den Sitten seines Landes. Der Glanz der wahrhaftigen Gerechtigkeit hätte sich alle Völker untertan gemacht. Und die Gesetzgeber hätten nicht anstelle dieses gleichbleibenden Rechts die wunderlichen Einfälle und Launen der Perser und Deutschen zum Vorbild genommen. Man sähe es in allen Staaten der Welt und in allen Zeiten verwurzelt, während man stattdessen nichts Rechtes oder Unrechtes sieht, das bei einem Klimawechsel nicht seine Eigenart wechselt; drei Grad Polhöhe kehren die ganze Jurisprudenz um, ein Meridian entscheidet über die Wahrheit. In wenigen Herrschaftsjahren ändern sich die Grundgesetze, das Recht hat seine Epochen, der Eintritt des Saturns in das Zeichen des Löwen gibt uns den Ursprung eines gewissen Verbrechens an. Eine lachhafte Gerechtigkeit, die ein Fluss begrenzt. Wahrheit diesseits der Pyrenäen, Irrtum jenseits.

Sie bekennen, dass in derartigen Bräuchen nicht die Gerechtigkeit besteht, sondern dass sie auf den natürlichen, jedem Land gemeinsamen Gesetzen beruht. Gewiss würden sie es hartnäckig verteidigen, wenn der leichtfertige Zufall, der die menschlichen Gesetze ausgesät hat, wenigstens eines gefunden hätte, das allgemeingültig wäre. Doch der Spaß geht so weit, dass die Laune der Menschen sich so vielgestaltig ausgebildet hat, dass es kein einziges derartiges gibt.

Diebstahl, Blutschande, Kinder- und Vatermord, alles [31]hat schon zu den tugendhaften Handlungen gehört. Kann es etwas Lachhafteres geben, als dass ein Mensch das Recht hat, mich zu töten, weil er jenseits des Wassers wohnt und sein Fürst mit dem meinen im Streit liegt, obwohl ich keinen mit ihm habe?

Es gibt zweifellos natürliche Gesetze, aber diese großartige verderbte Vernunft hat alles verdorben. Nihil amplius nostrum est, quod nostrum dicimus artis est. (»Nichts gehört uns mehr; was wir unser nennen, gehört der Kunst.« Cicero, De fin.V,21.) »Ex senatus-consultis et plebiscitis crimina exercentur. (»Durch Beschlüsse des Senats und des Volks werden Verbrechen begangen.« Seneca, Epist. 95.) Ut olim vitiis sic nunc legibus laboramus. (»Wie einst unter Lastern, so leiden wir jetzt unter Gesetzen.« Tacitus, Ann.III,25.)

Von dieser Verwirrung kommt es, dass der eine sagt, das Wesen des Rechts sei die Autorität des Gesetzgebers, ein anderer, das Wohl des Herrschers, wieder ein anderer, die gegenwärtige Gewohnheit, und das ist das Sicherste. Wenn man allein der Vernunft folgt, ist nichts von sich aus gerecht, alles gerät mit der Zeit ins Wanken. Die Gewohnheit (ist) die ganze Gerechtigkeit, allein deshalb, weil sie eingebürgert ist. Das ist der mystische Grund ihrer Autorität. Wer sie auf ihren Ursprung zurückführt, vernichtet sie. Nichts ist so fehlerhaft wie diese Gesetze, welche die Fehler abstellen sollen. Wer ihnen gehorcht, weil sie gerecht sind, gehorcht einer Gerechtigkeit, die er sich einbildet, nicht aber dem Wesen des Gesetzes. Es ist ganz in sich selbst beschlossen. Es ist Gesetz und nichts weiter. Wer sein Motiv erforschen will, wird es für so schwach und geringfügig befinden, dass er, wenn er es nicht gewohnt ist, die [32]Wunderwerke der menschlichen Einbildung zu betrachten, erstaunen wird, dass ein Jahrhundert dem Gesetz so viel Glanz und Verehrung eingebracht hat. Die Kunst, Staaten in Aufruhr zu versetzen und umzuwälzen, besteht darin, die herkömmlichen Gewohnheiten zu erschüttern, indem man sie bis zu ihrer Quelle ergründet, um ihren Mangel an Autorität und Gerechtigkeit zu enthüllen. Man müsse, heißt es, auf die grundlegenden und ursprünglichen Gesetze des Staates zurückgreifen, die eine ungerechte Gewohnheit abgeschafft habe. Das ist ein Spiel, bei dem man mit Sicherheit alles verliert; nichts wird auf dieser Waage gerecht sein. Indes schenkt das Volk solchen Reden leicht Gehör, man schüttelt das Joch ab, sobald man es erkennt, und die Großen nutzen das zum Verderben des Volkes und dieser neugierigen Prüfer der eingebürgerten Gewohnheiten. Deshalb sagte der weiseste der Gesetzgeber, dass man die Menschen zu ihrem eigenen Wohl oft täuschen müsse, und ein anderer, ein guter Politiker: Cum veritatem qua liberetur ignoret, expedit quod fallatur. (»Da er die Wahrheit, die ihn befreien soll, nicht kennt, ist es vorteilhaft für ihn, dass er getäuscht wird.« Augustinus, De civ. Dei IV,27.) Er soll nicht die Wahrheit der Usurpation bemerken, einst wurde sie ohne vernünftigen Grund eingeführt, nun ist sie vernünftig geworden. Man muss sie als rechtsgültig und ewig hinstellen und ihren Ursprung verbergen, wenn man nicht will, dass sie bald ein Ende nimmt.

 

61/309 Gerechtigkeit.

Wie die Mode das Vergnügen bestimmt, so bestimmt sie auch das Recht.

 

[33]62/177(Drei Gastfreunde)

Wer den König von England, den König von Polen und die Königin von Schweden zu Freunden gehabt hätte, würde der geglaubt haben, dass es ihm in der Welt an einem Ruhesitz und einer Zuflucht fehlen könnte?

 

63/151 Der Ruhm.

Die Bewunderung verdirbt schon von Kindheit an alles. Oh, wie gut gesagt das ist! Oh, wie gut er das gemacht hat, wie artig er ist usw.

Die Kinder von Port-Royal, die man nicht mit diesem Verlangen und diesem Ruhm anspornt, werden unempfindlich dafür.

 

64/295 Mein und dein.

Dieser Hund gehört mir, sagten diese armen Kinder. Das da ist mein Platz an der Sonne. Darin bestehen der Anfang und das Ebenbild der Usurpation der ganzen Erde.

 

65/115 Vielfalt.

Die Theologie ist eine Wissenschaft, doch aus wie vielen Wissenschaften besteht sie zugleich? Ein Mensch ist ein Ganzes, doch was wird aus ihm, wenn man ihn zergliedert? Der Kopf, das Herz, der Magen, die Adern, jede einzelne Ader, jedes einzelne Aderstück, das Blut, jeder einzelne Blutsaft.

Eine Stadt und eine Landschaft sind aus der Ferne eine Stadt und eine Landschaft, doch je näher man kommt, desto mehr sind das Häuser, Bäume, Ziegel, Blätter, Gräser, Ameisen, Ameisenbeine, bis ins Unendliche. All das wird von der Bezeichnung »Landschaft« eingeschlossen.

 

[34]66/326 Ungerechtigkeit.

Es ist gefährlich, dem Volk zu sagen, dass die Gesetze nicht gerecht sind, denn es gehorcht ihnen nur, weil es sie für gerecht hält. Daher soll man ihm zugleich sagen, man müsse ihnen gehorchen, weil sie Gesetze sind, wie man den Oberen nicht deshalb gehorchen muss, weil sie gerecht sind, sondern weil sie die Oberen sind. Dadurch wird jeder Empörung vorgebeugt, wenn man das verständlich machen kann, und (das ist) eigentlich die Definition des Rechts.

 

67/879 Ungerechtigkeit.

Recht wird nicht für (den) Rechtsprechenden, sondern für den vor Gericht Stehenden gesprochen: Es ist gefährlich, das dem Volk zu sagen, doch das Volk hat zu großes Vertrauen in Euch; es wird ihm nicht schaden, und es kann Euch nützen. Man muss es also öffentlich bekanntmachen. Pasce oves meas (»Weide meine Schafe«, Joh 21,17), nicht tuas (»deine«). Ihr seid mir eine Weide schuldig.

 

68/205 Wenn ich die kurze Dauer meines Lebens betrachte, das von der vorhergehenden und der darauffolgenden Ewigkeit aufgesogen wird – memoria hospitis unius diei praetereuntis (»[und wie] man eines vergisst, der nur einen Tag Gast gewesen ist«, Weish 5,15) –, und den kleinen Raum, den ich ausfülle und den ich noch dazu von der unendlichen Unermesslichkeit der Räume verschlungen sehe, die ich nicht kenne und die mich nicht kennen, so gerate ich in Schrecken und erstaune, mich eher hier als dort zu sehen, denn es gibt keinen Grund, warum es eher hier als dort ist, warum jetzt und nicht vielmehr früher. Wer hat mich [35]dorthin gebracht? Durch wessen Gebot und Führung sind dieser Ort und diese Zeit mir bestimmt worden?

 

69/174a Elend.

Hiob und Salomo.

 

70/165a Wenn unsere Lage wirklich glücklich wäre, müssten wir unsere Gedanken nicht durch Zerstreuungen davon ablenken.

 

71/405 Widerspruch.

Ein Stolz, der alles Elend aufwiegt, entweder verbirgt er sein Elend, oder er enthüllt es: Er rühmt sich, es zu erkennen.

 

72/66 Man muss sich selbst erkennen. Wenn das nicht helfen sollte, das Wahre zu finden, so hilft es wenigstens dabei, sein Leben einzurichten, und es gibt nichts Richtigeres.

 

73/110 Das Gefühl der Falschheit der gegenwärtigen Freuden und die Unkenntnis der Eitelkeit der fehlenden Freuden bewirken die Unbeständigkeit.

 

74/454 Ungerechtigkeit.

Sie haben kein anderes Mittel gefunden, ihre Begierde zu befriedigen, ohne den anderen unrecht zu tun.

Hiob und Salomo.

 

75/389 Der Prediger Salomo zeigt, dass der Mensch ohne Gott ganz unwissend und unausweichlich unglücklich ist, denn es heißt ja unglücklich sein, zu wollen und nicht zu [36]können. Nun will er aber glücklich sein und Gewissheit über einige Wahrheiten erlangen. Und dennoch kann er nicht wissen und ebenso wenig den Wunsch unterdrücken, etwas zu wissen. Er kann nicht einmal zweifeln.

 

76/73 13. (Doch vielleicht geht dieser Gegenstand über die Fassungskraft der Vernunft hinaus. Prüfen wir also ihre Einsichten bei den Dingen, die in ihrer Macht liegen. Wenn es etwas gibt, wo ihr eigenes Interesse sie mit vollstem Ernst zur Anwendung bringen müsste, so bei der Suche nach ihrem höchsten Gut. Sehen wir also, welchen Platz diese starken und weitblickenden Seelen ihm zugewiesen haben. Und ob sie sich dabei einig sind.

Der eine sagt, das höchste Gut bestehe in der Tugend, der andere schreibt es der Wollust zu, ein Dritter sagt, man solle der Natur folgen, ein Vierter sieht es in der Wahrheit – felix qui potuit rerum cognoscere causas [»Glücklich der Mensch, der das Wesen der Welt zu erfassen vermochte«, Vergil, Georg. II,490] –, ein Fünfter in der vollständigen Unwissenheit, ein Sechster in der Empfindungslosigkeit, weitere darin, dem äußeren Schein zu widerstehen, der Nächste darin, nichts zu bewundern – nihil mirari prope res una quae possit facere et servare beatum [»Nichts zu bewundern, beinahe das Einzige, das glücklich machen und erhalten kann«, Horaz, Epist.I, VI,1] – und die wackeren Pyrrhoniker in ihrer Ataraxie, im Zweifel und in einem ständigen Schwebezustand. Und wieder andere, Weisere, dass man es nicht finden könne, nicht einmal, wenn man es wünsche. Da haben wir einen rechten Lohn für unsere Mühe erhalten.

Umstellen hinter die Gesetze, folgender Artikel

Wenn man feststellen muss, dass diese schöne Philosophie nichts Sicheres durch eine so lange und angestrengte Arbeit gewonnen hat, so wird vielleicht wenigstens die Seele sich selbst erkennen. Hören wir, was die Lehrmeister der Welt über diesen Gegenstand sagen. Was haben sie über deren Substanz gedacht?    395. Hatten sie dabei größeres Glück, ihren Sitz zu bestimmen?    395. Was haben sie über ihren Ursprung, ihre Dauer und ihren Hingang herausgefunden?)

 

(Ist die Seele also auch noch ein zu edler Gegenstand für ihr schwaches Erkenntnisvermögen? Ziehen wir sie also bis zur Materie herab. Sehen wir, ob sie weiß, woraus der eigene Körper gemacht ist, den sie beseelt, und die anderen, die sie betrachtet und nach ihrem Belieben bewegt.

Was haben diese großen Dogmatisten, die alles wissen, davon erkannt?

[393.] Harum sententiarum. [»〈Welche〉 von diesen Meinungen 〈ist die wahre?〉« Cicero, Tusc. I,11.]

Das würde ohne Zweifel genügen, wenn die Vernunft vernünftig wäre. Sie ist es in vollkommen ausreichendem Maße, um einzugestehen, dass sie noch nichts Zuverlässiges finden konnte. Doch sie verliert die Hoffnung nicht, es zu erreichen; sie ist vielmehr ebenso eifrig bei dieser Suche wie je zuvor und glaubt mit Gewissheit, in sich die notwendigen Kräfte für diesen Vorstoß zu besitzen.

Wir müssen sie also bis ins Letzte ergründen, und [38]nachdem wir ihre Kräfte an deren Wirkungen untersucht haben, wollen wir sie an ihnen selbst erkennen. Sehen wir, ob die Vernunft gewisse Kräfte und gewisse Gewalten besitzt, mit denen sich die Wahrheit erfassen lässt.)

4 Langeweile und Haupteigenschaften des Menschen

77/152 Stolz.

Neugier ist nur Eitelkeit. Meistens will man etwas nur wissen, um darüber reden zu können, andernfalls würde man nicht über das Meer fahren, wenn man nichts davon erzählen möchte und es aus bloßer Schaulust täte, ohne die Hoffnung, jemals davon etwas mitteilen zu können.

 

78/126 Beschreibung des Menschen.

Abhängigkeit, Verlangen nach Unabhängigkeit, Bedürfnisse.

 

79/128 Der Verdruss, den man hat, wenn man die Beschäftigungen unterlässt, an die man sich gewöhnt hat. Ein Mann lebt vergnügt in seiner Familie; mag er nun eine Frau sehen, die ihm gefällt, oder mag er fünf oder auch sechs Tage mit Vergnügen spielen, so ist es elend um ihn bestellt, wenn er zu seiner ersten Beschäftigung zurückkehrt. Nichts ist alltäglicher als dies.

[39]5 Ursachen der Wirkungen

80/317 Ehrerbietung heißt: Nehmt Unbequemlichkeiten auf euch!

Das ist dem Anschein nach unsinnig, aber sehr richtig, denn das soll heißen: Ich würde gern Unbequemlichkeiten auf mich nehmen, wenn Ihr das brauchtet, weil ich es ja schon tatsächlich mache, ohne dass es Euch nützt; außerdem dient die Ehrerbietung dazu, die Großen mit besonderer Achtung zu behandeln. Wenn es nun aber Ehrerbietung wäre, im Sessel sitzen zu bleiben, würde man alle Leute mit Ehrerbietung behandeln, und somit würde man für niemanden besondere Achtung zeigen. Doch da man zu Unbequemlichkeiten angehalten wird, macht man sehr deutliche Unterschiede in der Behandlung.

 

81/299 Die einzigen allgemeingültigen Regeln sind bei den gewöhnlichen Dingen die Gesetze des Landes und bei den übrigen die Mehrheit. Woher kommt das? Von der Gewalt, auf der dies beruht.

Und daher kommt es, dass die Könige, die auch im Übrigen die Gewalt haben, nicht der Mehrheit ihrer Minister folgen.

Zweifellos ist gleicher Besitz für alle gerecht, aber …

Da man nicht erreichen kann, dass man gewaltsam der Gerechtigkeit gehorchen muss, hat man erreicht, dass es gerecht ist, der Gewalt zu gehorchen. Da man der Gerechtigkeit nicht Gewalt verleihen kann, hat man die Gewalt gerechtfertigt, damit Gerechtigkeit und Gewalt vereint sind und Frieden herrscht, der das höchste Gut ist.

 

[40]82/271 Die Klugheit verweist uns auf die Kindheit. Nisi efficiamini sicut parvuli. (»Es sei denn, dass ihr euch umkehret und werdet wie die Kinder.« Mt 18,3.)

 

83/327 Die Welt beurteilt die Dinge gut, denn sie befindet sich in natürlicher Unwissenheit, die der wahre Wesensgrund des Menschen ist. Die Wissenschaften haben zwei Extreme, die einander berühren, das erste ist die reine natürliche Unwissenheit, in der sich alle Menschen bei der Geburt befinden, das andere Extrem ist jenes, zu dem die großen Geister gelangen, die, nachdem sie alles hinter sich gebracht haben, was die Menschen wissen können, erkennen, dass sie nichts wissen und sich wieder in der gleichen Unwissenheit befinden, von der sie ausgegangen waren; das aber ist eine kluge Unwissenheit, die sich selbst kennt. Diejenigen zwischen den beiden Extremen, die aus der natürlichen Unwissenheit hervorgetreten sind und nicht zu der anderen gelangen konnten, haben eine oberflächliche Kenntnis dieser ausreichenden Wissenschaft und spielen die Klugen. Diese bringen die Welt in Aufruhr und urteilen über alles schlecht.

Das Volk und die Klugen bestimmen den Lauf der Welt; jene anderen verachten sie und werden verachtet. Sie urteilen schlecht über alle Dinge, und die Welt urteilt darüber gut.

 

84/79(Descartes.

Man muss im Großen und Ganzen sagen: Das geschieht durch Gestalt und Bewegung. Denn das ist wahr, doch zu sagen, welche Gestalt und Bewegung, und die Maschine zusammenzusetzen, das ist lächerlich. Denn das ist nutzlos und [41]unsicher und mühselig. Und wenn das die ganze Wahrheit wäre, so meinen wir nicht, dass alle Philosophie eine Stunde Mühe wert wäre.)

 

85/878Summum jus, summa injuria. (»Das höchste Recht ist das größte Unrecht.« Terenz, Heaut. IV,5,47. – Cicero, De offic. I,10.)

Die Mehrheit ist der beste Weg, weil sie offensichtlich ist und die Gewalt hat, um sich Gehorsam zu verschaffen. Indes ist das die Ansicht der am wenigsten Klugen.

Wenn man es vermocht hätte, so hätte man die Gewalt in die Hand der Gerechtigkeit gelegt; doch die Gewalt lässt sich nicht führen, wie man will, weil sie eine handgreifliche Eigenschaft ist, während die Gerechtigkeit eine geistige Eigenschaft ist, über die man verfügt, wie man will. Man hat sie in die Hand der Gewalt gelegt, und daher nennt man gerecht, was man befolgen muss.

(Daher) kommt das Recht des Schwertes, denn das Schwert verleiht ein wirkliches Recht.

Sonst sähe man die Gewalttätigkeit auf der einen Seite und die Gerechtigkeit auf der anderen. Ende des zwölften Provinzialbriefes.

Daher kommt die Ungerechtigkeit der Fronde, die ihre vorgebliche Gerechtigkeit gegen die Gewalt aufrichtet.

Nicht so verhält es sich bei der Kirche, denn in ihr gibt es wahrhaftige Gerechtigkeit und keine Gewalttätigkeit.

 

86/297Veri juris. (»Vom wahren Recht.« Cicero, De offic.III,17.) Wir haben nichts mehr davon. Wenn wir es hätten, so nähmen wir nicht als Regel der Gerechtigkeit, dass man den Sitten seines Landes folgen soll.

[42]Das heißt, da man nicht die Gerechtigkeit entdecken konnte, hat man die Gewalt entdeckt usw.

 

87/307 Der Kanzler zeigt feierlichen Ernst und ist mit einer reichverzierten Amtstracht bekleidet. Denn sein Amt ist falsch und nicht der König. Er hat die Gewalt, er braucht die Einbildung nicht. Die Richter, Ärzte usw. haben nur die Einbildung.

 

88/302 Das ist die Wirkung der Gewalt, nicht der Gewohnheit, denn jene, die fähig sind zu erfinden, sind selten. Die, deren Zahl ihnen die größere Gewalt gibt, wollen nur nachahmen und verweigern jenen Erfindern den Ruhm, den sie mit ihren Erfindungen erstreben, und wenn sie darauf bestehen, ihn erringen zu wollen und diejenigen zu verachten, die nicht erfinden, so werden die anderen ihnen Spottnamen geben und würden sie verprügeln. Man soll sich also auf diese Geistesschärfe nichts zugutehalten oder seine Zufriedenheit in sich selbst finden.

 

89/315 Ursache der Wirkungen.

Das ist erstaunlich: Man will nicht, dass ich einen Mann ehre, der in Brokatell gekleidet ist und ein Gefolge von sieben oder acht Lakaien hat. Ja, was denn! Er wird mich auspeitschen lassen, wenn ich ihn nicht grüße. Diese Kleidung bedeutet eine Gewalt. Das verhält sich ganz genauso wie ein gut aufgezäumtes Pferd im Vergleich zu einem anderen. Montaigne wirkt lächerlich, wenn er nicht sieht, welchen Unterschied es hierbei gibt, und wenn er sich verwundert, dass man einen solchen Unterschied entdeckt und nach dessen Ursache fragt. In der Tat, sagt er, woher kommt usw.

 

[43]90/337 Ursache der Wirkungen.

Abstufung. Das Volk ehrt die Hochgeborenen, die Halbgebildeten verachten sie, indem sie sagen, die Geburt sei kein Vorzug der Person, sondern des Zufalls. Die Gebildeten ehren sie, nicht, weil sie wie das Volk denken, sondern, weil sie einen Hintergedanken haben. Die Gläubigen, die mehr Eifer als Wissenschaft haben, verachten sie trotz dieser Erwägung, die bewirkt, dass die Gebildeten sie ehren, weil sie darüber mit einer andersartigen Einsicht urteilen, die ihnen die Frömmigkeit verleiht, die vollkommenen Christen jedoch ehren sie wegen einer weiteren, höheren Einsicht.

So folgen die befürwortenden und ablehnenden Meinungen immer weiter aufeinander, je nachdem, welche Einsicht man hat.

 

91/336 Ursache der Wirkungen.

Man muss einen Hintergedanken haben und von diesem ausgehend über alles urteilen, wobei man jedoch wie das Volk sprechen soll.

 

92/335 Ursache der Wirkungen.

Es ist also wahr zu sagen, dass jedermann sich Wahnvorstellungen hingibt, denn mögen die Meinungen des Volkes auch gesund sein, so sind sie es nicht in seinem Hirn, denn es denkt, die Wahrheit sei, wo sie nicht ist. Die Wahrheit liegt sehr wohl in ihren Meinungen, doch nicht in dem Maße, wie sie es sich vorstellen. Es ist wahr, dass man die Edelleute ehren muss, doch nicht deshalb, weil die hohe Geburt ein tatsächlicher Vorzug sei, usw.

 

[44]93/328 Ursache der Wirkungen.

Ständige Umkehrung des Für und Wider.

Wir haben also gezeigt, dass der Mensch nichtig und eitel ist, weil er Dinge schätzt, die nicht wesentlich sind. Und all diese Meinungen werden zunichtegemacht.

Wir haben hierauf gezeigt, dass all diese Meinungen sehr gesund sind, und da deshalb all diese Eitelkeiten sehr gut begründet sind, ist das Volk nicht so eitel, wie man sagt. Und so haben wir die Meinung zunichtegemacht, die jene des Volkes zunichte machte.

Doch jetzt muss man diese letzte Aussage zunichtemachen und zeigen, dass es immer noch wahr bleibt, dass das Volk eitel ist, obwohl seine Meinungen gesund sind, weil es deren Wahrheit nicht dort bemerkt, wo sie ist, und dass seine Meinungen, deren Wahrheit es dorthin verlegt, wo sie nicht ist, weiterhin grundfalsch und sehr ungesund sind.

 

94/313 Gesunde Meinungen des Volkes.

Das größte Übel sind die Bürgerkriege.

Sie sind unausweichlich, wenn man Verdienste belohnen will, denn alle werden sagen, dass sie Verdienste haben. Das Übel, das von einem Dummkopf zu befürchten ist, der durch das Recht der Geburt die Herrschaft erbt, ist weder so groß noch so unausweichlich.

 

95/316 Gesunde Meinungen des Volkes.

Sorgfältig geputzt zu sein ist nicht übermäßig eitel, denn damit zeigt man, dass eine große Anzahl von Leuten für uns arbeitet. Man zeigt an seinen Haaren, dass man einen Kammerdiener, einen Parfümeur usw. hat, an seinem Spitzenkragen zeigt man den Faden, den Besatz usw. Es ist nun [45]aber keine bloße Äußerlichkeit und auch keine bloße Ausstattung, wenn man mehrere Arme zu seiner Verfügung hat.

Je mehr Arme man zu seiner Verfügung hat, desto stärker ist man. Sorgfältig geputzt zu sein heißt, seine Stärke zu zeigen.

 

96/329 Ursache der Wirkungen.

Die Schwäche des Menschen ist der Grund für so viele schöne Dinge, die man einführt, so etwa ist gut Laute spielen zu können nur unserer Schwäche wegen ein Übel.

 

97/334 Ursache der Wirkungen.

Begierde und Gewalt sind die Quellen aller unserer Taten. Die Begierde bewirkt die freiwilligen, die Gewalt die unfreiwilligen.

 

98/80 Woher kommt es, dass ein Hinkender uns nicht erzürnt und ein hinkender Geist uns erzürnt? Das kommt, weil ein Hinkender erkennt, dass wir gerade gehen, und ein hinkender Geist sagt, wir seien die Hinkenden. Wäre das nicht so, empfänden wir für ihn Mitleid und nicht Zorn.

Epiktet fragt sehr viel nachdrücklicher: Warum ärgern wir uns nicht, wenn man sagt, wir hätten Kopfweh, während wir uns ärgern, wenn man sagt, dass wir schlecht urteilen oder schlecht wählen?

 

99/80 und 536 Dies wird dadurch verursacht, dass wir ganz sicher sind, kein Kopfweh zu haben und nicht zu hinken, jedoch sind wir uns nicht so gewiss, dass wir das Wahre wählen. So kommt es denn, da wir nur Gewissheit haben, [46]weil wir es ganz deutlich vor uns sehen, wenn nun ein anderer ganz deutlich das Gegenteil sieht, dass uns dies in Zweifel stürzt und uns erstaunt. Und das noch mehr, wenn tausend andere über unsere Wahl spotten, denn wir müssen unsere Erkenntnisse jenen so vieler anderer vorziehen. Und das ist kühn und schwierig. Diesen Widerspruch gibt es niemals bei der sinnlichen Wahrnehmung, wenn es um einen Hinkenden geht.

Der Mensch ist so beschaffen, dass, wenn man ihm lange genug einredet, er sei ein Narr, er es schließlich glaubt. Und wenn man es sich selbst lange genug einredet, kommt man schließlich so weit, es zu glauben, denn der Mensch führt für sich allein Selbstgespräche, und es ist wichtig, diese gut zu lenken. Corrumpunt bonos mores colloquia prava. (»Böse Geschwätze verderben gute Sitten.«) Man muss Schweigen bewahren, so gut man es vermag, und sich nur von Gott unterhalten, von dem man weiß, dass er die Wahrheit ist, und auf diese Art überzeugt man sich selbst davon.

 

100/467 Ursache der Wirkungen.

Epiktet. Bei jenen, die sagen: »Ihr (habt) Kopfweh«, verhält es sich anders. Man ist sich der Gesundheit und nicht der Gerechtigkeit sicher, und seine Gerechtigkeit war tatsächlich eine Dummheit.

Und dennoch hat er geglaubt, sie zu beweisen, indem er sagte, es stehe entweder in unserer Macht oder nicht.

Aber er hatte übersehen, dass es nicht in unserer Gewalt steht, das Herz zu lenken, und er hatte unrecht, es daraus zu schließen, dass es Christen gibt.

 

[47]101/324 Das Volk hat sehr gesunde Meinungen. Zum Beispiel:

1. dass es bei seiner Wahl die Zerstreuungen und die Jagd der Beute vorgezogen hat. Die Halbklugen spotten darüber und brüsten sich, daran die Torheit der Welt zu zeigen, doch aus einem Grund, den sie nicht durchschauen, hat man recht:

2. dass man die Menschen nach dem Äußeren wie auch nach dem Adel oder dem Vermögen unterschieden hat. Die Welt brüstet sich auch noch zu zeigen, wie unvernünftig das sei. Aber das ist sehr vernünftig. Kannibalen lachen über einen König, der ein Kind ist.

3. dass es sich beleidigt fühlt, weil es einen Schlag ins Gesicht bekommen hat, oder dass es so sehr den Ruhm ersehnt, das jedoch ist sehr wünschenswert wegen der anderen wesentlichen Dinge, die mit ihm zusammengehören. Und ein Mensch, der einen Schlag ins Gesicht bekommen hat, ohne sich grollend daran zu erinnern, wird von Unbilden und Drangsalen heimgesucht.

4. Für das Ungewisse arbeiten, über das Meer fahren, über ein Brett laufen.

 

102/759(Notwendigerweise sind die Juden oder die Christen böse.)

 

103/298 + Gerechtigkeit und Gewalt.

Es ist gerecht, dass befolgt wird, was gerecht ist; es ist notwendig, dass befolgt wird, was die größte Gewalt hat.

Gerechtigkeit ohne Gewalt ist ohnmächtig, Gewalt ohne Gerechtigkeit ist tyrannisch.

Der Gerechtigkeit ohne Gewalt wird widersprochen, [48]weil es immer Böse gibt. Die Gewalt ohne Gerechtigkeit wird angeklagt. Man muss also Gerechtigkeit und Gewalt vereinigen, und um das zu erreichen, muss Gewalt haben, was gerecht ist, oder es muss gerecht sein, was Gewalt hat.

Die Gerechtigkeit ist umstritten. Die Gewalt ist sehr klar erkennbar und nicht umstritten. Daher hat man der Gerechtigkeit keine Gewalt geben können, weil die Gewalt der Gerechtigkeit widersprochen und behauptet hat, diese sei ungerecht, und weiter, sie selbst sei gerecht.

Und da man somit nicht erreichen konnte, dass Gewalt hat, was gerecht ist, hat man erreicht, dass gerecht ist, was Gewalt hat.

 

104/322 Der Adel ist ein großer Vorteil, der einen Mann schon im Alter von achtzehn Jahren in die aussichtsreiche Lage versetzt, so bekannt und geachtet zu sein, wie es ein anderer mit fünfzig Jahren verdient haben könnte. Das bedeutet dreißig ohne Mühe gewonnene Jahre.

6 Größe

105/342 Wenn ein Tier das aus Verstand täte, was es aus Instinkt tut, und wenn es Laut gäbe aus Verstand, wie es Laut gibt aus Jagdinstinkt und um seinen Gefährten zu melden, dass die Beute gefunden oder verloren ist, so würde es ebenso gut auch bei Dingen sprechen, bei denen es innerlich mehr beteiligt ist, wie etwa, um zu sagen: Zernagt diesen Strick, der mich verletzt und den ich nicht erreichen kann.

 

[49]106/403 Größe.

Die Ursachen der Wirkungen bezeichnen die Größe des Menschen, aus der Begierde eine so schöne Ordnung gewonnen zu haben.

 

107/343 Der Schnabel des Papageien, den dieser abwischt, obwohl er sauber ist.

 

108/339a Was empfindet Vergnügen in uns? Ist es die Hand, ist es der Arm, ist es das Fleisch, ist es das Blut? Man wird erkennen, dass es etwas Immaterielles sein muss.

 

109/392 Gegen den Pyrrhonismus.

(Es ist doch etwas Sonderbares, dass man diese Dinge nicht definieren kann, ohne sie zu verdunkeln. Wir sprechen jederzeit von ihnen.) Wir nehmen an, dass alle sie auf die gleiche Art auffassen. Aber wir nehmen es ganz willkürlich an, denn wir haben keinen Beweis dafür. Ich sehe wohl, dass man diese Worte bei gleichartigen Umständen gebraucht und dass jedes Mal, wenn zwei Menschen sehen, wie ein Körper seine Lage verändert, sie alle beide den Anblick desselben Vorgangs durch dasselbe Wort ausdrücken, indem der eine wie der andere sagt, dass der Körper sich bewegt habe, und aus diesem übereinstimmenden Gebrauch leitet man die einleuchtende Vermutung ab, es gebe eine übereinstimmende Vorstellung; wenn es auch so gut wie sicher ist, dass dies zutrifft, kommt dem jedoch durchaus nicht letzte Überzeugungskraft zu, denn man weiß ja, dass man oft die gleichen Schlüsse aus unterschiedlichen Annahmen zieht.

Das genügt, um zumindest die Sache zu verwirren, wobei [50]es nicht völlig die natürliche Klarheit auslöscht, die uns dieser Dinge versichert. Die Akademiker hätten gewettet, das aber nimmt ihr die Eindeutigkeit und verwirrt die Dogmatisten zum Ruhme der pyrrhonischen Kabale, die von dieser doppeldeutigen Doppeldeutigkeit und einer gewissen zweifelhaften Dunkelheit ausgeht, der unsere Zweifel nicht die ganze Klarheit nehmen und aus der unsere natürlichen Erkenntnisse nicht die ganze Finsternis vertreiben können.

(Rückseite 109/213)(Die geringste Sache ist von dieser Natur: Gott ist der Anfang und das Ende. Pred.)

1. Die Vernunft.

 

110/282 Wir erkennen die Wahrheit nicht nur mit der Vernunft, sondern auch mit dem Herzen. Gerade auf diese letzte Art erkennen wir die ersten Prinzipien, und vergebens trachtet die vernünftige Überlegung, die nicht daran beteiligt ist, jene zu bekämpfen. Die Pyrrhoniker, die nur das zum Ziel haben, mühen sich nutzlos damit ab. Wir wissen, dass wir nicht träumen. Wie ohnmächtig wir auch sind, es mit der Vernunft zu beweisen, so ist doch aus dieser Ohnmacht nichts anderes als die Schwäche unserer Vernunft zu schließen, nicht aber die Ungewissheit all unserer Erkenntnisse, wie sie es behaupten. Denn die Erkenntnis der ersten Prinzipien, wie etwa, dass es Raum, Zeit, Bewegung, Zahlen gibt, ist ebenso sicher wie irgendeine von jenen, die unsere vernünftigen Überlegungen uns vermitteln, und auf diese Erkenntnisse des Herzens und des Instinkts muss die Vernunft sich stützen und darauf ihre ganze Urteilskraft begründen. Das Herz fühlt, dass es im Raum drei Dimensionen gibt und dass die Zahlen unendlich sind, und die Vernunft beweist hierauf, dass es keine [51]zwei Quadratzahlen gibt, von denen die eine das Doppelte der anderen ist. Die Prinzipien fühlt man, die Lehrsätze werden gefolgert, und das Ganze mit Gewissheit, wenn auch auf unterschiedlichen Wegen – und es ist ebenso unnütz und ebenso lächerlich, dass die Vernunft vom Herzen Beweise für seine ersten Prinzipien verlangt, wenn sie ihnen zustimmen will, wie es lächerlich wäre, dass das Herz von der Vernunft ein Gefühl für alle Lehrsätze verlangte, die diese beweist, wenn es sie annehmen will.

Diese Ohnmacht soll also nur dazu dienen, die Vernunft zu demütigen – die über alles urteilen möchte –, nicht aber, um unsere Gewissheit zu bekämpfen. Als könnte uns nur die Vernunft unterrichten; wollte Gott, dass wir sie im Gegenteil niemals nötig hätten und dass wir alle Dinge mit Instinkt und Gefühl erkennten, doch die Natur hat uns dieses Gut verweigert; sie hat uns vielmehr nur sehr wenige derartige Erkenntnisse gegeben; alle übrigen können nur durch vernünftige Überlegung erworben werden.

Und darum sind jene, denen Gott die Religion durch das Gefühl des Herzens gegeben hat, glückselig und ganz zu Recht überzeugt, doch jenen, die sie nicht haben, können wir sie nur durch vernünftige Überlegung geben, solange wir darauf warten, dass Gott sie ihnen durch das Gefühl des Herzens gibt, sonst ist der Glaube nur menschlich und unnütz für das Heil.

 

111/339 Ich kann mir wohl einen Menschen ohne Hände, Füße oder Kopf vorstellen, denn nur die Erfahrung lehrt uns, dass der Kopf notwendiger als die Füße ist. Aber ich kann mir den Menschen nicht ohne Gedanken vorstellen. Das wäre ein Stein oder ein unvernünftiges Tier.

 

[52]112/344 Instinkt und Vernunft, die Kennzeichen zweier Naturen.

 

113/348 Denkendes Schilfrohr.

Nicht im Raum muss ich meine Würde suchen, sondern in der Ordnung meines Denkens. Ich werde keinen Vorteil davon haben, wenn ich Grund und Boden besitze. Durch den Raum erfasst und verschlingt das Universum mich wie einen Punkt: Durch das Denken erfasse ich es.

 

114/397 Die Größe des Menschen zeigt sich darin groß, dass er sich als elend erkennt; ein Baum erkennt sich nicht als elend.

Es bedeutet also, elend zu sein, wenn man (sich) als elend erkennt, aber es bedeutet, groß zu sein, wenn man erkennt, dass man elend ist.

 

115/349 Immaterialität der Seele.

Bei den Philosophen, die ihre Leidenschaften bezähmt haben, hat das welche Materie bewirken können?

 

116/398 Gerade all dieses Elend beweist seine Größe. Das ist das Elend eines großen Herrn. Das Elend eines entthronten Königs.

 

117/409 Die Größe des Menschen.